»Gott liebt es nicht nur, unsere Geschichten zu hören, er liebt es,
seine eigene zu erzählen. Und, schlicht und einfach, wir sind die Geschichte, die Gott erzählt. Unsere Leben sind die Worte, die aus seinem Mund kommen.
Diese Einsicht hat die religiöse Phantasie immer angefeuert und sie weigert sich, rationalisiert oder abgetan zu werden. Die Überzeugung,
dass wir die Geschichte Gottes sind, setzt Urimpulse frei und aus einer Mischung aus Trotzigkeit, Dankbarkeit und Nachahmung erwidern wir das Kompliment. 
Wir erzählen die Geschichten Gottes.« – John Shea, Stories of God

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Wenn jemand nicht von oben geboren wird

Im Johannes-Evangelium gibt es ein wunderbares Nachtgespräch zwischen Jesus und Nikodemus. An einer Stelle sagt Jesus etwas sehr wesentlich, auch wenn es in unseren Ohren eher kryptisch klingt.

»Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.«

(Joh 3,3)

Wir sollten von oben geboren werden. Aber was hat das zu bedeuten?

Wir Menschen leben aus unseren Quellen. Aus ihnen schöpfen wir unsere Ansichten, Haltungen und Handlungen. Hier erinnert uns Jesus, dass diese Quellen aber nicht reichen werden, wenn wir die Fülle des Lebens möchten. Dafür müssen wir die Quellen des Himmels finden, denn aus ihnen entspringen ganz andere Ansichten, Haltungen und Handlungen. Bleiben wir nur bei unseren Quellen, entgeht uns die Fülle des Lebens. Wenn wir aber aus den Quellen Gottes schöpfen, dann können wir zu einem höheren und größeren Leben geboren werden und unser Dasein, unsere menschlichen Erfahrungen aus einer neuen Perspektive betrachten. Aus dem, was von oben kommt, aus dem offenen Himmel, werden wir hören und erkennen, was vergänglich ist und was ewig, wichtig und was unbedeutend, was lebensspendend und was totbringend ist.

Es gibt eine Szene in dem großen kanadischen Klassiker »Who has seen the Wind?«, die uns helfen kann, die Bedeutung dieser Worte Jesu zu verstehen.

Der Held dieser Geschichte ist Brian, ein Junge, der auf der kanadischen Prairie aufwächst. Eines Morgens geht er zur Schule, und die Lehrerin, Miss MacDonald, eine furchtbar strenge Frau und rigider Christ, fragt die Kinder, wer sich heute Morgen die Hände gewaschen hat. Brian, der dies normalerweise jeden Tag tut, vergisst in diesem Moment, dass er ausnahmsweise es an diesem Morgen nicht tat. Gedankenlos und geistesabwesend, hebt auch er seine Hand. Miss MacDonald geht an seinem Schreibtisch vorbei und sieht den Schmutz an seinen Fingern. Sie beschuldigt ihn der Lüge. Dann demütigt sie ihn als Strafe. Sie ruft in nach vorne, zwingt ihn seine Arme zu heben und seine Hände zu zeigen. Jetzt lasse ich W.O. Mitchell weitererzählen:

»Wir lassen dich einfach so stehen, mit gewaschenen Händen, so dass die ganze Klasse es sehen kann. Wir wollen nicht, dass du denkst - das ist keine Strafe. Der Herr bestraft kleine Jungen, die sich nicht die Hände waschen und dann behaupten, sie hätten es getan…

Mit gesenktem Kopf, mit brennendem Gesicht und voller Scham stand Brian mit erhobenen Armen da, die beleidigenden Hände der Klasse zugewandt. Er hob den Kopf und sah, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren... Er sah mehrere Kinder, die sich nach vorne beugten, um die Schüler vor sich anzutippen, zu tuscheln und auf ihn zu zeigen…

Miss MacDonald war eine effiziente Frau, die auf Ergebnisse achtete; eine Züchtigung war ihrer Meinung nach nutzlos, wenn das Kind nicht zusammenbrach und mit roten und feuchten Augen vor ihr stand; je mehr Schluckauf und Tränen, desto wirksamer die Bestrafung.«

Schließlich bricht Brian zusammen. Zunächst erzählt er seiner Mutter nicht, was in der Schule passiert ist. Aber er beginnt, Albträume über den Gott zu haben, der kleine Jungen bestraft, die lügen.

Miss MacDonald ist eine Frau, die nur aus ihrer Quelle schöpft. Daraus stammen ihre Moralvorstellungen, aber auch ihre Theologie, die Gott degradiert zu einem, der Kinder bestraft, die vergessen haben, ihre Hände zu waschen.

Brians Mutter, Mrs. O’Connal, sucht die Lehrerin auf. Sie versucht, sie zur Vernunft zu bringen, merkt aber sehr schnell, dass es sich um eine Frau handelt, die von der Rechtschaffenheit ihrer Position so sehr überzeugt ist, dass sie niemals den Fehler oder Irrtum ihres Handelns einsehen wird. Sie schöpft nur aus ihrer eigenen Quelle. Und wieder lasse ich W.O. Mitchell selbst zu Wort kommen.

»Ich habe das Gefühl, dass ich recht hatte,« sagte Miss MacDonald; sie war keine Frau, die Angst hatte, ihre Überzeugung zu vertreten...

Maggie O’Connell stand auf. »In gewisser Weise bin ich hergekommen, um Ihnen zu helfen.«

»Um mir zu helfen!«

»Ja, bevor ich kam, dachte ich, Sie wären eine schlechte Frau. Aber das sind Sie nicht. Sie sind eine gute Frau, fürchte ich - eine rechtschaffene Frau.«

»Eine rechtschaffene...«

»Sie haben sich noch nie geirrt, nicht wahr, Miss MacDonald?«

»Aber natürlich, ich...«

»Nein, Sie haben nicht die Fantasie, sich zu irren. Sie müssen eine sehr unglückliche Frau sein.«

 

Miss MacDonald hat nicht die Fantasie dazu, sich zu irren. Darum kann sie sich nicht vorstellen, dass sie mehr braucht für ihr Leben, dass die versprochene Fülle des Lebens noch aussteht. Sie wähnt sich im Besitz der Wahrheit und kann sich gar nicht vorstellen, nicht alles schon zu wissen, nicht alles zu können. Deshalb ist sie auch nicht offen für das, was von oben kommt, für eine andere Quelle als die, die sie schon genügend kennt.

Mögen wir zu Menschen werden, die die Fantasie besitzen, uns zu irren. Jesus glaubt an unseren ganz persönlichen Lebensweg und alle Wandlungen, die er durchmachen wird. Zärtlich und sanft wird er sich auf die bescheidenen Wahrheiten unserer ersten, zaghaften Schritte der Wandlung konzentrieren, anstatt fixiert zu sein, ob wir das ferne Endziel schon erreicht haben. Immerhin ist er immer mehr interessiert daran, ob wir geboren werden, ins Leben hineingehen, denn ob wir schon geboren sind.

 

Erik Riechers SAC

Neubiberg, 14. März 2024