Resignation, kritische Loyalität und Hoffnung
Auch wenn Sie es sich vielleicht nicht vorstellen können: Vor 36 Jahren war ich ein junger Mann, der gerade erst geweiht worden war. Am Tag meiner Priesterweihe schenkte mir ein Mitbruder, der trotz seines fortgeschrittenen Alters viel und tief in der Theologie las, ein Buch des österreichischen Pastoraltheologen Paul M. Zulehner. Es war nur wenige Monate vor meiner Priesterweihe erschienen und trug den Titel »Wider die Resignation in der Kirche: Aufruf zu kritischer Loyalität«.
Im darauffolgenden Sommer reiste ich nach Deutschland, um Verwandte, Freunde und Mitbrüder zu besuchen und mit ihnen zu feiern. Natürlich besuchte ich auch unser Mutterhaus in Limburg, feierte dort als frisch geweihter Priester die Eucharistie und traf Mitbrüder wieder, die ich seit meinen Studienjahren in Deutschland nicht mehr gesehen hatte. Während meines Aufenthaltes wurden zwei Mitbrüder auf das erwähnte Buch aufmerksam, das ich gerade las.
Der erste der beiden Mitbrüder, damals Mitte fünfzig, bemerkte bissig: »Das ist kein guter Anfang für Ihr priesterliches Leben, wenn Sie gleich zu Beginn die Ketzer lesen.«
Der zweite Mitbruder lächelte, als er sah, was ich las, und sagte mir, es sei ein wunderbares Buch. »Im Moment bist Du noch jung. Aber die Versuchung der Resignation wird mit den Jahren kommen.« Seine Worte waren prophetisch.
Später an diesem Tag ging ich zum Abendessen in unser großes Refektorium. Damals gab es noch eine strenge hierarchische Ordnung zwischen den Tischen. Es gab einen langen Tisch für die Brüder, einen weiteren für die Priester, einen dritten für die Studenten und Lehrlinge des Hauses und einen vierten für diejenigen, die eine besondere Diät benötigten. An jedem dieser Tische herrschte ebenfalls eine strenge hierarchische Ordnung. An der Spitze des Tisches saßen die Mitbrüder mit den meisten Profess Jahren, und dann ging es abwärts bis zu denen mit den wenigsten Profess Jahren.
Aus Gewohnheit nahm ich den Platz ein, an dem ich viele Jahre lang gesessen hatte, als ich noch Novize und Student war. Ich setzte mich am Fuß des Tisches hin, an dem die Brüder aßen. Sie teilten mir sofort mit, dass ich dort nicht mehr sitzen dürfe, da ich Priester sei. Vom Nachbartisch, an dem die Priester aßen, wurde mir mitgeteilt, dass ich nun zu ihnen kommen und mich zu ihnen setzen müsse, da ich nun geweiht sei. Ich lehnte höflich ab und blieb sitzen, wo ich war.
Der ältere Mitbruder, der meine Wahl des Buches gelobt hatte, erhob sich vom Tisch der Priester und nahm neben mir am Tisch der Brüder Platz. Er griff in die Tasche seines Habits (die Anzahl der Taschen in unserem Habit ist bis heute eines der großen Geheimnisse des Glaubens) und zog sein Exemplar desselben Buches heraus. Dann lächelte er mich an und sagte: »Wenn ich das gelesen hätte, als ich in deinem Alter war, hätte ich schon vor Jahren den Mut gehabt, aufzustehen und mich an diesen Tisch zu setzen.«
Ich habe das Buch viele Male gelesen. Vor fast 15 Jahren fiel es schließlich auseinander. Seitdem habe ich viele Werke von Paul Zulehner gelesen, aber es ist dieses Buch, das ich am meisten geliebt und geschätzt habe und immer noch am meisten vermisse. Denn in der Tat ist mit den Jahren die Versuchung der Resignation gestiegen und die Herausforderung der kritischen Loyalität hat sich verschärft.
Im Laufe der Jahre haben die allgemeine Malaise des kirchlichen Lebens und die erbitterte Polarisierung innerhalb der Kirche oft an meinen Kräften gezehrt, aber sie haben auch die Herausforderung einer kritischen Loyalität erheblich erschwert. Das ist nicht verwunderlich. Was ich im Laufe der Jahre gelernt habe, ist, dass ich mich nicht auf die Kritiker, nicht auf die Nörgler konzentrieren muss, sondern auf die Menschen, die einen Hunger und Durst nach der Fülle des Lebens haben. Ich konzentriere mich auf die Männer und Frauen, die sich wirklich etwas für sich selbst und die Menschen, die sie lieben, wünschen, etwas, das ihnen hilft, ein sinnvolles Leben zu gestalten.
Ich gestehe, ich bewundere sie, ihre Leidenschaft und ihre Zielstrebigkeit, ihren Drang, eine Zivilisation der Liebe zu schmieden und zu gestalten, indem sie sich in die Welt einbringen, auf welche Weise und an welchem Ort auch immer. Ich hatte das Privileg, an ihrem Leben teilzuhaben, während sie sich bemühten, ihre Kinder zu erziehen, ihre Schüler zu unterrichten, ihren Nachbarn zu dienen, großzügig ihre Zeit und ihre Talente zu geben, damit »das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach«. (Amos 5, 24). Diese Menschen haben mir geholfen, nicht zu resignieren, und mich immer wieder inspiriert, den guten Kampf zu kämpfen, den Lauf zu vollenden, den Glauben zu bewahren. (vgl. 2 Timotheus 4,7)
Vor 36 Jahren entschied ich mich, dem lächelnden Mitbruder zuzuhören und nicht dem beißenden. Ich fand, dass dies eine lebensspendende, lebenserhaltende Entscheidung war. Und so habe ich diese Praxis seither beibehalten. Es ist die biblische Praxis, das Leben zu wählen: »Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. « (Dt 30,19) Deshalb wähle ich aus biblischer, kritischer Loyalität diejenigen, die sich für das Leben entscheiden, und nicht diejenigen, die nur den Tod und den Fluch kritisieren, aber ironischerweise nie das Leben wählen.
Ich entscheide mich dafür, bei denen hinzuhören, die sich für das Leben entscheiden. Männern und Frauen wie diesen habe ich meine kritische Loyalität entgegengebracht, für sie predige und schreibe ich am leidenschaftlichsten. Wo immer ich ihnen begegne, sie begleite oder mit ihnen lebe, sehe ich das Gesicht meines lächelnden Mitbruders, seine Zärtlichkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie sind der Grund, warum ich trotz meiner kritischen Loyalität ohne Resignation sagen kann, dass ich die Kirche, das Volk Gottes, immer noch liebe.
Erik Riechers SAC
Vallendar, den 16. Januar 2025