Nächster Abschnitt

Für alles gibt es eine Stunde, und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel

 

Am 2. November 2020 schrieben wir diese Worte in unserem Impuls für Sie:

»Die Pilger auf dem Camino riefen sich 'Ultreja' zu. Es heißt so viel wie 'Vorwärts! Weiter!' So haben sich die Pilger aufgemuntert mit einem Mut machenden Wort.«

Seit mehr als zwei Jahren lautet unser Wort des Mutes und der Motivation »Bleiben Sie behütet«. Wir haben es Ihnen viele hundert Mal zurufen lassen. Wir waren entschlossen, die Menschen in der schwierigen und beunruhigenden Zeit der Pandemie nicht ohne Inspiration, Führung, Orientierung und Hoffnungshorizont zu lassen. Erst als die Krise nachließ und der Bedarf nicht mehr bestand, haben wir am 9. Juni 2021 aufgehört.

Doch wie so viele Stürme im Leben kehrte die Krise mit Kraft und Stärke zurück. So nahmen wir diese Arbeit im November mit den 25 Advents-Impulsen »Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen« wieder auf und bringen Ihnen bis heute den Trost, die Weisheit und die Perspektiven der biblischen Geschichten. Wir haben Ihnen die Treue gehalten.

Jetzt sind wieder ruhigere Tage angebrochen. Die Pandemie lässt nach, die Menschen können wieder an den zahlreichen Kursen teilnehmen, und es ist problemlos möglich, in unsere Kirchen zurückzukehren, um die Liturgie zu feiern. Reisen, Feiern und gemeinschaftliche Zusammenkünfte sind wieder möglich, was die Isolation und Einsamkeit vieler Menschen lindert. Wir erkennen, dass die Zeit gekommen ist, die schwere Last dieser Aufgabe abzulegen. Geschichtenerzähler bezeichnen dies oft als Ablegen des Mantels und erinnern uns daran, dass es wichtig ist zu wissen, wann die Stunde gekommen ist, dies zu tun. Wir glauben, dass die Zeit gekommen ist.

In seinem Buch »Nachtzug nach Lissabon« schreibt Pascal Mercier aufschlussreiche Worte: »Wir lassen etwas von uns zurück, wenn wir einen Ort verlassen, wir bleiben dort, auch wenn wir weggehen. Und es gibt Dinge in uns, die wir nur wiederfinden können, wenn wir dorthin zurückkehren.« In diesen langen Monaten haben wir in den unzähligen Impulsen, die wir geschrieben haben, etwas von uns selbst zurückgelassen, etwas von unserem Glauben, etwas von unserer Hoffnung und sicher auch etwas von unserer Sorge um die Menschen, die uns anvertraut sind. Vielleicht werden Sie hin und wieder zu den Impulsen zurückkehren und wie Pascal Mercier einige Dinge wiederentdecken, die man nur finden kann, wenn wir »dorthin zurückkehren«.

Wir wissen auch, dass eine große Unsicherheit darüber besteht, was die nächsten Monate bringen werden. Wird eine weitere Welle des Virus kommen? Werden wieder Lockdowns und Einschränkungen notwendig sein? Es ist schwierig, vorauszuplanen, wenn wir nie sicher sind, was die Zukunft bringen wird. Dennoch gibt es zumindest eine Gewissheit, auf die Sie sich verlassen können: Was auch immer die kommenden Monate bringen mögen, wir werden für Sie da sein. Und wenn wir sehen, dass es notwendig ist, werden wir den Mantel, den wir heute niedergelegt haben, wieder aufheben, und wieder wird das ermutigende Wort aus unseren Herzen, Köpfen und Stimmen ertönen: »Bleiben Sie behütet.«

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

6. Mai 2022

 

Nächster Abschnitt

Grenzen überwinden

 

Meine knapp 6-jährige Enkelin erzählte mir kürzlich von ihrer Freundin und deren Höhenangst. Das kennt sie von ihrer großen Schwester. »Weißt du, Oma, Rosa hat ja auch Höhenangst. Aber trotzdem ist sie mit uns in der Gondel gefahren, obwohl das nicht leicht für sie war. Sie überwindet die Höhenangst. Aber ich glaube, Lena will sie nicht überwinden. Sie versucht es noch nicht einmal.«

Ihre Gedanken und ihre Sprache gehen mir seither nach. Sind wir nicht auch viel zu oft wie Lena? Eine Barriere tut sich auf – innerlich oder von außen kommend – das irritiert uns und führt oft dazu, dass wir ängstlich stehen bleiben. Es kann Angst machen, einen schmalen Höhenweg zu gehen an einem steilen Hang, wenn der Boden unsicher ist. Es kann verunsichern, wenn vertraute Nachbarn wegziehen und nun fremde Menschen mir sehr nahe kommen, die vielleicht noch nicht einmal meine Sprache sprechen. Haben wir nicht schon oft in unserem Leben vor einer Aufgabe gestanden, die uns viel zu schwer schien und vor der wir uns verdrücken wollten – es vielleicht auch taten? Wir haben es möglicherweise noch nicht einmal versucht!

Mich beeindruckte in der Erzählung meiner Enkelin das Wort »überwinden« und wie souverän sie damit umging. Es war ihr klar, dass die Gondelfahrt ihre Schwester Überwindung kostete. Umso bewundernder der Ton, mit dem sie von ihrer Schwester sprach und umso größer das Unverständnis für ihre Freundin.

Ja, wie winden wir uns, bis wir eine Grenze, eine Hürde, überstiegen haben. Beim Hochsprung ist die beste Technik, um möglichst hoch zu springen, der Flopsprung. Schon der Anlauf ist bogenförmig und im Absprung dreht sich der Springer um seine Längsachse. Er windet sich in die Höhe, um die Latte zu »überwinden«. Durch Übung kann dann die Latte sogar erhöht werden.

Es ist eine ständige Übung unseres Lebens, Grenzen zu akzeptieren, Dinge anzunehmen, die nicht zu ändern sind. Aber es gibt so viele Barrieren, die wir mutig und geduldig übersteigen könnten und auch sollten, um zu mehr Leben zu gelangen. Manchmal müssen wir dazu »nur« unsere Bequemlichkeit überwinden, manchmal die Fragen in unseren Ängsten erkennen und eine Antwort suchen. Immer wieder müssen wir unsere tiefen Sehnsüchte entdecken und Prioritäten neu setzen. Oft brauchen wir Gefährten, die uns helfen, mit uns üben und uns auch immer wieder ermutigen, den Sprung zu wagen.

Die österlichen Wochen machen uns Mut dazu. Der Tod ist überwunden, damit wir leben können, auch und gerade über unsere Grenzen hinaus. Vielleicht können wir Psalm 18 dann ganz neu beten: 

»Ja, mit dir überrenne ich Scharen, mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Gott, sein Weg ist lauter, / das Wort des HERRN ist im Feuer geläutert. Ein Schild ist er für alle, die sich bei ihm bergen. Denn wer ist Gott außer dem HERRN, wer ist ein Fels, wenn nicht unser Gott? Gott hat mich mit Kraft umgürtet und vollkommen machte er meinen Weg. Schnell wie Hirschkühe ließ er mich springen, auf Höhen hat er mich hingestellt.« (Ps 18, 30-34)

 

Rosemarie Monnerjahn, 2. Mai 2022

Nächster Abschnitt

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

 

Man führte sie herbei und stellte sie vor den Hohen Rat. Der Hohepriester verhörte sie und sagte: Wir haben euch streng verboten, in diesem Namen zu lehren; und siehe, ihr habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt; ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ans Holz gehängt und ermordet habt. Ihn hat Gott als Anführer und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken. Zeugen dieser Ereignisse sind wir und der Heilige Geist, den Gott allen verliehen hat, die ihm gehorchen

Apg 5, 27-32

 

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen«. Dieser Satz des Petrus im Angesicht des Schweigebefehls des Hohepriesters ist ein Klassiker. Doch wie so oft haben wir ihn nur selektiv auf unser Leben angewendet.

Wir wenden den Satz oft an, wenn es um äußere Angelegenheiten geht. In der Politik, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft sind wir uns zutiefst bewusst, dass wir Gott mehr gehorchen sollten als menschlicher Autorität. In diesen Bereichen erkennen wir deutlich die Gefahr, die von den Hohen Räten unserer Zeit ausgeht. Allzu oft will die menschliche Autorität uns streng verbieten, »in diesem Namen zu lehren«, damit sie tun kann, was sie will. Politische Autoritäten wenden dieses Manöver gerne an, wenn die Lehre des Evangeliums mit den Programmen der politischen Zweckmäßigkeit in Konflikt gerät. Vom Volk Gottes wird oft erwartet, dass es zu Themen wie Armut, Ungerechtigkeit, Migration, Korruption und Diskriminierung den Mund hält und sich auf »religiöse Themen« beschränkt. Aber das ist nicht das, was Gott will: Wenn wir mehr auf menschliche Autorität als auf Gott hören, die Augen verschließen und die Ohren zuhalten, dann wird es mit Sicherheit zu Ungerechtigkeit, Brutalität, Ausbeutung und globalisierter Gleichgültigkeit kommen.

Gilt dieses Wort der Heiligen Schrift aber nur in solchen Situationen? Hat es keine andere Bedeutung für das Leben des Gottesvolkes? Ich glaube schon. Auch in den persönlicheren Fragen und Begegnungen des menschlichen Lebens muss man Gott mehr gehorchen als der menschlichen Autorität. Schließlich gibt es auch einen Hohen Rat, der versucht, auf einer sehr persönlichen und grundlegenden Ebene unseres Lebens Autorität über uns auszuüben. Er besteht aus Menschen, meist selbsternannten, die uns ihre Sicht des Lebens, der Welt und des Glaubens aufzwingen wollen. Sie geben uns ständig einen Strom von Befehlen, sagen uns, was erlaubt ist und wie wir sein sollen, damit sich die Welt so entfalten kann, wie sie es für richtig halten. Der Hohe Rat unseres täglichen Lebens sind die Menschen, die den ständigen Drang verspüren, über uns, unsere Denkweise und unsere Lebensweise zu urteilen.

Menschen sagen uns: du bist nutzlos und nicht zu gebrauchen. Gott sagt: »Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich Menschen für dich und für dein Leben ganze Völker« (Jes 43,4) Angesichts Botschaften, die sich widersprechen, gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns: du bist minderwertig und bedeutungslos. Der Psalmist sagt, dass Gott uns aber folgendermaßen sieht: »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit.« (Ps 8, 5-6) In Gottes Augen haben wir einen großen Wert, und genießen Gottes Wertschätzung. Wenn die Stimmen, die unser Ohr erreichen, sich widersprechen, gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns: dein Leben ist sinnlos und du hast nichts beizutragen. Gott sagt, unser Leben ist so sinnvoll, dass er ein Interesse an uns hat bis ins kleinste Detail. »Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.« (Mt 10, 30) Gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns, dass wir nicht liebenswürdig sind, dass wir es nicht verdienen, geliebt zu werden, dass man uns gar nicht lieben kann oder will. Gott sagt uns: »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir die Treue bewahrt.« (Jer 31,3) Wenn unsere Selbstachtung auf dem Spiel steht, gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns, dass wir nicht gewollt sind, dass wir unerwünscht sind, dass wir überflüssig sind und dass es ohne uns auch geht, sogar dass es besser, leichter oder schneller gehen würde, wenn wir nicht im Wege stehen würden, nicht eine Last wären. Der Psalmist merkt, wie Gott auf uns schaut und betet: »Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin.« (Ps 139, 13-14) In den Augen des Gottes, der uns geschaffen hat, haben wir Wert, Würde und Sinn und sind gewollte, erwünschte, geplante Kinder. Wenn die Worte der Menschen in Konflikt stehen zu den Worten Gottes, werden wir dann Gott mehr gehorchen als den Menschen?

 

Erik Riechers SAC

Werl, den 29. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Ein Gebet für jene, die zweifeln und fragen

 

Herr Jesus, Du schmunzelst sanft, wenn Du durch geschlossene Türen gehst, um uns zu finden. Du bist der Herr unserer Sehnsucht nach einem Leben, das noch nicht greifbar ist,

das unser Verstehen und unsere Vorstellungskraft übersteigt.

 

Lehre uns Deinen Respekt für Männer und Frauen wie Thomas,

damit auch wir das fragende Herz ehren können.

 

Eine Frage ist ein Ausdruck der Sehnsucht.

Alles kommt durch eine Frage in Bewegung.

Die Frage ist das, was erregt.

 

Selbst eine quälende Frage ist besser als keine Frage,

denn sie stößt an die Grenzen der stillschweigenden Verschwörung,

wie die Dinge zu sein haben.

 

Sie erzwingt eine Art Versuch, den Dingen einen Sinn zu geben.

Wenn es eine Frage gibt, dann gibt es die Möglichkeit, sich weiter zu entfalten.

 

Das Hinterfragen ist das, was wirklich motiviert

und gibt uns das starke Gefühl, dass wir nicht alles wissen,

dass es hier Dinge gibt, die wir wissen sollten.

 

Aber selbst wenn wir keine unmittelbare oder zufriedenstellende Antwort erhalten,

wissen wir, dass unsere Fragen uns zu einer Begegnung mit Dir führen werden.

 

Wir haben Dich nicht immer in den Antworten gefunden,

         die wir erhalten und gelernt haben.

Aber Du hast uns immer in den Fragen gefunden,

         die wir in unserem Herzen tragen,

auch wenn wir sie zunächst nur hinter verschlossenen Türen zu stellen wagen.

 

Erik Riechers SAC, 25. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Das Geschenk, das wir brauchen, damit der Glaube blühen kann

 

Ich lernte von einem großen Meister des biblischen Geschichtenerzählens. Eine der Lektionen, die ich mir sehr zu Herzen genommen habe, war seine Ermahnung, dass wir lernen müssen, »die Bibel mehr für Bilder als für Gedanken« zu schätzen. (Stories of Faith, S. 10) Diese Überzeugung trage ich seit drei Jahrzehnten in meinem Herzen und würdige sie in meiner Arbeit. Es ist auch eine Überzeugung, für die ich einen hohen Preis gezahlt habe.

Ich hielt eine Gründonnerstagspredigt, in der ich die Bedeutung des Gewandwechsels entfaltete. Wie so oft, wenn ich den tieferen Sinn der biblischen Bilder enthülle, rief dies nur wenige Reaktionen hervor. Das enttäuschte mich, aber es überraschte mich nicht.

Wir befinden uns auf unserer Glaubensreise in einer seltsamen Lage. Einerseits beklagen sich so viele Menschen über trockene und langweilige Lehranweisungen, über eine theologische Sprache, die unverständlich ist und die nicht inspiriert. Andererseits können wir auch mit den Bildern der Heiligen Schrift nicht wirklich umgehen. Die biblischen Bilder öffnen große und weite Räume des menschlichen Herzens, Räume, die nicht schnell durchschritten, kurz erklärt und schnell erschöpft werden können. Diese großen Bilder verlangen von uns eine große Anstrengung, um sie zu hören und dann auf den tiefen Ebenen unserer eigenen menschlichen Erfahrung zu deuten. Und wie alle weiten Räume müssen sie navigiert werden. Angesichts dieser Anstrengung bevorzugen wir dann die kurze, knappe Erklärung. Im Kampf zwischen Tiefe und Bequemlichkeit gewinnt die Bequemlichkeit öfter, als sie sollte.

Wir brauchen nur einen Blick auf die Ostergeschichten der Evangelien zu werfen, um das Problem zu erkennen, mit dem wir konfrontiert sind. Die Geschichten von den Auferstehungserscheinungen zeigen uns immer wieder das gleiche Muster.

  1. Keiner wird jemals beim Beten angetroffen.

Man findet sie beim Besuch des Grabes (Mt 28,1), auf dem Land spazierend (Mk 16,12), auf der Flucht von Jerusalem nach Emmaus (Lk 24,13), zu Hause (Joh 20,2) oder beim Fischen in der Nacht (Joh 21,3). Sie verstecken sich ängstlich hinter verschlossenen Türen (Joh 20,19). Aber in keiner einzigen Auferstehungsgeschichte ist davon Rede, dass sie im Gebet das Gespräch mit Gott suchen.

  1. Keiner von ihnen erkennt ihn.

Sie kennen ihn nicht auf den Wegen, die er so oft mit ihnen gegangen ist (Lk 24, 16). Maria Magdalena meint, er müsse der Gärtner sein (Joh 20,14), und niemand kommt auf die Idee, den Fremden, der am Ufer des Sees Tiberias Brot und Fisch bei sich hat, mit dem Herrn in Verbindung zu bringen, der am selben Ufer Brot und Fisch mit ihnen teilte und die Menschenmengen speiste (Joh 21,4).

  1. Die erste Reaktion ist niemals Freude.

Trotz all unserer triumphalen Osterlieder brach bei den Auferstehungserscheinungen niemand in Halleluja-Chöre aus. Es gibt Zweifel (Mt 28,17, Lk 24,41). Sie sind erschrocken und verängstigt (Lk 24, 37). Petrus, als er hört, dass es der Herr ist, springt lieber ins Wasser, als sich einer Begegnung und einem Gespräch mit Jesus zu stellen (Joh 21,7).

Als Jesus diesen sehr unterschiedlichen Menschen nach seiner Auferstehung begegnet, bietet er ihnen jedoch nie eine schnelle oder klare Erklärung an über das, was geschehen ist, wo er gewesen ist und was sie tun müssen, um Angst und Zweifel zu überwinden und zum Glauben und zur Freude zu kommen.

Stattdessen wählt Jesus einen ganz anderen Ansatz. Er versucht, sich ihnen als der Herr zu zeigen, mit dem sie vertraut sind. Dazu wählt er immer ein reiches Bild, ein tiefes Symbol. Dieses Bild, diese Metapher oder Geste ist die Art und Weise, in der Jesus jedem Menschen das gibt, was er braucht, um tiefer in die Bereiche des Glaubens vorzudringen.

Er ruft Maria von Magdala beim Namen, damit sie ihn an seiner Stimme erkennt. Er isst mit den Jüngern in Emmaus und offenbart sich durch die Geste des Brotbrechens. Petrus erhält die Gabe eines Gesprächs am Kohlenfeuer. Den Jüngern in Jerusalem zeigt er seine Hände und Füße und lädt sie ein, sein Fleisch zu berühren. Dem Thomas hingegen zeigt er seine Wunden, bevor er seinen Glauben bekennt. Dem geliebten Jünger wird ein Fischernetz mit 153 großen Fischen geschenkt, bevor er sagt: »Es ist der Herr«. Als sie »vor lauter Freude noch immer ungläubig waren« (Lk 24, 41), nimmt er sich die Zeit, in ihrer Gegenwart gebratenen Fisch zu essen.

Jesus gibt jedem Menschen das, was er oder sie braucht, um mit der stürmischen inneren Verwirrung umzugehen, mit der er oder sie zu kämpfen hat. Was er nicht anbietet, ist eine schnelle oder kuriose Erklärung, die sofort alle Angst und Verwirrung aus ihren Herzen vertreibt. Seine Gabe ist die des Symbols, der Geste, der Metapher und des Bildes, und das hat sich nicht geändert. Denn hier trifft die weite und große Welt Gottes auf die weite und große Welt des menschlichen Herzens. Das Geheimnis, in das wir eingetaucht sind, ist reich und kompliziert, komplex und vielschichtig. In der Welt des authentischen Glaubens gibt es keine schnellen Lösungen. Doch wenn wir zu bequem sind, diese Gaben Jesu zu interpretieren, versäumen wir es, das Geschenk auszupacken. Und keine Erklärung der Welt wird das wieder gutmachen können, was wir dann verlieren.

 

Erik Riechers SAC, 22. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Emmausgang

 

Ostergeschichten erzählen von allmählichem Verstehen, von langsamem Begreifen des vormals Unvorstellbaren. Sie sind ehrlich, verleugnen weder Angst noch Verwirrung und Hoffnungslosigkeit, aber sie offenbaren uns Ergriffenheit des Herzens.

Solch eine Geschichte steht über dem heutigen Tag. Denn in unseren Nöten und abgrundtiefen Enttäuschungen glauben wir, ganz allein zu sein. Oft reden wir nur mit uns selbst und drehen uns im Kreis.

Wir nehmen oft nicht wahr: Es gibt Menschen an unserer Seite. Sie gehen mit. Sie leiden mit. Sie verstehen uns - ja vielleicht sind sie durch dieselben tiefen Täler gegangen.

Und dann ist da ER, dem nichts Menschliches fremd ist, neben uns und immer auch schon uns voraus:

 

emmaus

ich lief weg

ganz benommen

vernagelt in meinem schmerz

todtraurig in mich selbst vergraben

 

ach du

ich hatte gar nicht mehr bemerkt

dass du ja auch noch da bist

den ganzen weg schon

ob ich ein stück brot will

eigentlich habe ich

keinen appetit aber

danke

 

mir wird ganz heiß

du hast den ganzen weg über

meinen selbstgesprächen zugehört

ach

und nicht nur du

 aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel

 

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes österliches Unterwegssein.

 

Rosemarie Monnerjahn, Ostermontag, 18. April 2022

Nächster Abschnitt

Was wir uns nicht leisten können zu ignorieren

 

Karfreitag ist für uns schwere Kost, ja, schwerverdauliche Kost. Er weigert sich, uns zum leichten Teil übergehen zu lassen. Er zwingt uns, einen Teil des Geheimnisses ernst zu nehmen, nämlich den Tod und das Leiden, den wir lieber übergehen würden, um die Auferstehung zu feiern.

Dieser Tag lehrt uns eine ganz grundlegende Lektion über unseren Glauben. Die Auferstehung ist kein Placebo. Sie ist auch kein Fluchtweg, der Leiden und Tod umgeht. Die Auferstehung ist die Macht Gottes, aber sie entfaltet sich in einem Menschen, der frei genug ist, sich bereitwillig auf die volle Erfahrung von Tod und Sterben einzulassen.

Ostern entfaltet sich in Menschen, die sich weigern, vor dem Karfreitag zurückzuschrecken. Der Priesterdichter Andreas Knapp bietet uns die Möglichkeit, innezuhalten und auf ein Geheimnis zu blicken, das wir lieber ignorieren oder sogar ganz vermeiden würden.

 

karfreitag

er kruzifixiert

damit wir ganz gelöst sind

 

er entblößt

damit wir uns nicht zu schämen brauchen

 

er zur Schau gestellt

damit wir uns sehen lassen können

 

er unser notnagel

damit wir nicht abstürzen

 

er gescheitert gestorben

damit wir unsere zerbrechlichkeit leben können

aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel

 

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten und tiefgründigen Karfreitag.

  

Erik Riechers SAC

Karfreitag, 15. April 2022

Nächster Abschnitt

Verhüllt

 

Vor gut 30 Jahren sang ich in einem Chor in der Pfarrkirche von Niederlana. Sie ist berühmt für ihren wunderschönen Flügelaltar von Hans Schnatterpeck. Doch zu jenem Zeitpunkt war er geschlossen, das Kreuz verhüllt - wir befanden uns in der Karwoche.

Seit dem frühen Mittelalter werden Kreuze in der Passionszeit verhüllt und erst zur Kreuzverehrung an Karfreitag enthüllt. Oft ging es dabei um prachtvolle Triumphkreuze, die eher vom Sieg über den Tod als vom Leiden erzählten. Das Triumphale zu verbergen sollte helfen, den Kreuzweg als Leidensweg in den Blick zu nehmen. Viele von uns kennen den Brauch des Kreuzverhüllens auch heute noch.

Eine Hülle um etwas zu legen geschieht meist, um das zu Verbergende ganz pragmatisch zu schützen: vor Schmutz, vor Sonneneinstrahlung, vor falschem Gebrauch oder vor Diebstahl. Doch ich verhülle auch das, was mir heilig ist, um es den Blicken derer zu entziehen, die es nicht zu schätzen wissen, ja die es entwürdigen könnten. Schließlich war das Allerheiligste der Juden, der innerste Raum des jüdischen Tempels, das ganze Jahr verhüllt, ein Vorhang trennte ihn von der Haupthalle. Nur einmal im Jahr, am Versöhnungsfest, durfte der Hohepriester ihn betreten. Für alle anderen blieb das Allerheiligste immer verhüllt. 

Wenn das Kreuz Jesu vielerorts in diesen Tagen verhüllt ist, erinnert mich dies daran, dass der ganze Leidensweg Jesu ein Weg des zunehmenden Verhüllens wurde. Besonders das älteste Evangelium, das Markusevangelium,  zeigt den Passionsweg Jesu als einen Weg, in dem das Göttliche in seiner Macht immer mehr verborgen wird. In Galiläa zeigte Jesus sich als der Wirkmächtige: er heilte und wirkte Wunder, er predigte, er sammelte Menschen um sich und seine frohe Botschaft vom Reich Gottes. In Jerusalem nun wird mehr und mehr seine Ohnmacht deutlich. Er wird angefeindet, ausgeliefert, gequält und schließlich schmählich hingerichtet. Menschen damals - wie auch heute angesichts grauenvollen Leidens -  fragen: Wo ist Gott? Wer kann hier, in dem Geschundenen, Gequälten und schließlich Sterbenden, noch Gott sehen? Doch dann, im Augenblick seines Todes, zerreißt eine Hülle, nämlich der Vorhang des Tempels, der das Allerheiligste verhüllt. Und Markus lässt einen Zeugen sprechen, der unter der »Hülle« der Katastrophe Jesu das Allerheiligste, nämlich Gott entdeckt: »Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.« (Mk 15, 39)

Was verhüllt war, wird enthüllt auf eine Weise, die radikal anders ist als alles, was Menschen sich vorstellen.

Wir glaubten, Leiden und Kreuz verhüllen Gott. Nun sehen wir: Im Kreuz ist Gott.               

Wir glaubten, Gott nicht zu sehen in den Kreuzen unserer Tage. Doch nun beginnen wir zu ahnen: Er ist in jeder Träne, jedem gebeugten Rücken, jeder hilfreichen Hand, jedem offenen Herzen.

Wir glaubten das Allerheiligste hinter einem Vorhang. Nun wird es sichtbar für den, der durch das Kreuz geht.

Verhüllen und Enthüllen liegen in dieser Woche nah beieinander: Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern gibt den Blick frei auf das Herz Gottes. Wie Jesus durch seine letzten Stunden geht, enthüllt immer wieder seine Größe und die Radikalität, ja Göttlichkeit, seiner Liebe.

So können verhüllte Kreuze unseren Blick schärfen auf das, was im Leid enthüllt wird - auch heute. Wir sehen Göttliches mitten im Krieg in vielen mitleidenden Herzen, einsatzbereiten Händen, kreativen Helfern, gelebt von Alten und Jungen.

Mag das Kreuz in den Augen der Welt eine »Torheit« (1 Kor 1, 23) sein - für uns Christen zeigt sich Gott in dieser Schwachheit.

So wünsche ich uns allen eine enthüllende Karwoche.

 

Rosemarie Monnerjahn, 11. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Barmherzigkeit als die Initiative Gottes

 

Vor ein paar Wochen hörte ich einem jungen Priester zu, der während einer Werktagsmesse für eine Gruppe älterer Ordensfrauen eine Predigt hielt. Als er fertig war, stieg ein ungutes Gefühl in meinem Herzen auf. Der Prediger hatte die ganze Zeit über die Unwürdigkeit, die Sünde und die Undankbarkeit der Menschen betont, und erst dann, mehr im Nachhinein, erwähnte er kurz die Barmherzigkeit Gottes.

Später am selben Tag hielt ich mein Eröffnungsreferat für die Teilnehmer der Exerzitien, die am Morgen die Messe besucht hatten. Danach kamen einige der Teilnehmerinnen zu mir, um sich zu bedanken, und sagten mir, dass sie sich auf seltsame Weise getröstet und gestärkt fühlten. Eine der Frauen sagte mir, sie sei verunsichert und wisse nicht, warum mein Vortrag eine so andere Wirkung auf sie gehabt habe als die Predigt am Morgen. Schließlich, so sagte sie, hatten sowohl die Predigt als auch mein Vortrag mehr oder weniger das gleiche Thema, nämlich Sünde und Barmherzigkeit

Nicht wirklich. In der Morgenpredigt wurde die Sünde als Anlass für die Barmherzigkeit dargestellt. Die Sünde ist der Auslöser, und dann entwickelt Gott die Barmherzigkeit als die Strategie, mit der er auf die Sünde antwortet. In dieser Predigt ist es die Sünde, die die Initiative ergreift. Sie setzt alles in Bewegung, auch Gott.

Weil wir so große Sünder sind, kommt die Barmherzigkeit.

Weil wir so undankbar leben, kommt das Erbarmen.

Weil wir so unwürdig handeln, kommt die Barmherzigkeit.

Es wird sehr deutlich hervorgehoben, dass die Sünde Gott in Bewegung setzt und dass die Barmherzigkeit lediglich Gottes Antwort auf die Initiative der Sünde ist.

Aber Jesus spricht von Barmherzigkeit auf eine ganz andere Weise. Ich hatte über das Gleichnis des barmherzigen Samariters gesprochen. Der Mann, der geschlagen und zum Sterben am Straßenrand zurückgelassen wurde, erfährt Barmherzigkeit. Aber die Barmherzigkeit in Gestalt des Samariters kommt nicht zu ihm, weil er ein so großer Sünder war. Die großen Sünder waren die Räuber, die ihm das angetan haben. Die Barmherzigkeit kommt nicht zu ihm, weil er in Undankbarkeit lebte, und sie kommt auch nicht, weil er unwürdig oder sündhaft gehandelt hat. »Aber ein Samariter, der auf dem Weg war, kam zu ihm; und als er ihn sah, wurde er von Mitleid ergriffen.« (Lk 10,33) Deshalb kam die Barmherzigkeit zu ihm. Deshalb überquerte die Barmherzigkeit die Straße.

Jesus betont, dass die Barmherzigkeit die Initiative Gottes ist und dass sie an erster Stelle steht. Die Barmherzigkeit kommt vor der Sünde. Sie kann mit Sünde umgehen, und sie kommt sicherlich, wenn Sünde im Spiel ist. Aber die Barmherzigkeit ist älter als jede Sünde.

Diese tiefe Offenbarung des Herzens Gottes hat große Konsequenzen für unsere menschlichen Herzen, wie die sehr unterschiedliche Wirkung der Predigt und meines Vortrags auf die Herzen der Zuhörer deutlich machte. In der Predigt hörten wir, dass die Sünde das entscheidende Moment ist. Die Rolle und die Macht der Sünde wurden so vehement und so oft wiederholt, dass der Prediger die Sünde am Ende ernster nahm als die Barmherzigkeit Gottes. Wenn die Barmherzigkeit dann überhaupt erwähnt wird, dann nur im Zusammenhang mit der Sünde.

 Dies ist jedoch eine Absage an den tiefsten Instinkt des Paulus: »Wo aber die Sünde überhand nahm, da nahm die Gnade überreichlich zu«. (Röm 5,20)  Die Formulierung »überreichlich« ist eine Übersetzung des griechischen Wortes huperperisseo. Das Wort vermittelt die Erfahrung von etwas, das alle alten Maßstäbe übersteigt, das sich über die alten Proportionen hinaus ausdehnt und ausbreitet, und es spricht von etwas, das man im Überfluss genießen und auskosten kann. Es ist wie ein riesiger Fluss, der von stromaufwärts mit Wasser geflutet wird.

Und warum ist es wichtig, dies zu wissen? Es ist wichtig, weil wir Menschen auch dann Barmherzigkeit brauchen, wenn wir gar nicht gesündigt haben. Barmherzigkeit ist die göttliche Liebe, die die Initiative ergreift, so wie der Samariter die Initiative ergreift, um die Straße zu überqueren und Hilfe, Beistand und Erleichterung anzubieten. Wenn der andere nicht die Kraft, den Mut oder die Möglichkeit hat, liebevoll zu handeln, schafft die Barmherzigkeit Gottes aus eigenem Antrieb Lebensraum für die Menschen. »Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.« (1 Joh 4, 9)

Wir brauchen diese initiative Liebe Gottes, diese Barmherzigkeit, auch wenn wir nicht gesündigt haben. Wenn wir krank oder ängstlich sind, brauchen wir Barmherzigkeit. In Zeiten, in denen wir ängstlich oder eingeschüchtert, einsam oder deprimiert sind, brauchen wir Barmherzigkeit. Die Stunde der Barmherzigkeit ist gekommen, wenn wir erschöpft und entmutigt, enttäuscht oder einfach lustlos sind. Dies sind ganz gewöhnliche Erfahrungen des täglichen Lebens, und sie alle sind Momente, in denen wir Barmherzigkeit brauchen. Aber nichts von alledem ist eine Sünde. Und doch wecken sie alle die große Sehnsucht unseres Gottes, zu uns zu kommen, uns aufzusuchen, uns Heilung zu bringen.

Das sind die Momente, in denen ich meinem Gott als dem Barmherzigen begegne, als dem Gott, der immer das erste Wort spricht, die erste Geste macht und die Initiative ergreift.

 

Erik Riechers SAC

Dorfen, den 08. April 2022

Nächster Abschnitt

Leben entdecken

 

Der Titel eines Buches für junge Forscher weckte etwas in mir: »Natur - entdecken, verstehen, mitmachen«. Es war das Wort »entdecken«. Der Duden nennt es ein schwaches Verb und wir gebrauchen es sehr oft. Wir kennen Namen von Menschen, die neue Erdteile oder Seewege entdeckten, von Himmelsforschern, die neue Sterne entdeckten, von Biologen, die DNA-Sequenzen entschlüsselten. Kinder entdecken neue Blumen im Garten, ich entdeckte einen neuen Weg im Wald oder meine Liebe zum Meer. Manchmal entdecken wir neue Ecken in einer uns bekannten Stadt oder ganz neue Seiten an einem Menschen, den wir bereits kennen. Ob Marco Polo oder meine Enkelkinder, ob Galileo Galilei oder ich selbst – alles, was entdeckt wird, war vorher schon da. Es ist, als ob der Entdecker eine Decke weggezogen hätte. So kann er zum ersten Mal sehen, was lange schon existiert. Er deckt auf, er entblößt und findet so etwas bis dahin Unbekanntes oder Verborgenes. Es mag sein, dass er es lange schon suchte, vielleicht aber auch ahnte er nichts davon.

Jedes Frühjahr in unseren Breiten kann uns dafür ein Beispiel sein. Wochen und Monate sah die Erde braun und tot aus, bedeckt mit den immer trockener werdenden Herbstblättern. Doch kaum entferne ich sie im Februar oder März, entdecke ich Spitzen von Tulpenblättern, Triebe von Pfingstrosen, die ersten Blättchen der Taglilien. Manchmal wissen wir gar nicht, welche Pflanze da gerade zum Vorschein kommt.

Starren wir nicht oft auf unser Leben wie auf eine Decke? Wir glauben, das, was wir sehen, sei schon das Leben, unser Leben, und wir ahnen nicht oder wollen es gar nicht wissen, was unter dieser Hülle liegt. Die Decke, die da oft schützend über unser Leben ausgebreitet liegt, heißt »Das macht man so.« oder »Die anderen erwarten es von mir.« oder »Das sieht gut aus.« Es mag auch sein, dass wir kein Muster mehr erkennen, dass die Decke grau geworden ist wie eine 08/15-Teerdecke. Darauf lässt sich ja bekanntlich leicht gehen, aber langes Wandern auf ihr tut weder den Füßen noch dem Rücken gut. Der Boden ist zu hart. Ganz anders ist es, auf natürlichem Untergrund zu wandern, wenn unsere Schritte abgefedert werden und wir außerdem sehen, auf welchem Grund wir gehen.

Seien wir achtsam und ehrlich auf unserem Lebensweg: Hin und wieder blitzt etwas auf - eine Erinnerung an eine alte Sehnsucht, ein Gefühl von Wärme und Lust. Liegt da wie unter einer Ascheschicht verborgen doch Lebensglut? Sie gilt es anzufachen, damit wir das Leben in uns neu entdecken: ein wenig Sauerstoff zuführen, die Decke wegziehen, anschauen, was da zum Vorschein kommt. Ja, solch eine Entdeckung kann zur echten Auferstehungserfahrung werden. In mir steckt mehr Leben, viel mehr Leben, das hinaustreibt. Für mich ist es eine Aufgabe und Herausforderung der Fastenzeit, neu das Leben in mir zu entdecken und ihm immer mehr Raum zu geben, es gewissermaßen herauszulassen.

Doch wir sollten weiter denken, über uns selbst hinaus, und schauen, was unter der Decke der anderen an Leben verborgen ist. Wir sitzen einander gegenüber in Großraumbüros oder an Bildschirmen, nebeneinander in Zügen und Bussen, in Schulklassen oder an unseren Esstischen und nehmen doch nur die äußere Hülle voneinander wahr. Trauer in den Augen, ein Lächeln um die Lippen, ein unsicherer Blick, hängende Schultern - all das könnten Einfallschneisen für die Entdeckungen wahren Lebens im anderen sein. Natürlich, manche Menschen ziehen ihre Decke fest um sich und sind erleichtert über den Schutz der Anonymität. Aber andere warten darauf, dass wir entdecken, was wirklich in ihnen los ist und ihnen helfen, es leben zu können und zu dürfen. Wir könnten ihnen zur Seite stehen bei der Erfüllung eines lang gehegten Wunsches, ihnen Raum und Zeit schenken, uns mit ihnen freuen, aber auch das Schwere mit ihnen teilen. All das erfordert Kraft und Mühe, aber hat je ein Entdecker Leben gefunden ohne Anstrengung? 

Etty Hillesum, die junge jüdische Intellektuelle, die 1943 in Auschwitz hingerichtet wurde, betete im Juli 1942: »… vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.«

Überall, wo wir Leben entdecken, können wir ihm »auf die Beine« helfen und dabei in uns und anderen Gott selbst finden, den Liebhaber des Lebens.

     

Rosemarie Monnerjahn, 4. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Vom Eis zum Feuer wechseln

 

Vor einigen Tagen hatte ich das Vergnügen, Navid Kermani Auszüge aus seinem neuesten Buch vorlesen zu hören. Er sprach in einer warmen, reichen Sprache über den Glauben. Er sprach über Poesie und Metaphern, über das Erzählen von Geschichten und das Stellen von Fragen, als tiefe und doch sanfte Erfahrungen der Religion. Im Laufe dieser zwei Stunden habe ich mehrmals geseufzt, sowohl vor Freude als auch vor Erleichterung.

Seit geraumer Zeit beunruhigt mich die zunehmende Neigung, für die aus dem Feuer geborenen menschlichen Erfahrungen die Sprache des Eises zu verwenden, wie ich es nenne. Dies geschieht, wenn eine kalte, analytische, herzlose und blutleere Sprache verwendet wird, um die Dinge in einem menschlichen Leben zu beschreiben, die das Feuer der Leidenschaft, des Engagements, des Mutes und des Abenteuers wecken sollten. Es geschieht, wenn wir den schmerzhaften Tod unschuldiger Kinder in einem Kriegsgebiet als Kollateralschaden bezeichnen. Das Eis dieser Sprache ist absichtlich gewählt, um das Feuer der Empörung und des Widerstands zu dämpfen, das normalerweise aufflammt, wenn Ungerechtigkeit und barbarische Grausamkeit unsere Herzen treffen. Dies geschieht jedoch auch, wenn wir Begriffe wie »Glaubenskommunikation« verwenden, um die leidenschaftliche, vom Geist durchdrungene Sprache des Psalmisten zu ersetzen, der sagt:

»Ich aber will allezeit hoffen, all deinen Lobpreis noch mehren.

Mein Mund soll von deiner Gerechtigkeit künden, den ganzen Tag von deinen rettenden Taten,

denn ich kann sie nicht zählen.

Ich komme wegen der Machttaten GOTTES, des Herrn,

 an deine Gerechtigkeit allein will ich erinnern.

Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf und bis heute verkünde ich deine Wunder.

Auch wenn ich alt und grau bin, Gott, verlass mich nicht, damit ich von deinem

machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke,

 von deiner Gerechtigkeit, Gott, die bis zum Himmel reicht! .«

(Psalm 7, 14-19)

Sicherlich glaubt niemand, dass die Verwendung der Sprache des Eises, um die Erfahrungen des Feuers zu beschreiben, dem menschlichen Herzen keinen ernsthaften Schaden zufügen wird.

Kürzlich hatte ich eine solch unangenehme Begegnung während einer Lehrveranstaltung. Um einen Punkt zu illustrieren, habe ich das Beispiel eines Kusses verwendet. Niemand kann genau erklären, wie ein Kuss funktioniert, aber das hat noch nie jemanden davon abgehalten, die Wirksamkeit des Küssens zu genießen. An dieser Stelle unterbrach mich eine Teilnehmerin, um mir zu widersprechen. Sie wies darauf hin, dass moderne neurophysiologische Studien uns ein tieferes Verständnis der neurochemischen Vorgänge beim Küssen vermittelt haben und erklären können, warum wir so reagieren, wie wir es tun. Ich war, gelinde ausgedrückt, unbeeindruckt.

Ich bestreite nicht, dass die modernen Wissenschaften uns viele Dinge erklären können, aber das war nicht mein Punkt. Ob wir nun verstehen, was die Neurowissenschaften uns über das Küssen sagen können oder nicht, der Kuss funktioniert immer noch. Und wenn ein Kuss nichts weiter als ein chemischer Prozess im Gehirn ist, warum haben Küsse dann so unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Menschen? Warum hängt der Kuss dann davon ab, wer uns küsst? Warum können Küsse ein so breites Spektrum an Gefühlen ausdrücken, von Liebe bis Verzweiflung, von Freude bis Trauer? Wir  kennen eine Grundregel der Chemie. Die gleiche chemische Kombination wird immer die gleiche chemische Reaktion hervorrufen (wenn man ein Streichholz in einen Kanister mit Benzin wirft, wird es jedes Mal explodieren). Wie können wir dann erklären, dass es so viele und so unterschiedliche Reaktionen auf einen Kuss gibt? Dogmatismus ist nicht nur ein Fehler von Religion und Theologie. Er ist ebenso weit verbreitet, wenn Wissenschaft, Philosophie oder Politik versuchen, eine endgültige und definitive Erklärung des Mysteriums zu beanspruchen. Jeder Versuch, das Mysterium zu definieren, ist ein Versuch, es zu kontrollieren und zu begrenzen. Es ist wie der Versuch, die Form und die Bewegung des Feuers festzuhalten und zu kontrollieren. Solche Versuche sind immer arrogant, gefährlich und zum Scheitern verurteilt. 

Lord Rabbi Jonathan Sacks diagnostiziert in dieser Begegnung auf brillante Weise das zugrunde liegende Problem.

»Es war auch ein Zeitalter, in dem wir uns an Wissenschaftler - Genetiker, Neurophysiologen und Soziobiologen - gewandt haben, um den Zustand des Menschen zu erklären. Die Wissenschaft ist ein ungemein mächtiges Werkzeug zum Verständnis der Natur, aber ein sehr schwaches Instrument zum Verständnis der menschlichen Natur. Genauer gesagt, sie missversteht systematisch, wer und was wir sind. Die Wissenschaft spricht von Ursachen, nicht von Zielen. Sie versteht Ereignisse, die durch Dinge in der Vergangenheit verursacht wurden, aber nicht Handlungen und Entscheidungen, die durch eine Vision der Zukunft motiviert sind. Sie ist gut im Umgang mit dem Körper. Sie ist überfordert, wenn es um den Geist geht, oder um das, was ein früheres Zeitalter die Seele nannte. Sie hat wenig über die Ideale zu sagen, die einem Leben einen Sinn geben.« (S. 3, Celebrating Life)

Ich weiß sehr zu schätzen, was die Wissenschaft für unsere Welt getan hat und weiterhin tut. Aber anders als der Kreuzverhörspezialist in meinem Klassenzimmer werde ich mich nicht in die eiskalte Welt begeben, in der die wissenschaftliche Analyse König ist. Das war der Weg von Athen, der Stadt der griechischen Philosophen. Aber es war nie der Weg Jerusalems, der Stadt des biblischen Geschichtenerzählers. Jesus begleitete die Menschen und ihr Leben nicht mit Erklärungen, sondern mit Geschichten: »Dies alles sagte Jesus zu den Leuten in Gleichnissen, und anders als im Gleichnis redete er nicht zu ihnen«. (Mt 13, 34) In den Evangelien finden sich 37 Gleichnisse und mehr als 220 Fragen. Jesus hat die Menschen mit Fragen zurückgelassen, anstatt ihnen nur definitive Antworten zu geben.

Ich kann Ihnen nur den Weg der Geschichte empfehlen, den Weg, der Türen öffnet und einen Weg zum menschlichen Herzen bahnt. Analytische Antworten geben uns Definitionen, aber Geschichten zeigen uns unerprobte Möglichkeiten und unbetretene Wege auf. Definitionen führen zu Schlussfolgerungen. Geschichten laden uns ein, weiterzugehen und zu erforschen. In langen, dunklen Nächten, wenn die Herzen aufgewühlt sind, versammeln sich die Menschen um das Feuer, um die Geschichten zu hören. Es ist Zeit, aus der Kälte zu kommen, vom Eis zum Feuer zu gehen.

 

Erik Riechers SAC, 1. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Von der Schwere des Lebens

 

Kennen Sie das? Vieles belastet Sie, manches ist im Augenblick unlösbar und nur auszuhalten und zu tragen, gleichzeitig aber gibt es auch Perlen an jedem Tag. Wir nehmen sie jedoch oft nicht in die Hand, um sie dankbar zu betrachten, sondern schenken unsere ganze Aufmerksamkeit den schweren Brocken, die mehr und mehr ein Übergewicht bekommen. Wir sehen die Probleme wachsen und die Nöte zunehmen, in unserem nächsten Umfeld und weit darüber hinaus. Am Abend grübeln wir lange über so vieles, was noch zu tun wäre und am Morgen überfallen uns die Aufgaben und Sorgen sogleich wieder nach dem Aufwachen. Da ist es kein Wunder: Wenn wir jemandem begegnen, der uns fragt, wie es uns gehe, kommt uns kein »Gut!« über die Lippen. Der Lasten sind einfach zu viele!

Vielleicht lässt uns eine kleine »Perle« heute innehalten. Ich fand sie kürzlich in Form einer kurzen Geschichte aus unbekannter Quelle:

Ein junger Mann kam zu einem alten Weisen.

»Meister«, sprach er mit schleppender Stimme, »das Leben liegt mir wie eine Last auf den Schultern. Es drückt mich zu Boden und ich habe das Gefühl, unter diesem Gewicht zusammenzubrechen.«

»Mein Sohn«, sagte der Alte mit einem liebevollen Lächeln, »das Leben ist leicht wie einer Feder.«

»Meister, bei allem Respekt, aber hier musst Du irren. Denn ich spüre mein Leben Tag für Tag wie eine tonnenschwere Last auf mir lasten. Sag, was kann ich tun?«

»Wir sind es selbst, die uns Last auf unsere Schultern laden«, sagte der Alte, noch immer lächelnd.

»Aber...«, wollte der junge Mann einwenden.

Doch der alte Mann hob die Hand: »Dieses ‚Aber‘, mein Sohn, wiegt allein schon eine Tonne.«

 

Ich will auf die Frage nach meinem Befinden nicht mehr stöhnend stottern: »Es geht - eigentlich gut, aber…!«

Ich nehme mir vor, an meinem »Aber« zu fasten und Gewichte abzulegen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Hören und hoffen

 

Unser Angebot »Bleiben Sie behütet!« entstand in den ersten Tagen des ersten Lockdown im März 2020.

Nun erleben wir seit gut vier Wochen den beängstigenden und menschenverachtenden Krieg in der Ukraine und viele von uns spüren, wie sich die Erschütterung darüber immer mehr über die Ängste der Pandemie schiebt.

Heute wie zu Beginn der Pandemie laufen wir wieder Gefahr, der Überfülle von Nachrichten, Bildern und Spekulationen zu erliegen, uns darin selbst zu verlieren, Maßstäbe und Verhältnismäßigkeiten entgleiten uns. Wieder wird gehortet, diesmal Mehl und Öl, Panik führt zu Hamsterkäufen und innere Leere wird pragmatisch zugedeckt.

Doch es geht auch anders. Das Handeln des barmherzigen Samariters, wie Erik es uns darlegte, ist ein großartiger Ansporn dafür, dass wir nicht egozentrisch nur uns im Blick haben, sondern mit den Augen des Herzens sehen und genau das tun, was wir vermögen und was Not zu lindern hilft.  

Ein weiterer biblischer Begleiter für diese Zeit ist der Beter des Psalms 85, der uns in seinen Worten einen weisen Weg durch schwere Zeiten schenkt:

»Willst du uns nicht wieder beleben, dass dein Volk an dir sich freue? Lass uns schauen, HERR, deine Huld und schenk uns dein Heil! Ich will hören, was Gott redet: Frieden verkündet der HERR seinem Volk und seinen Frommen, sie sollen sich nicht zur Torheit wenden.«

Der Beter lehrt uns, die Grundhaltung des uralten »Sch‘ma Israel« zu üben, des »Höre, Israel«. Er trifft die bewusste Entscheidung dazu, er will hören, was Gott redet, und so hört er: Der Herr verkündet Frieden und warnt vor Torheit. Gehen wir darüber nicht hinweg! Denn über eine sehr lange Zeit hat sich eine gewisse Verwöhntheit unserer bemächtigt. Dies kann zur törichten Lebensweise führen, wenn wir nämlich verlernt haben, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, wenn wir unsere wahre Sehnsucht erstickt haben mit äußerlichen Dingen, wenn wir glauben, alles in der Hand zu haben und nicht mehr in der Lage sind, Durststrecken zu durchstehen. Psalm 85 jedoch weitet und vertieft den Blick auf das wahrhaft Tragende, das wir in der lebendigen Beziehung zu Gott erfahren können:

»Fürwahr, sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten, seine Herrlichkeit wohne in unserm Land. Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Treue sprosst aus der Erde hervor; Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder. Ja, der HERR gibt Gutes und unser Land gibt seinen Ertrag. Gerechtigkeit geht vor ihm her und bahnt den Weg seiner Schritte.«

Weil wir nämlich in einer umfassenderen, größeren Wirklichkeit leben, gilt es, unsere Herzen zu öffnen für die Verbindung zwischen Himmel und Erde, damit die Gnade des Herrn, seine Huld, seine Zugewandtheit und unsere Treue sich begegnen können. Das allein schenkt Frieden und Heil. Können wir uns diese Worte des Psalmisten zu eigen machen, indem wir sie immer wieder lesen und in uns sacken lassen, dann spüren wir, dass sie Hoffnungsworte sind, dass sie Lebensmöglichkeiten aufzeigen, die nicht von uns machbar sind, sondern uns geschenkt werden und empfangen werden wollen – was auch immer uns belastet. Dann können wir täglich Zeichen dieser Realität sehen. 

Genauso ging es einer jungen Frau, die mit ihrem 5-jährigen Sohn durch die »Hölle« seiner Leukämieerkrankung und -behandlung ging. Sie rang immer wieder im Glauben um genau diese Hoffnung. Die Hoffnung »ist vielleicht die stärkste der Tugenden, weil in ihr die Liebe wohnt, die nichts aufgibt und der Glaube, der den Tag schon in der Morgenröte sieht.« (Fulbert Steffensky)* So übte sie das Hoffen wieder und wieder, und zwar indem sie lernte, auch in den schwersten Zeiten und manchmal in kleinsten Schritten zu handeln, als sei Rettung möglich, ja dass es sinnvoll war, was sie tat. Und es gelang ihr nicht nur, ihren Sohn gut zu begleiten, sondern sich selbst ein liebendes, hoffendes Herz zu bewahren, das weder resignativ noch zynisch oder hart wurde. »Der Herr gibt Gutes und unser Land gibt seinen Ertrag« ist ihre Erfahrung aus den schwersten Jahren ihres Lebens. Sie erlebte Lichtstreifen und Glücksmomente, erkannte Wege und Fügungen. Ihre Dankbarkeit wuchs – und blieb, ebenso wie der Friede in ihrem Herzen.

Um ein liebendes, hoffendes Herz zu bewahren wie die junge Mutter in ihrer Krise, wird heute Papst Franziskus in unserer Krise in tiefem Vertrauen und mit großer Hoffnung Russland und die Ukraine Maria ans Herz legen. Diese große Frau ist auch einen langen Weg gegangen, auf dem sie sich ein Herz des Hörens und Hoffens bewahrte.  

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. März 2022

*  zitiert in: Katharina Weck, »Der Chemoritter am Küchentisch«, Neukirchen 2019

 

Nächster Abschnitt

Leben wie ein barmherziger Samariter II

 

3. Hinübergehen, um ein verwundetes Leben zu berühren

In dem Gleichnis ist der Samariter der Einzige, der versteht, was diese Situation, diese Stunde, von ihm verlangt. »Er ging zu ihm«. Ein Samariter muss sich auf die verwundete Seite des Lebens begeben. Nur so können sich zwei so unterschiedliche Welten begegnen. Und wenn wir uns das Gleichnis genau ansehen, ist der Samariter der einzige in der Geschichte, der von einer Straßenseite auf die andere wechselt.

Martin Luther King Jr., der den Weg des barmherzigen Samariters selbst sehr gut kannte, spricht beredt zu diesem Moment. »Wie der barmherzige Samariter sollten wir uns nicht schämen, die Wunden der Leidenden zu berühren, sondern versuchen, sie mit konkreten Taten der Liebe zu heilen. Ein barmherziger Samariter ist nicht einfach jemand, dessen Herz in einem unmittelbaren Akt der Fürsorge und der Nächstenliebe berührt wird, sondern jemand, der ein System nachhaltiger Fürsorge bietet.«

Die gute Nachricht dieser Tage ist für mich die klare und entschieden zu wenig beachtete Tatsache, dass es viele, viele barmherzige Samariter in der Welt gibt, die dieses System der dauerhaften Fürsorge anbieten. Auf so viele Arten und an so vielen Orten haben sich Menschen auf den Weg gemacht, um die Verwundeten des Lebens zu berühren. Sie opfern ihre Zeit und ihr Geld, öffnen ihre Häuser und lassen die vom Krieg Verwundeten bei sich wohnen. Sie sortieren Kleidung, nehmen Flüchtlinge auf, transportieren Lebensmittel und bringen die Verirrten an sichere Orte. Auch die Kirche zeigt sich von ihrer besten Seite: Sie ist nahe bei den Menschen, hilft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und ist nicht bereit, sie zurückzulassen. Gläubige, Laien, Ordensleute und Priester haben sich geweigert, sich in Sicherheit zu bringen, sondern bleiben bei ihren Mitmenschen, teilen ihren Hunger und Durst, ihre Angst und Ungewissheit. Dies ist immer der Weg des barmherzigen Samariters. Man kann ein verwundetes Leben nicht berühren, ohne einen Preis zu zahlen.

In dem Gleichnis gibt sich Jesus große Mühe, den Preis für die Berührung der verwundeten Seite des Lebens zu nennen. Öl, Wein und Geld: Das kostet es den Samariter, und das sind Ressourcen, für die er andere Pläne hatte. Obdach, Fürsorge, Hilfsbereitschaft: So reagiert der Samariter sinnvoll auf die Situation der Gewalt und Grausamkeit. Liebevolles Handeln, Begleitung, gemeinsamer Weg zum Ort der Heilung und der Zuflucht und die Weigerung, den geschlagenen Fremden zu verlassen: All dies war Teil des Preises, den der Samariter zahlte, damit das Opfer leben konnte. Es ist eine Geschichte, die von den Samaritern unserer Tage unzählige Male erzählt wird.

4. Ein Samariter vergisst nie, dass er tief betroffen ist, aber er ist nicht das Opfer.

Das ist vielleicht die größte Gefahr des Krieges für uns. Die Szenen, die wir erlebt haben, haben uns beunruhigt, aufgewühlt und verzweifelt gemacht. Aber wir sind nicht die Opfer. Wir sind tief betroffen, aber wir sind nicht die Opfer der Bomben, des Terrors und der Zerstörung. Es ist klug und notwendig, darüber zu sprechen, was dieser Krieg und diese Verwüstung mit uns machen, aber wir müssen immer darauf achten, dass wir uns nicht selbst zum Opfer machen. Dies ist ein kritischer Moment, in dem wir uns nicht gegen uns selbst wenden dürfen. Der Samariter hält nicht inne, um uns zu erzählen, wie anstrengend und beunruhigend all diese Bemühungen für ihn waren. Er ist nicht das Thema. Es geht um den Mann, der dem Tod überlassen wurde. Wir sind nicht das Thema. Die vom Krieg verwüsteten, verwundeten und angegriffenen Menschen in der Ukraine sind das Problem.

Ein barmherziger Samariter zu sein bedeutet, in der Spannung zwischen Hilfsbereitschaft und Hilflosigkeit zu leben. Denn auch diese so aktive, hilfsbereite und dynamische Figur des Gleichnisses hat ihre Grenzen. Er hat weder die Zeit noch die Mittel, die Räuber ausfindig zu machen, ihnen das Handwerk zu legen und sie vor Gericht zu stellen. Er hat nicht die Macht, die Straße zu sichern und sie für alle zukünftigen Reisenden sicherzumachen. Ebenso wenig kann er der Gewalt und der Habgier auf der Strecke zwischen Jericho und Jerusalem ein Ende setzen. Das sind Dinge, die er nicht zu ändern vermag. Sie liegen außerhalb seiner Macht. Sie liegen außerhalb seiner Reichweite.

Aber die Hilflosigkeit, die er auf einer Ebene empfindet, hindert ihn nicht daran, dort zu helfen, wo es in seiner Macht steht, zu helfen und zu unterstützen. Was er nicht tun kann, hält ihn nicht davon ab, das zu tun, was unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Und es gibt kein größeres Geschenk, das der Samariter zu bieten hat als dieses. Unser wahrer Feind in diesem Krieg ist die Resignation. Jeder Krieg erreicht sein Ziel, wenn er in uns Resignation hervorrufen kann. Dann werden wir von dem Gefühl der Vergeblichkeit erfüllt, dass nichts, was wir sagen oder tun, einen Unterschied machen kann. Diese Vergeblichkeit wiederum zementiert in uns ein Gefühl der Unvermeidlichkeit, das uns glauben lässt, dass es keinen Sinn hat, Widerstand zu leisten. Dann überrollt uns der Krieg und ergreift nicht nur von unseren Ländern und Institutionen Besitz, sondern auch von unseren Seelen. Wenn man den Geist eines Volkes gebrochen hat, ist es ein Kinderspiel, seine Armeen zu schlagen. 

Die Menschen in der Ukraine, die Demonstranten in Russland, leben uns den Weg des barmherzigen Samariters vor. Sie weigern sich, sich ihren Geist brechen zu lassen. Sie leisten auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Ebenen Widerstand. Groß-Erzbischof Sviatoslav Shevchuk von Kiev spricht seinem Volk jeden Tag Trost und Mut zu. Präsident Zelensky hört nicht auf, zu beschwichtigen, zu flehen, zu intervenieren, zu ermutigen und zu verhandeln. Männer und Frauen tun, was unter diesen furchtbaren Bedingungen möglich ist, um einander das Leben zu ermöglichen. Wenn die direkten Opfer dieses ungerechten Krieges sich weigern, der Resignation zu weichen, dann können wir, die wir zwar betroffen, aber keineswegs Opfer dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit sind, nicht weniger tun.

Es ist ein Privileg, in der Lage zu sein, zu helfen und zu heilen. Wir sind nicht hilflos. Wir haben alles, was so vielen unserer Brüder und Schwestern brutal genommen wurde: Möglichkeiten, Ressourcen, Schutz zum Teilen und Zuflucht zum Anbieten. Wenn wir uns ständig ansehen, was wir nicht direkt ändern oder beeinflussen können, werden wir kein einziges Leben retten, keinen Flüchtling beherbergen, kein hungerndes Kind ernähren und keine Bombe oder keinen Schuss abfeuern können. So leben wir nicht wie ein barmherziger Samariter. Dazu gehört es, die Straße zu überqueren.

 

Erik Riechers SAC, 21. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Leben wie ein barmherziger Samariter I

 

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine haben viele Menschen mit den Auswirkungen dieses Krieges auf sie zu kämpfen. Das ist natürlich in Zeiten zu erwarten, die uns zutiefst beunruhigen und mit anhaltenden Unsicherheiten zurücklassen. Aber es gibt auch sehr ungesunde und gefährliche Reaktionen. Zu viele Menschen verbringen viel zu viel Zeit damit, jede noch so kleine Nachricht über die neuesten Entwicklungen zu konsumieren. Interessiert und gut informiert zu sein, ist wertvoll und lobenswert, aber das ist es nicht, was sie tun. Sie werden zu Zuschauern eines Krieges und zu Konsumenten von Nachrichten über diesen Krieg. Das macht sie jedoch nicht zu solidarischen Männern und Frauen. Es hinterlässt bei ihnen lediglich ein immer stärkeres Gefühl der Hilflosigkeit, der Lähmung und der Resignation.

Zum Glück haben wir eine Geschichte für genau dieses Problem. Jesus erzählt sie uns im Lukasevangelium. Es ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Normalerweise beziehen wir uns auf dieses Gleichnis, um zu sagen, dass wir barmherzige Samariter sein sollen, aber wir achten wenig oder gar nicht darauf, was genau diese Art zu leben bedeutet. Diese sehr berühmte Geschichte sagt sehr viel darüber aus, wie wir auf gesunde Weise auf Trauer, Schmerz und Gewalt reagieren können, die uns auf den Straßen des Lebens begegnen.

 1. Wir müssen sehen, was auf der anderen Seite der Straße passiert

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Auf der anderen Seite der Straße ist ein Leben, das sich deutlich von unserem eigenen unterscheidet. Wie der Samariter, der den halb erschlagenen Mann auf der anderen Straßenseite antrifft, dürfen wir nicht vergessen, dass wir am Anfang dieser Geschichte auf der sicheren Seite stehen. Wir werden durch diesen Krieg plötzlich mit Gewalt, Aggression und Tod konfrontiert, aber wir begegnen ihm von der sicheren Seite des Lebens aus, wo wir gut versorgt, sicher und bequem sind. Es ist sehr leicht, uns von unserer Seite des Lebens aus blind für die Realität zu machen, die andere Menschen erleben müssen. Wie in dem Gleichnis kommen wir plötzlich mit einer Welt in Berührung, die uns fremd war, bis die Bilder der Nachrichtensendungen und der sozialen Medien sie in unsere Welt brachten. Jetzt sind wir wie der Samariter mit einer Welt der Gier und Gewalt konfrontiert. Wir sehen deutlich eine Welt, die von Blut, eigennützigen Entscheidungen und schrecklichen Verletzungen geprägt ist. Not und Ungerechtigkeit sind keine vagen Begriffe mehr, sondern harte Realitäten. Und es gibt Menschen, die halb tot auf dem Boden liegen.

Lord Rabbi Jonathan Sacks nennt dies die Gabe der religiösen Vision. Er sagt: »(Religiöse Vision) zeigt dir nicht etwas Neues. Sie zeigt dir die Dinge, die du die ganze Zeit gesehen, aber nie bemerkt hast... Unsere Kultur hat uns eine sehr selektive Sicht gegeben, eine, die vieles um uns herum unsichtbar macht.« (Celebrating Life, S. 3). Das Leben, das wir gelebt haben, hat das, was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, unsichtbar gemacht. Obwohl in der Welt seit Jahren Kriege toben (man denke nur an Syrien), sind sie klar und deutlich von der Welt getrennt, die wir gestalten und formen. Der Samariter sieht sich mit einer Welt konfrontiert, in der ein Mann, bisher ein völlig Fremder, am Boden liegt und sein Leben ausblutet. Auf unserer Seite der Straße sind wir es gewohnt, über Glauben, Liebe, Gerechtigkeit, Fürsorge, Rettung und Heilung zu sprechen. Aber auf der anderen Seite der Straße sind sie für uns zu einer lebendigen, existenziellen Notwendigkeit geworden. Und nun sind der Glaube, die Liebe, die Gerechtigkeit, die Fürsorge, das Heil und die Heilung, von denen wir so leichtfertig sprechen, zu einer existenziellen Herausforderung geworden.

 2. Wir müssen zulassen, dass das, was wir sehen, uns betroffen macht.

Obwohl wir sehen müssen, was auf der anderen Seite der Straße geschieht, reicht das Sehen nicht aus. Lukas macht diesen Punkt mehr als einmal in dem Gleichnis deutlich. Der Erzähler des Evangeliums weist zweimal darauf hin, dass die Menschen zwar sahen, was auf der anderen Seite der Straße geschah, aber das hinderte sie nicht daran, einfach weiterzugehen. »Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber«.

Das Sehen und Vorbeigehen ist eine große Versuchung. Wir können uns die Nachrichten ansehen und dann einfach vorbeigehen und zu unseren bevorzugten Beschäftigungen und Vergnügungen übergehen. Was wir sehen, braucht uns nicht zu berühren, uns nicht zu bremsen oder unseren Kurs zu ändern.

Aus den Quellen des Samariters zu leben, bedeutet, diesen Kreislauf des Sehens und Vorbeigehens zu durchbrechen. »Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid«. Er lässt zu, dass das, was er gesehen hat, ihn bewegt, ihn berührt.

Wir müssen einen Moment innehalten und ein Detail dieser Geschichte zur Kenntnis nehmen, das von großer Bedeutung ist. Niemand in dieser Geschichte geht in die Welt hinaus, um Leid, Ungerechtigkeit, Brutalität und Opfer von Gewalt zu suchen. Keiner geht mit der Absicht hinaus, diese Begegnung zu suchen. Lukas weist darauf hin, dass der Priester nur zufällig dieses Weges entlang kam. Der Samariter ist auf der Reise, sein Ziel und seine Route waren sicherlich von anderen Überlegungen bestimmt. Aber er lässt es zu, dass etwas den reibungslosen Ablauf seines Lebens unterbricht. Das Gleiche gilt für uns in diesem Moment. Keiner von uns hatte vor, einen Krieg zu erleben, geschweige denn, ihn zu suchen. Aber jetzt, da er stattfindet, stehen wir vor der Frage aller Überraschungen im Leben: Lassen wir es zu, dass er den reibungslosen Ablauf unserer Pläne und die Wege, die wir normalerweise nehmen würden, unterbricht, oder ärgern wir uns nur darüber, dass er die sonst unbestrittene Bequemlichkeit unseres Lebens stört?

Die Fortsetzung folgt

 

Erik Riechers SAC, 18. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Mütter

 

In diesen Wochen des Schreckens, der über die Ukraine eingebrochen ist und immer furchtbarer wird, erschüttern uns täglich die Bilder der Mütter und Großmütter. Sie zerreißen uns schon beim Anblick das Herz, wie viel mehr leiden diese Frauen in der existentiellen Not, die über sie und ihre Kinder gekommen ist.

Da fand ich diese Zeichnung von Käthe Kollwitz über »Mütter«, entstanden kurz nach dem 1. Weltkrieg. Schützen, halten, behüten, ja an sich pressen – all das fließt aus den Herzen dieser Mütter. Not und Angst sind groß, es gibt keinen Grund zu lächeln, für niemanden.

 

 

Später verwarf sie dieses Blatt und druckte eine andere Fassung aus:

 

 

Die Mütter bilden nun gewissermaßen eine Festung, ihre Körper vereinen sich zu einer Schutzmauer für ihre Kinder, die leben sollen und nicht geopfert werden dürfen.

In ihrem Tagebuch schrieb sie:

»Ich arbeite die ›Mütter‹. [...] Gestern den Versuch beschlossen, die Kriegsblätter in Steindruck umzuarbeiten. [...] Ich habe die Mutter gezeichnet, die ihre Kinder umschließt, ich bin es mit meinen eigenen leibgeborenen Kindern, meinem Hans und meinem Peterchen. Und ich habe es gut machen können.«  - Käthe Kollwitz, Tagebücher, 6. Februar 1919    (Bilder und Zitat: www.kollwitz.de)

Dieser Tag war Peters Geburtstag; er war 18-jährig freiwillig dem Aufruf des Kaisers zum Kriegsdienst gefolgt, gegen ihren Willen, und schon im Oktober 1914 in Belgien gefallen. Fünf Jahre nach seinem Tod konnte sie es überhaupt angehen, war es in ihrer bleibenden Trauer möglich, es »gut (zu) machen«.

Sie wurde zur Pazifistin, gestaltete 1924 das berühmte Plakat »Nie wieder Krieg!«, verarbeitete über Jahre hinweg ihren Schmerz in den Skulpturen »Trauerndes Elternpaar«. Dieses Paar wurde zum Denkmal auf dem Soldatenfriedhof bei Dixmuiden in Belgien.

Käthe Kollwitz verkörpert für mich die Leidenskraft, aber auch Ausdauer und Ausdruckskraft einer Mutter, die ihr Mutterherz weder leugnet noch stählt, sondern mit diesem Herzen lebt, so schwer es auch ist.  

Der Kreuzweg Jesu ist gesäumt von solchen Frauen. Andreas Knapp hat über diese Begegnungen einfühlsame Gedichte geschrieben. Eines davon lege ich Ihnen ans Herz:

 

Jesus begegnet seiner Mutter

 

schon längst abgenabelt

und bleibt doch für immer

Fleisch von ihrem Fleisch

 

Transfusion des Schmerzes

für die Übertragung genügt

weniger als ein Blick

 

unbegrenzt

die Reichweite

mütterlicher Liebe

 

                        aus: Mit Pauke und Salböl, Gedichte zu Frauen der Bibel

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Die zwei Freunde

 

Heute schenke ich Ihnen eine kurze Geschichte. In einer Zeit, wo so viel Schreckliches und Verletzendes gerade geschieht, ist es wichtig zu fragen, woran wir festhalten werden.

 

Zwei gute Freunde gingen einst gemeinsam am Meer spazieren. Über irgendetwas gerieten sie in Streit, sie wussten bald schon gar nicht mehr weshalb. Doch in diesem Streit kam dem einen eine Bemerkung über die Lippen, die den Freund tief verletzte. Betrübt, aber ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm dieser einen Stock und schrieb damit in den Sand: »Mein bester Freund hat mich heute verletzt.« Eine ganze Weile saßen sie schweigend da und blickten von ihrer Düne auf das Wasser. Es war Wind aufgezogen, der begann über die Sanddünnen zu fegen und die Schrift langsam aber sicher zu verwehen. Als auch die letzte Spur verweht war, zog sich der Schreiber langsam aus, um im Meer schwimmen zu gehen.

Plötzlich wurde er von einer starken Strömung erfasst. Verzweifelt schwamm er gegen den Sog an, doch er schaffte es nicht, sich alleine wieder herauszuretten. Da stürzte sein Freund ohne nachzudenken ins Wasser, kämpfte sich zu ihm durch und konnte ihn mit letzter Kraft retten. Schwer atmend lagen beide am Strand. Nach einiger Zeit erhob sich der Gerettete mit den wenigen Kräften, die ihm schon wieder zur Verfügung standen, und begann in den Felsen zu hauen:

»Heute hat mein bester Freund mir das Leben gerettet.«

Der Freund sah ihm zu und fragte verwundert: »Als ich dich verletzt habe, hast du es in den Sand geschrieben und nun schlägst du es in Stein, weshalb?« »Wenn mir Schmerzhaftes widerfährt«, antwortete sein Freund, »möchte ich dies in den Sand schreiben, damit die Winde der Vergebung und die Wogen des Verstehens eine neue Geschichte entfalten können. Doch wenn ich Liebe und Freundschaft erfahre, möchte ich es in Stein gravieren, damit es über alle Zeiten, vom Winde umweht, vom Wasser umspült, weiterleben möge.«

 

Wenn wir auf diese Wochen und Monate zurückblicken: Was werden wir in den Sand schreiben? Was werden wir in den Stein meißeln?

 

Erik Riechers SAC, 11. März 2022

 

Nächster Abschnitt

»Kraft und Würde sind ihr Gewand, sie spottet der drohenden Zukunft.« (Sprüche 31, 25):

Der Gang der aufrechten Frau – selbstbewusst und schön

 

Wie viele Frauen sind derzeit auf der Flucht vor dem menschenverachtenden Krieg in der Ukraine! Sie müssen ihre Männer zurücklassen und versuchen, ihre Kinder, die Alten und sich selbst in den Westen zu retten. Die Bilder der in Berlin und anderswo Ankommenden treiben mir die Tränen in die Augen und ringen mir gleichzeitig Bewunderung ab. Auch wenn viele gebeugt sind, steckt so viel Stärke in ihnen. Mutig und tapfer ergreifen sie die einzige Möglichkeit, die sie zum Überleben sehen.

Seit über 100 Jahren ist der 8. März der Internationale Frauentag. Im Jahre 1975 machten ihn die Vereinten Nationen zum »Tag für die Rechte der Frau und den Weltfrieden«. Immer schon und überall sind es besonders die Frauen, die in ihrer Sorge für das Leben besonders von Kriegen niedergedrückt werden. Sie tragen mehrfach das Kreuz: in Familien verlieren sie ihre Männer an den Krieg und versuchen, ihren Kindern irgendwo und irgendwie Schutz und Leben zu ermöglichen. Welch eine Last!

Von einer niedergedrückten, ja verkrümmten Frau erzählt uns auch Lukas. Jesus fiel sie am Sabbat in der Synagoge ins Auge und ins Herz. Er sah, dass sie nicht mehr aufrecht gehen konnte. »Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.« (Lk 13, 12 f) Nun kann diese Frau Sabbat feiern. Aufrecht und sich ihrer selbst bewusst kann sie den Gott des Lebens loben und preisen. Wir Menschen sind zum aufrechten Gang berufen. Gott will uns selbstbewusst auf unseren Füßen stehend. Er will, dass wir alle als seine Partner die Erde gestalten. Daraus schöpfen gerade jetzt viele die Kraft, aufzubrechen und auf helfende Herzen und Hände in der Fremde zu vertrauen. Sie zeigen uns ihre Würde in ihrem Aufbruch für das Leben.

Kürzlich sah ich einen Beitrag über die mexikanische Halbinsel Yukatan, der von Frauen erzählte, die in aller Einfachheit versuchen, im Einklang mit der Natur zu leben, gerade auch unter Wahrung der Kultur ihrer Ahnen, der Maya. Eine dieser Frauen ist knapp 30 Jahre alt. Sie entwirft und näht Dessous aus recycelten Stoffen, die sie auf natürliche Weise färbt. Sie präsentiert sie dann in ihrem online-Shop mit einfachen Frauen ihrer Umgebung, nicht mit professionellen Models. Darauf angesprochen, erzählte sie von sich, wie klein und unbedeutend sie sich lange fühlte und wie verwandelnd für sie die Erkenntnis war, dass ihr eigenes Selbstbewusstsein elementar ist für ihre Weise zu leben. Sie musste es üben und nun vermittelt sie es den Frauen, die sie selbst für ihren Shop am Strand fotografiert. Denn, so sagt sie: »Es gibt keine schönere Frau als eine selbstbewusste Frau.«

 

Hilde Domin zitiert einmal den Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola: »Den Kopf hochzuhalten ist das Merkmal des Menschseins.«* Wir müssen ihn nicht krampfhaft hochhalten, mit zusammengebissenen Zähnen und immer im Widerstand. Wir können ihn gewissermaßen leicht und natürlich hochhalten, weil wir uns unseres Geliebtseins und unserer Würde bewusst sind. Angeschaut von Gott können wir einander anschauen und uns in unserer Schönheit wahrnehmen. So können wir würdevoll einander begegnen - im Alltag und an den Grenzen!

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. März 2022

 

* Hilde Domin: Gesammelte Gedichte, S. 225

 

Nächster Abschnitt

»Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht.«

 

HERR, höre mein Bittgebet, vernimm doch mein Flehen, in deiner Treue antworte mir, in deiner Gerechtigkeit! Geh mit deinem Knecht nicht ins Gericht; denn keiner, der lebt, ist gerecht vor dir! Ja, der Feind verfolgte mich, trat mein Leben zu Boden, ließ mich in tiefer Finsternis wohnen wie längst Verstorbene. Daher schwand mir mein Lebensgeist, mein Herz erstarrt in meinem Innern. Ich gedachte der Tage der Vorzeit, erwog all deine Taten, ich sinne nach über das Werk deiner Hände. Ausgebreitet habe ich meine Hände zu dir, wie erschöpftes Land ist vor dir meine Seele. Eile, HERR, gib mir Antwort, denn es erlischt mein Lebensgeist! Verbirg vor mir nicht dein Angesicht, sonst gleiche ich denen, die hinabfahren in die Grube. Lass mich am Morgen deine Huld erfahren, denn auf dich vertraute ich! Lass mich den Weg erkennen, den ich gehen soll, denn zu dir erhob ich meine Seele! Entreiß mich meinen Feinden, HERR zu dir nehme ich meine Zuflucht! Lehre mich tun, was dir gefällt, denn du bist mein Gott! Dein guter Geist leite mich auf ebenem Land. Um deines Namens willen, HERR, wirst du mich am Leben erhalten, wirst du mich herausführen in deiner Gerechtigkeit aus der Drangsal meiner Seele. In deiner Huld wirst du meine Feinde vernichten, du wirst zugrunde gehen lassen alle Bedränger meiner Seele, weil ich dein Knecht bin.

(Ps 143)

Der Krieg ist uns nahe gekommen.

Er tobt in unserer Nachbarschaft und trifft auch viele Familien, die bei uns leben.

Er erschüttert uns alle und verändert uns.

Maßstäbe verschieben sich, Prioritäten werden neu gesetzt. Und etwas Neues ist im Land und in den Herzen der Menschen in Bewegung. Das erinnert mich an die Worte des Propheten Jesaja: »Siehe, nun mache ich etwas Neues. /Schon sprießt es, merkt ihr es nicht.«

So erleben wir, dass Menschen sich im Gottesdienst spontan erheben, wenn ein Gebet für die Menschen in der Ukraine angesagt wird. Niemand muss sie dazu auffordern – sie erheben sich zu Gott und beten für den Frieden in aufrechter Haltung. Sie sind sich der Dringlichkeit bewusst und dessen, was sie selbst vermögen und was nicht.

Wir erleben, dass Papst Franziskus Glaubende und Nichtglaubende dazu aufruft, am Aschermittwoch gemeinsam für den Frieden zu beten: »Nun möchte ich alle ansprechen, Glaubende und Nichtglaubende. Jesus hat uns gelehrt, dass man auf die teuflischen Einflüsterungen und die teuflische Sinnlosigkeit der Gewalt mit den Waffen Gottes antwortet: mit Gebet und Fasten. Ich lade alle dazu ein, am kommenden 2. März, Aschermittwoch, einen Tag des Fastens für den Frieden abzuhalten.« (www.vaticannews.va)

Solidarität und Herzensnähe zeigen sich auf vielfältige Weise in diesen Tagen des Ausgeliefertseins und Schreckens unschuldiger Menschen vor brutaler Gewalt.

Sie zeigen sich auch in der Hinwendung zum wahren Herrn des Lebens, zu dem wir uns so oft selbst erheben wollten. Noch nie habe ich in Kommentaren auf Instagram so oft vom Beten gelesen. Vielleicht ahnen wir nur eine Spur von Gott - doch folgen wir dieser Spur, die aus der Tiefe unserer Herzen aufsteigt. Dann bekommen uralte Gebete neuen Sinn, sie schenken uns eine Sprache, die uns oft fehlt in dieser großen Krise. Die Psalmen Davids, der Bedrohung und Krieg kannte, geben auch unserem Beten und Hoffen eine Stimme.

Beten wir also für die Menschen in der Ukraine und für uns alle mit der großen Hoffnung im Herzen, dass Gott bewirkt, was wir nicht vermögen.

Ich will dir danken mit meinem ganzen Herzen, vor Göttern will ich dir singen und spielen.

Ich will mich niederwerfen zu deinem heiligen Tempel hin, will deinem Namen danken für deine Huld und für deine Treue. Denn du hast dein Wort größer gemacht als deinen ganzen Namen.

Am Tag, da ich rief, gabst du mir Antwort, du weckst Kraft in meiner Seele.

Dir, HERR, sollen alle Könige der Erde danken, wenn sie die Worte deines Munds hören.

Sie sollen singen auf den Wegen des HERRN. Die Herrlichkeit des HERRN ist gewaltig.

Erhaben ist der HERR, doch er schaut auf den Niedrigen, in der Höhe ist er, doch er erkennt von ferne.

Muss ich auch gehen inmitten der Drangsal, du erhältst mich am Leben trotz der Wut meiner Feinde. Du streckst deine Hand aus, deine Rechte hilft mir.

Der HERR wird es für mich vollenden. HERR, deine Huld währt ewig. Lass nicht ab von den Werken deiner Hände!

(Psalm 138)

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Ein Hügel voller Kreuze

 

Seit dem Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine und dem Leid, dem Schmerz, der Zerstörung und dem Tod, die er mit sich gebracht hat, habe ich zwei Dinge getan. Erstens habe ich mich einem beliebten Abschnitt aus dem Propheten Jesaja zugewandt.

Denn für den Machtlosen warst du eine Festung, eine Festung für den Armen in seiner Not, eine Zuflucht vor dem Unwetter, ein Schatten vor der Hitze, denn das Schnauben der Tyrannen ist wie ein Unwetter an einer Mauer, wie Hitze in trockenem Land. Das Lärmen der Fremden demütigst du; wie die Hitze durch den Schatten der Wolke, dämpft er den Gesang der Tyrannen.

Jes 25, 4-5

Die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja spricht von einem der innigsten Wünsche Gottes für sein Volk. Er möchte uns wiedergeben, was uns genommen oder verloren wurde, sei es Schutz, Sicherheit oder Trost.

Als ich diese Worte las und dann mit ihnen betete, brachten sie eine Geschichte in meinem Herzen wieder zum Vorschein. Viele Jahre lang begleitete ich einen älteren Mann namens Vitus bis zu seinem Tod. Jeden Freitagnachmittag besuchte ich ihn, und er erzählte mir früher oder später die Geschichten aus seiner Heimat.

Vitus war ein Sohn Litauens, eines kleinen baltischen Landes, das im Zweiten Weltkrieg seine Unabhängigkeit verlor. Das Land wurde von der Nazi-Tyrannei und später vom sowjetischen Terror terrorisiert. Am 14. und 15. Juni 1941 verfrachteten die Russen 38.000 litauische Führer, Intellektuelle und Bauern in Viehwaggons und deportierten sie nach Sibirien. In den nächsten zehn Jahren wurde jeder zehnte Litauer nach Sibirien deportiert. Die Kirche wurde in einem Land, das zu 85 % katholisch war, brutal verfolgt. Die Bischöfe wurden alle inhaftiert oder getötet. Die Hälfte der Kirchen wurde zerstört, geschlossen oder geschändet. Die Hälfte des Klerus wurde getötet, inhaftiert oder ins Exil geschickt. Alle religiösen Orden, Veröffentlichungen und Institutionen wurden unterdrückt. Es war eine radikale Unterwerfung eines Volkes, seiner Kultur, seiner Sprache und seines Glaubens.

Dennoch zeigten Vitus und seine Landsleute eine bemerkenswerte Reaktion auf die zehn Jahre dauernde Terrorkampagne. Sie teilten das Herz Gottes und sehnten sich nach Wiederherstellung. Sie hofften, dass die Freiheit zurückkehren würde, dass die Religion befreit und die Nation wiederhergestellt würde. Am eindrucksvollsten war, dass sie diese tiefe Hoffnung auf Wiederherstellung in der Form des Kreuzes zum Ausdruck brachten.

Im Norden des Landes wurde der Berg der Kreuze geboren. Es ist ein fast unvorstellbarer Anblick. 55.000 Kreuze jeder Größe und Art wurden auf diesem Hügel errichtet und bedeckten jeden Quadratzentimeter als Mahnmal für alles, was verloren war, und als Plädoyer für die Wiederherstellung. Im Frühjahr 1961 ließ die sowjetische Regierung alles niederreißen, die Holzkreuze verbrennen, die Eisenkreuze einschmelzen und die Steinkreuze begraben. Über Nacht gab es neue Kreuze. Die Sowjets versuchten alles, fluteten sogar das Feld und sperrten alle Straßen, und trotzdem kamen neue Kreuze. Schließlich gaben sie 1985 auf, und kurz darauf herrschten in Litauen wieder Freiheit und Demokratie.

Wenn ich die Gesichter des ukrainischen Volkes in den Nachrichten sehe, denke ich an Vitus. Ein neues Kapitel des Leidens wurde aufgeschlagen, und eine neue Generation von Gläubigen wird nun darum kämpfen, die Geschichte zu leben, die aus dem Glauben, der Hoffnung, dem Mut und der Beharrlichkeit geboren wurde. Vor allem aber sehe ich in diesen Männern und Frauen den Einfluss eines Herzens, das so geformt wurde, dass es sich nach Wiederherstellung sehnt.

Im Laufe unseres Lebens kennen wir die Sehnsucht nach Wiederherstellung. Wie jeder Mensch haben wir angesichts der Prüfungen und Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, Entscheidungen zu treffen. Wir erleben Enttäuschungen. Wir kennen den ungestillten Hunger des Herzens. Auf den Landschaften unseres Lebens werden wir auch unseren eigenen Kreuzberg errichten müssen. Immer wieder müssen wir ein Zeichen des Glaubens an die Wiederherstellung all dessen setzen, was uns im Moment verloren gegangen ist. Immer wieder müssen wir auf einen Gott setzen, der uns all das wiedergibt, was schön, wahr und gut war, aber auch für kurze Zeit verloren ging.

Der Hügel der Kreuze in Litauen war ein starkes Zeichen für die Behörden, dass der gegenwärtige Augenblick nicht den Sinn der Zukunft ausmacht. Der Glaube dieser Stunde ist ein klares und starkes Zeichen an die Macht des Todes, dass diese gegenwärtige Stunde des Kummers und der Trauer, des Verlustes und der Traurigkeit nicht den Sinn all unserer Zukünfte ausmacht. Jenseits des Hügels der Kreuze gab es Freiheit. Jenseits des Hügels der Kreuze gab es Wiederherstellung. Über diese Tage des Verlustes hinaus wird es Wiederherstellung geben.

Tief im Herzen unseres Glaubens liegt der Wunsch, dass alles, was Leben spendet, aus den Klauen des Todes befreit wird. Noch tiefer im Herzen des Glaubens liegt ein noch größeres Geheimnis. Es ist die wunderbare und ehrfurchtgebietende Offenbarung, dass der Grund, warum Gott uns vom Tod zum Leben zurückführt, der ist, dass er das Leben genauso sehr zurückhaben will wie wir. Die Worte des Propheten Jesaja haben uns in dieser Überlegung hineingeführt. Lassen wir uns von seinen leuchtenden Worten herausführen. »Und an jenem Tag wird man sagen: Seht, das ist unser Gott, auf ihn haben wir gehofft, dass er uns hilft! Das ist der HERR, auf ihn haben wir gehofft. Lasst uns jubeln und froh sein über seine Hilfe!« (Jes 25,9)

Erik Riechers SAC, 28. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

»Wo hältst du dich auf?«

 

Ich wurde von Erzbischof Joseph MacNeil geweiht. Er war für mich ein Vorbild für das, was in den biblischen Geschichten von einem Hirten erwartet wird: gütig, bescheiden, großzügig im Umgang mit seiner Zeit, volksnah und aufrichtig glücklich über die Begegnung mit den Menschen, die ihm anvertraut waren. In den Jahren nach meiner Priesterweihe bin ich ihm oft über den Weg gelaufen. Gelegentlich war es in der Gemeinde, wenn er kam, um die Kinder zu firmen. Aber am häufigsten begegneten wir uns in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Und jedes Mal, wenn wir uns dort trafen, nahm er sich die Zeit, mir zu sagen: »Ich bin immer froh, einen Priester an einem Ort wie diesem zu treffen.«

Leider habe ich nie daran gedacht, dieses Kompliment zu erwidern. Ich wünschte mir aus tiefstem Herzen, ich hätte zu ihm gesagt: »Ich bin immer froh, an einem Ort wie diesem einen Bischof zu treffen!« Ich bin seit fast 33 Jahren Priester, aber er ist der einzige Bischof, den ich je in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Suppenküchen und sogar in einem Gefängnis getroffen habe.

Im Johannesevangelium stellen zwei Jünger von Johannes dem Täufer Jesus die Frage: »Wo hältst du dich auf?« Der Ort, an dem Jesus sich aufhält, ist kein geografischer Ort, sondern ein Ort der Überzeugung. Der Ort, an dem Jesus bleibt, an dem er verweilt und ausharrt, der Ort, den er sich weigert zu verlassen, ist die felsenfeste Überzeugung, dass alles, was für das Leben der von Gott Berufenen notwendig ist, bereits gegeben ist und in uns ist.  Er weiß, was in uns ist, und er benennt es: »Das Reich Gottes ist in euch« (Lk 17,21). Diese Überzeugung ist der Ort, an dem Jesus bleibt, denn es ist der Ort, an dem unser Gott immer bleibt. Unser Gott hält unerschütterlich daran fest, dass wir geliebt und gewollt sind, dass unser Leben Wert, Würde und Sinn hat. Wir Menschen zweifeln oft daran, aber Gott steht dazu. Jesus sieht in den Schwachen, den Armen, den Kranken, den Geknechteten und Zerbrochenen Seligkeit, Salz und Licht (vgl. Mt 5). Deshalb bleibt er bei ihnen, damit sie die Kraft der Seligkeit, des Salzes und des Lichts, die sie in sich tragen, freisetzen, diese Gaben als Beitrag zum Leben der Welt entfalten und es dann wagen, sie um des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung willen auszuleben.

Kürzlich faszinierte mich eine Passage in einem Buch von Marco Garzonio, einem italienischen Journalisten, Psychologen, Essayisten und Akademiker sowie Präsidenten der Ambrosianum Cultural Foundation in Mailand. Er wies darauf hin, dass nach der Tradition der Mailänder Kirche das Oberhaupt der ambrosianischen Kirche immer arm war. Dies wurde als so wichtig erachtet, dass der Erzbischof von Mailand keine Kirche für sich allein hat. Nicht einmal den Duomo, die Kathedrale. Der Dom gehört nämlich der Veneranda Fabbrica (Ehrwürdige Fabrik des Mailänder Doms), einer autonomen Vereinigung, die eifersüchtig auf ihre Statuten und die Unabhängigkeit ist, die sie seit Jahrhunderten genießt. Sie ist sogar unabhängig vom Heiligen Stuhl.

Aber auch wenn der Erzbischof nicht die Pracht der Türme, die Ausstattung, die Werke und die Schätze des Doms besitzt, so genießt er doch ein altes Privileg: Er ist Pfarrer des Ospedale Maggiore, des Allgemeinen Krankenhauses. Das Ospedale Maggiore wird als »Casa Grande« bezeichnet, als das »große Haus«, das die Kranken der Stadt aufnimmt und beherbergt. Dies ist der Ort, an dem die Menschen ihren Erzbischof erwarteten, und somit auch der Ort, an dem sie erwarteten, ihn zu finden. Es war der Ort, an dem sie von ihm erwarteten, dass er wie ein Hirte inmitten des verletzlichsten Teils der Herde lebte, in der Zitadelle des Leidens und des Schmerzes. Oder andersherum ausgedrückt: Wenn man die Orte findet, an denen die Schwachen leben, die Krankenhäuser, die Altenheime, die Behinderteneinrichtungen, die Vorstadtghettos und die Gefängnisse, dann findet man auch den Erzbischof.

Auf diese Weise übersetzten die Mailänder das Evangelium in eine konkrete Lebensweise. Sie verstanden ihren Hirten als jemanden, der zu einem echten und existentiellen Dienst berufen war, und erkannten klar die genaue Natur seiner Verantwortung. Der Hirte war wie Jesus, der gute Hirte, der in einem Bund lebte, in einer großen Beziehung des Dialogs und der Partnerschaft. Er lebte in dieser Beziehung mit den Schwachen und Bedrängten, die aber aufgrund ihres Hirten wissen, dass sie auf die Kraft der Fürsprache und der Gegenwart eines Menschen zählen können, der ihnen Linderung und Trost bringt.

Ich glaube nicht, dass dieser biblische Instinkt des Volkes Gottes auf die guten Bürger von Mailand beschränkt ist. Überall auf der Welt sehnt sich das Volk Gottes nach guten Hirten, und es weiß, wo es diese finden möchte. Sie kennen den Ort, an dem sich ihre Hirten aufhalten sollten. Aber oft, viel zu oft, finden sie sie dort nicht. Das macht sie traurig und lässt sie allein, und später wird daraus Wut und Ablehnung, wenn sie merken, wo sich ihre Hirten aufhalten und wie sie ihre Zeit verbringen.

Und deshalb bedauere ich immer noch, dass ich Erzbischof MacNeil in diesen Krankenhäusern, Pflegeheimen, Suppenküchen und in diesem Gefängnis nie gesagt habe: »Ich bin immer froh, einen Bischof an einem Ort wie diesem zu treffen!«

Erik Riechers SAC, 25. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Leben in Spannungen

 

Vor vielen Jahren erzählte mir eine Frau sehr von sich überzeugt, dass ihr Bruder nie zu den Eltern komme, wenn sie da ist, weil er wisse, was sie ihm über seine Lebensweise vorhalten würde. Sein »Fehler«: Er ist geschieden. In ihrem konservativ-katholischen Weltbild war das schlecht und durfte nicht sein. Sie glaubte genau zu wissen, was gut und böse ist und sie schien sehr zufrieden mit ihrer Weise, damit umzugehen.

Wir kennen ein ähnliches Verhalten, wenn wir nach einem Versäumnis oder einer Fehlentscheidung uns selbst abschreiben und uns einfach als zu dumm oder was auch immer abtun.

Warum fällt es uns so schwer, Spannungen auszuhalten? Diese Frage stellt sich mir immer wieder. Wir neigen dazu, Schwarz-Weiß-Lösungen zu suchen und zu bevorzugen, doch damit werden wir der Wirklichkeit in all ihren Grautönen nicht gerecht. Wir sind schnell erschöpft von den Realitäten des Lebens und neigen zum Jammern. Wir tun uns schwer, die verschiedenen und oft sehr unterschiedlichen Facetten unseres Lebens zu akzeptieren und auszuhalten, dass es belastende, schwierige Bereiche gibt und gleichzeitig schöne und leichte Seiten. Wir mühen uns sehr damit, anzunehmen, dass in unserem je eigenen Leben alles in seiner ganzen Spannbreite enthalten ist.

Ist Spannung nicht ein Lebensprinzip? Ausgespannt sind wir zwischen Geburt und Tod. Eingespannt sind wir in Beziehungsgeflechten, in Aufgaben und Pflichten.

Ohne die Anspannung unserer körperlichen Kräfte und geistigen Fähigkeiten brächten wir nichts zuwege. Wir üben von Anfang an, unsere Muskeln anzuspannen. Wir wenden uns der Welt zu, indem wir gespannt sind darauf, was auf uns zukommt, wie etwas sich entwickelt oder aussieht, ob etwas geschieht.

Ohne die Spannungen des Lebens gäbe es gar keine Geschichten! 

Spannung ist etwas Elastisches, Lebendiges und lebt vom Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Wer nur immer angespannt ist, wird Schmerzen bekommen. Körperlich kennen wir das alle. Muskeln, die zu lange angespannt sind, werden hart und steif. Und wenn unsere Sorgen, unser Ehrgeiz oder unser Perfektionismus uns immer in Anspannung halten – wir sagen ja auch: »im Griff haben« -  werden wir ebenfalls unbeweglich und einseitig. Es ist, als würden uns Scheuklappen wachsen und ganze Dimensionen unseres Lebens ausblenden.

Auf der anderen Seite: Wer am liebsten immer alles schön entspannt haben möchte, leicht und locker, fluffig sozusagen, wird schwerlich reifen, weil er versucht, den Herausforderungen auszuweichen.

Die biblischen Botschaften dagegen halten die vielfältigen Spannungsbögen des Lebens nicht nur aus, vielmehr erzählen sie davon, dass unser Gott genau in ihnen zu erfahren ist. Darum kann Gotthard Fuchs schreiben:

»Authentische Spiritualität halbiert die Wirklichkeit nicht und nimmt auch die Bitterstoffe des Alltäglichen als Einladung zu Wandlung und Wachstum.« Er weist darauf hin, dass es zur Reifung gehört, »auf die Rosinenpickerei zu verzichten und die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen«. (aus: »Mut-Proben«, Patmos 2021, S. 108-109)

Zwischen dem einseitigen, harten (Ver-)Urteilen anderer oder unserer selbst und kindischen Verwöhnvorstellungen liegt die ausgespannte Fülle unseres Lebens. Betreten wir sie weise und mutig. Und werden wir sanft, so wie ich es der Frau damals gegenüber ihrem Bruder gewünscht hätte. Um in Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu wachsen und zu reifen, brauchen wir Sanftmut, jene »höchst kraftvolle, spannungsstarke Haltung«. (a.a.O., S. 81) 

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Ein Weg der Erneuerung

 

Kürzlich erlebte ich eine Liturgie, in der pompöse Grandiosität im Vordergrund stand. Von Anfang an lag der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit nicht auf dem Wort und nicht auf der Gemeinschaft beim Gebet, sondern auf dem Zelebranten. An einer Stelle hob ein Messdiener tatsächlich den Mantel des Zelebranten hoch und trug ihn, während er um den Altar herumging, um ihn zu beweihräuchern.

Sofort kam mir ein biblisches Wort in den Sinn. »Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler. Denn sie lieben es, in den Synagogen und an den Straßenecken zu stehen und zu beten, damit sie von anderen gesehen werden.« (Mt 6, 5) Die selbstbezogene Welt, die Jesus so sehr fürchtete, ist auch unter uns heute zu finden.

Ich fragte mich, wo Jesus jemals so handeln würde. Wo würde er einen anderen Menschen auf Zehenspitzen um ihn herumschwänzeln lassen und so den anderen auf die Rolle eines Dieners, wenn nicht gar eines Sklaven reduzieren und erniedrigen? Der Jesus der Evangelien entledigt sich seiner Kleider, gürtet sich zum Dienst, kniet auf dem Boden und wäscht die Füße.

Im Johannesevangelium weiht uns der Evangelist in das Geheimnis Jesu ein: »Jesus, der wusste, dass der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte, stand vom Abendmahl auf.« (Joh 13, 3)

Jesus wusste, dass er das Vertrauen seines Vaters genoss, weil Gott alles in seine Hände gelegt hatte. Jesus wusste, wer er war, vor Gott und vor den anderen. Er wusste, woher er kam und wohin er ging. Das ist das Geheimnis, denn dann gibt es keinen Grund für Aufgeblasenheit und Selbstverherrlichung. Das sind immer die Instrumente eines Herzens, das seine Oberflächlichkeit und Leere kaschieren will. Solche Herzen, die nicht wirklich wissen, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie gehen, greifen zu Prunk und Pomp, weil sie die Tatsache verschleiern müssen, dass sie hohl sind.

Lippenbekenntnisse zum Evangelium werden uns in der Stunde der Krise nicht retten. Der Weg der Erneuerung wird mehr erfordern als eine bessere Show. Der Ruf dieser Tage ist so alt wie die biblische Geschichte. Wir müssen von einem Christentum der Gewohnheit und des Brauchs zu einem Christentum der Überzeugung, des Nachdenkens, der Wahl und der Entscheidung übergehen.

Überzeugung ist mehr als Gewohnheit. Sie wird aus den inneren Prozessen des tiefen Herzens geboren, das sich durch das wirkliche Leben kämpft, bis es zu einem Ergebnis kommt, mit dem es leben kann. Man kann immer erkennen, wann eine Überzeugung geboren wird. Es ist der Moment, in dem wir von dem, was wir sehen, erleben und erfahren, nicht nur berührt, sondern bewegt werden. Wenn wir nicht zu irgendeiner Handlung bewegt werden, und sei sie noch so klein, ist es keine Überzeugung.

Nachdenken ist der Moment, in dem wir in die Tiefe gehen, in dem wir nach dem Sinn und Zweck unseres Tuns fragen. Im Gegensatz zur Gewohnheit, die durch gedankenlose Wiederholung einfach den Status quo aufrechterhält, stellt die Reflexion Fragen nach der wahren Bedeutung des Geschehens.

Zu wählen ist ein unvermeidlicher Teil des authentischen Glaubens. Wir haben uns daran gewöhnt, einfach den Glauben zu übernehmen, der uns von der Generation vor uns weitergegeben wurde, ohne dass wir wirklich eine Wahl getroffen haben. Wir haben uns auf das Konzept des Erbes verlassen und nicht auf eine persönliche Entscheidung. Dieser Prozess ist zusammengebrochen. Eine authentische Verwendung des Wortes »Tradition« würde bedeuten, dass wir es als Verb und nicht als Substantiv verwenden. Tradition ist der Akt des Weitergebens und einen Grund zu geben, sich für das zu entscheiden, was uns wertvoll und lieb ist. Wir haben sehr darauf bestanden, dass die Menschen glauben sollen, aber welchen Grund geben wir für diese Entscheidung an? Welche Geschichten erzählen wir darüber, wie wir dazu gekommen sind, den Weg Jesu, den Weg des Evangeliums, zu wählen? Unter all den Chancen und Möglichkeiten, die sich den Menschen in der Welt bieten, ist der Weg des Glaubens eine Wahl, die wir treffen können. Er ist nicht unvermeidlich. Die Zeiten, in denen sozialer Druck unsere Kirchen voll hält, sind längst vorbei. Wenn Menschen kommen, dann nur, weil sie sich dafür entscheiden.

Die Entscheidung ist der Moment, in dem wir tatsächlich die Wahl treffen, die unser Leben, unser Handeln und unser Verhalten leiten und lenken wird. Es geht nicht um Stimmungen und Gefühle, sondern darum, eine Haltung einzunehmen. 

Das Ergebnis all dessen findet sich in einer wertvollen Zeile des Johannesevangeliums: »Jesus, der wusste, dass der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehren würde, stand vom Abendmahl auf.« (Joh 13, 3) Für Jesus hatte der Glaube mit der Überzeugung, des Nachdenkens, der Wahl und der Entscheidung zu tun. Das könnte auch der Weg unserer Erneuerung sein.

 

Erik Riechers SAC, 18. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Worte tragen Leben

 

Immer wieder lese ich in diesen Wochen in der Biografie von Hilde Domin. Mir wird dabei bewusst, wie viel Leben sie schon gelebt hatte, bevor die Worte ihrer unvergleichlichen Lyrik begannen, aus ihr herauszuwachsen. Dabei denke ich nicht nur an Lebenszeit; nein, ihr Leben war durch äußere und persönliche Umstände unglaublich dicht in einer großen Spannbreite von Lebensgenuss und Liebe bis zu Flucht, Verlusten, Heimatlosigkeit und tiefem Schmerz.

Sie nahm alles sensibel und intensiv wahr und gab ihm eine Sprache, vor allem in Briefen. Doch als alles ihr wegzubrechen schien, suchten sich neue Worte Bahn, Gedichte brachen förmlich aus ihr heraus. Sie schrieb später ihrem Bruder über diese Zeit: »Da wurden mir die Gedichte gegeben. Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.« (Marion Tauschwitz; Hilde Domin. Biografie, S. 229)

Mir gibt dies zu denken. Leiden wir nicht alle - bewusst oder unbewusst - an allzu vielen leeren Worten? Gejammer darüber, dass wir nicht endlich wieder leben können wie früher, noch mehr Berieselung, Gerede über Nichtssagendes! Was wäre, wenn wir mehr schweigen würden? Vielleicht könnte dies zur Quelle neuer Worte führen und wir würden uns tastend bewegen zu wahrem Austausch über Tiefes aus unserer Seele und echte Schätze unseres Lebens. Wir könnten üben, wahrhaft zu leben und zu lauschen und zu warten, was in uns wächst und reift. Wir könnten entdecken, wie wenig von all dem ach so Wichtigen wirklich notwendig ist. Und vielleicht könnten wir langsam verstehen und irgendwann einstimmen in das, was Hilde Domin, die Exil und Rückkehr und Heimatlosigkeit kannte, so in Worte goss:

 

Mit leichtem Gepäck

 

Gewöhn dich nicht.

Du darfst dich nicht gewöhnen.

Eine Rose ist eine Rose.

Aber ein Heim

ist kein Heim.

 

Sag dem Schoßhund Gegenstand ab

der dich anwedelt

aus den Schaufenstern.

Er irrt. Du

riechst nicht nach Bleiben.

 

Ein Löffel ist besser als zwei.

Häng ihn dir um den Hals,

du darfst einen haben,

denn mit der Hand

schöpft sich das Heiße zu schwer.

 

Es liefe der Zucker dir durch die Finger,

wie der Trost,

wie der Wunsch,

an dem Tag

da er dein wird.

 

Du darfst einen Löffel haben,

eine Rose,

vielleicht ein Herz

und, vielleicht,

ein Grab.

                       (aus: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, 2009)

 

Rosemarie Monnerjahn, 14. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Dort stehen, wo wir den Horizont sehen können: Wächter des Morgens II

 

 

Im Buch des Propheten Jesaja gibt es eine sehr kurze Geschichte über die Beziehung zwischen einem Wächter des Morgens und dem Volk.

Von Seir ruft man mir zu: Wächter, wie weit ist die Nacht?

Wächter, wie weit ist die Nacht?

Der Wächter hat gesprochen: Es kommt der Morgen und auch die Nacht!

Wollt ihr fragen, so fragt! Kommt wieder!

 Jes 21,11-12

 Wenn man so will, ist das so etwas wie eine Stellenbeschreibung für Wächter des Morgens.

Die Menschen nähern sich mit einer Frage: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Das ist nicht dasselbe wie die Frage nach der Tageszeit. Wenn die Menschen nach der Länge der Nacht fragen, ist das eine Frage der Angst und der Unsicherheit. Sie wollen wissen, wie lange sie die Dunkelheit noch ertragen müssen und wie lange sie warten müssen, bis das Licht in ihre Welt zurückkehrt.

Doch warum fragen sie den Wächter? Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie ein Wächter arbeitet und wo er oder sie diese Arbeit verrichtet. Die Wächter sind auf den Mauern der Stadt zu finden. Sie stehen dort, weil sie von dort aus sehen können, was sich der Stadt, die sie bewachen, nähert. Daher können sie auch den Horizont sehen, was unerlässlich ist, wenn man die Zeit anhand der Bewegung der Sterne und des Mondes bestimmen will. Er ist auch der Ort, auf den der Wächter schaut, um die ersten Anzeichen von Licht am Rande der Dunkelheit zu erkennen. Die ersten Anzeichen des Morgens sind immer am Horizont zu finden.

In diesem ersten Teil der Geschichte sehen wir eine grundlegende Lebenseinstellung, mit der jeder Wächter des Morgens zu kämpfen hat. Es geht um die Mauern und die Vor- und Nachteile, die sie für unser Leben mit sich bringen.

Der offensichtliche Vorteil einer Mauer ist, dass sie uns Schutz bietet. Die Mauern, die wir errichten, schützen uns und halten das, was bedrohlich und beängstigend ist, draußen und von uns fern. Hinter den Mauern, die wir bauen, fühlen wir uns sicher und geborgen.

Doch genau diese Mauern haben ihren Preis. Der Nachteil von Mauern ist, dass sie uns zwar schützen, uns aber auch den Blick auf die Welt um uns herum versperren. Vor allem schränken sie unseren Weitblick stark ein. Wenn wir uns hinter Mauern verstecken, können wir nicht in die Ferne blicken und vor allem den Horizont nicht mehr sehen. Und wie ich bereits erwähnt habe, können wir dann die Anfänge des neuen Tages nicht sehen. Das bedeutet, dass wir nicht in der Lage sind, zu wissen, wie die Nacht verläuft, daher die Frage des Volkes: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Es bedeutet auch, dass die Menschen hinter den Mauern selbst dann, wenn die ersten Anzeichen von Licht und Hoffnung am Horizont auftauchen, keine Ahnung haben werden, dass sie kommen. Sie werden in der Dunkelheit leben, ohne zu wissen, dass es bereits deutliche Anzeichen dafür gibt, dass es zu Ende geht.

Aber die Wächter des Morgens wissen es. Es ist kein Zufall, dass sie die ersten sind, die es wissen. Es ist das direkte Ergebnis einer Entscheidung, die sie getroffen haben. Sie haben sich entschieden, die Sicherheit der Mauern hinter sich zu lassen, um den Vorteil zu nutzen, einen weiten und umfassenden Blick auf die Welt jenseits der Mauern zu werfen. Das ist eine riskante Angelegenheit. Denn die ersten, die angegriffen werden können, sind die, die man sehen kann, die exponiert sind. Das sind die Wächter des Morgens. Doch sie sind bereit, dieses Risiko einzugehen, um zu sehen, was auf sie zukommt, sei es ein herannahender Feind oder die ersten Strahlen der Morgendämmerung. Sie weigern sich, sich hinter Mauern zu verstecken. Stattdessen wollen sie den Horizont sehen. Ihr Lohn ist, dass sie immer die ersten sein werden, die wissen, dass das Licht aufgeht und die Nacht zu sterben beginnt. Sie sind natürlich die ersten Boten der Hoffnung für die Menschen, die hinter den Mauern kauern. Doch in Psalm 30,6 können wir den Geist kennenlernen, der die Wächter des Morgens erfüllt: »Am Abend ist Weinen, doch mit dem Morgen kommt Jubel.« Sie sind die ersten Augenzeugen des anbrechenden Lichts, und deshalb wird der Jubel, der mit dem Morgen kommt, sie zuerst berühren. 

Ein Wächter des Morgens zu sein bedeutet, eine grundlegende Entscheidung darüber zu treffen, wo wir in der Welt stehen wollen, über den Ort, von dem aus wir unser Leben schmieden und gestalten wollen. Wir sehen es überall um uns herum: Menschen verbarrikadieren sich hinter Mauern des Zorns, in der Hoffnung, dass ihre Empörung über die Korruption und den Missbrauch der Welt ihre Herzen irgendwie vor noch mehr Schmerz schützen wird. Die Menschen bauen hohe Mauern mit Verschwörungstheorien, in der Hoffnung, dass sie vor der Angst der Ungewissheit und der Verwirrung der Welt um sie herum geschützt sind, wenn sie die Welt so erklären können, wie sie sie zu verstehen wünschen. Mauern können mit den Steinen der Gleichgültigkeit errichtet werden, die uns glauben machen, dass wir nicht verletzt werden können, wenn wir uns nicht kümmern. Bei dieser kaltherzigen Berechnung wird jedoch nie der schreckliche Preis der Isolation und Einsamkeit berücksichtigt, den sie nicht nur anderen aufbürden, sondern unter dem sie selbst leiden.

Ganz gleich, wie wir diese Mauern errichten, sie werden uns nicht erlauben, die Zeichen einer neuen Helligkeit, Wärme und eines neuen Lebens zu sehen, die in der Welt entstehen. Früher oder später werden wir spüren, dass die Frage in unseren Herzen brennt: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Doch wenn alle hinter den Mauern sind, wird niemand mehr da sein, der diese Frage beantworten kann.

Deshalb ziehe ich es vor, wie ein Wächter des Morgens zu leben. Ich mag es oben auf den Mauern. Es ist mein Ort, mein auserwählter Platz, von dem aus ich die Welt betrachten möchte. Ich will nicht in Unkenntnis der Ankunft des Morgens leben. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, mich mehr zu exponieren und weniger zu schützen, intensiver zu leben und die mühsame und anstrengende Aufgabe auf mich zu nehmen, den Horizont abzusuchen, weil ich immer zu den Ersten gehören möchte, die von dem Jubel berührt werden, der am Morgen kommt.

Und ich bin bereit, ein Wächter des Morgens zu sein, weil ich spüre, dass es immer jemanden geben muss, der in der Lage ist, die Frage zu beantworten, die aus der Dunkelheit kommt und schwer auf den eingemauerten Herzen lastet: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Sie brauchen Wächter des Morgens, denn ohne sie wird die biblische Geschichte der Hoffnung nicht gehört werden: »Es kommt der Morgen und auch die Nacht! Wollt ihr fragen, so fragt! Kommt wieder!«

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, 11. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

»Ermutigung in Sorge und Leid«

Unter dem segnenden Wunsch »Bleiben Sie behütet!« begegnen wir uns hier seit langem. Wir wussten im März 2020 nicht, wie sich unser Leben unter Covid19 entwickelt und verändert, mit welchen Folgen wir es zu tun haben würden, was diese »Geschichte« mit uns allen macht.

Wir waren uns aber sicher: dass wir in all den Unsicherheiten und Gefahren behütet bleiben mögen, dass über uns Gottes liebender Blick wacht, dass Er größer ist als all unsere Sorgen und Mühen und größer als alles, was auch immer geschehen mag.

Auch ohne die Bedrohung durch einen Virus kennen wir alle die Sorge um Menschen, die uns am Herzen liegen und uns anvertraut sind.

Vor knapp 30 Jahren beeindruckte mich eine Großmutter, die von ihren langjährigen Sorgen um ihren Enkel erzählte, der in die Drogenszene abgeglitten war und immer wieder verloren zu gehen schien in seiner Sucht. Es war erschütternd zu hören, was diese Frau in ihrer Liebe zu diesem Jungen ausgehalten hatte, wie tief und auch begründet ihre Sorge war und wie kaum auszuhalten ihre Hilflosigkeit. Aber ihr Herzblut ließ sie nicht aufgeben. Sie benutzte damals andere Worte, aber ihm, dem Enkel, wünschte sie immer Rettung, Segen und Behütetsein. Alles, was sie in diesen schweren Jahren erfahren und gelernt hatte, gab sie später weiter, damit andere davon profitieren, ja leben konnten. Sie schrieb Bücher und hielt Vorträge.

Wenn wir uns um konkrete Menschen sorgen, dann können wir meist das Denken an sie gar nicht abstellen. Wir hoffen, dass ihnen nichts Böses geschieht und lassen vielleicht - wie meine Mutter es für ihre Kinder und später ihre Enkel tat - immer wieder eine Kerze brennen zum Zeichen der Verbundenheit und als Ausdruck der Bitte um Schutz für die geliebten Menschen.

Aber manchmal machen wir auch Zeiten geradezu sorgenvoller Angst durch. Unsere Hilfsmöglichkeiten sind begrenzt, möglicherweise können wir gar nichts für unsere Geliebten tun. Dann kann die Sorge uns regelrecht »auffressen«. Manch einer ist in solchen Zeiten angstmachender Sorge krank geworden.

Dann brauchen wir Hilfe. Jemand muss uns helfen, wieder in die rechte Balance zu kommen zwischen mir selbst und dem, um den ich mich sorge, zwischen meinem Leben und seinem Leben, und schließlich zwischen meinen Möglichkeiten, die immer begrenzt sind und Gottes Möglichkeiten, die unerschöpflich sind.

Wir brauchen Menschen, die in dem, was wir erzählen, mehr erkennen als wir selbst es in unserem verdüsterten Blick vermögen. Wenn sie die Zeichen Gottes darin sehen, können sie uns helfen, die, um die wir Angst haben, loszulassen und Gottes Herz und Händen anzuvertrauen. Dann lernen wir zu sagen: »Bleib behütet!« und erfahren, dass dies auch für uns zum Segen gereicht. Dann wird das genug sein, was wir selbst tun können und die Zuversicht wird wachsen, dass Gott das Seine tut. Wir lernen, unsere Lieben Ihm anzuvertrauen und auch uns selbst. Wir steigen ja nicht aus, aber wir ändern den Blick.

Wir brauchen Menschen an unserer Seite mit einem weisen Herzen.

Nicht umsonst ist in der Bibel ein ganzes Buch der Weisheit gewidmet, diesem »Hauch der Kraft Gottes« (Weish. 7, 25) Von ihr heißt es, dass sie uns zu den Tugenden führt. »Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Nützlicheres als diese gibt es nicht im Leben der Menschen. Wenn jemand nach reicher Erfahrung strebt: Sie kennt das Vergangene und errät das Kommende, sie versteht, die Worte schön zu formen und Rätsel zu lösen; sie weiß im Voraus Zeichen und Wunder und kennt den Ausgang von Perioden und Zeiten. So beschloss ich, sie als Lebensgefährtin heimzuführen; denn ich wusste, dass sie mir guten Rat gibt und Ermutigung in Sorge und Leid.« (Weih. 8, 7-9)

Ein weises Herz gewinnen wir allmählich, durch Begleitung und durch Übung. Üben wir, Gott als den Hüter all unserer Lieben anzunehmen. So können wir leidvolle, sorgenvolle Zeiten miteinander durchschreiten.

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Februar 2022

Nächster Abschnitt

Wächter des Morgens

In Psalm 130 gibt es ein Bild, das uns leicht entgleitet, wenn wir nicht innehalten und nachdenken. »Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, mehr als die Wächter auf den Morgen.« Hier betont das Gebet, dass die Seele eine Sehnsucht nach dem Kommen des Herrn in ihr Leben hat, die noch größer ist als die Sehnsucht eines Wächters nach dem Kommen des Morgens. Das Bild ist stark, aber nur, wenn wir eine Frage beantworten können: Wie stark ist die Sehnsucht eines Wächters nach der Ankunft des Morgens? Wie wichtig ist die Ankunft eines neuen Lichts in der Welt für einen Menschen, der die ganze Nacht hindurch Wache hält?

Die Last des Wartens in langen Nächten ist für uns nichts Neues. Im Moment überschlagen sich die Nachrichten mit dieser Geschichte. Die Menschen sehnen sich nach einem Ende der langen Nacht von Corona und sind zermürbt und verzweifelt, wenn noch immer kein klares Ende in Sicht ist. Die Schlagzeilen sind voll von Meldungen über weitere Entdeckungen von Missbrauch in der Kirche, zusammen mit dem Chor des Entsetzens, der Wut und der Empörung, der immer auf solche Berichte folgt. Diese lange Nacht der Scham, der Hilflosigkeit und der Wut dauert schon so lange an, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Die politischen Probleme des Landes gehen unvermindert weiter, auch wenn die Regierungen wechseln. Die Extreme nehmen zu, der Antisemitismus taucht überall wieder auf, der zivile Diskurs ist Tiraden und Hassparolen gewichen, und die Sorge um das Gemeinwohl wird angesichts eines unerbittlichen und ungebremsten Individualismus zunichte gemacht. Die dunklen Stunden der Nacht sind lang und zermürbend.

Aber der biblische Erzähler von Psalm 130 stimmt nicht in den Chor derer ein, die die Länge der Nacht beklagen. Stattdessen versetzt er sich in die Rolle eines Wächters, eines Menschen, der stets auf das Kommen des Morgens achtet. Es ist die Rolle eines Menschen, der sich weigert, in die Rolle des Verzweifelten zu schlüpfen, der nur beklagt, was die menschliche Seele kränkt. Stattdessen hält dieser Mensch Ausschau nach Hoffnung, nach einer neuen Perspektive am Horizont, nach Zeichen des Lichts, das sich danach sehnt, in die Welt zurückzukehren.

Diese Begegnung mit der biblischen Geschichte wirft in mir eine Frage auf. Welche Rolle möchte ich in dem großen Heilsdrama Gottes spielen, das sich in der Welt abspielt? Die Versuchung ist groß, in die Litanei und den Chor der Verzweiflung einzustimmen, von den Liedblättern der Nacht zu singen. Es ist eine Versuchung, die uns überall begegnet. Jeden Tag begegne ich ihr in den Menschen, denen ich begegne. Sie sind zerbrechlich, müde und aufgrund zahlreicher und unterschiedlicher Erfahrungen unmotiviert. Allzu oft sind sie von Menschen umgeben, die mit ihnen den traurigen Zustand der Welt und ihren persönlichen Anteil daran beklagen.

Aber das ist kein Trost. Auf diese Weise kann keine Hoffnung geboren werden. Das ist nur Elend, das sich in Gesellschaft befindet. In diesem Szenario gibt es keine Perspektive. Von diesem Ort der Verzweiflung und Resignation gibt es keinen Ausweg.

Der Wächter des Morgens wählt einen anderen Weg und damit einen radikal anderen Zugang zum Leben und seinen langen Nächten. Der Wächter des Morgens ist bewusst auf der Suche nach Zeichen der Hoffnung. Der Wächter des Morgens versucht, Gottes Plan für die Zukunft zu erkennen, die Prioritäten für die Zukunft des Volkes Gottes zu verstehen, neue Wege zu gehen und unbetretene Pfade zu beschreiten.

Das kann nur geschehen, wenn tief im Herzen des Wächters die Überzeugung verbleibt, dass es mehr gibt als das, was wir erlebt haben. Es ist ein alter biblischer Ruf unseres Gottes, der uns daran erinnert, wachsam zu bleiben, denn es wird noch mehr kommen, und es wird uns göttliche Güte und Licht bringen. Das ist die Erfahrung, die wir Glauben nennen. Der Erzähler des Hebräerbriefs sagt es so: »Der Glaube aber ist die Grundlegung dessen, was man erhofft, der Beweis für Dinge, die man nicht sieht.« (Heb 11,1). Paulus erinnert uns daran, dass ein Wächter des Morgens Gottes Verheißung in den dunklen Nächten glaubt, bevor wir sie erfüllt sehen. »Im Zeichen der Hoffnung wurden wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung. Wer hofft schon auf das, was er sieht?« (Röm 8, 24)

Ich für meinen Teil weigere mich, in die Litanei der Verzweiflung einzustimmen, auch wenn ich den Stachel der Verzweiflung in meinen Knochen spüre. Ich bin nicht immun gegen das, was lange Nächte dem menschlichen Herzen antun, wie jeder andere auch. Ich spüre die Müdigkeit und die Traurigkeit genauso stark wie jeder andere. Die Enttäuschung und der Vertrauensbruch sind für mich genauso entmutigend wie für alle meine Brüder und Schwestern. Aber ich weigere mich, dieses Gespräch ohne Gott zu führen. Ich weigere mich, meine ganze Zeit damit zu verbringen, über die Nacht oder, noch schlimmer, mit der Nacht zu reden. Also steige ich auf die Mauern und halte Ausschau nach dem Anbruch des Tages. Ich tue es jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um ein weiteres ermutigendes Wort zu schreiben. Ich tue es jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um einen Menschen durch die unruhigen Gewässer seines Lebens zu begleiten. Ich halte in jeder Predigt, die ich schreibe und verkünde, Ausschau nach dem Morgen. »Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, mehr als die Wächter auf den Morgen.«

Wenn ich bete, greife ich das Bild des Jesaja auf: »Auf deinen Mauern, Jerusalem, habe ich Wächter eingesetzt, den ganzen Tag und die ganze Nacht, niemals schweigen sie! Die ihr den HERRN erinnert, gönnt euch keine Ruhe.« (Jesaja 62, 6)

Ich bete für mehr Wächter des Morgens. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich werde sie Ihnen gerne nächste Woche in meinem nächsten Impuls erzählen.

 

 Erik Riechers SAC, Vallendar, den 04. Februar 2022

Nächster Abschnitt

Was so leicht daher kommt . . .

Vor fast 30 Jahren hatte ein Vater seiner 10-jährigen Tochter ins Poesiealbum geschrieben: »Das Beste, was wir auf der Welt tun können, ist Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen.« Das Mädchen liebte diesen Satz und es schrieb ihn gern selbst in andere Alben. Wahrscheinlich kennt ihn jeder von uns und weil er so leicht daher kommt, neigen wir dazu, ihn als kindisch abzutun, als frommen Postkartenspruch oder einfach als abgedroschen.

Der Verfasser dieses Wortes wird heute im Kloster Benediktbeuern und überall, wo die Salesianer Don Boscos leben und wirken, gefeiert und geehrt, nämlich Johannes Bosco. Heute ist der 144. Todestag dieses norditalienischen Priesters, begabten Pädagogen, Jugendseelsorgers und Ordensgründers und ich halte heute inne bei diesem Satz und schaue nach seinem tragenden Grund.

Don Bosco hatte die Klarheit und den Mut, etwas als das »Beste«, was wir tun können, zu bezeichnen. Das kommt uns nicht mehr oft über die Lippen in unserer Welt der Indifferenz, der Gleichmacherei und des »Alles darf sein - alles ist gut«. Wir trauen uns oft nicht mehr, die qualitativen Unterschiede dessen, was wir tun können, zu benennen mitsamt den möglichen Folgen, segnend und förderlich oder abstumpfend und schädlich sein können.

Als solch ein »Bestes« empfiehlt Don Bosco als erstes, Gutes zu tun. Dies ist eine Aufforderung zum Handeln und das wiederum führt uns mitten hinein in die Botschaft der Bibel und in die Lebensunterweisungen Jesu. »Handle danach und du wirst leben« sagt Jesus zu dem Gesetzeslehrer, der ewiges Leben erben will und die Worte der Weisung kennt: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.« (Lk 10,27-28) Leben, so sagt ihm Jesus, erwirbst du dir durchs Tun!  Zu Nikodemus, der ihn in der Nacht aufsucht, sagt er am Ende des Gesprächs: »Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht«. (Joh 3, 21) Wie wir handelnd leben zeigt, wes Geistes Kind wir sind. Als Abbilder und Partner Gottes sind wir geschaffen mit der Fähigkeit und dem Auftrag, gut zu handeln und so Leben für uns, für andere, für die uns anvertraute Schöpfung zu erhalten und zu gestalten. Wenn es von Gott in der Schöpfungsgeschichte immer wieder heißt, dass er »sah, dass es gut war«, so kann und soll auch unser Schaffen kreativ sein, aufbauend, neue Welten schaffend und liebevoll sorgend.

Zu dem Besten, was wir tun können, zählt Don Bosco dann das Fröhlichsein. Natürlich hat das nichts zu tun mit Witzigkeit oder gar Albernheit. Es geht vielmehr um eine Grundhaltung, die schon das kleine Buch Nehemia dem Volk Gottes, das aus der babylonischen Verbannung in die zerstörte Stadt Jerusalem zurückgekehrt ist, ans Herz legt. Unter großen Mühen richten sie Mauern wieder auf und lauschen zu Tränen ergriffen der Weisung des Herrn, der Tora, die Esra ihnen vorträgt. Als er ihre Tränen sieht, sagt er ihnen: » Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.« (Neh 8, 10) - und dann feiern sie wie in alten Zeiten das Laubhüttenfest. Fröhlich zu sein hat mit dieser Freude am Herrn zu tun. Denn das ist die Botschaft, die sich von Anfang bis Ende durch die Bibel zieht: Gott ist bei seinen Menschen, er ist treu, er zeigt Wege und schenkt Kraft, er ist in uns und um uns. Sich an IHM zu freuen hat also Substanz und darf immer wieder in unserem Leben die Oberhand gewinnen.

Und schließlich rät Giovanni Bosco, die Spatzen pfeifen zu lassen. Lass sie - so höre ich hier -, verscheuche sie nicht oder störe dich an ihnen. Vielmehr können sie dir eine Erinnerung sein: »Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.« (Mt 10, 29-31) Mit diesen Worten ermutigt Jesus seine Jünger bei ihrer Aussendung und malt damit ein so einprägsames wie auch ausdrucksstarkes Bild für Gottes unerschöpfliche Fürsorge für uns.

          Je mehr ich also nachdenke über den Gedanken aus dem Poesiealbum, desto klarer wird mir: was so leicht daher kommt, hat die Leichtigkeit nur, weil es tief gegründet ist.

Was aber ist aus der Zehnjährigen geworden, die mit diesem Satz groß wurde? Sie hat ihn nie auf den Lippen. Aber seit langem fällt mir auf, wie sie anpacken kann statt zu räsonieren, wie sie sich einbringt, wenn es darauf ankommt. Wie oft staunten Familie, Freunde oder Kollegen, wie kreativ sie nach Lösungen suchte und ihr im »Ernstfall« nichts zu viel war. Dabei ist sie getragen von einer zutiefst hoffnungsvollen und positiven Grundhaltung. Sie hat eine gewisse Fröhlichkeit, die ihr selbst und den Menschen um sie herum gut tut. Vermutlich ist sie sich dessen gar nicht bewusst, wie viel sie lebt von den Worten, die ihr Vater ihr einst aufschrieb. Sie füllt sie einfach mit ihrem Leben.

So grüße ich Sie in diesen instabilen Zeiten heute mit Don Boscos Rat: »Steht mit den Füßen auf der Erde und wohnt mit dem Herzen im Himmel.«

Rosemarie Monnerjahn, 31. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Was geschieht, wenn Gott uns frei macht?

In den Turbulenzen und Konflikten der Corona-Krise ist viel über die Freiheit des Einzelnen gesprochen worden. Eine oft gehörte Aussage ist: Freiheit bedeutet, dass mir niemand sagen kann, was ich zu tun habe. In vielen Fällen wird dafür plädiert, sich von allen Verpflichtungen zu befreien, die uns nicht passen. Aber von einer Freiheit für etwas, sei es für eine gerechte Sache, für das Gemeinwohl oder für den Dienst an den Schwächsten und Bedrängten in unseren Reihen, ist kein Wort zu hören. Das ist eine beunruhigende und gefährliche Entwicklung.

Die Geschichten von Gott bieten uns eine Alternative, denn sobald er uns befreit hat, sagt er uns genau, was wir mit dieser neu gefundenen Freiheit tun sollen.

Da erhoben sich voll Eifersucht der Hohepriester und alle, die auf seiner Seite standen, nämlich die Partei der Sadduzäer. Und sie legten Hand an die Apostel und nahmen sie in öffentlichen Gewahrsam. Ein Engel des Herrn aber öffnete nachts die Gefängnistore, führte sie hinaus und sagte: Geht, tretet im Tempel auf und verkündet dem Volk alle Worte dieses Lebens!

In dieser kraftvollen und dramatischen Geschichte aus der Apostelgeschichte (Apg. 5, 17-21) erleben wir eine Geschichte der Befreiung. Die Gefängnistüren werden von einem Engel geöffnet. Eingekerkerte Menschen werden durch den Boten Gottes aus dem Gefängnis geführt. Wer träumt nicht davon, befreit zu werden, wenn er die engen Mauern seines eigenen Gefängnisses erlebt? Manche dieser Gefängnisse sind von außen gebaut, aus Stein und Stahl. Andere werden im Innern errichtet, geschmiedet aus Angst, Selbstzweifeln und dem anhaltenden Gefühl der Minderwertigkeit. Beziehungen können zu Gefängnissen werden, ebenso wie Familien und Gemeinschaften. In jedem Fall sind es Orte, die die Hoffnung ersticken und Resignation und Verzweiflung hervorrufen.

Gefängnisse spielen immer zwei Rollen. Einerseits sperren sie Menschen ein, um sie zu bestrafen, indem sie sie ihrer Freiheit berauben. Andererseits schützen sie die Menschen, die draußen in der freien Welt sind, vor denen, die drinnen sind. Für die Menschen draußen ist ein Gefängnis ein Ort, an dem Menschen, die unsere Ordnung und unseren Frieden stören oder bedrohen, sicher weggesperrt werden. Gefängnisse sind auch deshalb so kompliziert, weil sie von gerechten Gesellschaften zur Bestrafung von Kriminellen und zum Schutz der Gesellschaft genutzt werden, aber auch von Tyrannen und Diktatoren, um ihre Opposition zum Schweigen zu bringen und die Andersdenkenden in ihren Ländern einzuschüchtern.

Wenn eine Person aus der Haft entlassen wird, ist die Gesellschaft in der Regel davon überzeugt, dass sie keine Gefahr mehr für andere darstellt. In der Überzeugung, dass sie den Frieden und die Ruhe der Menschen nicht mehr stören werden, dürfen sie endlich wieder in Freiheit leben.

Das macht diese Geschichte umso interessanter und herausfordernder, weil sie dieses Muster durchbricht. »Geht, tretet im Tempel auf und verkündet dem Volk alle Worte dieses Lebens!« Die Geschichte macht deutlich, dass Gott den Boten gesandt hat, um die Tore zu öffnen, seine gefangenen Freunde herauszuführen und sie wieder in das pralle Leben zu entlassen, damit sie genau das Gegenteil tun. Gott befreit sie aus dem Gefängnis, damit sie auffallen und nicht in der gesichts- und namenlosen Masse untergehen. Er befreit sie, damit sie aktive Verkünder von verstörenden Geschichten werden. Die Menschen, die Gott befreit, sollen nicht unauffällig in der Menge verschwinden und sich verstecken, sondern in den Tempel (den öffentlichsten Ort Jerusalems) gehen und »dem Volk alle Worte dieses Lebens!« verkünden.

Es geht nicht um die Freiheit, sich zu verstecken, sondern um eine Freiheit, sich zu zeigen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat einmal gesagt: »Frei zu sein ist nichts, frei zu werden ist alles!« Hier werden die Gefängnistore geöffnet, damit wir in das Herz des Lebens gehen können. Wir sollten für das einstehen, was in uns ist, was uns geformt und geprägt hat und was uns leben lässt. Denn wenn wir das nicht tun können, sind wir dann nicht in einem Gefängnis?

Diese Erfahrung ist uns nicht fremd. Irgendwann, und wahrscheinlich mehr als einmal, sind wir aus Gefängnissen befreit worden. Boten Gottes haben uns die Pforten zum Leben geöffnet, die wir selbst nicht öffnen konnten. Sie haben uns die Wege zur Freiheit gezeigt und uns an die Schwelle des Lebens begleitet.

Aber als befreite Menschen müssen wir in den Tempel gehen. Wir müssen in die Mitte des Lebens gehen und »alle Worte dieses Lebens« verkünden. Alle Worte dieses Lebens bedeutet, dass wir den Namen des Gottes verkünden müssen, der uns die Gefängnistore öffnet, der uns durch die Knechtschaft getragen hat und der uns durch das Labyrinth der Gefängnisgänge zurück ins Leben geführt hat. Und alle Worte dieses Lebens zu verkünden bedeutet, dass wir auch das Ziel verkünden, für das wir befreit wurden. Unser Leben wurde nicht freigesetzt, damit wir in unser privates kleines Lehen zurückkehren, sondern damit wir im Tempel erscheinen und für andere zu Boten Gottes werden. Und so fängt es wieder an, denn wenn wir auf diese Weise in der Welt erscheinen, werden wir diejenigen sein, die beginnen, eine weitere Gruppe von Gefangenen zu befreien.

 

Erik Riechers SAC

Paderborn, 28. Januar 2022

 

Nächster Abschnitt

»Gesegnet von jeglichem Ding«

 

Unser Verständnis und unsere Wahrnehmung der Welt, die uns umgibt, sind nüchtern und vom Verstand betont. Im Gegensatz zu den Menschen früherer Zeiten wissen wir, woher der Donner kommt und wie ein Vulkanausbruch im südlichen Pazifik einen Tsunami in Peru auslösen kann. Schneepisten können wir selbst herstellen. Wir alle benutzen hochkomplexe Dinge, die Menschen sich ausgedacht, entwickelt und hergestellt haben. Wir gehen damit ganz pragmatisch um und verwerfen sie, wenn neue Entwicklungen Besseres hervorbringen.

Das ist in Ordnung, doch solch ein Umgang kann uns so prägen und bestimmen, dass er Auswirkung hat auf die Art und Weise, wie wir alles im Leben wahrnehmen: technisch, utilitaristisch und mechanistisch.

Alles muss nützlich sein, einem Zweck dienen, wir wollen es verstehen und es soll funktionieren. Aber daneben, dahinter, manchmal darin gibt es Erfahrungen des Lebens, die sich dem entziehen.

Was ist im Spiel, wenn unser Atem stockt? Oder wenn er schneller geht? Ist es nicht überhaupt ein Wunder - das Atmen?

Staunen wir nicht manchmal über etwas, das uns zugeflüstert wird - vielleicht staunen wir über das Vertrauen, das uns da gerade entgegengebracht wird? Oder unsere eigene Stimme wird ein Flüstern angesichts einer überwältigenden Erfahrung.

Warum kommen uns manchmal Tränen beim Anblick einer Landschaft, eines Bildes oder eines Gesichts? Oder wir jauchzen über das, was sich gerade vor unseren Augen abspielt.

Kann nicht die Berührung und Nähe eines Menschen einen tristen Tag zu einem Freudentag verwandeln?

Wie empfinden wir es, wenn ein leidgeprüfter Mensch sein Herz vor uns öffnet und uns seine inneren Schätze anvertraut? Da bekommen wir auf einmal eine Ahnung von der Tiefe und Ewigkeit der Seele.

Kennen wir nicht das Drängen der Gedanken, wenn wir nach Lösungen und Hilfe für geliebte Menschen suchen? Es kann staunenswert sein, zu was unser Denken fähig ist.

Halten wir hin und wieder rückblickend inne, weil uns bewusst wird, dass nicht wir selbst es waren, die uns durch eine schwere Zeit getragen haben? Es wohnte eine Kraft in uns, die über uns hinausweist.

Ein jegliches Ding, das uns begegnet, kann ein Segen sein. Alles, was wir erfahren und aufnehmen, kann eine segnende Kraft entfalten.

Darum liebe ich das Morgengebet von John O’Donohue, in dem er sich selbst aufrichtend sagt:

»Ich erhebe mich heute

Gesegnet von jeglichem Ding:

Schwingen von Atem,

Entzücken von Augen,

Staunen von Geflüster,

Nähe der Berührung,

Ewigkeit der Seele,

Dringlichkeit des Denkens,

Wunder der Gesundheit,

Umfangensein von Gott.«

Wir können uns dafür sensibilisieren, eine tiefere Dimension des Lebens wahrzunehmen und aufzunehmen. Und wir können im Rückblick von ihnen erzählen.

Auch wenn wir es gar nicht merken, dürfen wir vertrauen: in jeder Sekunde webt mehr Segen in uns und um uns, als wir es uns vorstellen können. Ist dieser »Teppich« nicht ein fester Grund, auf dem wir stehen und gehen können?

Ich wünsche es uns allen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 24. Januar 2022

 

Nächster Abschnitt

Einander segnen

 

Heute stelle ich eine kleine Frage, die in meinem Herzen gewachsen ist - gerade auch im Nachklang von Eriks Impuls zur Corona-Müdigkeit: Können wir nicht einfach und ganz bewusst immer wieder einander segnen? Im Lateinischen heißt segnen benedicere und das bedeutet gut zu sprechen. Ohne zu leugnen, was uns belastet, ohne so zu tun, als gäbe es die Pandemie mit all ihren Einschränkungen und Risiken nicht, möchte ich meinen Blick ändern.  Ich möchte dem anderen Gutes sagen. Dazu muss ich (wieder) wahrnehmen. Ich muss ihn sehen und hören und dann darüber nachdenken, was ihm gut tut und welche Lebensmehrung ich ihm ganz konkret wünsche. Ich suche nach Worten und Bildern, die dies zum Ausdruck bringen, bewege sie in meinem Herzen und segne einen Menschen damit.

Als mein Enkel geboren wurde, schenkte mir eine Freundin einen Liedtext von Reinhard Mey.

Das ganze Lied ist der Segen eines Großvaters an der Wiege seines Enkels. In einer Strophe heißt es:

»Immer einen Glückspfennig in einer Deiner Taschen,
Immer einen ruh'gen Atemzug im Ziel,
Immer voll Vertrau'n, doch mit allen Wassern gewaschen,
Immer eine Handbreit davon unterm Kiel.
Dass durch alle Fährnis dich ein Schutzengel begleite,
Dass ein Leuchtfeuer dich führ' mit sich'rem Schein!
Immer sei ein bester Freund an deiner Seite -
Ich will gern der älteste von ihnen sein.« *

Ist das nicht schön? Atem und Vertrauen, Schutz des Himmels, leitender Lichtschein, Freundschaft und Glück sind die Gaben, die er dem Menschenkind wünscht, und er ist bereit, daran mitzuwirken. 

Wem könnten wir ein paar Verse dieses Liedes singen? Wenn wir Gelegenheiten suchen, einander zu segnen, verändern wir unsere Gedanken und weiten unsere Herzen.

Und der Segen wird über uns allen sein.

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Januar 2022

* aus R. Mey, »Fahr dein Schiffchen durch ein Meer von Kerzen«

 

Nächster Abschnitt

Corona-Müdigkeit

Im Moment sind wir alle sehr müde von den langen Tagen der Pandemie und den vielen, oft verwirrenden Regeln und Vorschriften, die sie mit sich bringt. Diese allgegenwärtige Erschöpfung wird oft als »Corona-Müdigkeit« bezeichnet.

Es ist nicht das erste Mal in der langen Heilsgeschichte, dass das Volk Gottes unter solchen Momenten leidet. Als sie aufstanden, sprachen die Propheten zu ihnen von Hoffnung und erinnerten sie daran, dass solche Tage vorübergehen werden und das Volk Gottes neue und erfreulichere Momente erleben wird. Der Prophet Jeremia tut genau dies, wenn er diese Worte zu Gottes Volk in der Krise spricht:

So spricht der HERR: Gnade gefunden hat in der Wüste ein Volk: dem Schwert Entkommene. Ich ging, um Israel Ruhe zu schaffen. Aus der Ferne ist mir der HERR erschienen: Mit unendlicher Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus Güte. Ich werde dich wieder aufbauen, und du wirst aufgebaut sein, Jungfrau Israel! Du wirst dich noch mit deinen Pauken schmücken und wirst ausziehen im Reigentanz der Lachenden. Du wirst noch Weingärten pflanzen auf den Bergen Samarias; Pflanzer pflanzen sie, und man wird sie in Gebrauch nehmen. Denn es gibt einen Tag, da rufen die Wächter auf dem Gebirge Efraim: Auf, und lasst uns hinaufziehen nach Zion, zum HERRN, unserem Gott! (Jeremia 31,2-5)

 

Die ersten Zeilen der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute beginnen mit einer eindringlichen Mahnung. »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.« Sie erinnert uns daran, dass wir als Volk Gottes nicht von der Trauer und Angst des Lebens ausgenommen sind. Aber wir werden auch nicht von der Geschichte der Freude und der Hoffnung ausgeschlossen.

Um es wie Jeremia zu formulieren: Wir sind ein Volk, das dem Schwert dieses Virus und seinen vielen Auswirkungen entkommen wird. Wir werden die Gegenwart Gottes (Gnade) inmitten dieser wilden und ungezähmten Erfahrung finden. Wir werden wieder zur Ruhe kommen und auch Zeit für unsere Vergnügungen und Beschäftigungen finden. Wir werden wieder aufgebaut werden und das, was zerbrochen war, wiederherstellen. Wir werden in den Tagen nach der Krise die Zeit und die Gelegenheit haben, Neues zu schaffen. In vielerlei Hinsicht kehren wir bereits an die Orte und zu den Zeiten zurück, an denen wir uns vergnügt haben und die Lachenden waren. Ganz sicher werden wir pflanzen und ernten. Wir werden die Fruchtbarkeit des Lebens auf unseren Tischen und in unseren Bechern genießen.

Aber im Moment sind wir noch tief in die langen Tage der Pandemie und die vielen, oft verwirrenden Regeln und Vorschriften eingetaucht, die sie mit sich bringt. Und während wir noch die Corona-Müdigkeit verspüren, könnten wir uns bereits eine Frage für die Zukunft stellen. Werden wir uns daran erinnern, was diese Müdigkeit mit uns gemacht hat, wie wir uns dabei gefühlt haben und wie sie sich aus der langen, harten Reise durch eine trockene und karge Lebenserfahrung entwickelt hat?

Ich stelle die Frage nicht als eine Übung des historischen Gedächtnisses, sondern als eine Übung des Gedächtnisses des Herzens. Das ist eine sehr alte Übung. Fragen Sie einfach Mose und das Haus Israel. Was ist eine der häufigsten Übungen, die Mose ihnen aufs Herz legt? Er fordert sie auf, nicht zu vergessen, wie es war, in den Tagen der längsten Krise, der Zeit der Sklaverei in Ägypten, zu leben und sich zu bewegen.

Du sollst das Recht des Fremden und der Waise nicht beugen und das Kleid der Witwe nicht als Pfand nehmen, sondern du sollst daran denken, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich von dort befreit hat. Darum gebiete ich dir, dass du so handelst. Wenn du auf deinem Feld deine Ernte schneidest und eine Garbe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Dem Fremden, der Waise und der Witwe soll sie gehören, damit der HERR, dein Gott, dich segnet bei aller Arbeit deiner Hände. Wenn du deinen Ölbaum abklopfst, sollst du danach nicht die Zweige absuchen; dem Fremden, der Waise und der Witwe soll es gehören. Wenn du in deinem Weinberg Lese hältst, sollst du keine Nachlese halten. Dem Fremden, der Waise und der Witwe soll es gehören. Und du sollst daran denken, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten; darum gebiet ich dir, dass du so handelst.  (Deuteronomium 24,17-22)

Die Aufgabe besteht darin, uns daran zu erinnern, was wir durchgemacht haben, und dann dafür zu sorgen, dass wir nicht vergessen, dass es viele gibt, die weiterhin dasselbe erleiden. Wir sind in einer privilegierten Lage, denn wir kennen ihren Schmerz und ihren Verlust von innen, weil wir ihn selbst durchlebt haben. In der großen Geschichte Gottes erinnert uns der Herr daran, was wir für den Fremden, den Vaterlosen und die Witwen zurücklassen müssen, denn die Erfahrung, dass unser Hunger und unsere Not vergessen werden, ist uns nicht fremd. Gott ist nicht nur nicht geneigt, uns selektiv werden zu lassen, woran wir uns erinnern, er lässt uns auch nicht wählen, an wen wir uns erinnern.

Die Tage der Wiederherstellung werden kommen. Ich werde genauso erleichtert sein wie alle anderen, wenn das Schlimmste hinter uns liegt. Aber ich bete nicht dafür, dass ich dann alles vergesse und es in der Vergangenheit belasse. Das wäre eine Verschwendung einer guten Krise. Es ist gefährlich, das gute Leben als Beruhigungsmittel zu benutzen. Diese Corona-Müdigkeit kann ein Ansporn sein, etwas, das uns zu größerer Sensibilität und Mitgefühl antreibt, um eine größere Gerechtigkeit zu suchen. Denn unsere Müdigkeit wird vergehen und verblassen, aber das wird nicht für alle gelten. Die Flüchtlinge müssen noch immer an höllischen Orten der Flüchtlingslager Moria auf Lesbos schmachten. Die Obdachlosen zittern immer noch auf unseren Straßen, die Armen haben immer noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und die Ausländer sind immer noch in Quarantänen der Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung eingesperrt.  Der Rassismus infiziert noch immer zahlreiche Menschen, und seine Ausbreitung kann so ansteckend sein wie das Virus. Jeden Tag tauchen neue Brennpunkte des Antisemitismus auf und machen es für unsere jüdischen Schwestern und Brüder unsicher, einen Gottesdienst zu besuchen, ohne dass bewaffnete Polizisten sie bewachen und schützen.

Es wäre so einfach, unsere Corona-Müdigkeit zu vergessen und zu sagen: »Das ist nicht unser Problem«. Aber während wir von dieser Müdigkeit eingehüllt sind, während wir das Gefühl hassen so leben zu müssen, sowie die erstickende Isolation, die sie schafft, und die Ketten der Begrenzung, die sie uns auferlegt, sollten wir eine lebendige Erinnerung des Herzens bewahren. Dies war einst unser Problem, und wir sollten uns an die ständig wiederholte Erinnerung unseres Gottes erinnern: Erinnert euch an die Schwachen, denn wir waren einst genau wie sie.

 

Erik Riechers SAC, 17. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Die Legende der Immergrünen

Ich möchte Ihnen eine Geschichte aus der Tradition der Cherokee erzählen, die den Titel trägt: Warum manche Bäume immer grün sind.

 

Als die Pflanzen und Bäume erschaffen wurden, gab das Große Mysterium jeder Art ein Geschenk. Aber zuerst veranstaltete es einen Wettbewerb, um zu sehen, welches Geschenk für wen am nützlichsten sein würde.

»Ich möchte, dass ihr wach bleibt und sieben Nächte lang über die Erde wacht«, sagte das Große Mysterium zu ihnen.

Die jungen Bäume und Pflanzen waren so aufgeregt, dass es ihnen in der ersten Nacht schwer gefallen wäre, nicht wach zu bleiben. In der zweiten Nacht war es jedoch nicht so einfach, und kurz vor der Morgendämmerung schliefen einige von ihnen ein. In der dritten Nacht flüsterten die Bäume und Pflanzen untereinander im Wind und versuchten, nicht einzuschlafen, aber das war für einige von ihnen zu viel Arbeit. In der vierten Nacht schliefen noch mehr ein.

Als die siebte Nacht kam, waren nur noch die Zeder, die Kiefer, die Fichte, die Tanne, die Stechpalme und der Lorbeer wach.

»Welch wunderbare Ausdauer habt ihr!«, rief das Große Mysterium aus. »Euch soll die Gabe gegeben werden, für immer grün zu bleiben. Ihr werdet die Wächter des Waldes sein. Selbst in der scheinbaren Winterstarre werden unsere Brüder und Schwestern in euren Zweigen Schutz finden.«

Seitdem verlieren alle anderen Bäume und Pflanzen ihre Blätter und schlafen den ganzen Winter über, während die Immergrünen wach bleiben.

 

Die Geschichte spricht etwas an, das in unserer Lebenshaltung verloren gegangen ist, das aber in den biblischen Geschichten sehr lebendig ist. Wenn alle anderen ihre Wachsamkeit und Vitalität verlieren, müssen wir den Widerstand der Immergrünen üben. Wie diese Bäume müssen wir der Kälte und der Dunkelheit trotzen, die uns zu entblößen drohen oder uns in den Tiefschlaf locken. 

Wir haben unsere eigene Version dieser Legende der Cherokee. Im ersten Johannesbrief erzählt uns der Autor eine Geschichte, die von Wachsamkeit und Fruchtbarkeit geprägt ist. »Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens - das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist -, was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Dies schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen ist.« (1. Johannes 1, 1-4)

Aber wie konnte die Gemeinschaft des geliebten Jüngers diese Worte über das Wort des Lebens schreiben? Sie mussten praktizieren, was die immergrünen Bäume taten. Wenn wir darüber sprechen wollen, was mit dem Wort des Lebens von Anfang an geschehen ist, dann müssen wir von Anfang an aufmerksam sein. Wir können nicht zu einem späteren Zeitpunkt einsteigen und hoffen, etwas über die Ursprünge und Quellen unserer Erfahrungen mit diesem Wort zu erfahren. Wir können keine Nachzügler in den Tiefen des geistlichen Lebens sein. Wenn wir erzählen wollen, was unsere Ohren gehört haben, dann müssen wir dem Drang widerstehen, einzuschlafen, denn nur wer wach bleibt, hört die ganze Geschichte, die dieses Wort des Lebens zu erzählen hat. Wenn wir erzählen wollen, was unsere Augen gesehen haben, dann müssen wir all den Dingen trotzen, die unsere Aufmerksamkeit auslöschen und uns blind machen für das Wesentliche, das Reale und das Echte. Es ist unmöglich zu erzählen, was unsere Hände berührt haben, wenn wir nicht an den berührenden Stellen erschienen und anwesend waren. Denn das Wort des Lebens nahm Fleisch und Knochen an, hatte einen Namen und ein Gesicht und konnte in Jesus Christus berührt werden. Das Wort des Lebens kann berührt werden, wenn wir an den Orten erscheinen, wo Fleisch und Knochen Pflege und Heilung, Führung und Trost brauchen. Die biblischen Geschichten wurden in einer Generation erzählt, aber sie werden in jeder Generation mit den Namen und Gesichtern gelebt, denen wir täglich begegnen und gegenüberstehen.

Die Legende der Cherokee endet mit diesen Worten: »Seitdem verlieren alle anderen Bäume und Pflanzen ihre Blätter und schlafen den ganzen Winter über, während die Immergrünen wach bleiben.«

Während wir den langen Winter der Krise durchstehen, ziehe ich es vor, wach zu bleiben, denn in dieser winterlichen Zeit gibt es Wunder zu erleben. Ich möchte sie nicht missen.

 

Erik Riechers SAC, 14. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Vertrauen des Herzens

Ein Telefonat zum Jahreswechsel mit einer Freundin, mit der ich seit Jahrzehnten über alle äußeren Distanzen hinweg verbunden bin, hat Spuren in mir hinterlassen, in meinem Denken und in meinem Herzen. Über viele Jahre hinweg ist ihr großes Thema das menschliche Herz geworden, und zwar nicht bloß das Organ. Sie ist eine Erzählerin des Herzens, dem wir die Führung überlassen sollten, des Herzens, in dem Gott wohnt und das viel weiter und größer ist als wir uns das vorstellen können. Wir betonen doch gern, was wir alles in der Hand haben, mit unserem Verstand durchdringen und zu meistern glauben. Meine Freundin übt täglich, auf ihr Herz zu hören und ihm zu vertrauen. Ihre Stimme klang gelassen, liebevoll und froh - ein Vertrauensklang, dachte ich bei mir. Wir vermieden in dieser Stunde nicht unsere schweren und belastenden Themen und kehrten immer wieder zum Vertrauen in unser Herz, in das Göttliche in uns zurück.

Ein Mensch dieser Art sprach seine Gedanken dazu einmal so aus:

»Wäre das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang …, ginge es jedem kleinen oder großen Unterfangen voraus …, du kämst weit, sehr weit.  . . .

Wäre das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang – wer würde noch sagen: Wozu bin ich überhaupt auf der Erde?

Manchmal wird das Vertrauen tief in uns durch erschütternde Ereignisse wie weggefegt. Jeder Mensch erfährt die Angst am eigenen Leib. Höre, wo du auch bist, auf das Flüstern Christi in dir: ´Vertrauen des Herzens … ruh dich aus in Frieden bei Gott allein. Hast du Angst? Ich bin da.‘ «

Es war Frère Roger und ich fand sie in meinen Unterlagen. Dem Herzen als dem Ort des Göttlichen in uns zu vertrauen verbindet sich mit dem Vertrauen, das im Herzen wächst. Wir könnten uns dann trauen, etwas zutrauen, zuversichtlich unsere Vorhaben anschauen und beginnen.

Roger Schutz kannte aber auch - wie wir - unser Zögern und unsere Barrieren. Er verschweigt sie nicht und hält unseren aufkommenden inneren Widerständen entgegen:

»Aber – wirst du sagen – das Umfeld, in dem ich arbeite, der in meiner ganzen Umgebung herrschende Zweifel, eine ganze Vergangenheit ziehen mich unendlich weit weg vom Glauben an Gott.

Der Glaube ist keine Theorie. Selbst wenn Gott der Unbegreifliche bleibt – es kommt darauf an, ihm dein Vertrauen zu schenken.

Dich in jedem Augenblick dem Heiligen Geist anvertrauen und, hast du es vergessen, dich ihm von neuem überlassen. In der Stille des Herzens und selbst noch in deinen Wüsten spricht der Heilige Geist zu dir, manchmal mit einem einzigen Wort.

Solltest du dich von Entmutigung und Zweifel überrollen lassen, wenn du in deiner Erwartung enttäuscht wirst? Der Auferstandene ist da. Erkannt oder unerkannt entzündet er in deiner Dunkelheit ein Feuer, das nie erlischt. …

Könnte man ein Herz ergründen, würde man voll Staunen in seinem tiefsten Grund die stille Erwartung einer Liebe entdecken.«  (aus »Vertrauen wie Feuer«, 1984)

Meine Freundin sprach am Ende unseres Gesprächs von dieser tiefen, unendlich weiten Liebe, die den anderen begleitet und seinen Weg gehen lässt, unter deren »Himmel« wir zurückschauen und liebevoll stehen lassen können, was war und die es möglich macht, einen solchen Austausch von Herz zu Herz zu führen.

Ich habe in der Abendstunde des 30. Dezember eine Perle gefunden, die ich ins neue Jahr trage.

 

Danke vielmals, liebe Freundin!

 

Rosemarie Monnerjahn, 10. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Die Weisen aus dem Morgenland sind immer noch unterwegs II

 

  1. Unterscheide die Wahrheit. Die Weisen finden die Wahrheit bei den Schriftgelehrten, aber sie werden auch von König Herodes mit Lügen gefüttert. Wir sollten lernen zuzuhören und zu unterscheiden. Nicht alles, was wir hören, ist Wahrheit, aber auch nicht alles ist Lüge. Sie werden oft miteinander vermischt, und es ist die Aufgabe echter und reifer Gottsucher, ständig daran zu arbeiten, sie zu unterscheiden, anstatt zu erwarten, dass die Welt um uns herum das für uns tut.
  2. Verbinde dich wieder mit dem Leitstern. »Und siehe da: Der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her, bis er über dem Ort stehen blieb, wo das Kind war.« Wenn die Dinge ein wenig klarer werden und wir sehen, dass sich ein Weg vor uns auftut, ein Weg nach vorne, sollten wir nicht zögern, uns wieder mit unserer ursprünglichen Inspiration zu verbinden. Die Weisheit, Richtung und Führung der Schriftgelehrten ersetzt den Stern nicht. Sie bereichern unsere Reise. Aber unsere ursprüngliche Inspiration, der Stern, führt uns zum Ziel.
  3. Lass dich von der Freude über das Geschenk des Fortschritts überwältigen. »Als sie den Stern sahen, überkam sie große Freude.« Wir sollten die gut zurückgelegte Reise, die bestandenen Abenteuer, die überwundenen Mühen und die harte Arbeit, um sicher ans Ziel zu kommen, feiern. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, aber wir müssen die Meilensteine feiern und nicht nur die letzten Erfolge. Feiern wir die kleinen Siege, die kleinen Verbesserungen und die einfachen Schritte, die wir erreicht haben. Sonst verpassen wir die größte Freude an dieser Reise.
  4. Betrete das Haus. Die Gefahr in so vielen Bereichen unseres Lebens besteht darin, dass wir gerne die neutrale Rolle des Beobachters einnehmen. Die Weisen gingen nicht zu den Fenstern hinüber und sahen sich an, was im Haus geschah. Denken wir nicht einen Moment lang, dass wir uns aus der tiefen Erfahrung heraushalten können. Seien wir ein Teil des Geschehens, lassen wir uns auf den Strudel der Gespräche und Begegnungen ein. Wir lernen nicht schwimmen, wenn wir am Beckenrand stehen. Wir müssen ins Wasser waten.
  5. Ehrerbietung erweisen. »Und sie gingen ins Haus hinein und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter; sie fielen vor ihm nieder und huldigten ihm.« Wenn wir vor dem Geheimnis stehen, das wir gesucht und ersehnt haben, werden wir mit einer grundlegenden Herausforderung konfrontiert. Habe ich den Einen in meinem Leben gefunden, der so kostbar und wertvoll ist, dass ich vor ihm mein Knie beugen würde? Es ist ein aufschlussreicher Moment, denn er ist erfüllt von der Erkenntnis, dass wir vor jemandem stehen, der größer ist als wir selbst, und gleichzeitig wissen wir, dass diese Beziehung uns nicht schmälern wird. Wenn wir das Knie beugen und dem Kind unsere Ehrerbietung erweisen, erniedrigen wir uns damit nicht. Wir zeigen damit, dass es eine Beziehung zu Gott gibt, in der wir keine Angst davor haben, kleiner zu sein als jemand anderes. Hier ist eine Beziehung, in der wir uns ganz sicher und wohlfühlen können, auch wenn wir uns überwältigt, tief berührt und authentisch bewegt fühlen.
  6. Öffnet eure Schatztruhen und lasst etwas von euch zurück. »Dann öffneten sie ihre Schatztruhen und brachten ihm Geschenke dar: Gold, Weihrauch und Myrrhe.« Großzügigkeit ist eine grundlegende und fundamentale Antwort auf die Entdeckung des Geheimnisses Gottes. In einer Welt, in der wir häufig fragen:»Was habe ich davon?«, wird die Begegnung mit dem lebendigen Gott auch in dem Moment erkannt, in dem die Frage auftaucht: »Wie kann ich einen Beitrag leisten?« Auch die Religion ist von dieser Versuchung nicht ausgenommen. Schlecht gelebte und falsch verstandene Religion bringt oft Menschen hervor, die nur kommen, um Gott um Gefallen, Heilung, Orientierung, Erleichterung oder Segen zu bitten. Ein tiefes und beständiges geistliches Leben wird immer auch beinhalten, dass wir unsere Schätze öffnen und Gott etwas von uns anbieten.
  7. Kehren wir auf einem anderen Weg nach Hause zurück. Vermeiden wir die alten Fallstricke. Kehren wir nicht einfach zur Tagesordnung über. Wir sollten uns davor in Acht nehmen, über Jerusalem nach Hause zurückkehren. Es wird immer einen König Herodes geben, der bereit ist, unsere neu gefundene Hoffnung in Asche zu verwandeln. Solche Herodes-Menschen werden versuchen, das niederzureißen, was noch vor kurzem die Liebe in unserem Leben entfacht hat, und das zu töten, was Großzügigkeit und Ehrfurcht in unseren Herzen geboren hat. Neue Gotteserfahrungen sollten uns zu neuen Wegen im Leben führen.

Viele Jahre später schrieb mir eine junge Frau, die an jenem Abend teilgenommen hatte, um mir mitzuteilen, dass sie geheiratet hatte und gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Sie schrieb mir, weil sie mir unbedingt sagen wollte, dass sie diesen Abend nie vergessen hatte. Sie nannte ihre erstgeborene Tochter Stella. Das ist das lateinische Wort für Stern.

 

Erik Riechers SAC, 7. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Die Weisen aus dem Morgenland sind immer noch unterwegs I

Vor fast 25 Jahren wurde ich von einer Gruppe junger Menschen gefragt, ob ich bereit wäre, einen Abend mit ihnen zu verbringen, um ihre Fragen über den Glauben, Gott und die Kirche zu beantworten. So trafen wir uns am Abend des 6. Januar in einem ihrer Häuser. An einem Punkt wurde ich gefragt, wie biblische Geschichten unser Leben berühren, informieren und leiten können. Mit Blick auf das Dreikönigsfest, das auf diesen Tag fällt, nannten sie als Beispiel die Geschichte von der Ankunft der Heiligen Drei Könige. Die jungen Leute in der Gruppe fragten mich, ob ich irgendeine Relevanz der Geschichte der Weisen für das, was sie als »das gewöhnliche und reale Leben der Menschen« bezeichneten, sehe. Es waren aufrichtige Menschen, und ihre Frage war ernst gemeint. Und doch klang diese Geschichte in ihren Ohren eher wie ein Märchen für Kinder als eine Hilfe für das christliche Leben.

Ich konnte ihre Verwirrung und sogar Unsicherheit darüber, was sie von dieser Geschichte halten sollten, gut verstehen. Wenn wir sie ernst nehmen, werden wir eine Fundgrube geistlicher Weisheit entdecken, die unser tägliches, praktisches geistliches Leben auf vielfältige Weise bereichern wird. Aber ich muss Sie warnen, wie ich sie gewarnt habe: Die Geschichte ernst zu nehmen, ist nicht dasselbe wie sie wörtlich zu nehmen. Es ist eine Geschichte voller Metaphern und Bilder, die zu uns von Gott sprechen wollen. Doch sie müssen interpretiert werden, nicht nur gelesen. Das ist die ernste und harte Arbeit, die die Begegnung mit einer biblischen Geschichte mit sich bringt. Der Text wird immer stumm bleiben, bis ein ernsthafter Leser auftaucht, und die Ernsthaftigkeit liegt immer in der Bereitschaft, den Text zu interpretieren.

Deshalb möchte ich mit Ihnen teilen, was ich in jener kalten Winternacht vor so vielen Jahren mit diesen jungen Menschen geteilt habe. Hier ist eine Reihe von einfachen Lektionen für das Leben, die ich durch jahrelanges Eintauchen in die Geschichte der Weisen gelernt habe. Vielleicht werden sie für Sie genauso hilfreich sein wie für mich.

  1. Nach oben schauen, nicht nur herum. Die Weisen sind bereit, ein Auge auf die Dinge des Himmels zu werfen und nicht nur zu beobachten, was um sie herum geschieht. Wir neigen dazu, uns umzusehen, durch Menschen hindurch und an anderen vorbeizuschauen. Schau nach oben und staune über die Sterne. Achten Sie auf Worte, Gesten und Zeichen, die vom Himmel kommen, und nicht auf die vorherrschenden Strömungen der Weisheit, die um Sie herumschwirren. Achten Sie auf die Zeichen, die von oben kommen, und nicht auf die, die wir uns einfach selbst geben.
  2. Folge dem Stern. Wenn wir etwas finden, das von oben kommt, das uns von einem Ort inspiriert, der größer ist als wir selbst und die Welt, in der wir uns bewegen, dann sollten wir ihm folgen. Lassen wir uns davon in Bewegung setzen. Schauen wir, wohin es uns führt. Die größte Gefahr im spirituellen Leben besteht darin, zu glauben, dass die Sternstunden der Offenbarung nur zum persönlichen Vergnügen dienen und zu nichts anderem. Wenn es uns nicht von der Couch auf die Straße bringt, dann hat es uns nur berührt. Aber Gott bewegt sich durch unsere Welt, um uns in Bewegung zu setzen.
  3. Gehen Sie über Ihr Zuhause hinaus. Gehen wir über die vertrauten Orte, Begegnungen, Gespräche und Gesichter hinaus, die uns normalerweise umgeben und unsere Erfahrungen prägen. Lassen wir uns auf ungewohnte Erfahrungen ein. Wagen wir mal die Reise in ein unentdecktes Land. Die Erfahrung von zu Hause kann nur bestätigen, was wir bereits wissen. Die Länder jenseits des Vertrauten können uns Horizonte der Hoffnung zeigen, die uns herausfordern können, tiefer zu wachsen.
  4. Verliere im Leben, wie bei dem Stern, nicht die Hoffnung, nur weil du kurz aus den Augen verlierst, was du verfolgst. Die Weisen verirren sich kurz und fragen in Jerusalem nach dem Weg. Aber kaum haben sie sich in die Richtung begeben, die ihnen die Schriftgelehrten gezeigt haben, sehen sie den Stern wieder und vertrauen sich seiner Führung an. Das passiert im Leben. Wir lassen uns ablenken, werden von anderen Dingen überwältigt oder werden von unvorhergesehenen Entwicklungen überrascht, die dann unsere ganze Zeit, unsere Kraft und unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber den Stern verlieren wir nie. Gelegentlich verlieren wir den Stern lediglich aus den Augen.
  5. Habt keine Angst, um Führung zu bitten. Die Weisen fragen zuerst König Herodes, wie sie das Kind finden können, und werden dann an die Schriftgelehrten in Jerusalem weitergereicht. Es ist keine Schande, sich zu verirren oder nach dem Weg zu fragen. Es ist eine furchtbare Schande, in einem Moment der Verlorenheit und Orientierungslosigkeit festzustecken, nur weil wir zu stur oder arrogant sind, um ein wenig Hilfe zu bitten, den Weg zu finden.
  6. Höre auf die Weisheit, auch wenn sie nicht von bekannten Quellen stammt. Die Antwort der Schriftgelehrten ist aus der großen Offenbarung der Geschichten des Ersten Testaments geboren. Diese Geschichten waren den Weisen fremd, ungewohnt für ihre Ohren und unbekannt für ihren Verstand und ihr Herz. Aber sie sind voller Weisheit und Orientierung für Freunde und Fremde gleichermaßen. Wie die Weisen sind auch die meisten der großen biblischen Geschichten für uns nicht besonders familiär und bekannt. Aber sie werden zu uns genauso direkt sprechen wie zu den Weisen, wenn wir ihnen eine Chance geben.

 

Fortsetzung folgt.

Erik Riechers SAC, 5. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Wenn Bilder in die Tiefe führen - was die Bildersuche mich lehrte

Echte Bilder will ich suchen.

Keine Hochglanzfotos.

Keine Werbefotos.

Nichts Gestelltes.

Nichts Perfektes.

Echt sollen sie sein,

mich stutzig machen,

mich verweilen lassen,

mich zum Nachdenken bringen,

mich berühren - bewegen vielleicht.

Echt sollen sie sein.

Blendet uns nicht so viel Schein,

der draußen bleibt,

an der Oberfläche,

uns nicht nährt?

Solche Bilder halten nicht,

was sie versprechen.

Echte Bilder will ich sehen.

  

Diesen Wunsch, diese Sehnsucht hat der Advent mir offenbart.

Tag für Tag suchte ich nach einem Bild für die jeweilige biblische Metapher in unserer adventlichen Reihe »Und der Mandelbaum blühte«. Erst ließ ich mich von dem Bildwort des Tages leiten und fand meist schnell eine große Zahl von Bildern dazu. Doch nur wenige waren aussagekräftig, die meisten nichtssagend, ja sie spiegelten bloß die Oberfläche des Gesuchten. Dann vertiefte ich mich in die ganze Bibelstelle und betrachtete die Metapher in ihrem Zusammenhang. Das veränderte meine Suche und ich fand Bilder mit einer tieferen Bedeutung. Die stärksten unter ihnen speicherte ich - doch fertig war ich noch nicht. Denn nun kam Eriks Text zu mir. Ich las ihn aufmerksam, betrachtete ihn und ließ danach meine Vorauswahl an Bildern auf mich wirken. Erst dann kristallisierte sich das wahrhaft Passende und Treffende heraus. Manchmal war es sogleich eindeutig klar, andere Male schwankte ich zwischen dem einen oder anderen Bild. Und hin und wieder musste ich noch tiefer »bohren« und alles mit einbringen, was sich bereits entfaltet hatte, um ein Bild zu finden, das des biblischen Bildes würdig war.

Wie viele Tore sah ich, Fenster, Kleider, Bilder von Festmählern, Zelten und Lampen. Doch sie erzählten nichts von Gott. Sie wollten bloß zum Kauf locken oder demonstrieren, was jemand sich geleistet hatte. Sie wirkten leer, wie eine Hülle.

Doch wenn Bilder etwas von der Dunkelheit zeigen, die durch eine Lampe erträglich wird, von Kleidern, die von Trauer und Jubel erzählen, von Zelten, die jederzeit erweitert werden können, dann schulen sie unser Auge für die tiefere Wahrheit der Wirklichkeit. Dann sprechen sie von authentischem, echten Leben, das sich anzuschauen lohnt - lange, liebevoll betrachtend.

Das biblische Bild machte es mir unmöglich, mich mit oberflächlichen Bildern zufrieden zu geben.

Echte Bilder will ich suchen!

 

Rosemarie Monnerjahn, 3. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Neue Zeit

 

Nimm die neue Zeit

ins Gebet

sie hat es nötig

 

Keineswegs sind

die herrschenden Götzen

menschlicher als der

alte Gott vom Sinai

 

Immerhin sagte ER

-  in nur 10 Worten –

wo‘s lang geht. Und

wenn ER Unrecht sieht

schaut ER nicht weg

 

Denk‘ ich an Frau WEISHEIT

hasse ich

meine Gleichgültigkeit

und das Gerede

von den Zwängen

der Märkte

 

Vor den medialen Lügen

lese ich SEIN

oft ungehörtes WORT

von der Solidarität

mit den Hungrigen

Und bitte um Einsicht

und die Brotration

 

die für diesen Tag

 

Wilhelm Bruners

Nächster Abschnitt

Offene Einladung

 

Die neapolitanische Kinderkrippe aus dem achtzehnten Jahrhundert,

die im Art Institute of Chicago ausgestellt ist,

fängt Weihnachten ein.

Sie besteht aus über 200 Figuren,

darunter 41 Gegenstände zum Essen und Trinken.

Die üblichen Krippenverdächtigen

sind in das geschäftige Treiben der Stadt eingeflochten.

Das Jesuskind gestikuliert vor dem König von Neapel.

Die Weisen stehen neben den Barkeepern,

die Hirten mischen sich unter die Kaufleute,

und die Schafe teilen sich die Weide

mit Pferden, Rindern, Hühnern, Hunden und Katzen.

Jesus wird unter Menschen geboren,

beschäftigt mit den Pflichten und Vergnügungen der Erde.

 

Lernen wir davon.

Lade Gesellschaft

in deine Kinderkrippe ein.

Stelle ein Bild von Onkel Fred auf.

(Ich weiß, er hat es nicht verdient!)

Finde den Kristalltruthahn, den du bekommen hast,

weil du immer Erntedank ausrichtest

und schmiege ihn an Marys Seite.

Lege ein Foto des kleinen Jack und des kleinen Peter in die Krippe -

ein Selfie mit Jesus.

Der heilige Josef sieht besser aus

durch das Familienpicknickfoto,

das im Hintergrund steht -

das Foto, auf dem die kleine Isabel in der Nase bohrt.

Das Schaf, der Ochse und der Esel

werden eure Haustiere willkommen heißen.

 

Füge sie alle ein.

Menschwerdung bedeutet,

das Heilige kann uns überraschen

durch die Menschen und Ereignisse

unseres gewöhnlichen Lebens,

ein Leben, das immer mehr ist, als wir wissen.

 

John Shea

Nächster Abschnitt
Nächster Abschnitt

Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen

 

 

24. Dezember 2021

 

Die Dunkelheit: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsre Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.

Lk 1, 78-79

 

Das Bild der Dunkelheit mag Ihnen als Abschluss unserer Adventsreihe seltsam vorkommen. Doch auch es spricht zu uns von Gott. Das Problem ist nicht das Bild, sondern die einseitige Beziehung, die wir zu ihm haben. Beginnen wir mit der negativen Erfahrung der Finsternis. Es gibt zwei grundlegende Erfahrungen, die wir mit der Dunkelheit machen.

Erstens hat der Mensch Angst vor der Dunkelheit, weil die Dunkelheit unsere grundlegenden Ängste vergrößert. Wenn wir uns in ihrem Griff befinden, haben wir oft das Gefühl, dass sie niemals enden wird. Wenn eine Krise in Form von Krankheit, Unfall, Einsamkeit oder Trennung von geliebten Menschen kommt, dann sitzen wir in Finsternis und im Schatten des Todes. Das Schwierige ist nicht die Dunkelheit selbst, sondern ihre scheinbar endlose Dauer. Jeder, der schon einmal eine Nacht im Krankenhaus oder am Telefon ausharren musste, weiß, dass die Dunkelheit die Zeit zum Kriechen bringen kann.

Das liegt daran, dass die Dunkelheit die Dinge in Ungewissheit hüllt. Und wenn wir uns nicht sicher sind, tendieren wir, uns das Schlimmste vorzustellen. Ein ansonsten harmloser Schmerz, der uns tagsüber plagt, weckt in den schlaflosen Stunden der Nacht die Angst vor Krebs. Je nach Alter werden es entweder Monster oder Einbrecher, die in den frühen Morgenstunden vor unseren Häusern herumschleichen und an den Fenstern kratzen. Doch im Morgengrauen werden wir daran erinnert, die Katze nicht die ganze Nacht draußen zu lassen oder endlich den Baum zu stutzen, dessen Äste gegen das Haus schlagen, wenn der Wind sich regt. Die Dunkelheit vergrößert die Angst.

Zweitens verschleiert die Dunkelheit die wahren Gefahren und lässt sie harmlos erscheinen. In dem Moment, in dem es dunkel wird, können wir nicht mehr so leicht einschätzen, wie gefährlich die Dinge sind. Der Weg sieht klar und sicher aus, aber das liegt daran, dass die Dunkelheit die Kurven und Löcher auf der Straße verdeckt. In der Dunkelheit blickt man auf die weiten Felder, aber man sieht die Stacheldrahtzäune und Gräben nicht. Wenn die Dunkelheit im ersten Fall die Angst vergrößert, dann lässt sie im zweiten Fall die wahren Gefahren harmlos erscheinen.

Doch die biblische Sicht auf die Dunkelheit ist differenzierter, als wir denken. In den biblischen Geschichten wird die Dunkelheit nicht dämonisiert. Natürlich ist diese Dunkelheit gefährlich, aber sie ist ebenso sicher ein Zeichen der Gegenwart Gottes wie das Licht. Oder ist Gott nicht auch in den gefährlichen Stunden des Lebens gegenwärtig?

Die Dunkelheit holt die Dämonen aus ihren Verstecken. Wenn die leuchtenden Ablenkungen des Tages vorbei sind, sehen wir plötzlich, was wir verdrängen. Mit dem Einbruch der Nacht kommen langsamere, leisere und beunruhigender Prozesse ans Licht. In der Dunkelheit werden Türen geöffnet, die tagsüber verschlossen bleiben. Hinter diesen Türen befinden sich sicherlich sehr beängstigende Dinge, aber auch sehr erstaunliche Dinge. Mit der Zeit lernen wir, dass diese Türen alle in denselben Raum der Begegnung mit Gott führen. »Der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft, ich, der HERR, bin es, der all dies vollbringt.« (Jes 45,7)  

Wenn wir von Licht und Dunkelheit sprechen, könnte man meinen, dass zwei verschiedene Götter sie erschaffen haben. Ein authentisches menschliches Wesen zu sein bedeutet, dass wir im Sonnenschein und im Mondlicht, mit Trauer und mit Freude leben. Ein Leben mit nur der Hälfte dieser Dinge zu wollen, bedeutet, ein halbes Leben zu wollen. Zur Fülle des Lebens gehört auch die Erfahrung der Dunkelheit.

Wenn wir uns aus Prinzip von der Dunkelheit abwenden und alles tun, um sie zu vermeiden, weil wir nie wissen, was in ihr stecken könnte, besteht die Gefahr, dass wir vor Gott davonlaufen. Abraham macht eine kritische Erfahrung mit Gott in der Finsternis. Abraham ist im Unklaren über seine eigene Zukunft. Er sagt Gott, dass er eine wichtige Verheißung nicht erfüllt hat: Du hast mir keine Nachkommenschaft geschenkt. Gott streitet nicht mit ihm, sondern führt ihn hinaus in die Nacht und lässt ihn den Nachthimmel betrachten. (Gen 15,1-5) Dann fordert er ihn auf, die Sterne zu zählen. Dies könnte er jedoch niemals am helllichten Tag tun. Die Dunkelheit spielt eine wichtige Rolle bei Abrahams Entscheidung, sich auf Gott zu verlassen.

Später kommt Gott mitten in der Nacht zu Abrahams Enkel Jakob, nachdem dieser vor seiner Familie, die er verraten hatte, geflohen war. Als er nicht mehr weitergehen konnte, legte er sich mitten im Land auf die Erde und schlief ein und träumte einen Traum, der wie eine Vision kam (Gen 28,10-22). Die nächtliche Vision spielt eine Schlüsselrolle bei Jakobs Entscheidung, an Gott zu glauben.

Die Liste der wichtigen Ereignisse, die in der Bibel nachts stattfinden, wird immer länger. Jakob ringt in der Nacht mit einem Engel und kommt zu einem Hinken, einem Segen und einem neuen Namen. Sein Sohn Josef träumt in der Nacht solche Träume, dass er die Aufmerksamkeit des Pharaos auf sich zieht und aus dem Kerker in den Palast einzieht. Der Auszug aus Ägypten findet bei Nacht statt. Gott teilt das Rote Meer bei Nacht. Das Manna fällt in der Nacht vom Himmel in die Wüste.

Vor allem aber ist die Geschichte von der Geburt Jesu Christi, die wir so sehr lieben, eine Geschichte der Nacht. Der Prophet Jesaja sagt uns, dass »das Volk, das in der Finsternis geht, hat ein großes Licht gesehen, die im Land tiefsten Dunkels leben, über ihnen ist ein Licht aufgestrahlt.« (Jes 9,1) Was wird uns alles entgehen, wenn wir nie in der Finsternis wandeln und in Ländern tiefer Finsternis wohnen? Die Hirten auf dem Feld wachten nachts über ihre Herde, als der Engel des Herrn ihnen einen Besuch abstattete und sie in die Herrlichkeit des Herrn einhüllte. Das Gloria der Engel ist eine nächtliche Serenade. Die erste Entscheidung, das Kind zu besuchen, fällt in der Nacht. Vielleicht können wir jetzt hören, was der Prophet Jesaja über Gott und die Dunkelheit sagt: »Und ich werde dir Schätze aus der Finsternis geben und versteckte Reichtümer, damit du erkennst, dass ich es bin, der HERR, der dich bei deinem Namen ruft, der Gott Israels.« (Jes 45,3)

Die Dunkelheit der biblischen Erzählungen ist sowohl gefährlich als auch göttlich, aber sie enthält die Gegenwart Gottes. Im Hebräischen gibt es sogar ein eigenes Wort für diese Dunkelheit, ein Wort, das ausschließlich für Gott verwendet wird: araphel. Diese schwere Finsternis offenbart die lebendige Gegenwart Gottes und verhüllt sie zugleich, so wie es die leuchtende Herrlichkeit Gottes auch tut. Beides sind Zeichen seiner Barmherzigkeit: Dunkelheit und Licht sind Partner im Werk der Offenbarung. So erkennt es der Beter von Psalm 139: »Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis.«

Dunkelheit, wohin führst du mich?

Am letzten Adventstag beten wir mit Gertrud v. Le Fort:

»Nicht nur der lichte Tag, auch die Nacht hat ihre Wunder. Es gibt Blumen, die nur in

der Wildnis gedeihen, Sterne die nur am Horizont der Wüste erscheinen. Es gibt

Erfahrungen der göttlichen Liebe, die uns nur in der äußersten Verlassenheit, ja am

Rande der Verzweiflung geschenkt werden.«

 

 

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 24. Dezember 2021

 

Nächster Abschnitt

Das Herz: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss.

Mal 4, 6

 

 

In der Bildsprache der biblischen Erzählung ist das Herz der Ort, wo die göttliche Liebe und die menschliche Gebrechlichkeit sich begegnen. Das Herz ist der Beziehungspunkt, der Berührungspunkt und der Begegnungspunkt zwischen dem Gott der Liebe und dem Menschen mit seinen Wunden. Das Herz ist der Ort, wo der Mensch (»so wie ich von Gott her bin«) und Gott (wie er wirklich ist und nicht wie ich ihn mir vorstelle) sich begegnen.

Deshalb sind auch Begegnung, Berührung und Beziehung die drei Schritte, die das Herz bilden.

Anatomisch betrachtet liegt das Herz verborgen in dem Käfig der Rippen und dieser Käfig ist nochmals überzogen von Muskel und Haut. Das Herz kann man nicht sehen; aber es pumpt Blut (das Lebensprinzip in der Bibel) und ist die Quelle des Lebens. Wenn das Herz auf irgendeine Art verletzt ist, dann ist die ganze Person betroffen.

Das Herz ist die Metapher für die Beziehung zu Gott, und diese Beziehung ist die unsichtbare Mitte der Person. Diese Beziehung kann man nicht sehen;  aber sie pumpt Blut (Lebensprinzip in der Bibel)und ist die Quelle des Lebens. Wenn diese Beziehung auf irgendeine Art verletzt ist, dann ist die ganze Person betroffen. Wenn diese Beziehung passend geordnet und gestaltet wird, dann fließt ein geistliches Leben. Wenn sie dagegen nicht gut geordnet ist, dann ist das Ergebnis der Tod (der Verlust von dem, was Leben ausmacht).

Diese Beziehung (das Herz) ist die ultimative Beziehung und der durchdringende Kontext jeder anderen Beziehung (zur Schöpfung, zum Nächsten und zu mir selbst). Darum ist die ganze Person in Mitleidenschaft gezogen, wenn sie nicht stimmt.

Wenn ich nicht am Ort der Begegnung, Berührung und Beziehung erscheine, dann bediene ich mich selbst.

Deshalb ist es in den biblischen Geschichten so wichtig, dass wir uns um das Herz kümmern. Wenn ich nicht an diesem Ort der Begegnung, der Berührung und der Beziehung zwischen menschlicher Zerbrechlichkeit und göttlicher Liebe auftauche, dann bin ich auf mich selbst zurückgeworfen. Maleachi spricht davon, dass die Herzen der Väter sich ihren Kindern zuwenden und die Herzen der Kinder sich ihren Vätern zuwenden werden. Aber das geschieht nicht, wenn Väter und Kinder nicht mehr an den Orten der Beziehung auftauchen. Ich bin Vätern begegnet, die so besessen von den Vorzügen und Privilegien ihres Lebens waren, dass sie nicht mehr in der Lage waren, das, was stimmig und authentisch ist, von dem zu unterscheiden, was in ihren Beziehungen zu ihren Kindern unbedeutend und vielleicht sogar bedeutungslos ist. Oder denken Sie an die arme Eva. Vor ihrem unglücklichen Gespräch mit der Schlange ist sie nicht einmal hungrig und hat kein Bedürfnis, von dem Baum zu essen. Sie lässt sich überreden und überreden, etwas zu essen, was sie eigentlich weder will noch braucht. Aber weil sie nicht an dem Ort auftaucht, an dem ihre menschliche Schwäche auf die göttliche Liebe ihres Schöpfers trifft, hat sie in Gott keinen Gesprächspartner, der das, was ihr gesagt wurde, auch hinterfragen, erforschen und prüfen kann.

Weil weder Adam noch Eva zum Ort der Begegnung, der Berührung und der Beziehung zu Gott erscheinen, können sie nichts klären. Das führt dazu, dass sie sich verkleiden und verstecken, denn sie glauben, sie dürfen nicht mehr so sein, wie sie von Gott her sind, und sie vermeiden die Begegnung. Und das führt dazu, dass sie wieder nicht erscheinen, wenn Gott kommt.

Gott hat große Sorge um das Herz (die Beziehung), denn seine erste Frage nach der Episode mit dem Baum ist: Wo bist du? Diese Frage trägt die Sehnsucht nach Begegnung, Berührung und Beziehung in sich.

Nach der Adam-und-Eva-Erzählung macht die Bibel uns klar, dass das Herz (die Beziehung) die besondere Sorge und das Anliegen Gottes ist. Das Herz ist aber auch das, wofür Gott bereit ist zu kämpfen und zu ringen.

Wenn wir das Herz als Ort der Begegnung, Berührung und  Beziehung vermeiden, dann wird das Herz hart oder steinig; dann wird das Herz der Väter sich niemals den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern auch nicht. Wenn wir aber am Ort des Herzens erscheinen, dann wird das Herz aus Fleisch sein, weich und empfänglich.

Und da gibt es eine eiserne Regel: Die einzige tödliche Sünde gegen das Herz, diesen Ort, wo die göttliche Liebe und die menschliche Gebrechlichkeit sich begegnen, ist, nicht zu erscheinen.

Herz, wohin führst du mich?

Das Herz ist der Ort, wo die göttliche Liebe und die menschliche Gebrechlichkeit sich begegnen.

»Er wird auch die von der Finsternis verborgenen Dinge ans Licht und die Wünsche der Herzen zum Vorschein bringen.“ (1 Kor 4,5) Gott kennt das verborgene Herz. Werden wir dort erscheinen, wo unsichtbare, aber vorhandene Themen mit Gott besprochen werden?

»Der Erforscher der Herzen aber weiß, was das Sinnen des Geistes ist…« (Rom 8,27) Werden wir erschienen, um das Herz (die Beziehung) zu erforschen? Wollen wir wissen, wie es um die Beziehung wirklich steht? 

»Gott - der die Herzen prüft«, so nennt ihn Paulus in 1 Thes 2,4. Gott prüft das Herz, denn es ist ihm nicht egal, was mit der Beziehung passiert. Kann ich das auch von mir behaupten?

»Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, doch hält sein Herz sich fern von mir.« (Mk 7, 6) Möchte ich eine authentische Beziehung zu Gott oder reicht mir eine oberflächliche Bekenntnis?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 23. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Ein Zurückgeforderter: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Darum lasse ich ihn auch vom Herrn zurückfordern.

Er soll für sein ganzes Leben ein vom Herrn Zurückgeforderter sein.

 

Und sie beteten dort den Herrn an.

1 Sam 1, 28

 

 

 

 

 

Es wird heute viel über die Gemeinschaft gesprochen. Alle möglichen Leute erzählen uns von den Bedürfnissen der Familie, den Problemen der Gesellschaft und den Kämpfen um das Gemeinwohl. Allen gemeinsam ist die feste Überzeugung, dass die Gemeinschaft wichtig ist und dass wir etwas tun müssen, um den stetigen Verfall zu stoppen, unter dem unser Gemeinwesen zu leiden scheint.

Aber wenn die Gemeinschaft so wichtig ist, wie wir sagen, warum fällt es uns dann so schwer, eine einfache Frage zu beantworten: Warum? Warum ist die Gemeinschaft so wichtig? Warum sollten wir sie um jeden Preis bewahren? Warum sollten wir uns gegen die Kräfte wehren, die sie zu zerstören drohen?

Das heutige Bild enthält eine grundlegende Lehre über die Mitglieder der Gemeinschaft. Was Gott betrifft, so sind wir nicht der Besitz der anderen. Wir sind es, die zurückgefordert werden. Wir sind einander ausgeliehen, und Gott hat uns einander zur sicheren Aufbewahrung anvertraut. Die Menschen und die Beziehungen, die wir zu ihnen haben, sind nicht unser Besitz, mit dem wir machen können, was wir wollen.

Diese sichere Aufbewahrung ist Gottes Heilmittel für zwei Formen von Nachlässigkeit und Schlamperei in unseren Beziehungen. Stellen Sie sich vor, die Eltern vertrauen Ihnen ihr Kind eine Zeit lang an. Das Wissen, dass sie zurückkehren werden, um das Kind zurückzuholen, macht Sie vorsichtiger und ehrfürchtiger in Ihrem Verhalten, weil Sie wissen, dass das Ihnen anvertraute Leben in ihren Augen kostbar ist.

Vor allem werden Sie darauf achten, das Kind nicht zu ignorieren oder zu vernachlässigen. In diesem Moment werden Sie dafür sorgen, dass dieses Leben nicht zur Einsamkeit verdammt ist: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei« (Genesis 2,18). Die Einsamkeit ist schlecht für das menschliche Herz. Abgeschnitten von anderen können wir unsere einzigartigen Talente und Gaben nicht erkennen, wir können keine Bestätigung für das finden, was gut und stark in uns ist, und wir können keine Korrektur und Heilung für die Dinge finden, die in unserer Seele schwären.

In der Einsamkeit kommen wir an einen Punkt, an dem wir davon überzeugt sind, dass wir es selbst tun müssen, dass wir es selbst schaffen müssen, dass wir aus unseren eigenen Tiefen jeden Mut und jede Kraft aufbringen müssen, die wir brauchen.

Die Einsamkeit ist also ein Ort der Verzweiflung, denn sie ist auch der Ort, an dem wir erkennen, dass wir es nicht aus eigener Kraft tun können, dass wir es nicht aus eigener Kraft schaffen können, dass wir nicht den Mut und die Kraft aufbringen können, die wir in unserer Müdigkeit und Verzweiflung brauchen.

Die Gemeinschaft, die weiß, dass wir einander zur sicheren Aufbewahrung anvertraut sind, dass wir einander von einem gnädigen Gott ausgeliehen sind, zerbricht den Fluch der Einsamkeit, indem sie der Ort ist, an dem wir nicht allein sind, an dem wir teilen können, an dem wir zusammen sein können, an dem wir uns aufeinander stützen und voneinander lernen können.

Zu wissen, dass das Kind in meiner Obhut von seinen Eltern zurückgefordert wird, ist wie das Wissen, dass alle Beziehungen meines Lebens von Gott zurückgefordert werden. Das bringt uns dazu, mit einem größeren Verantwortungsbewusstsein zu leben. Was geliehen ist, was mir nicht gehört, behandle ich immer mit einer gewissen Vorsicht und Sorgfalt, weil ich weiß, dass ich an dem Tag, an dem es zurückverlangt wird, zur Rechenschaft gezogen werde.

Zweitens gehen wir nicht einfach getrennte Wege, wenn uns jemand anvertraut wird. Das Kind, das uns anvertraut ist, wird nicht im Keller allein gelassen, während wir auf eine Party gehen. Heute verehren wir die Idee, dass jeder seinen eigenen Weg gehen sollte. Aber wenn jeder seinen eigenen Weg geht, dann bleibt keiner mehr übrig, um ihn gemeinsam zu gehen. Es ist schön und gut, seinen eigenen Weg in der Welt zu finden: Das Kind muss sich seinen Platz in der Gesellschaft suchen, der Ehepartner muss immer noch einen persönlichen und einzigartigen Weg finden, den anderen in der Ehe zu lieben, und die Eltern müssen ihren Platz und ihre Rolle in der Welt finden, wenn die Kinder das Haus verlassen. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass wir diese Dinge allein, getrennt und weit weg voneinander tun müssen.

Wenn wir in dem Bewusstsein leben, dass jeder Mensch in unserem Leben von Gott zurückfordert wird, dann ist die Gemeinschaft der Ort, an dem wir gemeinsam suchen, an dem die vielen Suchenden einander helfen, den Weg zu finden, an dem die einzigartigen Bedürfnisse eines jeden Menschen Teil einer gemeinsamen Sache sind. Wenn Gott kommt, um das uns anvertraute Leben zurückzufordern, dann wollen wir es ihm in bestmöglichem Zustand zurückgeben. Es wurde uns für eine gewisse Zeit geliehen, aber wir konnten es nie behalten. Und es sollte ein tiefer Wunsch unseres Herzens sein, es Gott in einem ebenso guten Zustand zurückzugeben, wenn nicht sogar besser, als in dem Moment, in dem er es in unsere Obhut gab.

Deshalb sollte Gottes Wunsch, sein geliebtes Volk anderen anzuvertrauen und es zurückzufordern, uns in vielerlei Hinsicht und auf vielen Ebenen zu einer Gemeinschaft machen. Diese gemeinsame Erfahrung, Menschen zu sein, die vom Herrn zurückgefordert werden, sollte ein Segen für alle unsere Häuser sein. Deshalb müssen wir mit dem Leben, das uns anvertraut ist, behutsam umgehen. Wenn der Herr kommt, um sein Eigentum zurückzufordern, wollen wir nicht als die Architekten der Einsamkeit, der Ausgrenzung und der getrennten Entwicklung der anderen bekannt sein. Wir dürfen nie versäumen, uns an den wesentlichen Segen zu erinnern, der der Gemeinschaft zugrunde liegt: Gott hat uns einander zur Aufbewahrung gegeben.

Zurückgeforderter, wohin führst du mich?

Wie sehr bin ich mir des Privilegs meiner Beziehungen bewusst, der Tatsache, dass sie alle eine Leihgabe an mich sind und von dem Gott allen Lebens zurückgefordert werden?

Wie sehr bin ich mir meiner Verantwortung für die Menschen bewusst, die mir von dem Gott anvertraut sind, der sie an dem Tag, an dem er sie zurückfordert, unversehrt und geliebt zurückhaben will?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 22. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Das Fenster: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Der Gazelle gleicht mein Geliebter, dem jungen Hirsch.

Ja, draußen steht er an der Wand unsres Hauses;

er blickt durch die Fenster, späht durch die Gitter.

Hld 2,9

 

 

 

 

 

 

 

 

Vor vielen Jahren, als ich noch an der Universität studierte, waren die Nachrichten voll von Berichten über eine brandneue Schule, die gerade eröffnet worden war. Aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, hatte der Architekt eine Schule, einen Ort des Lernens, ohne Fenster entworfen. Die Schulleitung gab viele Pressekonferenzen, um das Konzept des Gebäudes zu erläutern, wobei sie vor allem die Idee hervorhob, dass das Fehlen von Fenstern Ablenkungen von außen verhindern und so das Lernen der Schüler verbessern würde. Die Schüler gaben ihre eigene Antwort auf ihr neues Schulgebäude. Sie sprühten Fensterrahmen an die Wände und machten Fotos von sich selbst, auf denen sie so posierten, als würden sie in das Gebäude hineinschauen.

Diese Schule ohne Fenster erinnert uns an eine grundlegende Erkenntnis. Fenster sind untrennbar mit Wänden verbunden. Um zu verstehen, was sie uns sagen wollen, müssen wir zunächst darüber nachdenken, was unsere Wände bedeuten.

Mauern werden gebaut, wenn wir Räume unseres Lebens haben, die wir schützen wollen. Die Wände unserer Häuser schützen unseren Lebensraum vor Wind und Wetter sowie vor Raubtieren, sowohl vor vier- als auch vor zweibeinigen. Die Wände schützen uns auch vor neugierigen Blicken und bewahren unsere Privatsphäre.

Fenster sind Öffnungen in der Wand. In dem Moment, in dem wir ein Fenster in die Wand einsetzen, geschehen zwei Dinge.

  1. Sie öffnen die geschlossenen Räume unseres Lebens für die Außenwelt und geben uns mehr Zugang zu der Welt, die wir normalerweise durch unsere Mauern ausschließen.
  2. Die völlige Sicherheit, die die Mauer bietet, wird vermindert, weil die Welt jenseits unserer Mauern nun leichter Zugang zu unseren geschlossenen Lebensräumen hat und leichter in die Welt hineinschauen kann, die wir normalerweise mit unseren Mauern abschirmen. Es ist wesentlich einfacher, ein Fenster einzuschlagen und in ein Haus einzudringen, als eine Wand zu durchbrechen.

Fenster sind ein privilegierter Ort der Begegnung. Sie sind ein Ort des Austauschs zwischen den beiden Welten des Außen und des Innen. In dem Moment, in dem wir ein Fenster in eine Wand einbauen, geschehen drei Dinge.

Erstens lassen sie Licht herein. Schon das Bild eines fensterlosen Zimmers lässt uns an einen Ort ohne Sonnenlicht denken. Zweitens lassen sie frische Luft herein. Sie ermöglichen uns einen besseren Blick auf die Welt, mehr Zugang zu den Bewegungen, Geräuschen und Farben der Welt. Drittens lassen sie Dinge nach draußen. Wir öffnen die Fenster, um die heiße, stickige und abgestandene Luft hinauszulassen, damit wir besser durchatmen können. Unangenehme Gerüche werden zerstreut, wodurch der Raum, in dem wir leben, viel angenehmer wird.

Im Hohelied unterstreicht das Bild des Fensters in besonderer Weise diesen privilegierten Ort der Begegnung. Das Fenster erlaubt dem Liebenden einen Blick auf das, was im Haus des Geliebten vor sich geht.

Es wird zum Symbol des zugänglichen Herzens, des Herzens, das bereit ist, einem anderen Menschen einen Blick auf das zu gewähren, was in ihm vorgeht. So wie wir ein fensterloses Zimmer bauen können, können wir auch ein fensterloses Herz bauen. Die meisten von uns haben diese Erfahrung des fensterlosen Herzens bei Menschen gemacht, die ihr Herz, aus welchen Gründen auch immer, völlig von der Außenwelt abgeschottet haben. Niemand weiß, was in ihnen vorgeht, und sie gewähren nie einen Hinweis oder einen Blick auf ihr Innenleben.

Fenster sind Orte der Spannung. Es gibt sowohl den Menschen, der von außen durch das Fenster hineinschaut, als auch den Menschen, der von innen auf die Welt hinausschaut. Das ist das Bild vom Fenster des Herzens, das im Hohelied so schön verwendet wird. Für den Menschen im Innern nehmen die Fenster ein Stück Sicherheit weg, denn sie durchbrechen die feste, unzerbrechliche Mauer. Sobald wir einem Menschen einen Einblick in unser Innenleben gewähren, sind wir verletzlicher. Er sieht mehr als das, was wir nach außen hin zur Schau stellen und was wir kontrollieren. Ein Fenster ins Herz ist immer mit einem Verlust dieser perfekten Kontrolle verbunden. Aber es ist auch ein Ort der Überraschung, etwas, das wir nicht so leicht übersehen oder vergessen sollten. Wenn der Außenstehende ein Fenster in unser Herz erhält, kann er auch von der ungeahnten Tiefe und Schönheit in uns überrascht werden. Sie können eine Zärtlichkeit sehen, die in unserer äußeren Schroffheit nicht angedeutet wird. Sie können unsere Leidenschaft entdecken, die nach außen hin nicht sichtbar ist, und eine liebevolle Freundlichkeit, die sonst verborgen bleibt. Ebenso überraschend ist es für diejenigen, die durch das Fenster des Geliebten blicken, zu entdecken, wie viel Schmerz wir ertragen, wie viel Traurigkeit und Kummer hinter unseren Mauern zu finden sind. Ein Blick durch das Fenster des Herzens kann die Person, die draußen steht, verständnisvoller, mitfühlender, fürsorglicher und weniger verurteilend machen.

Die andere Seite dieser Spannung liegt in der Tatsache, dass Fenster uns einen Blick auf eine Welt ermöglichen, die größer ist als der Raum, den wir schützen, und dass dieser Raum durch das, was von außen kommt, gesegnet und bereichert werden kann. Wenn die Fenster des Herzens geöffnet werden, lässt der Mensch ins Innere Dinge eintreten, die neue und weitere Perspektiven eröffnen. Wenn die Person im Inneren ein Fenster in der Wand öffnet, kann sie auch überrascht sein zu entdecken, dass die Augen, die sie nun sehen, wie sie wirklich sind, nicht mit Herablassung, Ablehnung oder Verachtung gefüllt sind. Die Person, die das Fenster für den Liebhaber, der draußen steht, öffnet, kann die atemberaubende Erfahrung machen, dass sie geliebt und verstanden wird. In den Augen des Geliebten, der endlich einen Blick auf das wirft, was im Inneren des Hauses geschieht, leuchtet Mitgefühl und Fürsorge. Das Fenster ist ein privilegierter Ort der Begegnung zwischen uns.

Fenster, wohin führst du mich?

Das Bild des Fensters in diesem winzigen Ausschnitt aus dem Hohelied der Liebe versucht, zu uns über Gott zu sprechen. Er ist der Liebende, der darauf wartet, in unsere Herzen zu schauen.

Wo werden wir Fenster einbauen, wo bisher nur eine Mauer zwischen uns war?

Unser Gott ist aber auch der Geliebte, der sein Herz öffnet, um uns einen Blick auf das zu geben, was in seinem Herzen pocht.

Wo werden wir die Liebenden unseres Gottes sein und einen Blick durch das Fenster werfen, um zu sehen, was in seinem großen Herzen geschieht?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 21. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Im Herzen bewahren: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Maria aber – alles bewahrte sie,

diese Botschaften zusammenfügend

in ihrem Herzen.

 Lk 2, 19

 

 

 

 

 

 

 

 

Manchmal erzählen mir Menschen von kraftvolle, Erfahrungen in ihrem Leben, Eindrücken, die sie tief beeindruckt haben, innerer Erleuchtung, die sie überrascht hat. Wenn sie allerdings diese Erfahrungen nicht im Herzen bewahren, dann verlieren sie sehr schnell ihre Kraft, werden so zu sagen »herzlos«.

Das Bild der Bibel, das dagegen wirkt, finden wir in der Art, wie Maria lebt: »Maria aber – alles bewahrte sie, diese Botschaften zusammenfügend in ihrem Herzen.«

Botschaften des Lebens zusammenfügend im Herzen zu  bewahren besteht aus drei Schritten:

  1. Wir müssen Lebenserfahrungen in uns aufnehmen und hineinnehmen, anstatt sie spurlos an uns vorbeiziehen zu lassen. Wenn wir das tun, verhindern wir, dass wir zu bloßen Konsumenten des Lebens werden, die versuchen von allem zu kosten, ohne wirklich irgendetwas davon zu genießen.
  2. Wir müssen diese vielfältigen Erfahrungen in Spannung halten und diese Spannungen (manchmal auch qualvolle Spannungen) aushalten.
  3. Letztlich müssen wir unsere Lebenserfahrungen so lange in uns tragen, bis sie verwandelt werden können zu etwas, was nicht herzlos ist. Wie Maria zu leben heißt, diese Erfahrungen des Lebens in uns aufzunehmen und sie durch Mitgefühl zu formen.

Wenn wir unsere Lebenserfahrungen im Herzen bewahren, entdecken wir, dass der Traum, den wir für uns selbst haben, oft nicht gelebt wird. Jeder von uns trägt einen Traum der Fülle in sich. Vielleicht ist er uns bewusst, vielleicht auch nicht, aber dieser Traum gehört zu uns.

Immer wieder müssen wir innehalten und den Stand dieses Lebenstraumes der Fülle überprüfen. Wie leben wir tatsächlich im Angesicht unseres Traumes? Was sind wir in Tat bereit zu tun, um diese Sehnsucht nach Fülle in Wirklichkeit umzusetzen? Und dann müssen wir die nötigen Änderungen vornehmen. Unvermeidlich führt dies dazu, dass wir einiges loslassen und anderes umarmen.

Das ist genau das, was Maria tut. Sie schaut zurück auf die Erfahrung ihres letzten Jahres, bewahrt alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und denkt darüber nach. Fast immer gehen wir davon aus, dass sie mit leichtem, frohem Herzen rückblickt auf diese letzten Monate ihres Lebens. Meinerseits kann ich nur sagen, dass ich das nicht glauben kann. Denn welche Erfahrungen musste Maria zusammenfügend in ihrem Herzen bewahren?  Eine unerwartete Schwangerschaft; eine Beziehungskrise mit Joseph; der Verdacht und das Misstrauen von Familien und Freunden; der Mann ihrer Lieblingscousine Elisabeth, der monatelang stumm geschlagen wurde; eine Zwangsreise nach Bethlehem, fern von Heimat und Verwandtschaft; die Erfahrung ausgeschlossen, ausgestoßen zu werden von Wärme und Würde, während sie entbindet; die Tatsache, dass Fremde anstatt Freunde zu Besuch kommen; und die schmerzhafte Realität, dass sie nichts anderes als Dreck, Kälte und Armut ihrem Kind anzubieten hat, als es zur Welt kommt.

Maria bewahrte all das in ihrem Herzen. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie sich nach mehr Fülle sehnte. Denn dieses menschliche Drama der Erneuerung des Lebens und der Träume (sei es bei Maria oder bei uns) ist Gott gewoben und Geist durchtränkt. Unsere Herzensverbindung zu dem Gott, der unser Leben mehren will, erzeugt diesen Traum. Die Sehnsucht nach der Fülle, die uns führt und leitet, wird genährt von Gottes Liebe zu uns, denn er kann es nicht gut haben, wenn seine Menschen ohne Fülle dahinsiechen.

Im Herzen bewahren und erwägen bedeutet, dass unser Adventsprojekt immer darin bestehen muss, diese Sehnsucht nach Fülle zu verwirklichen. Die Sehnsucht in uns, die uns unruhig, hungrig, durstig und sehnsüchtig macht, muss Fleisch werden. Wir dürfen sie nicht mit Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit abtöten. Wir dürfen sie nicht mit Konsum und ständiger Unterhaltung ersticken. Wir dürfen sie nicht abstumpfen oder uns mit gedanken- und sinnlosen Beschäftigungen dagegen betäuben. Wann immer wir Momente erleben, die uns aufschrecken, unser selbstsicheres Leben erschüttern, unseren Seelenfrieden stören, unsere Phantasie kitzeln oder unsere Seele beunruhigen, müssen wir sie in unserem Herzen bewahren und darüber nachdenken.

Im Herzen bewahren, wohin führst du mich?

Wenn wir unsere Lebenserfahrungen zusammenfügend im Herzen bewahren, dann können ganze neue Fragen in uns wach werden:

Ist das, womit ich mich sättige, auch wirklich das, wonach ich mich sehne?

Wo stehe ich wirklich in dem Drama des Glaubens, das sich in den biblischen Geschichten entfaltet?

Was darf eine biblische Geschichte in mir freisetzen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 20. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Gebärende: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Darum gibt der Herr sie preis,

bis zu der Zeit, da die Gebärende geboren hat.

Micha 5, 2

 

 

Kürzlich hörte ich von einem liebevollen Gespräch zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. Ihre Tochter dachte darüber nach, ein zweites Kind zu bekommen. Fast ein Jahr war seit der Geburt ihres Erstgeborenen vergangen, und jede Erfahrung als die Mutter ihres Sohnes war voller Wärme, Freude und Segen. Was sie eine Zeit lang zögern ließ, war die Erinnerung an die Geburt des Kindes.

Die Erfahrung der Gebärenden spielt schon in den ersten Momenten der großen biblischen Erzählung eine Rolle. In Genesis wird Eva von Gott gewarnt, dass zu dem neuen und anderen Leben jenseits des Gartens Eden auch die schmerzhafte Erfahrung der Geburt eines Kindes gehören würde. »Viel Mühsal bereite ich dir und häufig wirst du schwanger werden. Unter Schmerzen gebierst du Kinder«. (Gen 3, 16). Wir sind daran gewöhnt, diese Verbannung aus dem Garten als Strafe zu betrachten, und deshalb sehen wir diese Verschärfung der Geburtswehen als Teil der Vergeltung für die Missgeschicke der ersten Erdenbewohner mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Aber in der Geschichte geht es nicht um Rache oder Bestrafung. Es geht um eine Erziehungsmaßnahme. Es geht darum, dass Gott seinen Kindern hilft, zur Reife zu gelangen.

Das Problem für Adam und Eva im Garten ist, dass sie das Leben nur von einer Seite kennengelernt haben, nämlich als Geschenk. Alles in diesem Garten wurde von Gott vorbereitet und ihnen gnädig, großzügig und ohne Widerwillen gegeben. Das bringt damals wie heute ein Problem mit sich. Da sie nie direkt an der Aufgabe beteiligt waren, Leben in die Welt zu bringen, kommen sie nicht zu einer tiefen Wertschätzung des Geschenks dieses Lebens. Adam und Eva sind wie Kinder, die ihre Eltern um Geld bitten, um sich etwas zu kaufen. Lange Zeit zahlen die Eltern die Rechnungen. Doch irgendwann werden diese Eltern ihren Kindern sagen, dass sie das Geld, das sie haben wollen, selbst verdienen sollen. Das ist keine Bestrafung ihrer Kinder. Es liegt nicht daran, dass sie ihre Kinder nicht mehr lieben oder ihren Reichtum nicht mehr mit ihnen teilen wollen. Eltern tun dies, um ihren Kindern den wahren Wert des Geldes zu vermitteln. Sobald sie hinausgehen und Geld verdienen, lernen sie, was Adam gelernt hat: »Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen«. (Gen 3, 19) Bis jetzt wurde das Brot, das sie essen, das Leben, das sie genießen, im Schweiße des Angesichts ihrer Eltern verdient. Aber wenn sie einmal dafür gearbeitet haben, ändert sich ihre Wertschätzung für die Bedeutung von Geld.

In der Tiefe dieser Geschichte spricht das Bild einer Gebärenden zu uns von Gott. Es geht um den Schmerz, die Kosten und den Wert, Leben in die Welt zu bringen. Es ist wunderbar, aber recht einfach, das Leben, das ein anderer für uns in die Welt gebracht hat, zu halten und zu wiegen. Aber welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um Leben in die Welt zu bringen? Biologisch gesehen ist dies ein Preis, den nur Frauen zahlen müssen. Aber geistlich gesehen ist es eine Frage, die an das Herz eines jeden Menschen gerichtet ist. Sind wir bereit, neues Leben zu gebären, auch wenn es schmerzhaft und mühsam ist?

Micha sagt, dass wir preisgegeben sind, bis die Gebärende ihr Kind geboren hat. Es ist eine poetische Art, uns zu sagen, dass wir verlorene Seelen sein werden, verloren für den tiefsten Sinn und Zweck des Lebens, bis zu dem Tag, an dem wir selbst bereit sind, die wahren Kosten und den Wert der Teilnahme an der Arbeit, Leben in die Welt zu bringen, zu lernen. Die Poesie des Bildes sollte uns nicht taub machen für die harte Wahrheit, die es spricht. Es geht um eine grundlegende Haltung gegenüber dem Leben.

Zu oft ist diese Haltung in Menschen verschroben. Viel zu viele Menschen haben nur ein Gefühl der persönlichen Berechtigung. Sie glauben, dass das Leben ihnen geschuldet ist, sei es von Gott, dem Staat, ihrer Familie, ihren Nachbarn oder ihren Freunden. Gleichzeitig leisten sie keinen eigenen Beitrag zum Leben der Welt. Während sie von allen anderen erwarten, dass sie ihr Leben leichter, reicher und freier gestalten, machen sie keinen Finger krumm, um das Leben der anderen zu bereichern, zu erleichtern oder zu befreien.

 In der geistlichen Begleitung begegnet mir dies häufig. Menschen erzählen mir, dass sie Gott um etwas gebeten haben und sich nun ärgern, dass er ihre Bitte nicht erfüllt hat. Hier hat eine Verwechslung der Rollen stattgefunden. Sie sprechen von Gott, beschreiben aber den Weihnachtsmann. Der Weihnachtsmann ist die Person, der man einen Wunschzettel übergibt und dann erwartet, dass er erfüllt wird. Gott ist keine Wunscherfüllungsphantasie. Gott bietet uns Partnerschaft an und möchte, dass wir mit ihm am kühnsten und schönsten seiner Werke teilnehmen, nämlich neues Leben in die Welt zu bringen. Die Menschen, die sich bitterlich darüber beklagen, dass ihnen das Leben, das sie sich wünschen, nicht auf dem Silbertablett serviert wird, sind dieselben, die nicht bereit sind, schmerzhafte Entscheidungen zu treffen, sich schmerzhaften Herausforderungen zu stellen und schmerzhafte Mühen auf sich zu nehmen, um dieses Leben in die Welt zu bringen. Ein Mitbruder mit reicher pastoraler Erfahrung und großem Witz warnte mich einmal vor solchen Menschen, als er mir das Handwerk der geistlichen Begleitung beibrachte. »Sie werden immer ihre Hände ausstrecken, aber du wirst nie Schwangerschaftsstreifen auf den Herzen dieser Menschen finden.«

Jesus selbst greift dieses Bild auf: »Wenn die Frau gebären soll, hat sie Trauer, weil ihre Stunde gekommen ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist..« (Joh 16, 21) Jesus kennt diese Erfahrung, denn er weiß um den Preis und den Wert, Leben in die Welt zu bringen. Auch er war im Garten Gethsemane von Trauer erfüllt, als seine Stunde kam. Aber nach seiner Auferstehung war er von Freude und Frieden erfüllt und überflutete die Welt mit dem, was sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung in die Welt gebracht hatten.

Die junge Mutter, die ein zweites Kind erwartet, ist an diesen Ort der Ehrfurcht und des Staunens gelangt. Sie schwelgt in dem Geschenk ihres geliebten Sohnes und ist voller Ehrfurcht vor dem Segen, den er in das Herz seiner Eltern und ihrer ganzen Sippe bringt. Aber diese Ehrfurcht ist aus dem Schmerz geboren, neues Leben in die Welt zu bringen, einem Schmerz, den man nicht so leicht vergisst. Deshalb kennt sie den tiefsten und wahrhaftigsten Wert des Lebens ihres Sohnes. Sie hat Schwangerschaftsstreifen in ihrem Herzen.

Gebärende, wohin führst du mich?

Welches Leben werde ich an diesem Adventstag in die Welt bringen?

Welche schmerzhaften Formen des Wachstums vermeide ich?

Welche schmerzhaften Wachstumserfahrungen bin ich bereit, anzunehmen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 19. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Namensgebung: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Man wird ihm den Namen geben:

Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.

Jer 23, 8

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn ich eine Taufe feiere, muss ich immer wieder innehalten beim Anfang. Sie beginnt mit der Frage: Welchen Namen haben Sie Ihrem Kind gegeben? Bevor wir uns erkundigen über Glaube, Gott und die Bereitschaft zur Taufe, erkundigen wir uns über die Namensgebung. Namenlos tritt keiner in die Kirche ein, weil niemand namenlos in die Beziehung zu Gott oder zu seinen Menschen treten kann. Jeder hat vor Gott einen Namen. Anonymität im Haus Gottes ist ausgeschlossen.

Dieses Bild der Namensgebung spielt eine große Rolle in biblischen Erzählungen. Es ist ein Teil der großen Unternehmung Gottes und gehört einfach dazu, wenn wir wahre Menschen werden wollen. Denn sobald wir jemanden einen Namen geben, legen wir die Grundlagen für den Aufbau einer Beziehung. Diese Macht der Namensgebung kennen wir, wenn Kinder einen streunenden Hund finden und nach Hause bringen. Wenn die Eltern den Hund nicht behalten wollen, dann verssuchen sie alles zu tun, um zu vermeiden, dass die Kinder dem Hund einen Namen geben. Denn sobald der Hund einen Namen hat, haben die Kinder schon eine Beziehung zu dem Tier aufgebaut.

Als Erwachsene kennen wir diese Verbindung zwischen Beziehung und Namensgebung auch. Wenn wir lange in der Firma arbeiten, aber niemand auf der Chefetage unseren Namen kennt, dann wissen wir, wo wir stehen. Der Mensch, der sich weigert, je mich bei meinem Namen zu nennen, macht mir doch deutlich genug, dass hier keine Beziehung erwünscht wird.

Diese große Lust, eine Beziehung aufzubauen, ist ein Herzensanliegen unseres Gottes. Wenn wir die großen Schöpfungsgeschichten in den ersten zwei Kapiteln von Genesis lesen, sehen wir einen ständig wiederkehrenden Rhythmus: Sobald Gott etwas Neues schafft, folgt die Namensgebung. Nachdem Gott das Licht von der Finsternis scheidet, heißt es: »Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht.« (Gen 1,5) Nachdem Gott das Trockene vom Wasser hervorruft, heißt es: »Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Ansammlung des Wassers nannte er Meer.« (Gen 1,10). Durch die Namensgebung baut Gott eine Beziehung auf zu seiner Schöpfung.

Diese Lust, die Beziehung aufzubauen, teilt Gott mit seinen Menschen. Denn kaum hat er Adam geschaffen und schon führt er ihn in die Kunst der Namensgebung ein. »Da bildete der HERR, Gott, aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde, und ganz wie der Mensch als lebendiges Wesen sie nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab allem Vieh und den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes Namen.« (Gen 2, 19-20)

Später wird es viele Geschichten geben, in denen die Namen von Menschen geändert werden. Abram wird Abraham heißen, Sarai wird zu Sarah umgewandelt und Saulus wird später Paulus benannt. Das geschieht immer, wenn die Sendung eines Menschen sich ändert. Wenn die Sendung sich ändert, dann weil Gott seinen Menschen mehr Verantwortung anvertraut. Die größere Verantwortung ist immer ein Zeichen des vertieften und erweiterten Vertrauens, das Gott in seinen Menschen setzt, und das wiederum ist ein Zeichen dafür, dass die Beziehung sich verändert hat. Und das verlangt nach einem neuen Namen.

Dieses Bild der Namensgebung spricht zu uns von Gott, denn die Namensgebung gehört dazu, wenn wir etwas ins Leben rufen wollen. Sobald ein Namen gegeben wird, wissen wir, dass diese Person eine größere Rolle spielen sollte und mehr teilnehmen sollte in unserm Leben.

Die Namensgebung ist ein großes Thema der Adventszeit. Wen Gott etwas einen Namen gibt, dann sollten wir es nicht ohne weiteres umbenennen.

Die Nachbarn und Verwandten des Zacharias wollen genau das tun: sie wollen das neugeborene Leben in ihrer Mitte so benennen, wie sie Leben kennen und verstehen, wie es in die gewohnten und erwarteten Bahnen passt. »Es gibt niemand in der Verwandtschaft, der so heißt!« Damit sagen sie: So benennen wir keine Kinder in unserer Familie. So war es nie! Das hat keine Tradition bei uns. Mit anderen Worten, alles sollte so bleiben wie wir es vor langer Zeit benannt haben. An unserer Namengebung lassen wir nicht leicht rütteln.

Zacharias sorgt dann (endlich) für Klarheit: Sein Name ist Johannes. Er, der selbst für alles einen festen Namen und Platz hatte und sogar Boten Gottes nicht einmischen lassen wollte, macht seiner Verwandtschaft klar, dass Gott hier etwas Neues bewirkt, und das Neue braucht einen neuen Namen.

Gott gibt auch uns neue Namen für das Leben, das wir in uns zur Welt tragen. Aber sobald wir spüren, dass er etwas Neues in uns bewirkt, tief in unserem Inneren webt und formt, dann wollen wir es in alten Bildern, mit alter Sprache und mit alten Namen benennen.

Denn wir haben Angst vor der Verwandtschaft und ihrem Urteil. Wir merken, dass in uns etwas Neues ist, aber wir wagen es nicht auszusprechen. Wir haben Angst aus der Reihe zu tanzen. Wenn wir aber dem Neuen in uns keinen Namen geben, dann wagen wir keine neue Beziehung zu dem, was in uns ist.

Namensgebung, wohin führst Du mich?

Wo gibt es Menschen und Beziehungen in meinem Leben, denen ich noch keinen Namen gegeben habe?

Wo werde ich dem Neuen, das in mir wächst (Gefühle, Impulse, Ideen, Lust), einen Namen geben, damit es leben kann?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 18. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Lampe: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Johannes war die Lampe, die brennt und leuchtet, doch ihr wolltet euch nur eine Zeit lang an ihrem Licht erfreuen.

Joh 5,35

 

 

 

Eines späten Abends erschien ein Geschichtenerzähler in der örtlichen Kneipe. Nachdem er dem Publikum eine fesselnde Geschichte erzählt hatte, führte ihn der Wirt an den Tisch in der Nähe des Feuers und servierte ihm ein feines Essen und ein Glas, das großzügig mit einem edlen Tropfen aus der Gerstenfrucht gefüllt war.

Während der Geschichtenerzähler aß, begann ein recht hitziges Gespräch zwischen einem jungen Mann und seiner Mutter. Der junge Mann, der gerade von der Universität und seinem Medizinstudium zurückgekehrt war, teilte seiner Mutter mit, dass er mit der Kirche gebrochen und den Glauben aufgegeben habe und nicht mehr mit ihr zur Messe gehen würde. Die Mutter beharrte darauf und sagte ihrem Sohn immer wieder, dass sie ihre Lampe anzünden und für ihn beten würde. Jedes Mal, wenn sie ihm das sagte, wurde sein Ton aggressiver und seine Worte herablassender. Er begann, den Glauben seiner Mutter ins Lächerliche zu ziehen, indem er ihr in hochmütigem Ton mitteilte, er habe diesen Glauben gründlich studiert und sei zu dem Schluss gekommen, dass er nur etwas für Bauern sei, etwas für Menschen ohne intellektuellen Scharfsinn. Jedes Wort traf seine Mutter, und oft schreckte sie vor dem Schmerz seiner harschen und verletzenden Aussagen zurück. Aber jedes Mal beugte sie sich vor und sagte: »Ich werde meine Lampe anzünden und für dich beten.« Ihr intellektuell überlegener Sohn machte sich über diese Worte lustig und sagte: »Du und diese idiotische Lampe. Als ob das Anzünden dieser Lampe oder einer deiner Kerzen etwas damit zu tun hätte. Ich bin ein Mann der Wissenschaft und nicht des dummen Aberglaubens.«

Der Geschichtenerzähler erhob sich von seinem wärmenden Platz am Kamin und ging zum Tisch hinüber, wo er einen Stuhl hervorzog und sich setzte. Die traurigen Augen der Mutter begrüßten ihn, während die wütenden Augen des Sohnes ihn herausforderten. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete der Geschichtenerzähler, »aber ich kann dir helfen. Es war einmal ein Mann, der war eine Lampe. Sein Name war Johannes. Und er war so herrlich stur wie deine süße Mutter.«

Der junge Mann stöhnte auf. »Das geht Sie nichts an, alter Mann. Und niemand hat Sie eingeladen, Platz zu nehmen. Also halten Sie Ihr Maul und verziehen Sie sich!«

Der Kneipenbesitzer hörte diese Worte und war in Windeseile am Tisch. »Bezahlen Sie Ihre Rechnung und verschwinden Sie. Dieser Mann ist ein Seanchaí, einer unserer Geschichtenerzähler. So werden Sie in meiner Kneipe nicht mit ihm sprechen. Sie sind hier nicht mehr willkommen.«

Doch der Geschichtenerzähler legte seine Hand auf den Arm des wütenden Kneipenbesitzers und sagte: »Verzeihen Sie ihm um meinetwillen. Es ist anstrengend, allen anderen auf der Welt überlegen zu sein, und es hat seine Nerven strapaziert und seinen Verstand ein wenig verwirrt. Es ist nichts Schlimmes passiert.«

Die anderen Gäste der Kneipe begannen zu lachen, denn alle Augen des Lokals waren nun auf diesen Tisch gerichtet. Der Geschichtenerzähler lächelte verschmitzt und drehte sich dann in seinem Stuhl um, um wieder in die Kneipe zu schauen.

»Meine Freunde, lasst mich euch eine Geschichte über Lampen erzählen, die mir ein Freund erzählt hat, der sie von einem Freund gehört hat, der ihm sagte, dass der Engel Gabriel sie ihm höchst persönlich erzählt hat.

Eines Tages, als Gott die Schönheit seines Volkes bewunderte, kehrten die Engel von einer ihrer regelmäßigen Touren über die Erde zurück. Ach ja, ER liebt es, ein Auge auf uns zu haben. Sie sprachen von all dem Leid, das sie gesehen hatten, von den Tränen des Verlustes und der Trauer, von dem Schmerz so vieler gebrochener Leben, Seelen und Herzen. Es schien den guten Engeln, als läge große Dunkelheit auf den Herzen von Gottes Volk.

Gott sah seine ernsten Boten an, und seine Augen leuchteten mit dem Licht, das die Sterne hervorbringt. ‚Bringt ihnen Lampen. Sorgt dafür, dass jeder von ihnen eine Lampe zum Anzünden hat, eine Lampe, die sie durch die Dunkelheit, die sie durchqueren, mit sich tragen.‘

Einer der Engel sagte: ‚Herr, wäre es nicht hilfreicher, wenn du einfach die Sonne immer brennen lassen würdest?  Lass die Sonne niemals über ihnen untergehen. Verbanne die Dunkelheit für immer und lass sie immerwährendes Licht haben.‘

‚Herold, tu, was Er sagt!‘ Die Stimme des Sprechers war laut und dröhnend, eine Stimme, die man sogar in der Wüste hören konnte. Der Sprecher war in ein wunderschönes, wallendes Kamelhaargewand gekleidet, das im Licht des Himmels wie Gold glänzte.

Die Augen Gottes runzelten sich vor Vergnügen und Freude, als er den Mann sah, den sein Namensvetter, der das Evangelium schrieb, einst eine brennende, leuchtende Lampe nannte. ‚Willst du meinen Boten erklären, warum sie unserem Volk Lampen bringen sollen, mein alter Freund?‘

Und die Stimme, die in der Wüste lebte und leise zu den Verlorenen sprach, während sie die Mauern großer Städte und die Herzen arroganter Könige erschütterte, hallte in der Stille ihrer Zuhörer wider.

‚Hört auf den Herrn. Er hat jedem Menschen, der sich durch die dunklen Orte kämpft, immer Lampen gegeben. Lampen sind eine besondere Art von Licht, wertvoller als das Licht der Sonne. Denn das Licht der Lampe kann an Orte getragen werden, die das Licht der Sonne niemals erreichen wird. Selbst wenn die Sonne scheint, kann ihr Licht die fensterlosen Orte nicht erreichen. Es kann nicht in die Höhlen, die unterirdischen Kavernen, die Kerkerzellen tief im Innern der Erde eindringen. Aber Lampen können das Licht an all diese Orte tragen. Die Dunkelheit fürchtet Lampen, denn sie bringen Licht an Orte, die sie normalerweise nur für sich selbst beansprucht.

Lampen können die Dunkelheit nicht vertreiben. Aber sie bringen genug Licht, um die Schatten zurückzudrängen. Dann kann man sich in der Nacht zurechtfinden, kann Wege finden und ihnen folgen. Die Menschen können in der Dunkelheit leben, wenn sie sich in ihr bewegen können, und deshalb brauchen sie die Lampen. Das ist der Moment, in dem die Hoffnung wiederhergestellt wird, lange bevor die Lösung gefunden und das Ziel erreicht ist. Man kann in jeder Dunkelheit in Hoffnung leben, wenn man weiß, dass man einen Weg hindurch finden kann. Und du kannst es, wenn du eine Lampe anzündest.

Ich kenne diese Wahrheit, denn ich habe sie gelebt. Ich habe sie in der Wüste gelebt. Ich habe sie in den Kerkern des Herodes gelebt, wohin das Licht der Sonne nie kommt und die Gefangenen vergessen, wie das Gesicht der Sonne aussieht. Und weil ich das Geheimnis der Lampe kannte, wurde ich eins.‘«

Zurück in der Kneipe hielt der Geschichtenerzähler inne. »Es war einmal ein Mann, der eine Lampe war. Sein Name war Johannes. Und weil er eine Lampe war, kannte er das Geheimnis des Lichts, das sie bringt.«

Dann wandte er sich an den jungen Universitätsstudenten und sagte: »Johannes war eine helle und leuchtende Lampe. Das ist deine Mutter auch. Sie hat sich deine scharfen, ätzenden Töne angehört, und dennoch möchte sie Licht an dunkle Orte bringen, die dein Wissen nie erhellt hat. Wenn sie ihre Lampe für dich anzündet, will sie dir damit nur sagen, dass sie dich genug liebt, um dich nicht der Dunkelheit zu überlassen.«

Er erhob sich und kehrte an seinen Tisch zurück. Dann wandte er sich noch einmal an den jungen Mann und sagte. »Es war einmal ein Mann, der eine Lampe war. Was für ein Mann bist du?«

Lampe, wohin führst du mich?

Wo werde ich an diesem Adventstag eine Lampe sein und Licht dorthin bringen, wo es sonst nicht hinkommt?

Wo werde ich eine Lampe sein, ein Licht, das anderen hilft, sich in ihrer Dunkelheit zurechtzufinden?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 17. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Ein weites Zelt: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen. Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest!

Jes 54, 2

 

Ich hatte das Glück, einen Mann zu kennen, der den Raum seines Zeltes weit machte. Er begann damit, auf seinem Bauernhof ein Zelt für große Familientreffen und Veranstaltungen aufzustellen. Es war der Ort, an dem seine Sippe ihre Picknicks, Geburtstagsfeiern und Familientreffen abhielt. Zu allen anderen Zeiten stand es seinen Kindern als Spielplatz zur Verfügung.

Dieses Zelt war ein unvollendetes Werk, weil es ständig im Werden war. Im Laufe der Jahre wuchs es ständig. Als ich Daniel danach fragte, erzählte er mir: »Als wir mehr Kinder bekamen, habe ich mehr Platz geschaffen. Mit all den Eheschließungen und Geburten wurden unsere Familientreffen immer größer. Wir hatten also mehr Ehepartner, mehr Nichten und Neffen, die zu unseren Feiern kamen, also habe ich mehr Platz geschaffen. Dann gingen meine Kinder in die Schule und traten in Sportmannschaften ein, und sie schlossen viele neue Freundschaften, also schuf ich mehr Platz. Und meine Frau und ich haben viele Leute kennengelernt und noch mehr Freunde gefunden, also habe ich noch mehr Platz geschaffen.«

Er blickte auf das große Zelt und lächelte. »Wenn ich dieses Zelt ansehe, erinnert es mich daran, dass ich gesegnet bin. Mir wurde die Ehre zuteil, genügend Menschen in meinem Leben zu haben, die genauso gerne mit mir zusammen sein wollen, wie ich mit ihnen zusammen sein will. Ich habe das Privileg, eine Versammlung abhalten zu können. Aber sobald ich wusste, dass ich gesegnet bin, Padre, musste ich flexibel bleiben und den Raum dafür schaffen.«

Seine Frau Annie erzählte mir später, was sie sah, wenn sie das Zelt ansah. »Ich sehe das Herz meines Mannes.« Als ich sie nach dieser schönen Assoziation fragte, antwortete sie einfach: »Wie das Zelt, es wächst immer weiter, Padre, es wächst immer weiter.«

Ich hoffe aufrichtig, dass Sie beim Erzählen dieser Geschichte bereits zu dem Schluss gekommen sind, dass dies ein außergewöhnlicher Mann ist. Wäre er es nicht, hätte er den Platz seines Zeltes nicht so weit ausgedehnt.

Das ist keine alltägliche Erfahrung. Wir kaufen Zelte von der Stange. Wenn wir ein größeres Zelt wollen oder brauchen, dann kaufen wir ein größeres. Aber das Nomadenvolk, das die Seiten der großen biblischen Erzählung bevölkert, wusste immer, dass Zelte nicht von der Stange kommen, sondern maßgeschneidert sind. Sie waren provisorisch und passten sich den ständig wechselnden Lebensumständen der Menschen an, die in ihnen lebten.

Ich treffe oft auf Menschen, die beschließen, ihre Wohnung zu renovieren. In der Regel tun sie das, um mehr Platz für ihr Hab und Gut zu schaffen. Sie schaffen mehr Stauraum, bauen mehr Schränke und größere Garderoben und erweitern die Garage, damit dort zwei Autos parken können.

Aber bei diesem Bild vom Ausbreiten des Zeltplatzes geht es darum, mehr Raum für Menschen zu schaffen, einen Platz für Gäste zu eröffnen, die Möglichkeiten für eine größere Gastfreundschaft und eine breitere Begegnung zu schaffen. Wenn das Bild zu uns von Gott spricht, fragt es uns: Werden wir Raum für mehr Leben schaffen?

Um das Zelt zu vergrößern, müssen wir vier Dinge tun.

  1. Wir müssen darüber nachdenken, welche Art von Raum wir zu schaffen bereit sind. Schaffen wir Platz für einen mehr oder für zehn mehr? Und wenn wir wissen, wer noch in unser Zelt kommen wird, wie viel Platz wollen wir dann jeder Person darin einräumen? Wenn wir alle in einer Ecke zusammenpferchen, brauchen wir weniger Platz als bei einem großzügigen und freundlichen Empfang.
  2. Wir müssen investieren, um den Raum in unserem Zelt zu erweitern. Wir müssen mehr Geld ausgeben, weil wir wissen, dass unsere Stricke länger sein müssen und wir erheblich mehr Zeltstoff benötigen. Ohne diese Investition können wir nicht den Raum haben, den wir wollen und brauchen. Raum schaffen ist immer eine Investition, vor allem in meine Zeit und meine Kraft, die letzten Ressourcen eines menschlichen Lebens.
  3. Wir müssen die Zelttücher unserer Behausungen ausspannen. Es muss von uns gesagt werden: »Wie das Zelt, so wächst auch ihr Herz immer weiter.« Bevor wir bereit sind, größere Zelte zu errichten, müssen wir unser Herz ausdehnen und weiten und strecken. Die Arbeit innerhalb der alten Parameter ist nicht das, wovon dieses Bild spricht. Es verlangt von uns mehr, als den bisher vorhandenen Raum effizienter zu verwalten. Es geht darum, Raum zu schaffen, damit mehr Leben geschehen, blühen und gedeihen kann. Und die Warnung Gottes lautet: »Ohne zu sparen!«
  4. Wir müssen unsere Pflöcke fest machen. Der Raum, den wir für andere schaffen, muss fest verankert werden, damit er hält. Eine Gartenparty zu veranstalten bedeutet einfach, eine vorübergehende Einrichtung zu schaffen. Wir verschieben ein paar Möbel, um es zu ermöglichen, und stellen dann alles wieder in den ursprünglichen Zustand zurück, wenn die Party vorbei ist. Aber dieses Bild fordert uns auf, etwas Dauerhaftes, Zuverlässiges und Verlässliches zu schaffen. Das ist mehr als nur vorübergehend. Dies ist der Raum, in den wir immer wieder zurückkehren können müssen.

Du weites Zelt, wohin führst du mich?

Wo werde ich in meinem Leben ein wenig mehr Raum für Leben und Liebe schaffen?

Wie werde ich die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit eines Zeltes bewahren, damit in meinem Leben Platz ist für die überraschenden, wachsenden und sich ständig verändernden Möglichkeiten und Geschenke Gottes?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 16. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Taut, ihr Himmel: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Taut, ihr Himmel, von oben,

ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen!

Jes 45,8

 

Die Himmel sind unerreichbar und entziehen sich unserer unmittelbaren Kontrolle. Wir können ihnen nicht befehlen, formen oder gestalten, wie wir es mit dem Boden der Erde tun. Bei den Dingen der Erde sind wir gewohnt, eine aktive und wichtige Rolle der Partnerschaft zu spielen: pflügen, säen, ernten. Wenn wir aber zum Himmel schauen, dann schauen wir auf einen Ort, an dem andere Regeln gelten. Denn in der himmlischen Erfahrung gibt es Dinge, die nicht ergriffen, kontrolliert und festgehalten werden können. Sie können nur gegeben werden, und wir können sie nur empfangen.

Das Bild der Himmel, die gebeten werden, Gerechtigkeit herabregnen zu lassen, ist von einem großen Spannungsbogen geprägt. Wir sind nicht nur Geschöpfe der Erde, die zum Himmel aufschauen. Das ist eine grobe Vereinfachung. Die Geschichte von Genesis 1-3 sagt uns, dass wir von der Erde geboren sind, aber dass wir zwischen Himmel und Erde stehen. Es gibt Dinge, die ganz in unsere Hände gelegt sind (alle Bäume des Gartens, einschließlich des Baumes des Lebens), und es gibt Dinge, auf die wir warten müssen, bis sie uns gegeben werden (die Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse).

In dieser Spannung leben wir bis heute. Wir neigen dazu, alles über unsere Leistung und die Anhäufung von Dingen zu definieren. Das wiederum führt zu einer Mentalität, die uns dazu einlädt, unsere Rechte einzufordern, und uns suggeriert, dass »Gott denen hilft, die sich selbst helfen«. Das Problem ist offensichtlich. Was geschieht in dem Moment, in dem wir uns nicht selbst helfen können? Das Bild der Himmel, die Gerechtigkeit regnen lassen, ist daher radikal contra-kulturell. Es erinnert uns daran, dass es Zeiten gibt, in denen wir geduldig darauf warten müssen, dass uns das Leben geschenkt wird, auch wenn wir ausgedörrt sind. Es erinnert uns daran, dass wir für Geschenke empfänglich sein müssen, anstatt davon besessen zu sein, alles an uns zu reißen, was wir wollen. Was die Himmel uns geben, ist gut, aber es ist ein Geschenk, und wir müssen lernen, es als solches zu respektieren.

Das Bild der Himmel, die uns von oben mit Leben überschütten, führt uns zurück zu dieser gesunden und notwendigen Spannung zwischen aktiver Teilnahme und wartender Empfänglichkeit. Die Menschen, die darum bitten, dass sich die Himmel öffnen, stehen zwischen dem Himmel und der Erde. Die Himmel sind voll von Verheißung und Leben. Wir bitten die Himmel, sich zu öffnen und mit uns zu teilen. Es ist ein Bild der Gabe und ein Bild der Befreiung. Wir bitten darum, weil wir auf der Erde sind und diese nicht immer vor Verheißung und Leben strotzt. Wir bitten die Himmel, sich zu öffnen, wenn wir uns an Orten befinden, die ausgetrocknet und unfruchtbar sind und nur einen Hauch von Verheißung haben.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir seit den frühesten Tagen unseres christlichen Glaubens und Erzählens in diesem Bild das sehen und lieben, was wir in der Geburt Jesu sehen und lieben. Als gläubige Menschen erleben wir das Kommen Christi als eine Öffnung des Himmels. Diese Erfahrung zieht sich durch alle Erzählungen des Evangeliums. Die Menschen wenden sich an Jesus und bitten, dass die Himmel Heilung, Hilfe, Trost und Nahrung herabregnen lässt. Um den Evangelisten Johannes zu paraphrasieren: Wenn wir Jesus gesehen haben, haben wir gesehen, wie die offene Himmel aussehen. Und seit Jesus wissen wir, dass unser Vater und seine Liebe die Himmel für uns öffnen.

In der Person Jesu regneten die Himmel Gerechtigkeit herab. In ihm haben wir eine Ahnung davon bekommen, wer dieser Gott ist, was er mehr als alles andere liebt (nämlich uns) und was ihn antreibt (unendliche Liebe und Barmherzigkeit).

Aber diese Öffnung der Himmel vermittelt uns auch den ersten und prägenden Eindruck, den Gott von uns hat. Wenn sich die Himmel öffnen und Geschenke herabregnen, offenbart dieser Gott, dass wir durch Geburt und Schöpfung seine Geliebten sind, nicht durch Leistung und moralische Vollkommenheit. All unsere Arbeit, unsere Erfolge und Errungenschaften können uns das nicht lehren. Sie haben uns gelehrt, dass wir nur liebenswert sind, wenn wir den Beweis erbringen können, dass wir es wert sind, geliebt zu werden. Liebe, weil ich schön bin. Liebt mich, weil ich erfolgreich bin. Liebt mich, weil ich aufrecht bin.

Aber wenn sich die Himmel öffnen und Gerechtigkeit herabregnen, dann nicht, weil wir schön, erfolgreich oder aufrecht sind, sondern weil wir geliebt werden. Wenn sich die Himmel öffnen, werden wir der Illusion beraubt, dass wir für alles selbst sorgen können, aber gleichzeitig werden wir mit der Offenbarung gesegnet, dass unser Leben in den Augen Gottes Wert und Würde hat. Das ist der Grund, warum sich die Himmel öffnen.

Das ist die Gerechtigkeit, die herabregnet. Das ist die Gerechtigkeit, die wir brauchen, denn das ist die Beziehung, die unserer Beziehung zu Gott und Gottes Liebe zu uns innerhalb dieser Beziehung gerecht wird. Gerecht zu sein bedeutet, allen unseren Beziehungen gerecht zu werden. Das heißt, wir müssen unserer Beziehung zu Gott, zu unserem Nächsten, zur Schöpfung und zu uns selbst gerecht werden. Gerade weil wir keine Gaben erhalten, werden unsere Leben schwer, wir dominieren uns gegenseitig und können keine guten Beziehungen eingehen. Und um all diese Beziehungen gerecht zu werden, müssen wir vertrauensvoll warten, bis uns das Leben geschenkt wird.

Ihr Himmel, die taut, wohin führt ihr mich?

Werde ich an diesem Adventstag die erste und wichtigste aller religiösen Tugenden üben, nämlich den Sinn dafür, dass alles Geschenk ist, dass nichts uns von Rechts wegen zusteht?

Wie werde ich mich in der Empfänglichkeit, die wartet, üben und meine Ungeduld, die immer wieder versucht, alles an sich zu reißen, bändigen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 15. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Reine Lippen: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Dann werde ich die Lippen der Völker verwandeln in reine Lippen, damit alle den Namen des Herrn anrufen und ihm einmütig dienen.

Zef 3, 9

 

 

 

 

 

Ich nehme an, dass Sie, wie ich, sehr wenig Zeit damit verbringen, über Lippen nachzudenken. Wie viele wichtige Elemente des Lebens sind sie einfach da und erfüllen ihren Zweck, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie unbedeutend sind, sondern lediglich als selbstverständlich angesehen werden.

In der biblischen Erzählung stehen die Lippen für das Sprechen oder die Sprache. Zusammen mit den Bildern von »Mund« und »Zunge« sind sie Teil einer Reihe von Bildern, die uns von unserer Fähigkeit zu sprechen erzählen. Aber nicht alle Sprache ist verbal. Nicht alles, was wir sagen, wird in Worten ausgedrückt. Es gibt auch unsere Körpersprache, und die spricht Bände.

Die Lippen sind ein Tor zur Offenbarung. Stellen Sie sich eine Person vor, die ein dünnlippiges Lächeln zeigt. Wenn man die Lippen spitzt, drückt man eine andere Emotion aus als wenn man auf den Lippen kaut oder beißt. Bebende Lippen zeugen von überwältigenden Gefühlen, während fest zusammengepresste Lippen zeigen, dass man nicht bereit ist, etwas von dem preiszugeben, was in einem Menschen vorgeht. Die Art und Weise, wie sich die Lippen bewegen oder formen, kann verraten, ob wir wirklich glücklich, wütend, traurig, angewidert, überrascht, verängstigt oder voller Verachtung sind. Versuchen Sie, eine Reihe von Emotionen auszudrücken, ohne Ihre Lippen zu bewegen. Versuchen Sie zu lächeln, ohne Ihre Lippen zu bewegen.

Wenn es um das gesprochene Wort geht, sind unsere Lippen das wichtigste Instrument der Sprache. Die Lippen helfen uns, unsere Worte zu formulieren, die Klarheit und Schärfe des Klangs auszusprechen. Versuchen Sie einmal zu sprechen, ohne Ihre Lippen zu bewegen. Noch aufschlussreicher ist es, eine Person, die nicht hören kann, zu beobachten, wenn sie von den Lippen eines anderen liest, und zu erkennen, dass gut eingesetzte Lippen eine Welt der Kommunikation eröffnen können.

In der biblischen Vorstellungswelt werden die Lippen auch als besonderer Ort dieses Kommunikations- und Offenbarungsprozesses gesehen. Sie sind wie eine Tür, ein Tor. Alles gesunde menschliche Leben fließt von innen nach außen. Das gilt auch für unsere Sprache. Bevor ein Wort überhaupt gesprochen wird, wird es in den tiefen und verborgenen Orten des Herzens geschmiedet. Aber um auch nur ein menschliches Ohr zu erreichen, müssen diese Worte unsere Lippen passieren. Die Lippen sind also ein kritischer letzter Kontrollpunkt, bevor die Offenbarung des Herzens in die Welt kommt, der letzte Ort, bevor das innere Leben eines Menschen in die Welt kommt. Die Lippen sind also der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden müssen.

Nicht umsonst betet der Psalmist: »Setze, HERR, meinem Mund eine Wache, hüte die Tür meiner Lippen« (Ps 141,3). Wir brauchen einen Wächter, der darüber wacht, was in die Welt geschickt wird. An der Pforte unserer Lippen werden sehr schwerwiegende Entscheidungen getroffen, denn hier entscheiden wir, welche Worte hinausgesandt werden und welche nicht. Doch Worte schaffen Welten. Wenn der Psalmist in Ps. 16,4 schreibt: »Zahlreich sind die Schmerzen derer, die einem anderen Gott nacheilen. Ich will ihre Trankopfer von Blut nicht spenden, ich nehme ihre Namen nicht auf meine Lippen«, dann trifft er die Entscheidung, Lebensweisen nicht zu unterstützen, die nicht zum Leben führen können, weil sie von Gott wegführen.

Die Bitte »Vernimm mein Bittgebet von Lippen ohne Falsch!« (Ps 17,1) macht deutlich, dass das, was über meine Lippen kommen darf, vertrauenswürdig, offen und echt ist und damit verlässlich. Das eröffnet die Möglichkeit zu echten Beziehungen.

In Psalm 40,10 wird die Geschichte erzählt: »Gerechtigkeit habe ich in großer Versammlung verkündet, meine Lippen verschließe ich nicht; HERR, du weißt es.« Hier werden die Lippen zum Tor, an dem wir uns entscheiden, die Wahrheit, die wir kennen, das Leben, das wir in uns haben und das wir mit der Welt teilen müssen, nicht zurückzuhalten.

Aber wenn wir unsere Lippen nicht bewachen, können Worte fallen, die wir später zutiefst bereuen. »Sie erzürnten Gott an den Wassern von Meriba, ihretwegen erging es Mose übel. Denn sie waren widerspenstig gegen seinen Geist und er redete unbedacht mit seinen Lippen.« (Ps 106, 32-33) Hier lässt Mose die Bitterkeit, die sich in seinem Herzen (Innenleben) gebildet hat, über seine Lippen in die Welt fließen, wo ihre Unbesonnenheit ihm noch mehr Kummer bereitet. In der Tat, Worte schaffen Welten.

Saubere Lippen haben eine reinigende, läuternde Wirkung. Jesaja erzählt eine Geschichte über Gott, in der diese Worte vorkommen. »Ich erschaffe Frucht der Lippen. Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen, spricht der HERR, / ich werde ihn heilen.« (Jes 57, 19) Reine Lippen sind der Ort, an dem Gott die Frucht hervorbringt, die einem Volk in der Nähe und in der Ferne Frieden bringen und seinem Leben Heilung schenken kann. Die Worte, die über unsere Lippen kommen, schaffen Welten, aber nicht nur für andere. Auch wir leben in diesen Welten. Saubere Lippen werden eine Welt schaffen, in der wir ohne all das Durcheinander und den Müll leben können, mit dem wir oft den Raum zwischen uns füllen. In den Tagen dieser Pandemie haben wir mehr als genug unter den Folgen dieses gefährlichen Corona-Virus gelitten. Aber so vieles von dem, was über die Lippen der Menschen gekommen ist, hat unser Leid verstärkt, die Bande des Gemeinwohls zerrissen, unsere Angst und Unsicherheit vertieft, Panik ausgelöst und die Menschen zu Torheit und sogar Gewalt angestachelt. Weil dies die Früchte unreiner Lippen sind, sind es nicht die Früchte des Geistes des lebendigen Gottes. Lasst unsere Lippen rein sein, und dann werden Ermutigung, Trost, Hilfe, Unterstützung, Hoffnung, Freundlichkeit und Heilung durch ihre Tore in eine wartende Welt dringen.

Reine Lippen, wohin führt ihr mich?

An diesem Adventstag wollen wir uns die Worte des heiligen Paulus an die Epheser zu Herzen nehmen:

»Kein hässliches Wort komme über eure Lippen, sondern wenn ein Wort, dann ein gutes, das der Erbauung dient, wo es nottut, und denen, die es hören, Freude bereitet!« (Eph 4, 29)

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 14. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Pflugschar: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Er wird Recht schaffen zwischen den Nationen

und viele Völker zurechtweisen.

Dann werden sie ihre Schwerter

zu Pflugscharen umschmieden

und ihre Lanzen zu Winzermessern.

Jes 2,4

 

 

 

 

 

 

Vor den Vereinten Nationen in New York befindet sich eine Bronzestatue des russischen Bildhauers Evgeniy Vuchetich. Die durch jahrelange Oxidation grünlich-blau gefärbte Statue stellt einen großen Mann mit einem Hammer in der rechten Hand dar. Er schwingt den Hammer über seinem Kopf und ist im Begriff, ihn auf ein Schwert niederzuschlagen, das er in seiner linken Hand hält. Die bereits gebogene Klinge des Schwertes macht deutlich, dass er das Schwert in eine Pflugschar umwandelt. Es dient als Bild für den Wunsch der Vereinten Nationen, Kriegsanstrengungen in Friedensarbeit zu verwandeln.

Vielen Betrachtern der Statue wird nicht bewusst sein, dass die Statue auf einem Wort des Propheten Jesaja beruht. »Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden«. Ein Instrument, das dazu bestimmt ist, Krieg zu führen, wird in ein Instrument verwandelt, das für die Landwirtschaft bestimmt ist. Ein Instrument, das dazu diente, Leben zu beenden, wird zu einem Instrument, das dazu dient, Leben zu ernähren. Ein Werkzeug der Gewalt wird in ein Werkzeug des Dienstes umgewandelt.

Es ist ein Bild der Verwandlung und nicht des Ersatzes. Das Eisen des Schwertes, das hart und unbeugsam ist, wird immer noch für die Pflugschar benötigt, sonst kann sie keine Furchen in die harte Erde ziehen. Die Schärfe der Klinge des Schwertes wird nicht abgestumpft, sondern neu eingesetzt und einem neuen Zweck zugeführt. Eine stumpfe Klinge an einer Pflugschar macht das Instrument völlig unbrauchbar.

Das Bild der Pflugschar spricht zu uns von Gott. Wenn Gott auf das schaut, was seinem Volk zur Verfügung steht, sieht er lebensspendende Möglichkeiten, wo wir oft todbringende Möglichkeiten sehen. Eine Pflugschar öffnet die Erde, macht sie aufnahmefähig für den Samen und bereitet sie für die Aussaat vor. Eine Pflugschar macht die reiche Erde zugänglich, die gute Erde, die unter der verhärteten und verkrusteten Oberfläche, die sie bedeckt, ein lebensspendendes und lebenserhaltendes Potenzial trägt. Sie gibt dem Regen eine größere Chance, sanft in die reiche Tiefe einzudringen, anstatt über die undurchdringliche Härte der Oberfläche hinwegzuströmen. Im Gegensatz zu einem Schwert, das beschädigen, zerstören und Schmerzen zufügen will, will die Pflugschar den Boden nicht beschädigen, sondern seine Möglichkeiten entfalten. Sie versucht nicht, den Acker zu zerstören, sondern ihn für einen Zweck vorzubereiten, der Leben hervorbringen wird. Sie will dem Boden keinen Schmerz zufügen, sondern die harten Stellen durchbrechen, um seinen wahren Sinn und Zweck freizulegen.

Wenn wir einen vorsichtigen Blick auf das Schwert werfen, sehen wir das gleiche Material und die gleiche Schärfe, aus denen die Pflugschar geschmiedet ist. Aber wann greifen wir zu einem Schwert? Wenn die todbringenden Möglichkeiten praktikabler erscheinen als die lebensspendenden. Wir greifen zu Schwertern, wenn wir uns gegen die Außenwelt abhärten. Wir benutzen sie, um Lösungen zu erzwingen, die wir Menschen, deren Herzen wir für verschlossen, unzugänglich und unempfänglich für eine andere Logik als Gewalt und rohe Kraft halten, sonst nicht entlocken können.

Das Bild des Schwertes, das zu einer Pflugschar umgeschlagen wird, ist ein Bild der Verwandlung. Es symbolisiert den Wunsch, dem Krieg ein Ende zu setzen und die Mittel der Zerstörung in schöpferische Werkzeuge zu verwandeln, die der ganzen Menschheitsfamilie zugutekommen. Aber wie Jesaja uns sehr behutsam daran erinnert, ist es nicht Gott, der Schwerter zu Pflugscharen umschmiedet, sondern die Menschen. Wenn Sie sich die Statue außerhalb der Vereinten Nationen ansehen, werden Sie kein Zeichen von Gott sehen. Und doch betont Jesaja, dass dies nicht nur ein menschliches Unterfangen ist. Es ist das Ergebnis einer Partnerschaft mit Gott.

Der Prophet beginnt damit, dass er uns etwas sagt, was Gott tun wird, bevor dieser Wandel stattfindet: Er wird zwischen den Völkern richten und den Streit vieler Völker entscheiden. Zuerst wird Gott kommen und Recht sprechen, Urteile fällen und Streitigkeiten schlichten. Und wenn dies geschieht, wird es in den Herzen der Menschen ein mächtiges Verlangen nach Verwandlung wecken.

Dies wäre nicht unsere instinktive Reaktion auf das Gericht. Das liegt daran, dass wir das Gericht ausschließlich als den Moment sehen, in dem Gott Vergeltung für unsere Verfehlungen und Untaten sucht. Beim Gericht geht es für uns darum, andere zu beschämen, ihnen ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen.

Aber Gott urteilt nicht auf diese Weise. In seinem Urteil geht es nicht darum, uns zu demütigen, uns zu beschämen, sondern um unsere unerprobten Möglichkeiten und unser unerprobtes Potenzial. Ein Volk, das den Einfallsreichtum und die Kraft hat, Metall zu verbiegen, bis es den Tod schafft, trägt auch den Einfallsreichtum und die Kraft in sich, Metall zu verbiegen, bis es Wege zum Leben freigibt.

Das Bild der Pflugschar spricht zu uns von Gott. Es sagt uns, dass immer dann, wenn wir den Drang verspüren, ein Schwert in eine Pflugschar umzuschmieden, Gott bereits in uns am Werk ist. Die Statue vor den Vereinten Nationen zeigt den Mann, den Hammer, das Schwert, das umgeformt wird. Was für das Auge unsichtbar ist, ist das Herz des Mannes. Das ist der Ort, an dem Gott wirkt. Das Herz ist letztlich der Ort, an dem alles entschieden wird.

Im Hochgebet für Versöhnung beten wir mit unserer Schwester, der Pflugschar: »Dein Geist bewegt die Herzen, wenn Feinde wieder miteinander sprechen, Gegner sich die Hände reichen und Völker einen Weg zueinander suchen. Dein Werk ist es wenn der Wille zum Frieden den Streit beendet, Verzeihung den Hass überwindet und Rache der Vergebung weicht.«

Pflugschar, wohin führst du mich?

Gott sieht mehr Potenzial in uns, als unsere Wut, Gewalt, Grausamkeit und Härte vermuten lassen. Werden wir uns dazu bewegen lassen, die Instrumente des Zorns, der Gewalt, der Grausamkeit und der Härte in Instrumente der Vergebung, der Heilung, der Freundlichkeit und der Sanftmut zu verwandeln?

Wenn meine Zunge wie ein geschärftes Schwert war, werde ich sie dann zu einer Pflugschar umschmieden, die Herzen und Köpfe mit nachdenklichen, verständnisvollen und unterstützenden Worten öffnet?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 13. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

In unserer Mitte sein: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Der König Israels, der Herr, ist in deiner Mitte; du hast kein Unheil mehr zu fürchten. An jenem Tag wird man zu Jerusalem sagen: Fürchte dich nicht, Zion! Lass die Hände nicht sinken! Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der Rettung bringt.   

Zef 3, 15–17

 

 

Zweimal in diesem kurzen Abschnitt verwendet der Prophet Zefania ein einfaches, aber wirkungsvolles Bild: Gott möchte in unserer Mitte sein. Das ist eine relativ einfache Sprache, die aber oft und leicht abgeändert wird, um etwas anderes zu sagen als das, was das Bild uns über Gott sagen will.

Gott zieht es vor, in unserer Mitte zu sein. Das Bild sagt nicht, dass er die Mitte sein möchte, dass er im Mittelpunkt stehen möchte. Es ist nicht Gottes Wunsch, die Mitte zu sein, um die herum alles aufgebaut ist. Er wünscht sich, in unserer Mitte zu sein. Das Bild spricht zu uns von Gott und es ist ein überraschendes Gespräch. Denn wir als Volk, als Gemeinschaft der Gläubigen, sind der Bezugspunkt. Der Ort, an dem Gott wohnen möchte, kann erst gefunden werden, wenn man sein Volk findet und dann in die Mitte seines Gemeinschaftslebens vordringt.

In unserer Mitte zu sein bedeutet, mitten im Geschehen zu sein, in der zentralen, pulsierenden, pochenden Mitte unseres gemeinsamen Lebens. Wenn Gott in unserer Mitte lebt, kommt er an den Ort, an dem sich alles in unserem täglichen Leben abspielt. In unserer Mitte gibt es Turbulenzen, Panik, Verhandlungen, Tauschhandel, Liebe, Engagement, Hektik, Chaos und Hingabe. In unserer Mitte finden Sie das Beste, was wir sind, das Schlechteste, was wir sind, und alles, was dazwischen liegt. Wer in unserer Mitte ist, taucht ein in die bunte Mischung dessen, was uns als Volk Gottes ausmacht.

Was nicht in unserer Mitte zu finden ist, sind die Orte der Privilegien. Diese sind immer sauber getrennt von dem Ort, an dem die Mehrheit der einfachen Leute lebt und arbeitet. In unserer Mitte zu sein bedeutet, den Ort zu entdecken, an dem es keine saubere Trennung gibt. In unserer Mitte sind wir alle zusammengewürfelt. Dies ist der Ort des Volkes, nicht nur der Eliten.

Auch die Mitte unseres Volkes ist kein fester und stabiler Ort. Sie ist ständig in Bewegung, ständig im Fluss und daher auch ständig im Wandel. Das liegt daran, dass die Dinge, die uns beschäftigen und mit denen wir uns beschäftigen wollen, ständig im Fluss sind. Ein Gott, der in unserer Mitte sein will, muss beweglich, flexibel und anpassungsfähig sein.

Das ist ein uralter Wunsch unseres Gottes. Anders als die Götter der antiken Welt wollte er nicht auf einem Berggipfel oder in einem besonderen Tempel wohnen. Während der langen, beschwerlichen Reise des Exodus entschied er sich, in unserer Mitte zu wohnen, und da wir mitten in der Wüste waren, ging er dorthin. Und er schlug sein Zelt in der Mitte des Lagers auf.

Doch der Wunsch Gottes, in unserer Mitte zu wohnen, wurde von seinem Volk nicht immer geteilt. Könige wollten Gott ein Haus bauen, einen Tempel hoch oben auf einem Berg errichten. Obwohl sie ein prächtiges Haus bauen und ihm einen Ehrenplatz in der Stadt geben wollten, war es doch ein Ort der Isolation. Ein Käfig bleibt ein Käfig, auch wenn er vergoldet ist. Der Gott des Alltags, der einst im Herzen seines Volkes lebte, sollte jetzt auf einen Hügel verbannt werden, weit weg von der täglichen Betriebsamkeit des gewöhnlichen Lebens. An einen außergewöhnlichen Ort kamen Menschen, um ungewöhnliche und spezielle Dinge zu tun. Aber der Gott, der es liebte, in unserer Mitte zu sein, wollte Gerechtigkeit, Güte, Dienst, Liebe, Barmherzigkeit und Versöhnung zu den Dingen und Taten des täglichen Lebens machen. So oft wir auch von diesen Dingen in einem Tempel sprechen, sie finden nie dort statt. Gerechtigkeit, Güte, Dienst, Liebe, Barmherzigkeit und Versöhnung finden in der Mitte seines Volkes statt. Dort werden sie gebraucht, dort werden sie in Fleisch und Blut ausgelebt.

Im Prolog des Johannes finden wir dieses Bild wieder. Die Übersetzung lautet: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt«. Wörtlich übersetzt heißt es: »Und das Wort wurde Fleisch und zeltete in unserer Mitte«. Obwohl es oft einfacher ist, Gott am Rande unseres Lebens zu halten, spricht das Bild zu uns von einem Gott, der nie zufrieden ist, bis er in der Mitte unseres Lebens ist. Die Entfernung, die Distanz, eröffnet uns immer eine einfache Ausrede. Aber Nähe verändert uns. Ein Gott, der weit weg, entfernt und unnahbar ist, ist ein Gott, der auch in den Wirren des Alltags leicht zu ignorieren ist. Aber ein Gott, der in unserer Mitte wohnt, ist eine Gegenwart, die uns herausfordert und uns dort begleitet, wo wir den größten Teil unseres Lebens verbringen, nämlich im Alltäglichen.

In der Mitte sein, wohin führst du mich?

Wo versuche ich, Gott am Rande meines Lebens zu halten, anstatt ihn in der Mitte des Lebens willkommen zu heißen, das ich mit anderen Menschen teile?

Werde ich die Gerechtigkeit, die Güte, den Dienst, die Liebe, die Barmherzigkeit und die Versöhnung Gottes in unserer Mitte willkommen heißen und zulassen, dass sie eine größere Rolle und einen größeren Raum in meinem täglichen Leben einnehmen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 12. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Taube Ohren: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.   

Jes 35, 5

 

Die Ohren der Tauben sind ein Bild, das uns sehr vertraut ist. Menschen, die schwerhörig sind, sind alltäglich, und wir haben viele Formen der Interaktion mit ihnen.

Dieses Bild spricht zu uns von Gott in einer diagnostischen Weise. Gott hat ein Herzensanliegen. Er möchte die Ohren der Tauben heilen. Taube Ohren zu haben bedeutet, unempfänglich zu sein. Doch in der biblischen Erzählung hat es eine noch tiefere Bedeutung. Sie spricht von der Tatsache, dass wir nicht empfänglich sind für das, was uns noch nicht gehört, was fremd, ungewohnt oder unbekannt ist.

Wir haben unsere eigenen Erfahrungen damit, taube Ohren zu haben. Wenn jemand über unser Lieblingsthema, unsere Herzenswünsche oder unsere Lieblingsbeschäftigungen spricht, werden unsere Ohren hellhörig. Noch leichter fällt es uns, das Gesagte zu hören, wenn der Redner das sagt, was wir hören wollen, wenn die Botschaft uns passt. Dann sind wir bereitwillig empfänglich für das, was bereits in uns steckt, was unsere Meinung bestätigt, unsere Position stärkt und unsere Vorurteile unterstützt.

Der Widerstand der tauben Ohren tritt auf, wenn wir uns öffnen und eine Botschaft, einen Gedanken oder eine Meinung empfangen sollen, die uns fremd, ungewohnt und unbekannt erscheint. Im Gegensatz zur rein körperlichen Erkrankung der Taubheit, die auftritt, ob wir es wollen oder nicht, ist dies eine Form, über die wir eine echte Kontrolle ausüben. Wir wählen aus, für wen und was wir empfänglich sein und ein offenes Ohr haben wollen. Als mein Vater recht alt war, brauchte er ein Hörgerät. Er kaufte sich schließlich eines, das ziemlich fortschrittlich war. Es verfügte sogar über eine kleine Fernbedienung, mit der er die Lautstärke erhöhen oder die Einstellungen des Hörgeräts für spezielle Dienste wie das Fernsehen oder das Telefonieren ändern konnte. Dieses Hörgerät half meinem Vater, sein körperliches Leiden der Taubheit zu überwinden. Aber sein Gebrauch des Hörgeräts bekam auch die biblische Bedeutung von tauben Ohren, denn immer, wenn die Hand meines Vaters in seine Jacke glitt, wussten wir, dass er die Fernbedienung benutzte, um das auszuschalten oder abzustellen, was oder wen er nicht hören wollte. Wir alle haben eine solche Fernbedienung. Man nennt sie das menschliche Herz. Es ist der Ort, an dem sich die Empfänglichkeit letztlich entscheidet.

Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen in den biblischen Geschichten wie auch in den menschlichen Erzählungen taub sind. Manchmal sind unsere Ohren verstopft. Etwas hindert uns daran, offen zu sein, hindert uns daran, empfänglich zu sein. Vielleicht gibt es alte Geschichten von Wunden und Narben, die es uns nicht erlauben, über alte Schmerzen hinaus zu hören. Traumatische Erfahrungen, ungelöste Konflikte und Leiden, die unter der Oberfläche schwelen, sind Wege, wie unsere Ohren verstopft werden. Dieses Bild spricht zu uns von Gott, denn Gott will die Ohren der Tauben öffnen. Er will nicht, dass sein Volk ein solches Leben führt.

Manchmal entwickeln oder fördern wir die Ohren der Tauben durch Ablenkung. Es gibt so viele Dinge, die vor sich gehen, so viele Stimmen, die alle gleichzeitig sprechen, so viele Hintergrundgeräusche, dass wir nichts mehr deutlich hören können. Wir können übertönen, was wir nicht hören wollen. Kleine Kinder tun das manchmal, wenn sie eine Nachricht ihrer Eltern wie »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen« nicht hören wollen. Sie fangen an, laut zu summen oder zu singen oder zu plappern, einfach um die Stimme zu übertönen, die sie nicht hören wollen. Erwachsene sind nur wenig raffinierter. Sie stellen den Fernseher oder das Radio lauter, drehen die Lautstärke der Kopfhörer hoch oder besuchen laute Partys und Versammlungen. Ich begleitete einmal eine Frau bei privaten Exerzitien. Nach jeder Sitzung verließ sie das Haus, ging zu ihrem Auto und drehte das Radio so laut wie möglich auf. Als ich merkte, was sie da tat, sprach ich sie an und fragte sie sanft, warum sie das tat. Ihre Antwort habe ich nie vergessen: »Lärm hält die Dämonen fern!« Sie lenkte sich damit von den schmerzhaften, aber notwendigen Impulsen ab, die sich aus den biblischen Geschichten ergaben. Es waren nie Dämonen, aber sie hatte solche Angst vor der Stimme Gottes, die ihr sagte, dass sie sich dem stellen sollte, was sie vermeiden wollte, dass sie Lärm als Betäubungsmittel benutzte. Gott will nicht, dass sein Volk so lebt, denn in diesem Fall sind die Ohren der Tauben ein Zeichen für ein Volk auf der Flucht, für ein verängstigtes Herz auf der Flucht.

Zu anderen Zeiten tauchen die Ohren der Tauben auf, wenn wir widerständig sind. Manchmal wollen wir etwas einfach nicht hören, und dann schalten wir unsere Aufnahmefähigkeit ab. Vielleicht sind wir zu erschöpft oder ausgelaugt, um uns damit zu befassen. Vielleicht sind wir überlastet und können den Gedanken nicht ertragen, dass noch ein weiteres Problem oder eine andere Frage unsere Aufmerksamkeit fordert. Gott öffnet die Ohren der Tauben, weil er ein solches Leben für sein Volk nicht will. Wenn wir Taubheit als Widerstand ausüben, arbeiten wir mit Annahmen. Wir widersetzen uns, weil wir annehmen, dass Offenheit und Empfänglichkeit uns nichts Gutes bringen, dass sie uns schlechte Nachrichten und neue Lasten bescheren. Aber wie oft haben wir uns schon geirrt. Wie oft mussten wir überrascht feststellen, dass die Botschaft auch Licht, Erleichterung, eine tiefere Perspektive und sogar Heilung brachte.

Die Ohren der Tauben werden von unserem Gott geöffnet, denn er will nicht, dass sein Volk unempfänglich lebt. Taube Ohren bedeuten, dass wir nicht in der Lage sind, an einem Gespräch teilzunehmen. Das schafft eine Welt des Ausschlusses und des Verlusts der Verbindung. Dann sind wir außen vor und von anderen isoliert. Das ist eine häufige Erfahrung mit unseren älteren Mitbrüdern, die schwerhörig sind. Es ist harte Arbeit, sie am Gespräch teilhaben zu lassen, das Gesagte zu wiederholen, in unangenehm lauten Tönen zu sprechen und sie daran zu erinnern, ihre Hörgeräte zu tragen. Aber wir tun es, denn sonst können sie nicht an unseren Gesprächen und Beratungen teilnehmen, und dann sind sie nicht mehr Teil unseres lebendigen Gemeinschaftslebens. In diesen Momenten teilen wir den Wunsch Gottes. Wir tun, was notwendig ist, um ihnen die Ohren zu öffnen, weil wir unseren geliebten Brüdern ein solches Leben nicht zumuten wollen.

Ohren der Tauben, wohin führt ihr mich?

Wo werde ich an diesem Adventstag bewusst eine neue Empfänglichkeit üben, indem ich ein neues Buch eines unbekannten Autors lese, einem Gespräch über Dinge zuhöre, die ich normalerweise verdränge, oder mich für ein Thema öffne, das ich lieber ignorieren würde?

Wo werde ich dazu beitragen, die Ohren der Tauben in anderen zu öffnen, damit sie nicht vom Fluss und Leben unseres Gesprächs ausgeschlossen werden?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 11. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Der Strom: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Hättest du doch auf meine Gebote geachtet!

Dein Glück wäre wie ein Strom und

dein Heil wie die Wogen des Meeres.   

Jes 48, 18

 

 

 

 

Die Sprache der Bilder, Symbole und Metaphern der biblischen Geschichten fällt uns nicht leicht, denn wir sind eine Gesellschaft der technischen und therapeutischen Sprache. Wir sind so sehr in die Welt der erklärenden und deklarativen Sprache eingetaucht, dass wir zu symbolischen Analphabeten geworden sind. Da aber Bilder, Symbole und Metaphern die Sprache der Seele sind, werden wir auch schnell zu religiösen Analphabeten.

Im Kampf um die Rettung und Wiederbelebung der Sprache der Seele haben wir natürliche Verbündete, und das sind die Dichter. Sie leiden ebenso sehr wie die biblischen Erzähler, denn die Poesie ist durchdrungen von Bildern, die versuchen, zur Seele zu sprechen.

Mein Freund John O'Donohue war diese höchst bemerkenswerte Mischung aus Dichter, Philosoph und Theologe. Wenn Sie verstehen wollen, was das Bild des Flusses bedeutet, brauchen Sie nur diese Zeile von ihm zu lesen.

»Gern würde ich leben wie ein Fluss fließt, getragen von der Überraschung seiner eigenen Entfaltung.«

Jesaja würde in Anerkennung eines Dichterkollegen lächeln, wenn er diese Worte lesen würde. Das Bild des Flusses spricht zu uns von Gott, indem es uns daran erinnert, dass, wenn wir nach den reichen Lebensunterweisungen Gottes leben, sich unser Leben zu überraschenden Erfahrungen entfalten wird.

Flüsse entfalten sich. Sie fangen klein an und wachsen zu ihrer Pracht, Stärke, Breite, Tiefe und Länge heran. Wenn wir uns den Lebensunterweisungen Gottes öffnen, ist das der Beginn unserer persönlichen Entfaltung. Ein Fluss kann sich nicht entfalten, wenn er nicht offen für Nebenflüsse ist. Er muss die Beiträge der kleinen Ströme und unscheinbaren Bäche willkommen heißen. Ein Leben kann sich nicht entfalten, wenn es sich nicht für alle Zuflüsse öffnet, die lebendiges Wasser tragen. Wir müssen die tiefe religiöse Weisheit von Mentoren, Meistern, Lehrern und Freunden aufnehmen. Wir müssen uns für die Erfahrungen öffnen, die uns zum Wachstum strecken und uns zur liebenden Güte vertiefen. Wir müssen die Geschichten von Gott und die Geschichten des Glaubens aufnehmen, und natürlich müssen wir die Geschichtenerzähler willkommen heißen, die sie uns überbringen. Auf die Lebensunterweisung Gottes zu achten bedeutet, auf all diese Menschen, Orte und Möglichkeiten zu achten. Und dann wird unser Leben in seiner Pracht, Stärke, Breite, Tiefe und Länge wachsen.

Wenn ein Fluss durch seine Offenheit, mehr lebensspendendes Wasser aus vielen Quellen zu empfangen, wächst, führt dies zu einer neuen Überraschung der Entfaltung. Denn ein Fluss entdeckt dann, dass er nicht nur ein Empfänger neuen Lebens ist, sondern auch der Träger neuen Lebens. Er nimmt dieses Leben in sich auf und trägt es weiter zu neuen Orten und Menschen, die nach diesem Leben dürsten. Wenn wir heute auf seine Stimme hören, werden wir ebenso überrascht feststellen, dass wir die Träger von mehr Leben sind. Die Weisheit, die wir gnädig empfangen, die Liebe, die wir in unser Blut und unsere Knochen einweben, die Gerechtigkeit, die wir in unser Leben integrieren, und die Barmherzigkeit, die wir in unser eigenes Wesen aufnehmen, tragen das Leben zu anderen. Wo immer wir hingehen, wo immer wir uns bewegen, werden die Menschen mit dem Leben, das wir in uns tragen, in Berührung kommen. Wir tragen in uns das Gute, das von Schmerz verhärtete Herzen berühren kann, die Wahrheit, die von Illusionen und Selbsttäuschungen befreit, die Hoffnung, die längst vergessene oder nie gekannte Horizonte öffnet.

Ein Fluss ist nicht stagnierend. Er bewegt sich und gelangt an Orte, die weit über seine Ursprünge hinausgehen, während er nie von der Quelle getrennt wird, aus der er entspringt. Wenn wir wie ein Fluss leben, wird auch dies zu einer Überraschung, zu einer Entfaltung, die uns in Erstaunen versetzt. Denn wenn wir unser Leben nach der Weisheit unseres liebenden Schöpfers leben, wird unser Leben nicht nur wachsen, sondern es wird uns an Orte führen, die weit von unserem Ausgangspunkt entfernt sind, aber niemals die Verbindung zu unseren Ursprüngen trennen. Wir werden die Geschichten Gottes an die nächste Generation weitergeben, ohne die Generation zu vergessen, die sie uns erzählt hat. Wir werden neuen Menschen begegnen, ohne die Menschen zu vergessen, die uns bis hierher in Sicherheit gebracht haben. Wir werden neue Orte, Begegnungen und Erfahrungen machen, ohne den Kontakt zu unseren Wurzeln zu verlieren, zu den Orten, die unser Herz geformt haben, zu den Begegnungen, die uns zu größerer Fülle begleitet haben, und zu den Erfahrungen, die uns authentisch gemacht haben.

Schließlich formen Flüsse Landschaften. Sie fließen nicht einfach vorbei, sondern sie formen die Landschaft, durch die sie fließen. Ein Leben, das tief aus Gott gelebt wird, wird uns auch auf diese Weise überraschen. Wir ziehen nicht einfach vorbei. Wir formen die Welten, durch die wir uns bewegen. Wir haben einen Einfluss auf die menschlichen Landschaften, die wir berühren. Ein Leben, das sich wirklich nach dem Plan Gottes entfaltet, entfaltet eine überraschende, lebensverändernde Wirksamkeit. 

So war es auch bei John O'Donohue. Nach jeder Begegnung fühlten sich die Menschen einfach besser und sicherer in ihrer eigenen Haut. So ist es auch bei John Shea. Nach einer Begegnung mit ihm fühlen sich die Menschen stärker, besser gerüstet, um mit dem beängstigenden Teil ihres Lebens fertig zu werden. So war es auch bei meiner Mutter. Ich verließ ihre Gegenwart nie, ohne mich mehr geliebt zu fühlen. Und so kann es auch bei uns sein. Unterschätzen Sie sich nicht, meine Freunde.

 

Strom, wohin führst Du mich?

An diesem Adventstag werde ich beten: »Gern würde ich leben wie ein Fluss fließt, getragen von der Überraschung seiner eigenen Entfaltung.«

Wie ein Fluss will ich lauschen und die Geschichten Gottes in allen Dingen aufnehmen, in mir selbst, in den anderen, in der ganzen Schöpfung und in der ganzen Heiligen Schrift, damit ich jede Geschichte achte und ehre, die Gott mir erzählen will.

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 10. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

 

Zu einem Dreschschlitten mache ich dich, zu einem neuen Schlitten mit vielen Schneiden. Berge wirst du dreschen und sie zermalmen, und Hügel machst du zu Spreu. Du worfelst sie, und es verweht sie der Wind, es zerstreut sie der Sturm. Du aber jubelst über den Herrn, du rühmst dich des Heiligen Israels.       Jes 41,15-16

 

Heute kommen wir zu einem Bild, das nicht mehr zu unserem täglichen Leben gehört. Aber als Jesaja diese Worte sprach, wurde das Bild in den Herzen der Zuhörer sofort lebendig, denn ein Dreschschlitten gehörte zu ihrer alltäglichen Erfahrung. Es handelte sich um eine Reihe großer Holzbretter, die aneinander befestigt wurden. An der Unterseite wurden Löcher gebohrt, in die dann scharfe Steine geklemmt wurden. Der geerntete Weizen wurde auf die Tenne gebracht, und die Bretter wurden über den Weizen geschleift. Die scharfen Steine ritzten und drehten den Halm und trennten die Körner vom Rest des Halms.

Das Bild spricht zu uns über einen Prozess der Trennung. Der Dreschschlitten trennt das, was wirklich lebensspendend ist, von der Spreu. Das Bild spricht zu uns von der Fähigkeit, das zu unterscheiden, was Nahrung und wahren Halt gibt, von den nutzlosen und überflüssigen Dingen, die keinen Beitrag zur Befriedigung unseres hungrigen Herzens leisten. Und dieses Bild spricht zu uns von Gott, denn es sagt uns, was Gott aus uns machen möchte. Er will uns zu Menschen machen, die unterscheiden können zwischen dem, was wirklich wesentlich ist, und dem, was kein Leben in sich trägt. Das ist keine unbedeutende Fähigkeit. Einfach ausgedrückt: Ohne Dreschschlitten würden wir verhungern. Wenn wir nicht in der Lage sind, den Weizen vom Halm zu trennen, dann können wir ihn nicht zu Mehl mahlen und unser Brot backen. Und wenn wir nicht in der Lage sind, die Spreu vom Weizen zu trennen, dann werden wir immer wieder am Falschen hängen, am Element, das uns nicht nähren und stärken kann. Die Gabe, ein Dreschschlitten zu sein, ist die Gabe, das zu gewinnen, was Leben gibt, inmitten von allem anderen, was es nicht gibt.

Jesaja macht deutlich, dass dies eine Aufgabe von beträchtlichem Gewicht und Umfang ist. Berge und Hügel von Erfahrungen müssen gemäht werden. Diese Fähigkeit, das Lebensspendende vom Überflüssigen zu trennen, wird immer wieder nötig sein, denn die Menge der verwirrenden und vermischten Erfahrungen ist so hoch wie die Berge und so zahlreich wie die Hügel. Das ist nichts, was wir einmal tun und dann hinter uns lassen können. Es ist eine folgenschwere Aufgabe.

Wenn Gott uns zu einem Dreschschlitten macht, dann macht er uns zu einem Volk der Unterscheidungskraft. Wir würden am liebsten alles für bare Münze nehmen. Aber wir müssen ständig das Wahre, Schöne und Gute von den Bergen seichter Angebote, Werbung und Lebensstilen trennen, die uns nicht dorthin führen können. Das ist keine leichte Aufgabe. Wie ein Dreschschlitten müssen wir die Dinge, die uns vorgelegt werden, immer wieder durchgehen, um den Kern des Lebens zu entdecken, den wir brauchen.

In den Tagen der Pandemie ist diese Praxis des Dreschschlittens umso dringlicher geworden. Wenn wir ernsthafte Entscheidungen über das Gemeinwohl und die Gesundheit der Nation und ihrer Bürger treffen, sind wir gezwungen, uns die Frage zu stellen: Wenn wir nicht alles haben können (woran wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir meinen, es sei unser Geburtsrecht), was ist dann das Wesentliche? Es gibt ein großes Verlangen nach Weihnachtsmärkten, Sportereignissen und großen gesellschaftlichen Zusammenkünften in unseren Lieblingslokalen. Der Drang zu reisen und exotische Urlaube zu machen ist nach wie vor ungewöhnlich stark. Aber sind diese Dinge das Wesentliche? Sind das die Dinge, die den Kern des Lebens in sich tragen? Noch wichtiger ist die Frage, warum der Schutz unserer Mitmenschen nicht das zentrale Thema in unserer Gesellschaft ist. Warum ist die Sorge um das Wohlergehen der anderen nicht das zentrale Thema? Individuelle Rechte und persönliche Freiheiten werden von den Dächern gepredigt, aber von persönlicher Verantwortung und der Verpflichtung, für das Gemeinwohl zu sorgen, ist kaum die Rede.

So angenehm unsere Unterhaltungen und Ablenkungen auch sein mögen, sie sind nicht wesentlich. Wenn wir von einem Kinobesuch oder einer Reise in den sonnigen Süden sprechen, als wären sie so wichtig wie die lebenserhaltenden Maßnahmen für sterbende Patienten, dann haben wir die Gabe verloren, ein Dreschschlitten zu sein, eine Gabe, die Gott für lebenswichtig hält. Wenn wir das nicht erkennen, dann werden wir wütend über den Verlust unserer Spielzeuge und Spiele, während andere ohne Brot, Unterkunft und Würde dastehen.

Es kann nicht schaden, an den reichen Ratschlag des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnert zu werden. »Der tiefe und rasche Wandel der Verhältnisse stellt mit besonderer Dringlichkeit die Forderung, dass niemand … einer rein individualistischen Ethik verhaftet bleibe. Die Pflicht der Gerechtigkeit und der Liebe wird immer mehr gerade dadurch erfüllt, dass jeder gemäß seinen eigenen Fähigkeiten und den Bedürfnissen der Mitmenschen zum Gemeinwohl beiträgt und auch die öffentlichen oder privaten Institutionen, die der Hebung der menschlichen Lebensverhältnisse dienen, fördert und unterstützt.« (Gaudium et Spes, Art. 30) Wenn wir die Söhne und Töchter des Zweiten Vatikanischen Konzils sein wollen, dann müssen wir Dreschschlitten sein. Andernfalls werden wir zu der Art von Menschen, über die Oscar Wilde in seinem Roman »Das Bildnis des Dorian Gray« schrieb:  »Heutzutage kennen die Menschen den Preis von allem und den Wert von nichts.«

 

Dreschschlitten, wohin führt ihr mich?

Werde ich mir die Zeit nehmen, die vielen Vorschläge zu durchforsten und das, was wirklich wichtig für mein Leben ist, vom Rest zu trennen?

Wie werde ich das wirklich Wesentliche im Auge behalten?

Wie werde ich ein konzentriertes Herz in mir bilden, das sich nicht gedankenlos von Nebensächlichkeiten ablenken lässt?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 9. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Adlers Flügel: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.          Jes 40, 31

 

 

 

 

Die biblischen Geschichten haben eine große Vorliebe für das Bild des Adlers. Wenn Jesaja das Bild der Flügel des Adlers verwendet, lässt er es in zweierlei Hinsicht zu uns zu Gott sprechen. Erstens spricht es zu uns von Gottes Stärke. Zweitens spricht es zu uns über das, wofür Gott diese Stärke einsetzt.

Natürlich ist dies ein Bild der Stärke. Wenn Jesaja das Symbol der Adlerflügel sieht, sieht er die Stärke Gottes, die denen gegeben wird, die ihre eigene verloren haben. »Die aber auf den Herrn harren, werden neue Kraft schöpfen; sie werden auffahren mit Flügeln wie Adler; sie werden laufen und nicht müde werden; sie werden gehen und nicht matt werden.« (Jesaja 40,31)

Jesaja ist Teil eines großen Gesprächs, in dem das Bild der Adlerschwingen zu uns von Gott spricht. Der bei weitem größte Teil des Bildes ist die Erfahrung des Getragenwerdens. Es ist ein Zeichen von Stärke und der Fähigkeit, viel Gewicht zu tragen, wie Mose schrieb: »Ihr habt selbst gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, und wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht habe« (Ex 19,4). Dies wird noch weiter symbolisiert, wenn Mose von Gott sagt: »Wie ein Adler, der sein Nest aufrichtet, der über seine Jungen flattert, der seine Flügel ausbreitet, sie auffängt und sie auf seinen Flügeln trägt« (Dt 32,11). Der Adler kann die jungen Adler auf seinen Flügeln, den äußeren Flügeln, tragen. Das ist im Grunde das, was Gott tat, als er Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft herausführte und es auch während seiner Wanderschaft in der Wüste trug.

Da der Adler höher fliegen konnte als jeder andere Vogel, konnte er außer Reichweite der Pfeile des Jägers fliegen. Aber das Bild ist noch viel tiefgründiger. Wenn du auf den Fittichen, dem Rücken der Adlerflügel, sitzt, dann sitzt du an einem Ort, den der Jäger nicht sehen kann, außerhalb der Reichweite des Pfeils, der dich verletzen könnte. Sollte ein Jäger einen Arm haben, der stark genug ist, um so hoch zu schießen, könnte der Pfeil dich nicht treffen, ohne das Herz des Adlers zu durchschlagen.

Wenn du auf den Flügeln des Adlers sitzt, dann stellt sich der Adler zwischen dich und das, was dir schaden kann.

Das wirft eine tiefe Frage in uns auf. Wir sind so sehr daran gewöhnt, an unsere gewonnene Stärke zu denken und daran, wozu wir sie brauchen, dass wir selten darüber nachdenken, was passieren würde, wenn unsere Stärke uns versagt. Was würde passieren, wenn unsere Kraft uns nicht dorthin tragen kann, wo wir hinmüssen? Was passiert, wenn unsere Kraft nicht in der Lage ist, die vor uns liegenden Hindernisse zu überwinden, nicht über die Barrieren zu rasen, die sich uns in den Weg stellen, und uns nicht vom Boden aufheben kann, wenn wir gefallen sind?  Besonders schwer zu ertragen ist die Frage: Wer wird mich vor Schaden bewahren, wenn ich es nicht selbst tun kann?

Vor kurzem bin ich gefallen. Um genauer zu sein, wurde ich von einem Radfahrer zu Fall gebracht. Er schnitt mit hoher Geschwindigkeit eine Kurve und traf mich so hart, dass ich mit geprellten Knien, einem blauen Auge, zerkratzten Händen und einer zerkratzten Brille auf dem Boden lag. Der junge Mann auf dem Fahrrad hatte mehr Glück, denn er landete in der Hecke und wurde zerkratzt, blieb aber ansonsten unverletzt.

Als ich auf dem Boden lag, konnte ich mich nicht mehr aufrappeln. Meine Handflächen waren geprellt und bluteten, so dass ich sie nicht belasten konnte. Meine Hose war zerrissen und meine Knie waren aufgeschürft, so dass ich mich nicht auf sie knien konnte, um mir auf die Beine zu helfen. Der junge Mann stöhnte über sein zerstörtes Fahrrad. Eine Gruppe von Menschen, die an der nahe gelegenen Kapelle beteten, schaute kurz um die Ecke, fuhr dann aber mit ihren Gebeten fort. Aber eine Gruppe junger Leute, die in unserem Haus einen Kurs besuchten, kam mir sofort zu Hilfe. Sie waren am weitesten vom Unfallort entfernt, aber die ersten, die mir zu Hilfe eilten.

In diesem Moment erfuhr ich die tiefe Bedeutung des Bildes der Adlers Flügel. Denn zwei von ihnen legten ihre Schultern unter meine Arme und hoben mich vom Boden auf. Ich war überrascht von ihrer Kraft und wie leicht sie mich hochhoben. Ich erinnere mich auch an das Gefühl der Erleichterung, das mich überkam, und wie das Gefühl der Hilflosigkeit verschwand.

Diese Erfahrung und das Gefühl, hochgehoben zu werden, haben mich noch Wochen danach begleitet. Die Erinnerung hat mich seit diesem Tag nicht mehr losgelassen. Aber noch wichtiger war für mich, dass es eine alte Geschichte in mir auslöste. Ich hatte für eine große Gruppe ukrainischer Katholiken in Kanada Exerzitien abgehalten. Ich hatte ein kleines Haus auf dem Gelände, in dem ich wohnte, und führte zwischen den geistlichen Betrachtungen Privatgespräche mit denen, die es wollten. Es war ein sehr heißer Sommer, und die Leute warteten draußen auf mich, sitzend auf dem Gras der sanften Hügel rund um das kleine Häuschen. Es war spät am Nachmittag und ich kam heraus, um die letzte Person vor dem Abendgebet hereinzurufen. Sie saß unbeholfen auf dem untersten Teil des Hügels, also streckte ich meinen Arm nach ihr aus und zog sie dann auf die Beine. Dann hatten wir unser Gespräch.

Einige Wochen später erhielt ich einen Brief von dieser Person. Sie wollte mir für die Einkehrtage danken, weil sie eine Erfahrung gemacht hatte, die ihr Herz tief berührte. Aber es ging nicht um meine Vorträge, die Liturgien oder gar die Gespräche, die wir geführt hatten. Es ging darum, dass ich ihr geholfen hatte, vom Boden abzuheben. Sie schrieb mir, dass sie die jüngste von drei Schwestern sei. Ihre beiden anderen Schwestern waren immer die hübschen, attraktiven Mädchen, die von den Jungen umschwärmt und von ihnen aggressiv umworben wurden. Sie öffneten ihnen die Autotüren, zogen Stühle heran, auf die sie sich setzen konnten und waren immer aufmerksam und höflich und hielten sich in ihrer Nähe auf. Das alles hat sie nie erlebt. Als ich also meinen Arm ausstreckte und sie auf die Füße hob, war sie begeistert, überrascht, gerührt und verwirrt zugleich. Um ehrlich zu sein, konnte ich mich nicht einmal an den Vorfall erinnern, bis sie ihn in ihrem Brief erzählte.

Aber ich habe den Brief noch. In einer Zeile schrieb sie: »Pater, du hast mich emporgehoben. Und tagelang habe ich das Lied gesummt oder gesungen: ‚And I will raise you up on eagle’s wings‘ (Und ich werde dich auf Adlerflügeln emporheben'. Ich verstehe nicht wirklich, was du in diesem Moment für mich getan hast, aber ich weiß eines: Du hast mich aufgerichtet. Und seitdem bin ich aufgestanden.«

 

Adlers Flügel, wohin führt ihr mich?

Wen werde ich an diesem Tag im Advent aus dem Leid und der Hilflosigkeit erheben?

Wo bin ich aus der Gefahrenzone herausgehoben worden? War ich dankbar dafür, dass ich hochgehoben wurde, und habe ich die Gotteserfahrung in diesem Augenblick auch erkannt?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 8. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Einen Weg zu bahnen: Schwester, sprich zu mir von Gott.

Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen. Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.

Jes 40, 3-5

 

Dieses berühmteste der Adventsbilder spricht zu uns von einer der tiefsten Sehnsüchte und dem innigsten Wunsch unseres Gottes. Einen Weg zu bahnen und eine Straße zu ebnen, spricht von dem unstillbaren Hunger unseres Gottes, einen Pfad zu seinem Volk zu finden. Es gibt keinen Grund, einen Weg zu bahnen, bevor man nicht einen Ort hat, an dem man sein möchte. Die alten Pfade, die bereits bestehenden Wege, haben uns auch an Orte geführt, die wir besuchen und sehen wollten, aber diese Orte führen nicht zur Entfaltung einer neuen Begegnung, eines neuen Gesprächs und einer neuen Gotteserfahrung.

Ein neuer Weg ist erst dann nötig, wenn wir der alten Orte überdrüssig sind. Ein neuer Weg braucht nicht gebahnt zu werden, solange wir mit den alten Wegen und den Orten, an die sie uns geführt haben, zufrieden sind. Doch wer von uns kennt nicht den Hunger und den Antrieb, von dem dieses Bild spricht? Nachdem wir mit unserer Liebe, unseren Beziehungen und unserer Arbeit mehr oder weniger zufrieden waren, verspüren wir plötzlich den Wunsch nach mehr als dem, was wir haben und was wir gelebt haben. Wir beginnen, den Sinn und die Bedeutung unseres Lebens zu hinterfragen. Wir erleben eine wachsende Unzufriedenheit, ein Gefühl, dass das, was wir tun, keine tiefere Bedeutung hat. Quälende Fragen lassen uns nicht mehr in Ruhe. »Ist das alles, was es in meinem Leben gibt? Macht irgendetwas, was ich tue, einen wirklichen Unterschied?« Wir gehen weiter auf den bewährten und ausgetretenen Pfaden der Vergangenheit, aber sie lassen uns mit einem Gefühl der Leere zurück. Sie machen unser hungriges Herz nicht satt.

Dies ist ein sehr unangenehmer und beunruhigender Moment. Das Bild des Bahnens eines Weges sagt uns dann eine erstaunliche Wahrheit, eine befreiende Offenbarung. Hilfe ist auf dem Weg, denn Gott ist auf dem Weg zu uns. Das ist allerdings nicht die übliche Reaktion auf diesen Moment in unserem Leben. Wie oft haben wir die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass, wenn unser Leben in eine Sinnkrise gerät, wenn wir ernsthaft an uns selbst zweifeln und die grundlegendsten Annahmen, auf denen wir unser Leben aufgebaut haben, in Frage stellen, die Menschen sich abwenden und in die entgegengesetzte Richtung gehen. Oft besteht eine tiefe Angst vor diesen Fragen, denn wenn wir sie laut stellen, könnten sie uns plötzlich dazu bringen, sie auf uns selbst anzuwenden. Ich erinnere mich schmerzlich an einen solchen Moment vor nicht allzu langer Zeit. Eine gute Freundin von mir litt unter einer großen persönlichen Tragödie in ihrer Familie. Alle alten Wege fielen auseinander, waren nicht mehr nützlich und hilfreich, und die Suche nach einem neuen Weg erwies sich als mühsam, anstrengend und schmerzhaft. Eines Tages hörte sie zufällig die Bemerkung einer Kollegin von ihr. Die Kollegin sagte zu einem Dritten, sie könne der Geschichte meiner Freundin nicht lange zuhören, weil sie ihr zu sehr zu schaffen mache. Diese Erfahrung lässt mich bis heute mit den Zähnen knirschen. Meine arme Freundin trug die ganze Last dieser Geschichte, aber sie hatte keine Angst, anderen von dem Bahnen eines neuen Weges durch ein Leben zu erzählen, das auseinanderfiel und in Tragödie und Kummer zusammenbrach. Es war die andere Frau, die Angst hatte. Ihr fehlte der Mut, sich einer Geschichte zu stellen, die sie selbst in keiner Weise zu leben gezwungen war. Aber schon die bloße Erwähnung des Bahnens eines Weges störte ihr geregeltes, sattes und unhinterfragtes Leben und stellte eine Bedrohung für ihren eigenen Frieden und ihre Ruhe dar.

Meine Freunde, Hilfe ist auf dem Weg, denn Gott ist in Bewegung und er geht nicht in die entgegengesetzte Richtung. Er kommt direkt auf uns zu, auf diesen unbequemen Ort, an dem wir uns befinden. Er hat keine Angst, diesen Ort zu besuchen, uns hier zu berühren. Es ist der Wunsch seines Herzens, in diesem Moment der Ungewissheit und des Aufruhrs für uns da zu sein, damit er ihn mit uns teilen und mit uns verändern kann.

Den Weg frei zu machen und die Straße für Gott zu ebnen, ist der Weg, auf dem wir beginnen, alle Hindernisse zu beseitigen, die diese Begegnung mit dem Gott unseres Heils verhindern. Wir alle tragen in uns müde Denkweisen, unhinterfragte Annahmen über das Leben und geerbte Auslegungen darüber, was wichtig ist und was nicht; das sind die alten Wege. Sie haben uns in die Wüste geführt.

Hilfe ist auf dem Weg, denn Gott ist in Bewegung. Aber wenn Gott unterwegs ist, dann ist auch Veränderung im Anmarsch. Denn neue Wege zu bahnen und Straßen zu ebnen bedeutet immer, dass wir Landschaften verändern müssen, auch die inneren Landschaften des Herzens.

 

Wenn wir Gott einen Weg bahnen, wo führt uns das hin?

Werde ich, wenn ich meinem Gott einen Weg bahne, anfangen, neue Sichtweisen zu entwickeln?

Werde ich mich meinen unkritischen Annahmen über das Leben stellen? Werde ich meine Prioritäten neu bewerten?

Werde ich an diesem Adventstag eine Straße ebnen, indem ich auf die Geschichten Gottes höre, die nicht alle meine Vorurteile bestätigen, die nicht automatisch meinen Lebensstil und meine Denkweise gutheißen und die es sogar wagen, in Frage zu stellen, ob ich so glücklich und zufrieden bin, wie ich behaupte, zu sein?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 7. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Tragbahre: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

Da brachten einige Männer einen Gelähmten auf einer Tragbahre. Sie wollten ihn ins Haus bringen und vor Jesus hinlegen. Weil es ihnen aber wegen der vielen Leute nicht möglich war, ihn hineinzubringen, stiegen sie aufs Dach, deckten die Ziegel ab und ließen ihn auf seiner Tragbahre in die Mitte des Raumes hinunter, genau vor Jesus hin.

Lk 5, 18-19

 

Vor Jahren hat Bischof Reinhold Stecher ein wunderschönes Buch geschrieben. Es heißt: »Werte im Wellengang: Ungewöhnliche Interviews«. Im Vorwort schreibt er: »Ich habe mir ein paar Gesprächspartner ausgesucht – nicht die leichtesten-, mit denen ich mich schon lange einmal auseinandersetzen wollte«. Dann führt er Interviews mit der Weite, der Musik, der Weisheit, dem Humor, dem Licht usw.

Ich nehme heute meine Inspiration von diesem außergewöhnlichen Hirten und führe ein Interview mit der Tragbahre der biblischen Erzählung.

Ich: Ich darf Sie herzlich willkommen heißen bei unserer Reihe »Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen«. Unsere Leser werden sich sicherlich freuen, Sie etwas besser kennenzulernen.

Tragbahre: Vielen herzlichen Dank, P. Erik. Es ist für mich eine außergewöhnliche Ehre und zugestanden eine große Überraschung, dass Sie dieses Interview mit mir führen möchten. Ich bin es eher gewohnt, meine Rolle im Hintergrund auszuüben. Normalerweise werde ich kaum beachtet.

Ich: Dabei spielen Sie doch ein wichtige und sogar wiederkehrende Rolle in den biblischen Erzählungen.

Tragbahre: (müde lächelnd) Danke für Ihre anerkennenden Worte. In der Tat, ohne falsche Bescheidenheit, wurde ich von den Händen Jesu berührt vor den Toren Nains. Aber nicht weniger bedeutend für mich waren die vier bewundernswerten Freunde, die mich in die Hand nahmen.

Ich: Es gefällt mir, wie Sie diese Menschen beschreiben. Können Sie etwas näher erläutern, welche Rolle sie in deren Geschichte gespielt haben?

Tragbahre: Nun, ich habe meine Rolle immer als Privileg verstanden. In meiner weiteren Verwandtschaft gibt es Schubkarren, Wagen, Karren und sogar einige Trolleys. Es liegt uns alle im Blut, Lastenträger zu sein. Aber ich habe die Ehre gehabt, immer eine besondere Last zu tragen. Meine Verwandten sind zum Gütertransport da. Ich aber wurde von Gott erwählt, um das Leben seiner Menschen zu tragen, wenn sie so belastet sind, dass sie nicht mehr alleine gehen können.

Ich: Nicht gerade eine leichte Aufgabe.

Tragbahre: (lächelnd) In der Tat. Aber was ich an meiner Aufgabe immer besonders genossen habe ist, dass ich sie nur in der Zusammenarbeit und Kooperation ausüben konnte. Ich trage die Last eines Menschen, der nicht mehr gehen kann, aber andere tragen mich, damit die Geschichte dieses Menschen fortlaufen wird. Ohne diese Partnerschaft geht gar nichts.

Ich: Eine interessante Perspektive.

Tragbahre: Ach, diese Perspektive gewinnt man schnell genug, wenn Sie so nahe an den Menschen und ihren Lähmungen bleiben wie ich. Diese Erfahrung machte mich bescheidener und respektvoller. Und dann spürte ich, welche Ehre es ist, an solchen Lebenserfahrungen der Menschen teilzuhaben.

Ich: Wenn Sie das sagen, erinnert es mich sofort an Papst Franziskus. Er ruft uns sehr oft auf, nah bei den Menschen zu bleiben, besonders den Armen und Geschwächten.

Tragbahre: Ja, dieser Mann ist ein so biblischer Mensch und sehr beliebt unter uns Tragbahren. Er spricht gerne von der Kirche als Feldlazarett und, wie Sie wissen, ein Feldlazarett ohne Tragbahren ist undenkbar.

Ich: Das ist ein wunderbarer Gedanke. Nun haben diese Männer Sie in die Hand genommen und Ihren gelähmten Gefährten zu dem Haus, wo Jesus verweilte, gebracht. War das anstrengend für Sie?

Tragbahre: Belastend und erfreulich zugleich. Immerhin, durfte der Gelähmte sich auf mir ausruhen und spüren, dass er nicht fällt, sondern aufgefangen uns getragen wird. Wenn ein Mensch das von mir annehmen kann, gehört das zu den schönsten der Gefühle.

Ich: Diese Männer, die Sie und den Mann getragen haben, werden wohl am besten dieses Gefühl nachvollziehen. In dieser Geschichte kommen Sie und Ihre Partner dann zur Tür des Hauses, kommen aber so nicht ins Haus hinein.

Tragbahre: Das stimmt. Der Zugang ist von Menschen blockiert, die zwar fasziniert von Jesus sind, aber gleichzeitig dem geschwächten Mensch im Wege stehen, der zu Jesus will. So steigen wir auf das Dach und decken die Ziegel ab.

Ich: Das ist schon abenteuerlich und, milde gesagt, unkonventionell. Das Dach ist normalerweise nicht der Ort des Einganges. Ganz im Gegenteil. Das Dach wird gebaut, um Regen, Wind und Sonne und andere Naturelemente raus zu halten, nicht um Gelähmte zuzulassen. Immerhin, am Ende liegt der Gelähmte mitten im Raum, genau vor Jesus.

Tragbahre:  (schmunzelnd) Nicht nur der Gelähmte. Ich auch. Er lag noch auf mir. Auch ich war in der Mitte des Raumes, direkt vor Jesus.

Ich: Wie war das für Sie?

Tragbahre: Ich war eigentlich am meisten davon beeindruckt, dass er nicht zuerst diesen Gelähmten anschaute, sondern hoch zu den Männern auf dem Dach. Er sah ihren Glauben. (Pause, während die Stimme der Tragbahre vor Emotion bricht).

Ich: Ich merke gerade, wie ergriffen Sie sind.

Tragbahre: Es lag so viel Anerkennung in diesem Blick. Seine Anerkennung war nicht für den Architekt, der das Haus entwarf. Seine Anerkennung galt nicht denjenigen, die das Haus bauten. Sein Lob galt denjenigen, die den Mut besitzen, das Haus zu ändern, damit Leben hineinkommen kann. In dem Augenblick rückte ein gebrechlicher Mensch in den Mittelpunkt. Ich empfinde es bis heute als die größte Würdigung meiner Rolle und die Rolle aller, die Bahrenträger sind. Denn für uns stand dieser gebrechliche Mensch die ganze Zeit  im Mittelpunkt.

Ich: Und dann war Ihre Arbeit getan?

Tragbahre: Nicht ganz. Jesus hat dem Mann gesagt: »Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!« Und das hat mich am tiefsten berührt. Denn für Jesus war ich nicht unbedeutend. Er sollte mich mit nach Hause nehmen, weil er niemals vergessen sollte, welche Rolle ich in seinem Leben und in seiner Heilung gespielt habe.  

 

Tragbahre, wohin führst du mich?

Ich: Können Sie zum Abschluss unseren Lesern noch etwas für ihre Wege durch die Adventszeit mitgeben?

Tragbahre: Sehr gerne. Ich nehme viele Formen an. Ich bin das tragende Wort, auf das sich ein Mensch verlassen kann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Aber ich brauche meine Partner, die Menschen, die mich mutig aussprechen. Sonst gibt es keine Heilsgeschichte. Ich bin die tragende Geste, die ein Mensch ausruhen lässt, wenn die eigenen Kräfte versagen. Aber ich brauche immer meine Partner, die Menschen, die solche Gesten wagen, auch zu unkonventionellen Zeiten und auf unkonventionelle Weise. Ich würde Ihren Lesern einfach gerne ans Herz legen: Seien Sie meine Partner.

Ich: Vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit und dieses Interview.

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 6. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Das Kleid: Schwester, sprich zu mir von Gott.

Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht! Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!

Bar 5, 1-2

 

 

Die Sprache dieses Bildes ist in der heutigen Welt nur noch schwer zu verstehen. Im Gegensatz zu den Tagen der biblischen Geschichten tragen Männer und Frauen unserer Zeit Kleidungsstücke, um zwei Dinge auszudrücken: individuelle Identität und Persönlichkeit. Mode, wie wir sie heute verstehen, spielte in der Zeit, in der die Kleidung erstmals eine symbolische Bedeutung hatte, keine Rolle. Bei den alten Völkern hatte die Kleidung eine sehr praktische Funktion. Unsere Kleidung schützt uns vor dem Wetter, sei es vor Kälte, Regen oder sengender Hitze. Im Gegensatz zu den Tieren haben wir keinen natürlichen Schutz vor den Elementen, so dass Kleidungsstücke für uns das tun, was Fell und Federn für die Tiere tun.

Wenn Kleidungsstücke in biblischen Geschichten auftauchen, sprechen sie zu uns von vielen Dingen. Die Kleidung, die wir tragen, kann natürlich unseren Status in der Gesellschaft verraten. Könige kleiden sich normalerweise nicht wie Bettler.

Wenn Baruch die Sprache des Gewandes verwendet, weist er auf eine weniger offensichtliche Aussage hin, die die Kleidung macht. Die Sprache des Gewandes in dieser Geschichte versucht, den Zustand zu offenbaren, in dem sich unsere Herzen befinden. Die Kleider, die wir anziehen, können verbergen oder verschleiern, was in uns vorgeht. Wir können zum Beispiel die gleiche Uniform tragen wie alle anderen, während wir uns innerlich von ihnen distanzieren, weil wir uns nicht mehr mit der Gruppe oder ihren Interessen identifizieren. Wie viele Kinder haben die gleiche Kleidung wie ihre Altersgenossen getragen, um sich anzupassen und dazuzugehören? Doch tief in ihrem Herzen wissen sie, dass sie immer noch Außenseiter sind, dass sie nicht wirklich akzeptiert oder erwünscht sind. Andererseits können Kleidungsstücke auch die tiefen und verborgenen Realitäten unseres Herzens offenbaren. Wenn wir nach dem Verlust eines geliebten Menschen schwarz tragen, sagt die Farbe, die wir tragen, etwas über den Zustand unseres Herzens aus.

Baruch kennt den Zustand des Herzens der Menschen, an die er schreibt. Sie tragen Gewänder der Trauer und des Elends. Trauernde Witwen tragen Trauerkleider, wenn sie um ihre verlorene Liebe und ihr verlorenes Leben trauern (Gen 38,14.19). Wenn Menschen über begangenes Unrecht zutiefst betrübt waren und ihr Bedauern, ihr Schuldgefühl und ihre Reue zum Ausdruck bringen wollten, trugen sie Sackleinen als Kleidungsstück. (Gen 37,34; 1. Könige 20,31; Esther 4,1-2; Ps 69,11; Jes 37,1). Auch das Elend hatte seine Kleider, wie z. B. die von Aussätzigen getragenen Kleider (Lev 13,45), die die Träger als Ausgestoßene auswiesen.

Aber Baruch schlägt vor, dass es an der Zeit ist, ein festliches Gewand zu tragen. Wie das Hochzeitskleid in Mt 22,11-22 zeigt dies die Bereitschaft, sich auf ein Fest einzulassen, bei dem das Leben und die Liebe gefeiert werden. In der Sprache dieses Bildes steht ein Kleiderwechsel für eine Veränderung des inneren Lebens. Wir sollten den Schritt von der Trostlosigkeit zur Freude, von der Gebrochenheit zur Würde vollziehen.

Dies ist eine adventliche Übung. Die Gewänder sprechen zu uns von einem Gott, der uns auffordert, diese Praxis auszuüben. In unserer herrschenden Kultur geraten wir leicht in einen Kreislauf von Negativität, Bosheit und Klagen. Ich habe eine ganze Reihe von Menschen kennengelernt, die es für äußerst schick halten, alles, was sie erleben, überkritisch zu betrachten. Fast immer ist dies mit einer kaum verhüllten Verachtung für diejenigen verbunden, die sich ein Gewand der Rechtschaffenheit und des Feierns überziehen. Die Hyperkritiker halten sie für naiv, während sie ihre eigene selbstgefällige Kritik für ein Zeichen von Kultiviertheit halten.

Ich erinnere mich an eine solche Begegnung in Belize. Eine Gruppe von Dorfbewohnern kam in die Kirche, um die Sonntagsmesse zu feiern. Sie reisten zu Fuß nach Punta Gorda, und als sie dort ankamen, verschwanden sie hinter den Bäumen und Büschen.  Dann zogen sie ihre staubige Alltagskleidung aus und zogen die schönen, farbenprächtigen Gewänder der Sonntagsfeier an, die sie auf dem Rücken getragen hatten. Erst dann betraten sie die Kirche, um die Eucharistie zu feiern. Ich bewunderte diesen allsonntäglichen Gewandwechsel zutiefst. Ein amerikanischer Tourist wurde ebenfalls Zeuge dieses Vorgangs und bemerkte zu mir. »Sie sind nur glücklich, weil sie zu unwissend sind, um zu wissen, wie schlecht es ihnen geht!« Hier war ein Mann, der alles hatte, was das Leben zu bieten hat, aber er war nicht in der Lage, das Gewand des Kummers und des Elends abzulegen. Er, der allen Luxus besaß, konnte sich nicht an den einfachen Freuden der Menschen um ihn herum erfreuen. Seine Welt war voller reicher Menschen, die versuchten, sich gegenseitig damit zu beeindrucken, dass sie nichts beeindrucken konnte. Der einzige Mensch in der Kirche, der keine großen Sorgen oder Nöte hatte, konnte nicht tun, was diejenigen, die jeden Tag von Sorgen und Nöten gezeichnet waren, mit Freude taten: Sie wechselten das Gewand, um zu feiern, was ihnen gegeben wurde, und um sich in der Erwartung dessen zu freuen, was noch kommen wird.

Das Kleidungsstück in dieser Geschichte spricht zu uns von Gott: Es ist Zeit zu feiern, was gegeben ist. Es ist an der Zeit, sich darüber zu freuen, dass mehr Leben kommt, dass neues Leben kommt, anstatt sich zu beschweren, dass es zu lange gedauert hat, dass es zu spät kam, dass es nicht genug ist, oder dass dieses neue Leben in einer anderen Form hätte kommen sollen.

O Kleid, wohin führst du mich?

Wo werde ich an diesem Adventstag das Gewand der Klage ablegen und das Gewand der Freude und der Dankbarkeit anziehen, damit es alle sehen können?

Wie werde ich meine Freude und mein Vergnügen an den Gaben, die ich erhalten habe, nach außen hin zeigen?

 

 

Erik Riechers

Vallendar, den 5. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Ernte: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Da sagte Jesus  zu seinen Jüngern:

»Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.

Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden.«

Mt 9, 37-38

 

 

 

 

 

Wenn wir auf die Ernte blicken, denken wir meist an Fruchtbarkeit und Fülle. Deshalb danken wir Gott normalerweise jeden Herbst für die Ernte. 

Aber dieses Bild ist viel subtiler, als wir es uns vorstellen, und wenn wir nicht genau hinhören, können wir überhören, was Gott uns zu sagen versucht. Es ist ein Bild, in dem Gott zu uns über Potenzial und Möglichkeiten spricht.

Wenn die Ernte auf den Feldern steht und reichlich vorhanden ist, sehen wir, was gewachsen ist. Aber es ist nie ein Zufall, wenn es eine Ernte gibt. Sie entsteht nicht spontan. Sie wächst unter der Anleitung und Pflege von Menschen, die viel Zeit und Energie investieren, damit es eine Ernte gibt.

Wenn Jesus aufschaut und eine reiche Ernte sieht, bricht er nicht in Jubel aus, sondern warnt. Wo es eine reiche Ernte gibt, muss es auch Arbeiter geben, die sie einbringen. Niemand kann von einer Ernte leben, wenn es kein Ernten gibt, keine Arbeiter, die die Früchte des Feldes ernten und sie an sichere Orte bringen, damit wir sie in Zukunft nutzen können. Eine Ernte, die nicht eingebracht wird, verrottet auf den Feldern. Ernten füllen keine Scheunen, Speisekammern oder Mägen. Das tun die Erntearbeiter. Kein Hunger wurde jemals durch den Anblick eines erntereifen Feldes gestillt.

Als Sohn der kanadischen Prärie hat die Zeit der Ernte eine unauslöschliche Wirkung auf meine Seele. Jeden Herbst erlebte ich, wie die Landwirte um die Ernte besorgt waren. Es war eine Zeit harter Arbeit, in der jeder Tag mit gutem Wetter ausgenutzt wurde, in der mit großen Scheinwerfern gearbeitet wurde, um auch die Nachtstunden für die Weizenernte zu nutzen, und in der ein ständiger Wettlauf stattfand, um vor dem Eintreffen des Winterschnees fertig zu werden. Tief in meiner Seele habe ich eine Lektion gelernt, die die Sprache dieses Bildes der biblischen Geschichten, die zu mir von Gott sprechen, öffnet. Diese Söhne und Töchter des Bodens waren besorgt und getrieben, weil sie wussten, dass eine Ernte zu haben nicht bedeutet, dass man sie nicht durch Nachlässigkeit und Faulheit verlieren kann. Die Erntearbeiter kennen die Weisheit Jesu in ihren Knochen.

Das Bild spricht zu uns von Gott, denn Gott hat den Wunsch, dass wir nicht nur bemerken, dass es auf den Feldern des Lebens, auf den Feldern unseres Herzens, Potenziale und Möglichkeiten gibt, sondern dass wir die Arbeiter sind, die dieses Potenzial und diese Möglichkeiten einbringen. Andernfalls werden sie vergeudet werden.

Wir müssen an dem festhalten, was uns gehört, an dem, wofür wir gearbeitet haben. Wir haben es verdient, und wir sollten das Beste daraus machen wollen. Das ist die Weisheit des Evangeliums, denn es ist die Weisheit Gottes. Vergeuden Sie Ihre Chancen nicht. Der Mann oder die Frau des Evangeliums hat einen Anspruch auf ihre Ernte. Das bedeutet, dass wir an all unseren Möglichkeiten festhalten sollten. Wir halten an unserem Wissen, unserer Erfahrung, unseren Talenten fest, aber auch an unseren Strukturen, Bräuchen und Traditionen, die uns und anderen gute Dienste geleistet haben.

Doch das Bild der Ernte ist noch reicher als diese Perspektive. Denn sobald wir die Ernte eingebracht haben, stellt sich uns eine zweite Frage. Wie werden wir mit unserer Fülle umgehen, mit der Fülle in unserem Glauben, in unserer Kirche und vor allem mit der Fülle in uns selbst? Mit wem werden wir sie teilen? Werden wir sie, wie der Bauer in Lukas 12, 13-21, einbringen und in Scheunen einschließen, oder werden wir auch für andere einen Tisch decken? Wenn die erste Gefahr darin besteht, das Potenzial und die Möglichkeiten, die wir ernten sollten, zu vernachlässigen, dann besteht die zweite Gefahr immer darin, unseren Besitz zu bewahren, das, was mir gehört, in welcher Form auch immer.

Der Grund dafür? Die Angst. Worin liegt diese Angst begründet? Darin, dass wir glauben, an allem festhalten zu müssen, weil es nicht genug Brot und Leben für alle geben wird. Und diese Angst macht uns kleinlich und eng, eng in unserem Denken, eng in unseren Interessen, eng in unserem Handeln und eng in unserem Herzen. Unaufhörlich werden wir also von den zwei Fragen aller Scheunenbauer getrieben: Wie kann ich es für mich behalten? Wie kann ich es von anderen fernhalten?

Wir müssen nicht auf diese Weise leben. Jesus bietet uns eine Alternative. Anstatt größere Scheunen zu bauen, um alles zurückzuhalten, können wir einen Tisch decken und alle einladen. Anstatt unsere Fülle zu verstecken und zu verteidigen, können wir einen Tisch decken, der reich gedeckt ist, wir können vertrauensvoll mit anderen teilen und für sie sorgen.

Das Leben, das Gott uns geschenkt hat, ist voller Potenzial und Möglichkeiten. Wir sollten es nicht vergeuden, indem wir die harte Arbeit des Erntens vernachlässigen. Aber wir sollten es auch nicht verschwenden, indem wir es horten und wegschließen, wo nur einige wenige Privilegierte davon leben können.

Ernte, wohin führst du mich?

Wo gibt es eine Fülle in mir, die ich nicht ernte?

Mit wem werde ich die Fülle teilen, die ich an diesem Adventstag geerntet habe?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 4. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Der Baumstumpf Isais: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.

Jes 11, 1

 

Der Baumstumpf Isais ist eines der bekanntesten Bilder der Adventszeit. Er erklingt in unseren Kirchenliedern wie »Es ist ein Ros entsprungen« und erstrahlt in vielen Kunstwerken, die einen Stammbaum darstellen, der von David zu Jesus führt. Seit dem Mittelalter gibt es die Tradition des Jesse-Baums, bei der die kahlen Zweige eines Baums an jedem Dezembertag mit einem Symbol geschmückt werden, das die große biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Geburt Jesu Christi darstellt. Aber was versucht Gott uns mit einem Baumstumpf zu sagen?

Kontemplation in biblischen Geschichten bedeutet, dass wir bereit sind, einen langen, liebevollen Blick auf das Reale zu werfen. Beginnen wir unseren Adventstag mit der Betrachtung eines Baumes, indem wir einen langen, liebevollen Blick auf seine Realität werfen. Denken wir an seine Größe, wie er da steht, in all seiner Pracht. Beachten Sie seine Schönheit und seine Größe, wenn sich seine Äste ausbreiten. Schauen Sie sich die Zweige an, die Blätter, die sie tragen und vielleicht die Blüten, die sie tragen. Und dann ist da noch der Schatten, den er spendet. Es gibt Menschen, die unter seinen Zweigen Schutz vor Regen und Hitze suchen. Es gibt Vögel, die in den Zweigen des Baumes Obdach und ein Zuhause finden.

Stellen Sie sich nun vor, was passiert, wenn dieser Baum nur noch ein Stumpf ist. Das ist das Bild, das uns von einem großen und bedeutenden Verlust erzählt. Ein Stumpf ist ein Baum, der seiner Herrlichkeit beraubt wurde. Die atemberaubende Pracht ist verloren, die Schönheit beendet. Der Raum, den er einst ausfüllte, ist auf einen Bruchteil seiner früheren Größe reduziert worden. Seine Äste sind verschwunden, so dass nichts mehr übrig ist, was Blätter, Blüten und Fruchtbarkeit aufrechterhalten könnte. Es gibt keinen Schatten mehr, und der Baumstumpf selbst liegt nun immer bloßgestellt. Die Menschen, die einst unter den Armen des Baumes Zuflucht suchten, sind nun ungeschützt und den Elementen ausgesetzt. Die Vögel haben ihren Zufluchtsort und ihr Zuhause verloren. Der Baum ist nicht länger ein Ort des Trosts.

Es ist immer traurig, einen Baum verdorren und sterben zu sehen, aber das ist es, was die Natur letztendlich aus den Bäumen macht. Ein Stumpf ist das, was der Mensch aus den Bäumen macht. Wir fällen sie. Wir reduzieren sie auf eine Hülle ihrer früheren Pracht.

Jetzt, wo wir tief in die Sprache des Baumstumpfs eingetaucht sind, können wir hören, was Gott uns sagen will. So belassen, würde das Bild von einem verheerenden, hoffnungslosen Verlust von so vielem sprechen, was das Leben lebenswert macht. Aber in der Geschichte Gottes nimmt dieses Bild eine ganz andere Gestalt an. Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Jesaja nimmt dieses Bild der Verwüstung und spricht zu uns von Hoffnung. Es ist eine Lektion für das tiefe Herz, die uns daran erinnert, dass Gott an Orten, an denen wir nur Verlust und Zerstörung erwarten, zu uns von Hoffnung sprechen kann.

Der Stumpf Isais spricht zu uns von Gott, weil er ein kleines, aber starkes Zeichen setzt. Wann immer wir die Fülle unseres Lebens auf einen Stumpf reduzieren, wann immer wir unser Leben beschneiden, kann das nicht die Kraft des Lebens auslöschen, die von unserem Gott ausgeht, den Lebensatem, den er seit Anbeginn der Schöpfung in uns hineinhaucht. Die Kraft Gottes, Leben hervorzubringen, kann nicht gebrochen werden, auch wenn wir es sind, die die Bäume zu Stümpfen machen.

Dies ist auch ein Bild des Trotzes, das einen Gott enthüllt, der sich weigert, selbst massive Verluste und Verwüstungen das letzte Wort haben zu lassen. Der Baumstumpf Isais ist die Sprache Gottes, denn wo immer wir diese Baumstümpfe finden, begegnen wir Gott in dem beharrlichen, sturen, unverwüstlichen Drang, ins Leben durchzubrechen.

Jeden Sommer sehe ich Menschen, die ihre Bürgersteige und Einfahrten von Unkraut und Gras befreien, das durch die Ritzen und Spalten der Pflastersteine sprießt. Ich sehe sie dort knien und mit Messern tief schneiden, um die Wurzeln auszukratzen. Ich sehe einige mit kleinen Flammenwerfern, um sie zu Asche zu verbrennen, während andere Unkrautvernichter in die Ritzen schütten. Wissen Sie, was ich auch sehe? Ich sehe dieselben Menschen, die sich ein Jahr später der gleichen Aufgabe stellen, und das Jahr darauf, und das Jahr darauf.

Wir können manchmal brutale Zerstörer sein, wenn das Leben dort erscheint, wo wir es nicht wollen oder wo es uns nicht passt. Das gilt auch für das Leben in uns selbst. Es gibt Stellen des inneren Lebens (Sehnsüchte, Wünsche und Talente), die wir zu einem Stumpf gemacht haben, die wir zerstört haben, weil wir sie für unpassend oder nicht mehr notwendig hielten. Dort werden wir einen Spross der Hoffnung und des Lebens entdecken, der durchbricht, einen Zweig, der sich ausstreckt, um eine neue Fruchtbarkeit zu bringen. Wenn man ihn sieht, begegnet man dem verschmitzten Grinsen, das das Gesicht Gottes erhellt, wenn er das Leben mühelos wieder dorthin zurückkehren lässt, wo ER es will. Im Advent geht es um das Kommen Gottes. Nun, der Stumpf Isais erzählt uns von einer der mächtigsten Arten, wie er kommt.

 

Baumstumpf Isais, wohin führst du mich?

Wo habe ich die Fülle des Lebens abgeschnitten, bis nur noch ein Stumpf übrig war?

Wo habe ich Leben jenseits des Verlustes erfahren, eine fruchtbare Zukunft jenseits der Verwüstung?

Wenn aber die Triebe erscheinen und die Zweige in meinem Leben sprießen, werde ich die Hand ausstrecken und das Gesicht Gottes streicheln?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 3. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Tore: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

An jenem Tag singt man in Juda dieses Lied: Wir haben eine befestigte Stadt, zu unserem Schutz baute der Herr Mauern und Wälle.

Öffnet die Tore, damit ein gerechtes Volk durch sie einzieht, ein Volk, das dem Herrn die Treue bewahrt.

       Jes 26, 1-2

 

Wenn Tore oder Türen in einer biblischen Erzählung erscheinen, sprechen sie zu uns über die Art, wie wir Kontrolle in unserem Leben üben. Und wo das Bedürfnis nach Kontrolle in uns wach wird, da ist Vertrauen die Frage. Je größer das Vertrauen, umso weniger üben wir Kontrolle. Aber je geringer unser Vertrauen, umso mehr üben wir Kontrolle.

Die Tore sind eine Kontrollinstanz. Dort bestimmen Menschen, wer und ob jemand eingelassen wird. Tore sind der Ort, wo wir entscheiden, wen wir ausschließen werden und keinen Zutritt gewähren. Wo setzen wir Schloss und Riegel ein, wenn nicht in unseren Türen? Es geht um Kontrolle.

Diese Übung von Zugang und Ausschluss geschieht tagtäglich. Offene Türen signalisieren die Bereitschaft angesprochen zu werden. Die geöffnete Tür bietet Menschen Raum und Zeit für Begegnungen. Dagegen signalisieren verschlossene Türen, dass wir keine Zeit haben, dass wir nicht gestört werden wollen oder keine Lust haben für ein Gespräch oder eine Begegnung.

Hier aber sollten die Tore geöffnet werden, um Zugang zu  gewähren. Die Sprache des Bildes sagt uns, dass unser Gott uns nicht ausschließen sondern einladen möchte. Er will dass wir hineinkommen. Hier ist der Gott, der Raum und Zeit schafft für seine Menschen. Wir werden von ihm nicht als lästige Plage gesehen, sondern als ersehnte Besucher, Gäste und Freunde.

Die Menschen singen in Juda: »Wir haben eine befestigte Stadt, zu unserem Schutz baute der Herr Mauern und Wälle. Wenn wir Angst haben und uns unsicher fühlen, dann brauchen wir Kontrolle. Mauern und Wälle geben uns Schutz. Und Gott ist bereit, uns diesen Schutz zu schenken. Immerhin baute er uns Mauern und Wälle. Gleichzeitig nehmen diese Mauern und Wälle etwas, nämlich Weitblick und Offenheit. Wenn Weitblick und Offenheit fehlen, dann werden wir auf Dauer immer nur ängstlicher und enger, denn wir schließen uns in unserer kleinen erstickenden Welt des Schutzes ein. Darum hat Gott auch Tore in die Mauern gebaut und jetzt besteht er darauf, dass sie geöffnet werden. Sonst werden wir die Gefangenen unserer Sicherheitsbedürfnisse.

In den Tagen von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen reden wir zu wenig von offenen Toren. Wir haben Schutz notwendig in einer Pandemie, aber Gott vergisst nie die andere Seite der Erfahrung. Was wir zum Schutz der Gesundheit tun, persönlich und für andere, sollte uns nicht zu Gefangenen der Angst machen. Auch in dieser Zeit sollten wir Wege suchen die Tore aufzumachen und anderen das Zeichen geben, dass wir offen sind für ein Gespräch und für ihre Anliegen.

Schließlich sprechen die Tore zu uns von einem Element des Advents, das wir leicht vergessen. Wir sprechen unaufhörlich von dem Gott, der kommen wird. Aber das Bild der Tore warnt uns, dass der Gott, der kommen wird, wesentlich größer ist als das, worauf wir uns vorbereiten. In Psalm 24 singen wir: »Ihr Tore, hebt eure Häupter, / hebt euch, ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit!« Wenn wir unsere Tore und Türen bauen, denken wir daran, was durch sie hindurchgehen soll. Wenn wir eine Person mit einem Rollstuhl im Haus haben, machen wir die Türen ein wenig breiter. Wenn wir die Türen der Lieferungshalle der Firma brauchen, um den Zugang zu großen Transportkisten zu ermöglichen, dann machen wir die Tore deutlich höher. Der Psalmist will uns damit sagen, dass wir bei der Vorbereitung auf den König der Herrlichkeit seine Größe unterschätzt haben. Derjenige, der kommen soll, ist größer als unsere Vorstellungskraft, größer als unsere Engstirnigkeit, größer als unsere Ängstlichkeit und größer als das, was wir ursprünglich bereit waren zu empfangen. Wenn es jemals eine wichtige Aufgabe im Advent gab, dann ist es diese: Wir müssen unser Willkommen, unsere Offenheit und Zugänglichkeit für Gott erweitern.

 

Ihr Tore, wohin führt ihr mich?

Welche Türe werde ich heute öffnen, damit das Volk Gottes sich mir nähern kann?

Welche Türe lasse ich offen stehen?

Wem signalisiere ich heute Gesprächs- und Begegnungsbereitschaft?

Wo muss ich weiter werden und mich auf einen Gott einstellen, der überraschend größer ist als ich es mir vorstellte in meinen Gottesbildern?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 2. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Das Festmahl: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen.

                                  Jes 25, 6

 

Das Bild des Festmahls ist unzertrennlich von einem reich gedeckten Tisch. Ein Festmahl findet nicht an einer Imbissbude statt und ist auch nicht ein Picknick. Es ist ein Bild der Großzügigkeit, denn ein reichgedeckter Tisch entsteht immer nur, wenn ein Mensch bereit ist, anderen zu gönnen, was er schon besitzt. Bei einem Festmahl geht es um die Großherzigkeit, die keine Angst hat zu teilen, denn das, was dem Geber gehört, stellt er allen Gästen zur Verfügung. Das, was ihn allein nähren könnte, wird jedem angeboten als Nahrung und Sättigung. Das, was er alleine genießen könnte, das können jetzt alle auskosten und sich daran ergötzen. Niemand hält ein Festmahl, der Angst davor hat, dass andere ihm zu viel nehmen könnten.

Das Bild des Festmahls spricht zu uns von einem Gott, der überhaupt keine Berührungsängste hat mit seinen Menschen und ihrem Hunger. Hier spricht das Bild zu uns von Gott, und es sagt uns: Menschen, wo ich in einer Erzählung erscheine, da spreche ich von einem Gott des Gönnens. Dieser Gott gönnt euch Leben.

In Psalm 23 singt der Psalmist: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.« In biblischer Erzählung ist der Feind immer erkenntlich an einer Haltung: der Feind ist der Mensch, der den anderen kein Leben gönnt. Aber unser Gott deckt uns einen Tisch vor den Augen derer, die uns nichts davon gönnen würden. Er stellt uns alles zur Verfügung, was wir brauchen, um Leben zu erhalten und zu genießen. Das tut er vor den Augen unserer Feine, das heißt, er bekennt sich öffentlich zu uns und macht keinen Hehl daraus, dass er uns gegenüber ein offener, gebender und gönnender Gott ist.

Bei diesem Festmahl kommt auch das Beste auf den Tisch. Gott holt das Feinste, Edelste, was er anzubieten hat, heraus und stellt es uns zur Verfügung. Es ist »ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen«. Er bietet uns keine Billigware an. Er deckt den Tisch nicht mit dem, was ihn am wenigsten kostet. Die besten feinsten Speisen sind eben keine Schnellgerichte. In dem Film Go Trabbie Go kommt die Familie aus der ehemaligen DDR zu Besuch bei den Verwandten im Westen. Die Verwandten sehen, wer vor der Tür steht und der Vater sagt zu seinem Sohn: »Alphons, abräumen!« Und sofort wird der reichgedeckte Kaffeetisch abgeräumt. Die Torte verschwindet in einem Schrank. Auf den Tisch kommen ein Paar Nüsse und eine Schale mit geschrumpften Äpfeln. Die reichen Gastgeber haben nur Angst, dass die Gäste ihnen zu viel wegnehmen. Noch schlimmer wenn es ihnen schmeckt, dann könnten sie ja länger bleiben wollen.

Um ein Festmahl so zu gestalten, zeigt Gott eine besondere Liebe für uns, denn alles, was er anbietet, verlangt eine längere Herstellungszeit, mehr Vorbereitung und deutlich mehr Aufwand. Wenn Gott den Tisch deckt, sagt er uns, dass es sich für ihn lohnt, Zeit, Vorbereitung, Anstrengung und große Mühe unseretwegen aufzubringen. Und er hofft, dass es schmeckt, denn er will uns nicht wieder so schnell wie möglich loswerden.

Wie erzählt es John Shea so schön und zärtlich?

Für Jesus war jede Person ein Gast.

Eine Einladung ging von dem Herzen des Lebens aus

an jedes Herz, das im Leben steht,

denn diskriminiert der Regen,

oder hat die Sonne Favoriten?

Seine Stimme war die Musik des Willkommens

in den Ohren der Ablehnung;

seine Gegenwart ein silbernes Platzgedeck in den Slums,

mit leinenen Servietten auf dem Schoß von Aussätzigen

und delikatem Porzellan, Teetassen

gebettet auf Schwielen,

ihre dünnen Ränder gepresst zwischen Lippen,

dick und mit Blasen übersät vor Durst.

 

Festmahl, wohin führst du mich?

Wo und mit wem werden wir eine Spiritualität des Gönnens üben?

Wem werden wir an diesem Adventtag etwas gönnen, ein Angebot machen, in dem klar wird, dass wir bereit sind, das, was unsers ist, anderen zur Verfügung zu stellen?

Für wen werden wir das Beste aus uns herausholen und nicht das, was gerade reicht?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 1. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen

 

Zur Einführung:

 

In seinem Buch »Bericht an Greco« erzählt Nikos Kazantzakis eine sehr einfache und kurze Geschichte. »Ich sagte zu dem Mandelbaum: 'Schwester, sprich zu mir von Gott.' Und der Mandelbaum blühte auf.«

 

In seinem Buch »Stories of Faith« (Geschichten des Glaubens), schreibt John Shea, die Narrative Theologie »beobachtet die subtilen Bewegungen der religiösen Sprache bei der Bildung von Persönlichkeit und Gemeinschaft, schätzt die Bibel mehr für Bilder als für Gedanken«. Aber wir werden die Bilder der biblischen Geschichten erst dann wirklich schätzen, wenn wir zutiefst daran glauben, dass sie zu uns von Gott sprechen.

Aber wie schätzt man ein Bild mehr als einen Gedanken? Rabbi Hisba schrieb einmal: »Ein Traum, der nicht gedeutet wird, ist wie ein ungeöffneter Brief (von Gott).« Da die Geschichten von Gott und die Geschichten des Glaubens voller Bilder sind, sind sie ein wesentlicher Bestandteil unseres Gesprächs mit Gott. Aber das Gespräch beginnt immer dann, wenn wir anfangen zu deuten, was Gott uns in den Bildern, mit denen er unser Leben beschenkt, sagt. Ein Bild, das nicht gedeutet wird, ist also wie ein Gespräch mit Gott, auf das wir uns nicht einlassen wollen.

Die Schrift ist die tiefste Sprache der Seele. Sie ist voll von Archetypen, Metaphern und universalen Bildern. Darum ist eine wortwörtliche Auslegung der Schrift extrem verarmend. Joseph Campbell hat das schon vor Jahrzehnten erkannt: »Die Hälfte der Menschen auf der Welt hält zum Beispiel die Metaphern ihrer religiösen Traditionen für Tatsachen. Und die andere Hälfte behauptet, dass sie überhaupt keine Fakten sind. Folglich gibt es Menschen, die sich als gläubig bezeichnen, weil sie Metaphern als Fakten akzeptieren, und andere, die sich als Atheisten bezeichnen, weil sie religiöse Metaphern für Lügen halten.«

Die reiche Vielfalt der Bilder der biblischen Geschichten ohne Auslegung zu lassen, bedeutet, einen herrlichen, üppigen und beglückenden Teil des Gesprächs mit Gott zu verpassen. Unsere tägliche Erfahrung lehrt uns das. Wenn ein Mensch sagt, dass er auf uns aufpassen wird, sind wir froh und getröstet. Aber wenn jemand sagt: »Ich werde mich selbst als Wächter auf die Mauern deines Herzens setzen«, dann bewegt uns das in die Sprache der Seele und eröffnet Gefühle und Erfahrungen, die tiefer, wärmer und kraftvoller sind, als es deklarative Sprache je sein kann.

Religiöse Sprache muss das wecken, was schon in uns ist, muss unsere Seele erreichen. Die Mystiker haben es so beschrieben: Wenn Gott die Seele in den Körper legt, ist das letzte was er tut, die Seele zu küssen. Für Ewigkeit erinnert sich die Seele unbewusst an diesen Kuss. Und sie schätzt alles (Güte, Wahrheit, Liebe, Schönheit) durch die dunkle Erinnerung an diesen Kuss.

Die Tage des Advents sind voll von biblischen Bildern. Das liegt daran, dass Gott uns in ein Gespräch von größerer Tiefe, Wärme und Trost mit ihm ziehen will. Anstatt den Brief ungeöffnet liegen zu lassen, werden wir jeden Tag ein Bild öffnen, es auslegen, Bedeutungsebenen entdecken und uns dann für die täglichen Adventsbegegnungen in unseren Lieben öffnen, zu denen uns das Bild locken will. An jedem Bild werden wir die Bitte aussprechen: 'Schwester, sprich zu mir von Gott.' Und wenn die Bilder blühen, vielleicht werden wir dann an diesen Kuss Gottes erinnert und werden wieder alles  schätzen lernen, was gut, wahr, liebevoll und schön im Leben zu finden ist.

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 30. November 2021

Nächster Abschnitt
Nächster Abschnitt

Auf Wiedersehen!

»Bleiben Sie behütet!« riefen wir Ihnen 16 Monate lang zu. So versuchten wir 68 Wochen lang, mit Ihnen und untereinander in Verbindung zu bleiben und Worte der Ermutigung und des Nachdenkens zu teilen. Alle mehr als 300 Impulse stehen Ihnen hier weiterhin zur Verfügung.

Auf Sound Cloud unter dem Link https://soundcloud.com/user-507746930 veröffentlichten wir alle 10 Shea Kurse 2020 und auch die bisherigen 6 Vorträge dieses Jahres. Auch sie sind jederzeit weiter hörbar.

Und schließlich kamen auf diesem Weg auch die Brunnentage des ersten Halbjahres 2021 jeden Monat zu Ihnen.

Die Elemente der einzelnen Brunnentage 2020 wie auch die tägliche Begleitung durch die Advents- und Weihnachtszeit haben viele von Ihnen als E-Mail erhalten.

So sind wir selbst erstaunt und dankbar, wie reichhaltig diese an persönlichen Begegnungen so arme Zeit für uns alle war. Dies bestärkt uns in der gläubigen Zuversicht, dass es sich immer lohnt, mutig und kreativ nach Möglichkeiten zu suchen, auch wenn zunächst alles so unmöglich zu sein scheint.

In diesem Sinn gehen wir weiter - verbunden mit dem ermutigenden Wunsch: »Bleiben Sie behütet!«

 

Vallendar, den 14.Juli 2021

Rosemarie Monnerjahn und Erik Riechers SAC

 

Nächster Abschnitt

Einführung

Ein Lied für die Wallfahrt. Ich erhebe meine Augen zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat. Er lässt deinen Fuß nicht wanken; dein Hüter schlummert nicht ein.  Siehe, er schlummert nicht ein und schläft nicht, der Hüter Israels. Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten zu deiner Rechten. Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht. Der Herr behütet dich vor allem Bösen, er behütet dein Leben. Der Herr behütet dein Gehen und dein Kommen von nun an bis in Ewigkeit.

 

In Psalm 121 wird das Wort »shamar« sechsmal in acht Versen gebraucht. Das Wort ist vielschichtig und bedeutet, etwas oder jemanden zu behüten, zu schützen, zu achten (oder in Ehren zu halten).

Gebeutelt von der Krise des Corona-Virus sehnen sich viele Menschen danach, behütet, geschützt und beachtet zu werden. Diesen Wunsch greifen wir auf in dem Titel »Bleiben Sie behütet«. Und nicht nur als etwas, was wir gerne für uns hätten, sondern als etwas, dem wir bereit sind zu dienen. 1908 organisierte sich in Palästina eine Gruppe unter dem Namen »HaSchomer«. Diese Gruppe schützte ihre Nachbarn als Wächter oder Behüter der jüdischen Siedlungen, die damals neu gegründet worden waren. Sie haben sie achtsam bewahrt und beschützt vor den Angriffen derer, die das Land nicht mit ihnen teilen wollten.

Schon in den ersten Tagen dieser Krise hörten wir Geschichten von Hamsterkäufen und Corona-Parties. In einigen Menschen herrscht der Impuls, »jeder für sich« und »rette sich, wer sich retten kann«. Als Menschen des Glaubens, als Menschen Gottes, müssen wir ein Zeichen dagegen setzen. »Bleiben Sie behütet!« soll unser Ruf werden in dieser Zeit. Schützen wir einander, achten wir aufeinander. Dazu sollen unsere Impulse dienen.

In Gen 4,9 wird erzählt: »Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter (shamar) meines Bruders?« Unsere Antwort sollte sein, dass wir »HaSchomer« füreinander sein wollen.

 

Bleiben Sie behütet!

Vallendar, den 21.März 2020

Erik Riechers SAC

Rosemarie Monnerjahn

 

* Unter dem Datum des 2. November finden Sie unsere weiterführenden Gedanken zu »Atem für den langen Marsch«!

Nächster Abschnitt

»Bleiben Sie behütet«: Hin und zurück

 

Als im März 2020 die Pandemie über uns hereinbrach, wussten wir in Siebenquell, dass wir diesen Moment nicht unbegleitet lassen konnten. So begannen wir die Reihe der Impulse »Bleiben Sie behütet«.  Dass wir 16 Monate später immer noch daran arbeiten würden, konnten wir nicht ahnen.

Wir fragten uns schon seit einiger Zeit, wann der geeignete Moment wäre, diese Begleitung zu beenden. Mit dem allmählichen Abklingen der Krise denken wir, dass die Zeit gekommen ist, diesen langen und abenteuerlichen Weg abzuschließen.

Wenn wir zurückblicken, fällt uns auf, dass unser gemeinsamer Weg interessante und häufige Parallelen zu einem Buch aufweist, auf das wir bei unserer Arbeit oft zurückgegriffen haben, nämlich Der Hobbit von J.R.R. Tolkien. Der oft vergessene Untertitel des Buches ist bezeichnend: »Hin und zurück«.

Wie Gandalf an Bilbo Beutlins Tür klopfte, so klopfte ein Abenteuer an unsere Tür, unerwartet, nicht eingeladen und unwillkommen. Unsere Reaktion war ähnlich wie die Bilbos: »Wir sind alle einfache, ruhige Leute und haben für Abenteuer nichts übrig. Dabei hat man nur Ärger und Scherereien! Man kommt nicht mal mehr rechtzeitig zum Essen!«

Aber dieses Abenteuer, wie alle echten Abenteuer, kam auf der Suche nach uns. Wir hatten uns daran gewöhnt, das Abenteuer als etwas zu betrachten, das wir uns aussuchen, das wir wollen und auswählen, je nach unseren Wünschen und Bedürfnissen. Die biblische Erzählung hingegen versteht das Abenteuer als etwas, das uns auswählt (oder sogar verfolgt). Die wahren Abenteuer des Lebens brechen in unsere glatten Geschichten ein.

Wie Tolkien es später in seiner Trilogie »Der Herr der Ringe« so treffend formuliert: »Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.« Das ist eine Erfahrung, die uns in diesen langen Monaten von Corona kaum fremd war.

Und diese 16 Monate des »Bleiben Sie behütet« waren eine intensive Zeit des Lernens, was es wirklich bedeutet, nicht in echter Gemeinschaft zu leben. Tolkien hatte eine fast pathologische Abneigung gegen heroische Bilder des einsamen Kriegers. Alles Heroische, das er in seinem Leben erlebt hat, hat er in der Gemeinschaft von Gefährten erfahren. Im Ersten Weltkrieg lernte er, dass Menschen Abenteuer nicht als Einzelkämpfer überleben. Die Kriegspropaganda zeigte immer Bilder des heroischen Einzelkämpfers, aber in der Schlacht zählte die Kameradschaft. Daher Tolkiens allgegenwärtiger Schlachtruf: Nicht ohne Gefährten! In seinen Büchern gibt es keine Helden, die ohne Gefährten losziehen. Und Tolkien erzählt immer wieder Geschichten, in denen sie sich gegenseitig brauchen, ergänzen und bereichern. Es gibt keine Abenteuer im Leben, die wir ohne Gefährten auf der Reise erfolgreich bewältigen können.

Wir haben diese Geschichte erzählt, ja, diese Geschichte gelebt. Hunderte von Malen haben wir uns an Sie gewandt, nicht nur, um Sie stark und widerstandsfähig zu halten, sondern auch, um uns selbst fokussiert, motiviert und vital zu halten. Wir wollten nichts sehnlicher, als mit unseren Leuten verbunden zu bleiben. Und wir waren uns auch gegenseitig gute Wegbegleiter, denn wir schrieben und reflektierten und veröffentlichten in Tagen, die dunkel waren, aber zu dunkel geworden wären, wenn wir versucht hätten, sie allein zu bewältigen. Die E-Mails, die Worte der Ermutigung, die Worte der Anerkennung und Dankbarkeit, die wir an Sie schrieben, wie auch die, die wir von Ihnen erhielten, waren offensichtliche Beispiele für das tiefe biblische Gebot: Nicht ohne Gefährten.

Im Laufe seiner großen Erzählung gab Tolkien Bilbo und seinen Gefährten ihre eigenen Sprichwörter und Gleichnisse sowie die Worte von Weisen und Rätseln. Überall im Buch gibt es Gedichte und Lieder. Oft werden sie als Verse aus einer alten und verehrten Tradition zitiert, als das, was von den Geschichtenerzählern von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Tolkien geht es nie um verborgene Weisheiten oder geheimes Wissen, das nur von einigen wenigen Auserwählten und Privilegierten erreicht werden kann. Er spricht immer von dem, was schon lange offenbart und bekannt ist, aber dann so leicht vergessen wurde.

Auch das ist unsere Erfahrung gewesen. Wir haben immer wieder die wirklich wichtigen Themen benannt und angesprochen, die uns alle bekannt sind, wenn wir nur ehrlich schauen und bewerten, was in unseren Herzen ist. Und doch werden sie im Laufe des gedankenlosen täglichen Lebens so leicht vergessen. Wir haben uns bemüht, die wesentlichen Angelegenheiten des menschlichen Herzens inmitten der Krise anzusprechen. Deshalb haben wir die Geschichten erzählt, die ermutigen, erinnern und aufwecken. Wie Bilbo und seine Gefährten haben wir die Lieder geteilt, die unsere Herzen stärken und neuen Mut für die nächste Etappe dieser langen Reise geben. Wir haben unsere Lieblingsgedichte geteilt, in der Hoffnung, dass das, was uns ermutigt hat, auch Ihnen Mut macht. Wir haben eine tiefe biblische Wahrheit kennengelernt, die Tolkien so ausdrückt: »Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung«.

Doch wenn Tolkien zum Ende seiner Geschichte kommt, geschieht etwas Seltsames. Während der gesamten Geschichte ist Bilbo oft von Heimweh nach seinem ruhigen Auenland erfüllt, wo alles bequem, vertraut und friedlich ist. Bei mehreren Gelegenheiten macht er überdeutlich, dass er es nicht erwarten kann, nach Hause zu gehen und sein altes Leben wieder aufzunehmen.

Doch als das Abenteuer vorbei ist und er tatsächlich wieder in seinem geliebten Auenland ist, ist seine Erleichterung nur von kurzer Dauer. Sobald alles wieder »normal« ist, stellt er fest, dass »normal« seinen Reiz verloren hat. Eine der Lektionen von »hin und zurück« ist, dass man, wenn man einmal »hin« gegangen ist, nicht als dieselbe Person, als die man aufgebrochen ist, »zurück« kommen kann. Das Abenteuer hat Bilbo verändert. Die Erfahrungen haben ihn nicht nur herausgefordert, sie haben ihn auch geprägt. Ein neues Heimweh erfüllt ihn, vor allem nach den Gefährten seiner Reise. Die Menschen um ihn herum teilen seinen Lebensstil, seine Annehmlichkeiten und seine Vergnügungen. Aber seine Weggefährten teilten seine Kämpfe und seine Zweifel, sie trugen ihn über seine Unzulänglichkeiten hinweg, drängten ihn, seine Selbstzweifel zu überwinden, weinten mit ihm bei gemeinsamen Verlusten und feierten mit ihm die gemeinsam erreichten Erfolge. Was er vermisst, ist die gemeinsame Sache.

Wir sind hin und zurück gegangen. Es ist unser Wunsch für Sie alle, dass wir Ruhe finden und uns von den anstrengenden Monaten, die wir hinter uns haben, erholen können. Es ist ebenso unsere Hoffnung, dass wir das Beste, das diese Reise in uns hervorgebracht hat, vermissen werden, dass wir nicht wieder in das Leben zurücksinken, wie es war, sondern die Unruhe spüren, die uns daran erinnert, dass es größere Dinge gibt als unseren Komfort und unsere Sicherheit. 

Natürlich weiß ein meisterhafter Geschichtenerzähler wie Tolkien um die wahre Natur des Abenteuers. Wir wissen nie, wann das nächste Abenteuer an unsere Tür klopfen wird. Sollte die Pandemie oder irgendeine andere Krise mit größerer Gefahr oder Wucht zurückkommen, werden Sie in uns willige, bereite und fähige Begleiter finden.

Wir möchten Sie mit dem letzten Lied aus dem Hobbit verlassen. Bilbo ist am Ende seiner Reise zurück ins Auenland angelangt. Als er die Spitze einer Anhöhe erreicht, sieht er in der Ferne seine Heimat, hält an und singt:

 

»Die Straße gleitet fort und fort,

Weg von der Tür, wo sie begann,

Weit überland, von Ort zu Ort,

Ich folge ihr, so gut ich kann.

Ihr lauf ich raschen Fußes nach,

bis sie sich groß und breit verflicht

Mit Weg und Wagnis tausendfach.

Und wohin dann? Ich weiß es nicht.

 

Die Straße gleitet fort und fort

Durch Berg und Schlucht, durch Feld und Tann,

Bald säumend hier, bald eilend dort,

Hin zu der Tür, wo sie begann.

Das Aug, das Feuer sah und Schwert,

Gefahr und Greuel ohne End,

Nun schaut es wieder, heimgekehrt,

Baum, Bach und Hügel, die es kennt.« 

 

An guten und an schlechten Tagen und an jedem Tag dazwischen, bleiben Sie behütet.

 

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

11. Juni 2021

 

 

Und, natürlich, eine Geschichte

 

Eine kleine abschreckende Geschichte mag uns helfen, ein Gefühl für die Bedeutung des Sabbats für uns beim Wiederaufbau unserer Welt nach der Pandemie zu bekommen.

Ein ernsthaftes junges Mädchen namens Anastasia war entschlossen, ein erfülltes und reiches geistliches Leben zu führen. Mittelmäßigkeit in Gebet, Anbetung und religiösen Praktiken waren ihr nicht mehr gut genug. Also verließ sie die Stadt, in der sie aufgewachsen war, und suchte einen großen spirituellen Lehrer namens Ambrosius auf. Vor ihm trug sie ihren Fall vor und schüttete ihm ihren innigen Wunsch aus, eine Schülerin tiefen Glaubens und tiefen Gebets zu werden. Doch der alte Mann war äußerst unwillig, die Verantwortung zu übernehmen, sie zu dem Leben zu führen, das sie sich wünschte. Sie versprach ihm Engagement und Gehorsam, Eifer und Hingabe, aber nichts konnte den alten Meister umstimmen. Schließlich fragte er sie: »Alles, was du versprichst, ist schön und gut, aber ich habe nur eine Frage an dich. Wirst du auf die Weisheit hören, wenn sie keinen natürlichen Reiz für deine Seele hat?« Sie versicherte Ambrosius, dass sie immer auf weisen Rat hören würde, auch wenn er unangenehm und unsympathisch sei, und war erfreut, als er sie als seine Schülerin annahm.

Das nächste Jahr ihres Lebens war sehr anspruchsvoll und eine ständige Herausforderung, aber Anastasia liebte es. Sie liebte alles am Leben einer spirituell Suchenden, die langen Stunden des Gebets und der Meditation, die einfachen Arbeiten des Tages, die Herrlichkeit der Anbetung und die verblüffende Schönheit der Geheimnisse, die in den Kursen und den Büchern enthüllt wurden. Sie liebte das alles.

Eines Tages rief Ambrosius sie zu sich und begann sie über die Entwicklung und Tiefe ihres Gebetslebens zu befragen. Sie beschrieb ihm die reiche Vielfalt des Gebets, die sie trug, besonders das Gebet der Psalmen. Der Meister hörte schweigend und aufmerksam zu und gab ihr dann eine neue Anweisung. Von diesem Tag an sollte sie das Jesusgebet beten, eine einfache, ständige Wiederholung des Namens Jesu. Nichts hätte Anastasia mehr missfallen können. Widerwillig begann sie zu beten, wie es ihr aufgetragen wurde. Doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschwerte sie sich über Ambrosius' Anweisung und folgte heimlich ihrem eigenen Rat. Schließlich, so argumentierte sie vor sich selbst, war dieses einfache Gebet lächerlich einfach und entbehrte jeder Herausforderung für eine Person, die so engagiert und fortgeschritten im geistlichen Leben war wie sie.

Mehrere Wochen vergingen, und schließlich rief Ambrosius die junge Frau erneut zu sich. Diesmal ging er mit ihr durch die Obstgärten, unter den Bäumen hindurch und hielt schließlich am Ufer des Flusses inne. Während des gesamten Spaziergangs trug er einen großen Sack, den er sich über die rechte Schulter gehängt hatte. Am Ufer des Flusses reichte er Anastasia schließlich den Sack und sagte ihr, es sei ein Geschenk für sie. Darin befand sich ein erstaunlich schöner Mantel, handgewebt aus feinster Wolle und exquisit warm. Die Frau war fassungslos über das üppige Geschenk und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dann sprach Ambrosius.

»Kind«, sagte er, »der Mantel gehört dir unter einer Bedingung. Du musst ihn anziehen und dann ans andere Ufer des Flusses schwimmen«.

Verwundert über die scheinbar alberne Bedingung, zog Anastasia den warmen Mantel an und begann, über den Fluss zu schwimmen. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn die warme, dicke Wolle hielt die Kälte des Wassers von ihr ab.

Doch während sie schwamm, begann der Mantel das Wasser aufzusaugen und er wurde mit jedem Armzug schwerer. Ihre Kräfte begannen zu schwinden, als das bleierne Gewicht des Mantels sie auf den Grund des Flusses hinunterzog. In ihrer Verzweiflung riss sie die Knöpfe auf und ließ den schönen Mantel in die aufgewühlten schwarzen Tiefen des Flusses sinken. Mühsam kämpfte sie sich zurück ans Ufer und schaffte es schließlich, sich keuchend vor Anstrengung aus dem Wasser zu ziehen.

Ambrosius blickte schweigend auf sie herab. »Verstehst du jetzt?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, er seufzte und kniete sich neben die zitternde Schülerin. »Die Lektion ist wichtig, Kind. Wir müssen lernen, uns an das zu klammern, was lebensspendend ist, nicht an das, was nur bequem ist.«

Da ist sie, die geistliche Herausforderung der Sabbatwächter, die in die Mitte der geschäftigen Menge geworfen werden. Werden wir uns an das klammern, was nur bequem ist, oder werden wir einige dieser Annehmlichkeiten ablegen, um uns an das Lebensspendende zu klammern? Das ist keine einfache Frage, denn der menschliche Wunsch, sich an das Bequeme zu klammern, ist viel stärker als wir zuzugeben wagen. Doch jede echte Hoffnung auf ein neues Leben, ein reicheres Leben, ein Sabbatleben, ist untrennbar damit verbunden, wie wir diese Frage beantworten.

Ich muss hier ein klärendes Wort über Sabbat hinzufügen. Während das Wort gewöhnlich mit einem bestimmten Tag identifiziert wird, ist Sabbat mehr als das. In seiner tiefsten, weitesten Bedeutung ist es das Rezept für das richtige Gleichgewicht von Arbeit und Freizeit, das für ein gesundes menschliches Leben erforderlich ist. Die Sabbathaltung ist eine Praxis, die weit darüber hinausgehen kann und muss, ob wir sonntags in die Kirche gehen. Es geht darum, der Seele Raum zum Atmen und Aufblühen zu reservieren. Es geht darum, die Prioritäten neu auszurichten, so dass eine Facette des Lebens (Produktivität) nicht den Rest dessen erstickt, was es braucht, um voll lebendig zu sein.

Es ist meine tiefste Hoffnung, dass wir in den Tagen nach der Pandemie den Weg des Glaubens gemeinsam gehen werden, mit dem Gleichgewicht des Sabbats in unseren Adern. Am Ende wird es nicht ausreichen, zu sagen, dass wir die Weisheit gefunden haben, das Gute zu erkennen, oder sogar den Mut, das Gute zu wählen. Am Ende wird es nur reichen, wenn wir die Kraft haben, dieses erkannte und gewählte Gute durchzuhalten. Schließen Sie sich dem Widerstand an! Werden Sie Sabbatwächter!

 

Erik Riechers SAC, 9. Juli 2021

 

 

Das Gespräch, das wir nicht führen

 

Sabbat zu leben ist nicht das religiöse Äquivalent von Stressmanagement. Die christliche spirituelle Tradition fügt der Mischung eine wichtige Zutat hinzu, nämlich eine reiche metaphorische Sprache, die Engagement und spirituelles Wachstum an der Hüfte verbindet.

Jesus offenbart uns nicht nur, dass es Samen der Fruchtbarkeit für jedes sterbliche Leben gibt. Er geht auf die frustrierenden Details der Aussaat ein, die ziemlich unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt, einschließlich einer erschreckenden Anzahl von fruchtlosen Misserfolgen. Eine Aufforderung, auf Feldern zu ernten, die weiß für die Ernte sind, ist immer noch eine Aufforderung zu rückenbrechender Arbeit. Es ist die Rede vom Warten auf das Wachstum und vom Jäten, wenn die Zeit reif ist. In der christlichen Spiritualität geht es nicht darum, wie wir über bestimmte Dinge denken, sondern wie wir auf sie reagieren. Unbeschreiblich ist der Zahnschaden, den das zähneknirschende Gerede über Lebensverbesserung mit keinem Wort über persönliche Investition oder Engagement bei mir angerichtet hat.

Eine Frau erzählte mir einmal von ihrer Frustration, nachdem sie einen Workshop über Lebensmanagement-Fähigkeiten und Stressabbau besucht hatte. Zuerst war sie begeistert von der Aufforderung, langsamer zu machen, die Rosen zu riechen, das Leben zu genießen, ihren Lebensstil zu vereinfachen, ihre Erwartungen herunterzuschrauben und mit ihrem inneren Kind in Kontakt zu treten. Sie kehrte mit der feurigen Entschlossenheit nach Hause zurück, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die erste Woche nach ihrer Rückkehr konfrontierte sie mit einem Haus, in dem jeder Raum eine einzigartige Herausforderung für eine gute Haushaltsführung darstellte. Ihr Büro war geschickt in einem neuen Stil umdekoriert worden, den man am besten als »windzerzaust« beschreibt. Ihr Mann, dessen jede Äußerung in letzter Zeit mit verzerrten Gesichtsbewegungen und dem Rollen der Augen der heranwachsenden Tochter belohnt wurde, wanderte durch das Haus und murmelte etwas über Adoptionsagenturen. Am Ende der Woche hatte sich ihre frische Entschlossenheit, ihr Leben und ihren Stress zu »managen«, völlig aufgelöst. Ihre Worte klingen immer noch in meinem Kopf. »Nachdem ich mein Leben in den Griff bekommen habe, wie soll ich da die Zeit finden, all die Dinge zu tun, über die sie im Kurs gesprochen haben?«

Sie mag in ihrem Workshop gute Ratschläge erhalten haben, aber nichts davon geschieht tatsächlich ohne Engagement. Die Sabbat-Annäherung an den Ärger des modernen Lebens wird auf einem energischen Durchsieben unserer Prioritäten und einigen sehr harten, konkreten Entscheidungen bestehen, um sie zu ändern. Die gestresste Frau hatte den aufrichtigen Wunsch, ihr Leben zu verbessern, aber sie hatte nicht den Willen, die schwierigen Entscheidungen zu treffen, die dies möglich machen.

Ein weiterer Grund für eine spezifisch glaubensgeprägte Herangehensweise an den Kampf mit dem heutigen Leben ist, dass es uns von der lähmenden Abhängigkeit von Vergnügen und Selbstbefriedigung entwöhnt. Vor einigen Jahren, während eines langen Transatlantikfluges, begann der Mann auf dem Sitz neben mir die Tugenden des Selbsthilfebuches zu preisen, in das er vertieft war (aber leider nicht tief genug, um seinen unglücklichen Sitznachbarn zu verschonen). Er konnte den Autor nicht hoch genug loben. Jedes Wort in dem Buch klang bei ihm nach und es war, als hätte der Autor seine Gedanken gelesen. Er konnte nichts in dem Buch finden, mit dem er nicht einverstanden war. Um seine Worte zu zitieren: »Ich liebe es einfach!«

Solche Gespräche lassen Sabbathalter unruhig und ruhelos werden. Das Buch fand sicherlich die Zustimmung des redseligen Reisenden, aber das ist kaum das Thema, wenn wir einen Ausweg aus unserer geistlichen Krise suchen. Die Frage »Ist es unterhaltsam?« hat er beantwortet. Aber was ist mit: »Ist es hilfreich?« Damit kein Zweifel aufkommt: Diese beiden Fragen sind nicht dasselbe, und sie führen auch nicht zu denselben Schlussfolgerungen. Ein angenehmer Ratschlag bedeutet nicht, dass er uns helfen kann. Im geistlichen Leben müssen wir uns mit Realitäten auseinandersetzen, die nicht angenehm und oft sehr einschüchternd sind. Die Topografie der Seele erfordert einen Besuch an den harten und unfruchtbaren Orten des Herzens. Wir müssen mit trockenen Knochen arbeiten, Wasser aus dem Felsen schöpfen und Brot aus dem sonnenverbrannten Wüstenboden sammeln. Oft entdecken wir an diesen Orten, dass  unser unterschiedsloses Verlangen nach Befriedigung zu unserer tiefsten Unzufriedenheit, Not und Niedergeschlagenheit geführt hat.

 

Erik Riechers SAC, 7. Juli 2021

 

 

Sabbat und die Pandemie

 

Wir kommen langsam aus einer langen und sehr anstrengenden Periode unseres Lebens heraus. Wir suchen nach Wegen, wie wir uns wieder ins Leben, insbesondere ins Gemeinschaftsleben, einfinden können. Auch wir bereiten uns darauf vor, die lange Begleitung von »Bleiben Sie behütet« zu beenden. Es ist an der Zeit, sich wieder auf konventionellere Wege zu begeben, um mit- und füreinander Kirche zu sein.

Aber wir sollten vorsichtig sein mit der Art und Weise, wie wir zum »Normalen« zurückkehren. So anstrengend diese Monate auch gewesen sind, unsere Unruhe sollte uns nicht dazu treiben, gedankenlos zu unseren früheren schlechten Gewohnheiten zurückzukehren. Zu den allerschlimmsten gehört unsere hektische, von der Arbeit getriebene, stressgeplagte Lebensweise.

Das Bild ist nicht unüblich. Eine Person geht zügig zur Arbeit. Er oder sie hat ein Headset an den MP3-Player angeschlossen, der in der Tasche ruht, während er oder sie wütend am IPhone arbeitet. Da haben Sie ihn: den modernen Ausdruck von Effizienz. Bewegung, Unterhaltung und Geschäft liegen eng beieinander, um die Zeit optimal zu nutzen.

Es wird erwartet, dass die Passanten von schwärmerischer Bewunderung für diese kraftstrotzenden, kabellosen Wunder erfüllt sein werden. Schließlich sind sie der Inbegriff des Menschen, der mit allem jonglieren kann, was das Leben ihm zuwirft, und es trotzdem schafft, alles unter einen Hut zu bringen. Das ist das Bestreben von Millionen von Menschen, nämlich einen Weg zu finden, alles, was sie tun wollen oder müssen, in ein immer kleiner werdendes Zeitfenster zu quetschen. Willkommen im Reich der Effizienz, wo Produktivität König und Zeit Geld ist.

Von weisen Geschichtenerzählern vorgewarnt, gehen wir trotzdem weiter, um unseren fleißigen Platz in dieser tristen Welt wieder einzunehmen. Wir hätten es besser wissen müssen. Die Anforderungen des Lebens halten uns ständig auf Trab, auf Abruf und in Bewegung. Unsere prall gefüllten Kalender strotzen nur so vor Terminen, was wir als Ehrenzeichen und Zeichen eines offensichtlichen Erfolgs betrachten. Wir sind trotzig stolz darauf, dass wir alles schaffen, alles am Laufen halten und dass wir gefragt sind. Trotz besorgter und liebevoller Warnungen über die Notwendigkeit von Ruhe und Erholung sind wir davon überzeugt, dass wir Vollgas leben müssen, ohne irgendetwas zurückzuhalten. Wenn wir auf allen Zylindern feuern, hat das eine fast berauschende Wirkung auf uns.

Wenn etwas die Kraft hat, uns zu verunsichern, dann ist es die Begegnung mit Menschen, die sich gegen diesen Strich bewegen. Mit einer beängstigenden Leichtigkeit mischen sie ein intensives Arbeitsleben mit Zeiten der erholsamen Ruhe. Wie Widerstandskämpfer weigern sie sich, sich der Tyrannei des modernen Wettlaufs zu unterwerfen. Unerschrocken und ohne Entschuldigung steigen sie aus dem ständigen Produktionstrieb aus. Diesen irritierend ausgeglichenen Menschen fehlt sogar der Anstand, sich für ihre offensichtliche Zeitverschwendung zu schämen. Die Tatsache, dass man sie als faul, ineffektiv und unmotiviert abstempeln könnte, scheint sie fröhlich nicht zu stören. Sie sind aktive Menschen, aber nicht immer auf Trab. Zeit ist für sie nicht Geld, sondern ein kostbares Geschenk, das es auszukosten gilt. Es gibt Menschen, die diese aufrührerischen Neigungen inmitten der Kultur der Non-Stop-Produktivität offen proklamieren. Sie sind Subversive, die die unhinterfragte Prämisse der übrigen Gesellschaft mit einer gelassenen Unverschämtheit untergraben.

Unter der geschäftigen, produktiven Welt von Politik, Familie, Unterhaltung, Religion und Arbeit hat sich diese spirituelle Widerstandsbewegung eine moderne Reihe von Katakomben gegraben. Ihre Höhlen und Korridore sind mit Sabbatwächtern gefüllt.

Wie jede Generation vor uns müssen auch wir uns mit einem geistlichen Kampf auseinandersetzen, der unserer Zeit eigen ist. Auch wir haben heute Dämonen, denen wir ins Auge sehen und die wir austreiben müssen, aber sie sind eine besonders gerissene Art von Dämon. Sie treiben ihr Unwesen unter den unscheinbaren Namen von Geschwindigkeit, Effizienz und Produktivität. Nichts definiert unsere geistliche Krise in der westlichen Welt deutlicher als die Sucht nach nie endender Produktivität und die erschütternde Schwächung, die sie in jeder Facette unseres Lebens anrichtet. Während wir stolz damit prahlen, was wir erreicht, geschaffen und hergestellt haben, geben wir nur ungern zu, dass wir nicht wirklich wissen, wie wir mit den Nebenwirkungen leben sollen. Dieser manische, unaufhörlich getriebene Lebensstil ist der Nährboden für die erschöpfte Seele. Es ist auch der Moment der geistigen Wiedergeburt für die eine Gnade, die unser Leben retten könnte, nämlich die Sabbatzeit.

Sabbatwächter haben es nicht leicht. Erschöpfte Seelen sind Legion, und sie hungern nach geistlichem Trost für ihr anstrengendes, wenn auch höchst effizientes Leben. Doch wer bleibt übrig, um ihnen Trost zuzusprechen? Schön und gut ist die Herausforderung, sich auf eine Glaubensreise zu begeben, aber wir leben mit Menschen, die kaum Ratschläge erhalten haben, was sie für diese Reise packen sollten. Sie werden ständig daran erinnert und ermutigt, ihren konsumistischen und materialistischen Drang herunterzuschalten, aber sie werden hilflos und oft unfreiwillig zurück in den saugenden Strudel des modernen Lebens gezogen. Mit bemerkenswerter Leichtfertigkeit wird alle Schuld für die erschöpfte Seele unkritisch auf den zügellosen Konsum und den ungezügelten Materialismus geschoben. Doch in Wirklichkeit sind sie nur die Symptome des tieferen und gefährlicheren Problems der Unterdrückung der Sabbat-Rhythmen des Lebens. Nachdem der Sabbat so lange aus unserer spirituellen Praxis verbannt war, wurde er erst von der schleichenden Kultur der Produktivität in die Katakomben gedrängt und dann unter einer Decke der kollektiven Amnesie schlummern gelassen.

          Man könnte argumentieren, dass es nach dem »erzwungenen Sabbat« der Pandemie keine Notwendigkeit gibt, über die Belastungen des modernen Lebens zu sprechen. Dem stimme ich natürlich nicht zu. Wenn es das menschliche Leben betrifft, ist es ein Thema für spirituelle Reflexion und Führung. Es gibt keine Aufgabe, die zentraler für das Werk der Spiritualität ist, als das Geheimnis Gottes mit dem Fleisch und Blut der Menschen zu berühren, die er von Anfang an geliebt hat. Es ist eine oft vergessene Wahrheit des Glaubens, aber wenn etwas für den Menschen von Bedeutung ist, ist es auch für Gott von Bedeutung. Alles, was uns schmerzt oder lacht, zum Weinen oder Tanzen bewegt, uns in Qualen winden lässt oder vor Leidenschaft beben macht, interessiert den Gott der unendlichen Liebe und Barmherzigkeit. Unser Gott, der sich um die Lilien auf dem Feld, die Vögel in der Luft und die Haare auf unserem Kopf kümmert, wird wohl kaum ein plötzliches Desinteresse an der erschöpften Seele annehmen.

 

Erik Riechers SAC, 5. Juli 2021

 

 

Licht in Dunkelheit verwandeln

 

14. Sonntag B 2021                   Mk 6,1b-6

 

Die Anfangsszene dieser Geschichte erinnert mich immer daran, dass eine Geschichte sehr unerwartete und dunkle Wendungen nehmen kann. Schließlich bereitet uns der Anfang kaum auf das vor, was danach kommt. Jesus lehrt in der Synagoge und es wird uns gesagt: ». . . die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen.« Normalerweise ist es eine wunderbare Sache, wenn Menschen Erstaunen erleben, und dieser Moment der Überraschung und des Staunens kann uns an wunderbare Orte führen. Wir können mehr suchen, tiefer nachfragen und eine Leidenschaft entdecken, die wir in den Tiefen unserer Seele bisher nicht vermutet haben.

Tatsächlich beginnen die Menschen des Erstaunens, tiefere Fragen zu stellen. »Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen?« All diese Fragen zeigen, dass ihr Erstaunen neue Prozesse in ihnen auslöst, die ihr Herz und ihren Verstand in Bewegung setzen, die nach der Quelle dieser Macht suchen, die sie überwältigt hat.

Dann nimmt die Geschichte eine dunkle Wendung. »Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm.« Wenn das Erstaunen in Ablehnung umschlägt, dann ist der Anstoß geboren. Und was ist die Quelle dieser Ablehnung? Allein die Tatsache, dass sie ihn kennen, seine Familie und seine Herkunft. Hier wird Licht in Dunkelheit verwandelt.

Wir haben im Englischen das treffende Sprichwort: Familiarity breeds contempt (Vertrautheit erzeugt Verachtung). Aber bevor Vertrautheit zu Verachtung führt, führt sie zu Annahmen. Wir gewöhnen uns so sehr an Menschen und ihre Verhaltensweisen, dass wir einfach annehmen, dass wir einen klaren Überblick über alles haben, was sie sind und wozu sie fähig sind. Diese Annahmen züchten eine tiefe Faulheit in uns, die uns davon überzeugt, dass wir nicht mehr nachdenken, abwägen und bewerten müssen, was wir an den Menschen erleben, die wir für selbstverständlich gehalten haben. In vielerlei Hinsicht begegnen wir ihnen nicht mehr in einem wirklichen Sinne des Wortes. Wir gehen von den Karikaturen aus, die wir über sie geschaffen haben. Wir nehmen an, dass wir alles gesehen haben, während wir uns nicht einmal mehr die Mühe machen, sie offen anzuschauen. Wir sind sicher, dass wir das Ende der Geschichte kennen, ohne die restlichen Kapitel zu lesen.

Diese Verachtung, geboren aus faulen, unhinterfragten Annahmen, ist eine schreckliche Sache. Sie nimmt unser Erstaunen und all sein Potenzial und verwandelt es in einen schäbigen und beleidigenden Spott. Was für eine schreckliche Sache, die wir anderen antun, wenn wir unsere Variante von »Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon?« finden.

Was wie eine relativ harmlose Frage klingen kann, enthält in sich eine zerstörerische und abwägende Kraft, die das Staunen und die Wissbegierde und schließlich unsere Beziehungen zerstört. Dies ist der Moment, in dem wir zu anderen sagen: »Dein Leben ist es nicht wert, verehrt zu werden. Dein Leben ist zu schlicht, zu alltäglich und zu oberflächlich, um als würdig erachtet zu werden, als ein Geheimnis behandelt zu werden, als etwas, das erst noch in seiner ganzen Pracht, seiner ganzen Schönheit und seiner ganzen Tiefe enthüllt werden muss. Nichts, was du sagen oder tun kannst, kann uns überraschen. Deshalb werden wir unsere Sandalen nicht ausziehen und vorsichtig treten, weil wir dein Leben nicht als heiligen Boden betrachten.«

»Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon?« Wenn wir unsere Variante dieser Frage anwenden, kommen wir zu dem Moment, wo wir zu anderen sagen: »Du kannst nicht über das hinauswachsen, was wir schon gesehen haben und was wir von dir wissen. Wir würden dich an die Kleinheit, Gebrochenheit und Armut binden, die wir in dir erlebt und angetroffen haben, und dich für immer darin bewahren.«

Wenn wir abwertend sagen, dass wir Menschen, ihre Sippe und ihr Erbe kennen, dann sagen wir zu ihnen: »Ihr könnt euch nicht zu etwas mehr, zu etwas Größerem entwickeln, als das, was ihr bisher gewesen seid. Ihr könnt keine größere Weisheit, Reife oder Nachdenklichkeit erlangen als das, was wir bereits erlebt haben.«

Deshalb ist dies eine so dunkle Wendung in der Geschichte. Überall dort, wo sich dieses Szenario abspielt, sind die vergangenen Erfahrungen eines Menschen nicht mehr Bausteine, aus denen eine Zukunft gemacht wird. Die Vergangenheit wird verwandelt in ein Gefängnis, in dem wir eine Person gefangen halten, gefesselt an einen Lebensabschnitt, an irgendeine Unreife und Unzulänglichkeit, die wir in ihr, ihrer Familie oder ihrer Geschichte gefunden haben

Dies ist eine grundlegende Sünde gegen die Hoffnung. Hoffnung ist die Offenheit gegenüber der Zukunft und ihren unbekannten Möglichkeiten. Und diese Sprache zu verwenden, die das Staunen zerstört und es durch Spott und Ablehnung ersetzt, bedeutet, die Türen zur Hoffnung fest zu verschließen. William Shakespeare beschrieb die Zukunft so treffend als »das unentdeckte Land«. Die Menschen in der Synagoge tun so, als seien die Möglichkeiten, die Jesus bringt, so alltäglich wie ein Spaziergang durch eine bekannte, oft durchquerte Gegend.

Pierre Teilhard de Chardin schrieb einmal: »Die einzige Aufgabe, die es wert ist, dass wir uns bemühen, ist, die Zukunft zu konstruieren.« Wir denken dabei meist an die Zukunft des Landes, des Staates oder der Kirche. Aber es gilt genauso für die Zukunft jedes einzelnen Menschen, für jedes Leben, das uns begegnet und das die Kraft hat, uns zu überraschen. In diesen Momenten könnten wir die Tür zu einer Zukunft der Heilung und des neuen Lebens öffnen. Unsere Aufgabe sollte es sein, Dunkelheit in Licht zu verwandeln, nicht umgekehrt. Oder es kann wie diese Geschichte enden: » Und er konnte dort keine Machttat tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. Und er wunderte sich über ihren Unglauben.«

Seien wir ehrlich. Wenn wir das Jesus antun können, können wir es jedem antun.

 

Erik Riechers SAC, 4. Juli 2021

 

 

Ehrfurcht üben

 

Wovor haben wir (noch) Ehrfurcht?

Die Älteren unter uns hören stark die Furcht heraus und erinnern sich an kleinmachende Erziehungsmethoden und Katechesen. Jüngere können mit diesem Wort meist gar nichts mehr anfangen.

Doch wie leben wir ohne Ehrfurcht?

Wir leben ohne die Dimension des Heiligen in unserem Leben. Alles, was wir wahrnehmen und für bedeutend halten, greift zu kurz. Wir beten Schätze an, die vergehen. Wir drohen in unserem Menschsein zu verkümmern.

Ein Segen kann es sein, Menschen zu begegnen, die für uns gewissermaßen ein Schlüssel werden für diese Welt des Heiligen und uns zeigen können, was Ehrfurcht wirklich bedeutet. Ein solcher Mensch war Bischof Reinhold Stecher. Seine Schlüssel waren Wort und Bild.

Was er zum Wasser schreibt, kann unseren Blick verändern:

 

»Damit man Wasser schätzt, das heißt, für einen Schatz hält, braucht es mehr als nur ein Abschätzen  

im materiellen Sinn.

Wasser verdient Ehrfurcht. Es ist das Erste, was von der Schöpfung in der Schrift genannt wird.

Gen 1, 2: ‚Gottes Geist schwebte über den Wassern...‘

Und so plätschert und gurgelt und rauscht der Lobgesang der Quellen und Brunnen, der Bäche und Ströme,

der Seen und des Meeres, des Regens und des Taus und der Bäume, die am Uferrand stehen

und nie welken, durch alle Lieder der Bibel wie auch der Heiligen Schriften der Völker,

und immer ist das Wasser Symbol für Größeres, Tieferes, Beglückenderes.« *

* Text und Bild aus R. Stecher Bildkalender 2018

 

Rosemarie Monnerjahn, 2. Juli 2021

 

 

Nächster Abschnitt

»Ihnen werden gleich, die sie machen, alle, die auf sie vertrauen.«

 

Vor kurzem wurde mir gesagt, dass Götzendienst für moderne Männer und Frauen kein relevantes Thema mehr sei. Während ich dieser Einschätzung von ganzem Herzen nicht zustimme, kann ich den Grund dafür verstehen. Immer wenn in den biblischen Geschichten von Götzendienst die Rede ist, werden unsere Köpfe mit stereotypen Bildern gefüllt, die mehr Karikatur als Realität sind. Diese übermäßige Vereinfachung führt dazu, dass moderne Männer und Frauen mit dem Konzept des Götzendienstes zu kämpfen haben, wenn sie es nicht gleich abtun. Es wird als ein Problem einer antiken Welt wahrgenommen, aber nicht einer so modernen, fortschrittlichen und zivilisierten Welt wie der unseren.

In der Tat schufen die Götzendiener der biblischen Geschichten eine Vielzahl von Götzen.  Sie verehrten die Sonne, die Sterne und die Kräfte der Natur als Götter. Aber noch prägnanter und definitiv bedrohlicher: Sie verehrten auch die Macht und natürlich diejenigen, die sie ausübten, wie Könige und Potentaten.

Die biblischen Geschichtenerzähler wussten alle, dass Gott niemals nur ein mächtiger Teil der Natur war, und nicht einmal die Summe aller Kräfte in der Natur. Gott war immer mehr, immer größer, immer darüber hinaus.

Es ist erwähnenswert, was Götzendiener wählen, um anzubeten. Die Kräfte der Natur sind unpersönlich, ebenso wie die Macht. Das löst in den Geschichten von Gott eine tiefe Besorgnis, ja sogar einen Alarm aus. Wenn wir das Unpersönliche in den Status der Göttlichkeit erheben, beginnen wir, das Unpersönliche anzubeten. Aber wie Rabbi Jonathan Sacks nie müde wurde zu betonen, werden diejenigen, die das Unpersönliche anbeten, schließlich ihre Menschlichkeit verlieren.

Die Geschichte von Psalm 115 ist eine passende Warnung vor dieser Bewegung in Richtung Unmenschlichkeit. Dort steht geschrieben:

Ihre Götzen sind nur Silber und Gold,

Machwerk von Menschenhand.

Sie haben einen Mund und reden nicht,

sie haben Augen und sehen nicht,

sie haben Ohren und hören nicht,

sie haben eine Nase und riechen nicht;

ihre Hände, sie greifen nicht,

ihre Füße, sie gehen nicht,

 sie bringen keinen Laut hervor aus ihrer Kehle.

Ihnen werden gleich, die sie machen, alle, die auf sie vertrauen. (Psalm 115, 4-8)

 

Wir sind nicht besonders geneigt, die Sonne, die Sterne und die Kräfte der Natur als göttliche Wesen zu verehren. Aber wir haben unsere Vorliebe für die Anbetung von Macht oder denen, die sie tragen, nicht verloren. Die Kultur der Berühmtheit ist ein solches Beispiel. Wir beten auch Geld, Konsum, Luxus und Unterhaltung an, was sich darin zeigt, dass wir bereit sind, fast alles andere zu opfern, um sie zu erreichen. Aber dies sind unpersönliche Kräfte. Sie haben keinen Namen und kein Gesicht. Sie haben keine Stimme, mit der sie zu uns sprechen könnten. Sie haben keine Augen, die unsere Hoffnungen und unsere Verzweiflung, unseren Kummer und unsere Sehnsüchte sehen könnten. Sie haben keine Ohren, die unseren Kummer und unser Klagen und Flehen aufmerksam anhören könnten. Sie verlangen, wie alle Götzen, ständige und bedingungslose Opfer, wenn wir in den Genuss ihrer Wohltaten kommen wollen. Aber sie sind nicht für diejenigen da, die nicht zahlen können.

Wir können keine unpersönlichen Kräfte verehren und gleichzeitig wahre Menschen bleiben. Denn ein echtes menschliches Wesen zu sein, bedeutet, dass wir mitfühlend, menschlich, großzügig und vergebend sind. In diesen schwindenden Tagen der Pandemie kehren wir zu den Götzen zurück, die die Krise nicht abwenden konnten, die Krise nicht lindern konnten und die uns nicht durch die Krise führen konnten. Sie werden uns amüsieren, ablenken und sogar eine Zeit lang befriedigen, aber sie werden uns nicht in das Gelobte Land führen. Was sie ganz sicher tun werden, ist, uns unserer Menschlichkeit zu berauben. Und deshalb ist Götzendienst immer ein relevantes Thema.

 

Erik Riechers SAC, 30. Juni 2021

 

 

Leben - ein Balanceakt?

 

Als Kind und noch lange danach liebte ich es, über Gartenmauern oder liegende Baumstämme zu balancieren. Hochkonzentriert und gesammelt setze ich Fuß vor Fuß. Mich ablenken zu lassen bedeutete stets ein Risiko und oft strauchelte ich und hatte Mühe, oben zu bleiben. Ein Geräusch von der Seite, ein Lachen von Freunden, ein Abschweifen aus der Achtsamkeit - und schon war das Gleichgewicht verloren und die Stabilität dahin.

Warum mir dies jetzt in den Sinn kommt, fragen Sie vielleicht. Ich denke darüber nach, was geschehen ist, dass wir auf unserem Lebensweg immer häufiger, wie es scheint, die Stabilität verlieren. Die vergangenen 16 Monate brachten es deutlich zutage: Wir gingen ein Stück ausgeglichen und festen Schrittes, doch dann starrten wir auf die Inzidenzen, lauschten den Worten von Politikern und Fachleuten - und alles begann zu wanken. Wir waren zufrieden und staunten sogar, wie gut wir leben konnten mit weniger Abwechslungen und Konsum, doch dann blitzten hier und da Reisemöglichkeiten auf und wir wurden unruhig, unausgeglichen und unzufrieden.

Wie oft haben wir Dinge geklärt in unserem Leben, in unseren Beziehungen, und gute Entscheidungen getroffen - und doch steigen wir innerlich immer wieder aus oder lassen uns von kleinen Bemerkungen so irritieren, dass wir regelrecht hinabstürzen in alte Muster.

In den Bergen hatte ich immer mal wieder Gespräche mit alten Bergbauern. Ihre Augen leuchteten vor Leben, wenn sie von sich und ihren Familien erzählten. Die Geschichten waren sehr verschieden. Gemeinsam war ihnen ihre Beständigkeit, eine gewisse innere Ruhe und Ausgeglichenheit. Sie erzählten auch von Verlust, Tod und harter Arbeit, doch gewann ich den Eindruck einer großen Stabilität. Sie war innen. Diese unerschütterliche Innerlichkeit strahlte aus den Augen, prägte die Art des Erzählens. Sie erzählten von ihrem je ganz eigenen Leben, wie sie es angenommen und gestaltet hatten, und nicht von »was wäre, wenn«. Mich beeindruckte ihre Zufriedenheit, ihre Präsenz, ihre Klarheit.

Heute mehr als damals kommt mir Jesu Wort in den Sinn: »Euer Herz lasse sich nicht verwirren.«

In der Tat, Verwirrung lässt uns wanken und instabil werden. In genau dieser Gefahr befinden sich die Jünger, denn die Bedrohung wächst und Jesus bereitet sie auf den Abschied vor mit diesem Wort. Und er fügt sogleich an, was wesentlich ist: »Glaubt an Gott und glaubt an mich!« (Joh 14,1) Zuvor hat Jesus das letzte Mahl mit den Seinen gefeiert und davor hatte er ihnen die Füße gewaschen. Es heißt im Johannes-Evangelium, dass er wusste, »dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte« (Joh 13, 3).

Können wir das auch für uns sagen? Vielleicht haben wir diesen großen Bogen unseres Lebens verloren. Dann sollten wir uns da wieder einschwingen. Gehören wir auf die vielen kleinen Plätze, die uns von außen angeboten werden und uns manchmal fast schwindlig machen? Oder gehören wir zu Gott, von Anbeginn bis in Ewigkeit? Wie das geht? Die Fragen der Jünger sind auch die unseren, die Antwort Jesu gilt auch uns: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben«. (Joh 14, 6)

Wir sind so vielen Stimmen ausgeliefert, die über so viele Kanäle in unser Herz zu dringen versuchen. Sie übertönen den, der von Anbeginn in unseren Herzen wohnt. Entscheiden wir uns dazu, vieles vor der Tür zu lassen und immer wieder Gott in uns zu begegnen. Jesus verspricht seinen Jüngern, dass sie durch den Geist erkennen werden: »Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch.« (Joh 14, 20)

Eine Frau, die alles verloren hatte, wuchs hinein in diese Beziehung und konnte bei meinem Besuch mit klarer Stimme und strahlenden Augen sagen: »Es geht mir gut. Ich bin von tiefer Liebe erfüllt.«

Diese tiefe innerliche Stabilität wünsche ich uns allen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. Juni 2021

 

 

Bitte begleite mich durch diese Geschichte

 

13. Sonntag B 2021                   Mk 5, 21-43

 

Ich hatte eine geschätzte Freundin, bei der ich mit ansehen musste, wie sie in Etappen starb. Der Krebs, der schließlich ihr Leben forderte, nahm sich zuerst ihre Zunge. Und von einem Moment auf den anderen wurden die einfachen Unterhaltungen eines Lebens schwierig. Aber wir haben nie aufgegeben.

Wenn ich sie besuchte, schlug sie oft ihre Bibel auf, zeigte auf eine Geschichte und schrieb einen Zettel. »Bitte begleite mich durch diese Geschichte.« Unfähig, ihr Bett oder das Krankenhauszimmer zu verlassen, führte ich sie durch die Welten, die durch die biblischen Worte entstanden. 

Heute möchte ich meine Dienste als Führer durch die biblische Geschichte anbieten, die mit einer Vielzahl von Charakteren bevölkert ist. Es ist eine Geschichte von einem aufkeimenden jungen Leben und einem erschöpften alten Leben, von Leid und Hoffnung, von Stimmen der Resignation und Stimmen des Glaubens. Wenn Sie kommen möchten, führe ich Sie gerne.

Das Blut zweier Menschen spielt in dieser Geschichte eine große Rolle. Blut ist in der biblischen Erzählung das Lebensprinzip. Wenn wir oft lesen, dass Kontakt mit Blut einen Menschen unrein macht, dann nicht weil Blut unrein ist. Die Unreinheit kommt, weil, wenn wir mit Blut in Kontakt  kommen, dann fließt es nicht mehr dort, wo es dem Leben dienen kann.

In der Frau,  »die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt«, läuft das Blut, das Lebensprinzip, stetig aus. Markus sagt uns, dass sie, was das Leben betrifft, am Ausbluten ist. »Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.« Hier will Jesus einem Leben, das ausblutet und ausläuft, Einhalt gebieten.

In den Adern der Tochter ist das Blut zum Stillstand gekommen, ein sehr tiefes Bild für den Tod. Wenn das Blut, das Lebensprinzip, zum Stillstand kommt, dann sind wir tot.  Hier will Jesus das Leben wieder in Fluss bringen.

Nun haben wir zwei Menschen, die Rettung und Leben brauchen. Wir haben auch Jesus, der Rettung und Leben geben will. Damit diese Geschichte, wie auch unsere Geschichte, eine Erlösungsgeschichte ist, müssen die Frau und Jairus wissen, wo Erlösung und Leben zu finden sind, und dann dorthin gehen, komme was kommt. Zu wissen, dass Jesus helfen kann, ist nicht genug. Wenn es keine Begegnung gibt, gibt es auch keine Heilung.

Halten Sie mit mir an dieser Stelle einen Moment inne. Es lohnt sich zu beachten, wie hier zwei Formen der Erlösung nebeneinander dargestellt werden. Die Frau nimmt selbst Kontakt zu Jesus auf. Wenn wir erwachsen sind, dann müssen wir auch diese Fähigkeit haben, dass wir selbst die Initiative ergreifen, Wege gehen, Berührungen wagen und lernen, Begegnungen zu riskieren. Aber Jairus zeigt uns, dass es auch einen zweiten Weg gibt. Er vertritt die Interessen seiner Tochter, denn sie ist schon zu geschunden und geschwächt, um die Initiative zu ergreifen und ihren eigenen Weg zu gehen. Manchmal müssen wir Menschen, die die Fähigkeit verloren haben, sie selbst zu suchen, Wege zum Heil öffnen. Darüber hinaus sollten wir, wenn wir selbst an der Reihe sind unter den Geschwächten, auch bereit sein, anderen zu erlauben, diesen Dienst für uns zu tun.

Kehren wir zurück zu der Frau und dem Kind. In der Erzählung sind sie durch die Zahl 12 verbunden. Die Frau leidet zwölf Jahre unter dem Verlust des Lebens. Hier ist die Zahl Zwölf das Symbol für ein Leiden, das zu lange gedauert hat. Das Mädchen stirbt im Alter von 12 Jahren und so wird die Zahl zum Symbol für ein Leben, das viel zu früh beendet wurde. Das sind die Plagen, die wir als Menschen kennen. Es gibt Leid, das wir zu lange ertragen müssen, das uns dann zermürbt und auslaugt. Es gibt aber auch Leid, das uns den schönen und geliebten Teil des Lebens zu früh wegnimmt. 12 ist auch unsere Zahl, denn im Laufe unserer Tage erleiden wir sowohl das Schicksal der Frau als auch das des Kindes.

Ich möchte jetzt die Stationen in der Geschichte des Jairus betrachten, denn sie sind wichtige Anhaltspunkte für uns, wenn wir sehnsuchtsvoll einen Weg des Heils suchen für diejenigen, die uns am Herzen liegen.

 

  1. Nennen deine Bitte, klar, deutlich und dringlich.

Jairus sagt nicht einfach, dass er Hilfe braucht. Er sagt: »Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt!« Damit nennt er, für wen er Hilfe braucht (seine Tochter), warum sie seine Hilfe braucht (sie liegt im Sterben), welche Hilfe er von Jesus verlangt (komm zu ihr und berühre sie) und was er sich davon erhofft (dass sie Heilung und Leben erfahren darf).

Das ist eine große Kunst und wir sollten sie nicht unterschätzen. Wir sind es gewohnt, in sehr vagen Tönen darüber zu klagen, was uns plagt. So werden wir sagen: »Mir geht es nicht gut«, ohne zu benennen, was uns plagt und was wir jetzt konkret brauchen. 

 

  1. Wähle die Stimme, die du hören wirst.

Mit der Botschaft »Deine Tochter ist gestorben« kommt die Stunde der Erschütterung. Doch gerade in diesem Augenblick müssen wir, wie Jairus, wählen, welcher Stimme wir Gehör schenken werden. Es gibt die Leute, die sagen: »Warum bemühst du den Meister noch länger?« Hier ist die Stimme der Resignation. Sie sagt uns, dass es zu spät ist, dass es keinen Sinn mehr ergibt weiter zu machen und dass es eh nichts mehr nutzen wird. Es gibt aber auch die Stimme Jesu, die sagt: »Fürchte dich nicht! Glaube nur!« Hier entscheiden wir, ob und wie schnell wir unsere Sehnsucht und Herzensanliegen abschreiben und aufgeben.

 

  1. Lass dich von der Menge nicht bestimmen.

Jesus betritt das Haus und will die weinende, klagende Menge trösten. Er will ihnen eine Hoffnungsperspektive eröffnen. »Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.« Dafür wird er ausgelacht.

Ausgelacht zu werden ist eine erschreckend schmerzhafte Form der Ablehnung. Wenn Menschen zu uns sagen, dass sie unsere Bitte ablehnen, sind wir enttäuscht und vielleicht entmutigt. Aber wenn Menschen über unsere Worte lachen, lehnen sie unsere Bitte nicht nur ab, sondern machen uns klar, dass unsere Sehnsucht nicht einmal einer ernsthaften Betrachtung würdig ist. Es ist eine bittere Art und Weise, zu entdecken, dass das, was uns am Herzen liegt, in ihren Augen lächerlich ist. Dann fühlen wir uns nicht nur enttäuscht und entmutigt, sondern gedemütigt und erniedrigt.

 

  1. Nimm nur Gefährten mit, die dein Herzensanliegen mittragen.

Jesus beißt sich die Zähne nicht aus und versucht, diese Leute umzustimmen oder zu überzeugen. Gleichzeitig verteidigt und rechtfertigt er sich nicht. Seine Haltung ist bewundernswert. Wenn die anderen seine Herzensanliegen nicht teilen, dann lässt er sie zurück und nimmt jene mit, die bereit sind, mit ihm diesen Weg zu gehen. So nimmt er Jairus, seine Frau und die drei Jünger mit.

Wie oft beschweren wir uns über die Menschen, die unsere Sorgen nicht teilen und sie nicht tragen! Aber wenn wir das tun, gewinnen sie eine große Macht über uns. Während wir damit beschäftigt sind, sie zu überzeugen oder zu überreden, wird unser Herzenswunsch vernachlässigt und diejenigen, die bereit sind, mit uns zu gehen, bleiben auf der Strecke, bekommen aber kein grünes Licht.

 

  1. Nimm das Leben, das bedroht ist, in die Hand. Berühre es.

Wir können leicht erstarren, wenn ein Teil unseres Lebens starr und kalt vor uns liegt. Immer wieder erlebe ich Menschen, die mir von den Teilen ihres Lebens erzählen, die sie als bedroht empfinden, sei es in ihren Beziehungen oder in der Gestaltung ihrer Freiheit. Aber sie tun nichts. Sie bewegen sich nicht. Sie wagen nichts. Sie machen keine Schritte und erkunden keine der Möglichkeiten, die vorhanden sind. Wir müssen diese Teile unseres Lebens berühren, sie ansprechen, wie Jesus es tut. Sonst werden wir nur Gespräche mit Leichen führen.

 

  1. Wenn das Leben wieder hergestellt ist, dann sei nicht gelähmt vor Staunen, sondern diene dem Leben.

Markus erzählt uns die Reaktion der Leute. »Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen.« Jesus dagegen geht einen sehr pragmatischen Weg und sagt, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben. Wenn wir endlich das Leben zurückgewinnen, das wir mal verloren haben, dann sollten wir schauen, dass wir diesem Leben dienen, es nähren, fördern und schützen. Es wäre sehr tragisch, das Kind wieder zum Leben zu erwecken und es dann an Hunger verkümmern zu lassen.

Aber die Gefahr ist da. Kennen wir nicht solche Momente, in denen wir uns geschworen haben, dass wir, wenn diese Pandemie vorbei ist, dieses oder jenes nie wieder für selbstverständlich halten werden? Kennen wir nicht Momente des Leidens, in denen wir uns danach sehnen, wieder gesund, fit und leistungsfähig zu sein, nur um genau diese Gaben zu vernachlässigen, wenn sie uns wiedergegeben werden?

 

Ich hatte eine geschätzte Freundin, die ich gezwungen war, in Etappen sterben zu sehen. Ich sah zu, wie ihr Leben langsam ausblutete. Aber sie wollte den Saum seines Gewandes berühren, und sie war dankbar für jede Reise durch eine biblische Geschichte, auf der ich sie begleitete. In ihr schlug das mutige und kühne Herz der blutenden Frau. In ihr floss der suchende Geist des Jairus. Möge dieses Herz in uns schlagen und dieser Geist durch unsere Adern fließen, damit auch wir nie versäumen zu fragen: »Bitte begleite mich durch diese Geschichte.«

 

Erik Riechers SAC, 27. Juni 2021

 

 

Achtsam mitgehen mit deinem Gott

 

Ein Gebet:

Barmherziger, gerechter Gott!

Achtsam mit Dir unsere Wege zu gehen ist uns aufgetragen worden.

Du weißt, dass uns dies oft schwer fällt. Wie gern sind wir Rechthaber. Wie oft sind wir Schuldzuweiser.

Selbstgerecht urteilen wir. Selbstbezogen vermeiden wir es, uns liebevoll in die Lage eines anderen zu versetzen. Selbstverliebt verlieren wir uns.

Würden wir doch den Grund spüren, auf dem wir alle stehen! Dann wären wir geerdet und würden uns nicht übereinander zu erheben versuchen. Und wir gingen aufrecht und könnten einander in die Augen sehen. So könnten wir miteinander gehen – und mit Dir, als Deine Menschen!

In Deiner großen Liebe achtest Du auf uns – von Anbeginn bis in Ewigkeit. Du gehst mit uns und zeigst Dich uns. Hilf uns, achtsam, sensibel und wach unterwegs zu sein durch unser Leben - uns selbst gegenüber, den anderen, der ganzen Schöpfung - und in all dem DICH zu entdecken. Wenn wir dann mehr und mehr Deine Gerechtigkeit und Deine Barmherzigkeit erahnen und entdecken, wollen wir versuchen, sie zu leben und zu lieben, damit Dein Reich komme.

»Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.«

Amen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. Juni 2021

 

 

Güte lieben

 

Wie wir bereits wissen, sah der Prophet Micha die Missstände in seinem Volk, benannte sie deutlich und wusste, was zu tun ist: »Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.« (Micha 6, 6-8)

Heute wenden wir uns der zweiten Aufgabe zu: Güte zu lieben!

Güte wird oft auch mit Barmherzigkeit übersetzt. Das kann uns helfen, wenn wir nämlich dieses Wort im Hebräischen betrachten, wo es die gleiche Wurzel wie »Mutterschoß« hat. Dann kommen wir dem Wesen der Barmherzigkeit tiefer auf die Spur. Sie kommt aus der Tiefe und ist lebensspendend. Sie hat existentiell das Wohl des anderen im Sinn. Erbarmen zeigen heißt einzusteigen in das Leben des anderen mit all seinem Chaos. Gott selbst sagt am Sinai im Vorübergehen zu Mose: »Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue«. (Ex 34, 6)

Genau in diesem Sinn sagt Jesus zu den rechthaberischen und herzenskalten Pharisäern: »Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!« (Mt 9,13) Sie nämlich opfern Menschen, um formal das Gesetz zu erfüllen; Jesus aber wendet sich den Zöllnern und Sündern erbarmend zu und feiert Gemeinschaft mit ihnen. An anderer Stelle sagt er, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, und zwar im Sinne Gottes, der es gegeben hat. Barmherzigkeit, Güte, ist das pulsierende Herz des Evangeliums. Wie oft heißt es von Jesus, dass er Erbarmen hatte mit den Menschen, die ihm begegneten - den Kranken, den Leidenden, den vielen, die ihm vorkamen wie Schafe ohne Hirten, ja am Ende sogar mit seinen Henkern. Sein Herz kann gar nicht anders als die Barmherzigkeit zu lieben und zu leben.

Genau so ist das Herz des Vaters der zwei Söhne in einem der bekanntesten Gleichnisse Jesu, das Lukas uns erzählt. Als der Verlorene heimkehrt, heißt es: »Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.« (Lk 15,20)  Seine Güte, sein Erbarmen fließen förmlich aus ihm heraus und genauso wendet sich sein Herz dem Älteren zu: »Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein.« (V. 31)

Güte, Barmherzigkeit, lässt sich nicht formal erfüllen nach bestimmten Regeln und Geboten. Darum fordert Micha dazu auf, sie zu lieben. Dann wird unser Herz weit und wir werden schöpferisch. Wir handeln wie eine Mutter aus dem Urgrund unseres Seins für das Leben und seine Fülle.

Im Matthäusevangelium, das für eine judenchristliche Gemeinde geschrieben wurde, spielen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eine große Rolle. Am Anfang wird uns ein Mann vorgestellt, der beides nach der Weisung Gottes lebt und verbindet: Josef, der Zimmermann aus Nazaret. Er wird ein Zaddik genannt, ein Gerechter, und er zeigt, welcher Art seine Gerechtigkeit ist: Er legt das Gesetz der Tora barmherzig aus, nachdem er erfährt, dass seine Verlobte Maria schwanger ist, und entscheidet sich, sie still zu entlassen und nicht, wie strenge Gesetzeslehrer es forderten, zu steinigen. Das wäre rechtens gewesen!

Im Traum erfährt er, von wem das Kind ist, und wählt wieder das Leben. Von nun an trägt er das Leben Marias und des Kindes mit. 

Recht tun und Güte lieben gehen Hand in Hand im Reich Gottes.

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. Juni 2021

 

 

Recht tun

 

Vor einigen Jahren begegnete mir eine so prägnante Lebensunterweisung, dass ich sie seither nicht wieder vergessen habe. Und zwar las ich sie damals in englischer Sprache und so blieb sie in mir hängen: »Act justly and love mercy and walk humbly with your God.«

Das klingt kurz und knackig: Handle gerecht, liebe Barmherzigkeit und sei bescheiden unterwegs mit deinem Gott!

Es ist etwa 2700 Jahre alt und der schlichte Rat des Propheten Micha. Wir Christen kennen Micha aus dem Anfang des Matthäus-Evangeliums. Die Schriftgelehrten zitieren ihn, als die Sterndeuter nach Jerusalem kommen: »Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel.« (Mt 2,6) Schon dieser Vers atmet den Grundton des Propheten und er atmet ihn bis heute, denn die Themen sind hochaktuell.

Dieses kleine Prophetenbuch prangert  - ähnlich wie das Buch des Propheten Amos - vor allem die unsoziale Lebensweise der Führungsschicht an mit ihrem Hang zur Korruption, zu Egoismus und Ausbeutung. Die kleinen Leute zählen nicht. Diese Situation damals in diesem überschaubaren Umfeld ist heute im globalen Maßstab nicht anders und gerade die letzten Monate brachten es wieder offen zutage: Die Krise nutzen viele zur persönlichen Bereicherung; ob und wann die Ärmsten sich impfen lassen können, ist kaum im Blick - Hauptsache, wir können endlich wieder unseren Luxus leben. Das Ego führt Regie.

Zwar werden Worte gemacht und Versprechungen oder große Inszenierungen - auch das kannte Micha schon im alten Israel. Warum sonst hätte er gesagt: »Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? Hat der HERR Gefallen an Tausenden von Widdern, an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde? Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.« (Micha 6, 6-8)

Betrachten wir in dieser Woche, was der Prophet uns so schlicht ans Herz legt, nämlich eine Lebensweise, die Gott von uns erwartet, weil sie gut ist für uns.

Recht tun, gerecht zu handeln ist die erste Aufgabe.

Kinder beschweren sich, es sei nicht gerecht, wenn nicht jeder genau gleich viele Gummibärchen in die Hand bekommt. erwachsene sind nicht anders. Vor Jahrzehnten starb ein ältester unverheirateter Bruder und hinterließ ein Sparbuch mit etwa 10.000 DM. Eine seiner Schwestern, früh verwitwet und mit kleiner Rente auskommend, hatte sich am meisten um ihn gekümmert. Doch die gut situierten Geschwister fanden es gerecht, das Geld durch 6 zu teilen. Ich erinnere mich noch gut an die Enttäuschung, ja Erschütterung ihrer Schwester, dass niemand würdigte, was sie alles für den Bruder getan hatte und dass ihren Geschwistern gleichgültig war, unter welchen schwierigen Bedingungen sie ihr Leben bestreiten musste. Sie empfand es als ungerecht, was die übrigen rein mathematisch gerecht nannten.  

Wenn Jesus in der Bergpredigt sagt: »Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit« (Mt 6,33), dann will er uns hinführen zur Gerechtigkeit Gottes, die das Leben aller im Blick hat und jedem geben will, was er zum Leben braucht. Dazu ruft er uns auf. Das klingt jedoch leichter als es oft für uns ist. Wir neigen eher dazu, in der Art der fünf Geschwister zu handeln. Genau darum erzählt Jesus uns das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20): Fünfmal geht ein Weinbergsbesitzer hinaus und wirbt Arbeiter für die Tagesarbeit in seinem Weinberg an. Mit den ersten in der frühen Stunde vereinbart er einen Denar. Den zweiten in der dritten Stunde sagt er: Ich werde euch geben, was recht ist. Dann werden weitere Arbeiter in der sechsten, neunten und elften Stunde angeworben. Am Ende des Tages beginnt die Auszahlung bei den Letzten und sie erhalten einen Denar. Das weckt Begehrlichkeiten bei den Ersten. Sie waren zwar für einen Tageslohn von einem Denar angestellt worden. Aber dies, so denken sie, wäre ja nun nicht mehr gerecht, da sie ja viel länger gearbeitet haben. Doch es bleibt für sie bei einem Denar. Auf ihr Murren antwortet der Gutsherr: »Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem Letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?«

Mit einem Denar konnte eine Familie für einen Tag leben und genau dies ermöglichte der Gutsherr jedem, der bei ihm gearbeitet hatte. Unsere kleinlichen Buchhalterseelen würden vermeintlich fair die »gerechten« Anteile ausrechnen und locker akzeptieren, dass Familien nicht satt werden. Doch mit dem Reich Gottes ist es anders. Wie der Gutsherr handeln Menschen, die Gottes Reich und seine Gerechtigkeit suchen, damit alle leben können.

»Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, …«

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Juni 2021

 

 

Gebeutelt, frustriert und erschöpft

 

12. Sonntag B 2021                   Mk 4,35-41

 

Stürme kommen im Leben schnell auf, und das nicht nur auf Seen. Sie können uns auch in unseren Beziehungen mit erstaunlicher Schnelligkeit überraschen und überrumpeln. In der Natur brauen sich Stürme zusammen, wenn die richtigen Umstände und Bedingungen vorhanden sind. Das Gleiche gilt für unsere Beziehungen, und die perfekten Bedingungen für die Stürme des Herzens sind, wenn wir gebeutelt, frustriert und erschöpft sind. Dies ist selten unsere beste Stunde. Wir haben genug zu tun, um mit dem Kampf der alltäglichen Beziehungen einigermaßen gut zurechtzukommen, denn sie bringen genug emotionale, mentale, körperliche und geistige Stürme mit sich, die es zu bewältigen gilt. Doch wenn wir im Sturm gefangen sind, sorgen der Stress und die Belastung, die er mit sich bringt, meist dafür, dass wir nicht die höchste Gesprächskultur pflegen. Die Funken fliegen sowie die Vorwürfe. Wenn wir bedrängt und bedroht werden, sind wir selten besonders darauf bedacht, anderen aufmerksam und zugewandt zuzuhören.

Das ist es, was in diesem Boot passiert. Denn die Geschichte des vierten Kapitels des Markusevangeliums ist die Geschichte eines Tages, und die Geschichte dieses Tages beschreibt, wie Freunde und Gefährten dazu kommen können, dass sie Menschen, die sie normalerweise lieben, schätzen, respektieren und verehren, Anschuldigungen entgegenschleudern. Schon vor dem Sturm haben die Passagiere dieses Bootes viel Kraft gelassen, denn die Geschichte dieses Tages beginnt so:

Und wieder begann er, am Ufer des Sees zu lehren, und sehr viele Menschen versammelten sich um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot auf dem See und setzte sich; die Leute aber standen am Ufer.

Und er sprach lange zu ihnen und lehrte sie in Gleichnissen. (Mt 4, 1-2)

Für Jesus ist das eine sehr anstrengende Art zu arbeiten. Einen ganzen Tag so zu verbringen, sich anzustrengen, laut genug zu sein, damit sein Wort ihr Ohr erreicht, und kreativ genug, damit sein Wort ihr Herz erreicht, war sicher sehr kräftezehrend.  Das war sicher auch für die Jünger so, denn wenn die Menge weggeht, ist das für sie nicht das Ende des Tages, sondern die zweite Runde, in der sie noch sehr lange, konzentrierte und herausfordernde Gespräche mit Jesus hatten.

Als er mit seinen Begleitern und den Zwölf allein war, fragten sie ihn nach dem Sinn seiner Gleichnisse… Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten.

Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war. (Mk 4, 10, 33-34)

Wir sind Nachzügler an diesem Tag und seiner Geschichte, was eine Warnung an sich ist. Es ist immer schwierig und gefährlich, zu beurteilen, was sich vor unseren Augen entfaltet, wenn wir die oft verschlungene Geschichte nicht kennen, die ihm vorausging. Wir steigen ein am Ende des Tages, wenn der Abend naht. Und Markus macht eine kleine, aber aufschlussreiche Bemerkung, die wir nicht überhören sollten Da gibt es ein Detail im Urtext, die in unserer Übersetzung wegfiel: »Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn, wie er war, im Boot mit.«

Sie nehmen ihn mit, wie er war: müde, ausgelaugt, verausgabt. Kaum geht es zum anderen Ufer ab, und schon ist  er am schlafen. Wenn wir hier die Geschichte pausieren und einen Blick auf Jesus werfen, dann haben wir schnell und ohne zu zögern tiefes Verständnis für ihn. Wir wissen, was für einen Tag er hinter sich hat und dann gönnen wir unserem erschöpften Freund einen guten Erholungsschlaf und ein weiches Kissen.

Aber unser Wohlwollen kann sich schnell ändern, wenn wir selbst angeschlagen sind. Es ist deutlich schwerer anderen Menschen das zu gönnen, was uns gerade fehlt. Darum sollten wir mal einen sanften Blick auf die Lehrlinge Jesu werfen. Der Tag war auch nicht so einfach für sie, aber sie müssen weiter arbeiten und kämpfen, während er jetzt  schläft. Sie müssen jetzt Angstzustände durchstehen, die Jesus erstmal ahnungslos durchschläft. Sie sind keine unerfahrenen, labilen Schwächlinge, die beim ersten Anschein eines Problems schon zusammenknicken. Es ist nicht der erste Sturm, den sie in ihrem Leben überstanden haben. Aber sie waren schon müde und matt, als sie loszogen. Höchstwahrscheinlich fühlen sie sich verlassen, weil sie mit diesem Kampf allein gelassen werden und sehen müssen, wie sie zurechtkommen. Solche Momente und solche Gefühle sind uns sicher nicht völlig fremd.

Irgendwann kocht es dann über. Gebeutelt, frustriert und erschöpft, unterstellen sie Jesus einen Mangel an Fürsorge für sie. »Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?« Hier müssen wir  vorsichtig sein, dass wir die Geschichte nicht romantisieren oder bereinigen. Das hier sind menschliche Reaktionen, mit denen wir alle fertig werden müssen, genau wie wir lernen müssen, einen Sturm zu navigieren. Stürme gehen nicht weg, wenn wir sie ignorieren, auch nicht die inneren Stürme des Herzens. Das Einzige, was weggeht, wenn Sie es ignorieren, sind Ihre Zähne.

Die Jünger machen das, was wir auch oft tun, wenn wir gebeutelt, frustriert und erschöpft sind: sie machen Jesus Vorwürfe. Sie haben ihn geweckt, aber nicht um Hilfe oder  Beistand zu erbitten. Sie suchen das Gespräch, aber nicht um Rat oder Gebet zu erbitten. Nein, sie machen ihm einen heftigen Vorwurf, nämlich, dass es ihm mehr oder weniger egal ist, ob sie leben oder sterben.

Und dieser Vorwurf entsteht auf eine Weise, die auch wir kennen. Die besorgten Mitreisenden sehen und erleben etwas, das sie nicht deuten können, und ziehen ihre Schlüsse, was es zu bedeuten hat, aber ohne Jesus eine Chance zu geben, es zu erklären.

Was Jesus dann tut ist wichtig, und wir sollten auf den Rat Wilhelm Bruners‘ achten der uns erinnert: beachte die Reihenfolge wenn du die Kraft behalten willst die Verhältnisse zu ändern

  1. Er stillt den Sturm: Wörtlich sagt er zum Sturm »Ich lege dir einen Maulkorb an«. Erst wenn es wieder still wird, dann klärt er den Vorwurf mit seinen Menschen. Es ist nicht weise, Klärungsgespräche zu führen mitten im Sturm, wenn noch alles tobt und uns verunsichert. Wir brauchen einen Raum und eine Zeit der Stille. Sonst sprechen nur noch der Sturm, die Krise, der Frust und die Angst, in denen die Menschen sich befinden, aber nicht die Menschen selbst.
  2. Dann stellt er Fragen.

Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?

Indem er Fragen stellt, gibt Jesus seinen Lehrlingen eine Chance, über das Geschehen nachzudenken und eine Antwort zu geben. Anders als seine Lehrlinge, die die Situation interpretieren, ohne Jesus die Chance zu geben, darauf zu antworten, antwortet er nicht in gleicher Weise. Fragen gehen davon aus, dass es noch Klärungsbedarf gibt, dass nicht alle Motive bekannt sind, dass es noch Dinge gibt, die angesprochen werden sollten. Aussagen tun das nicht. Stellungnahmen kommen am Ende des Prozesses. (Natürlich nur, wenn die Frage aufrichtig ist und kein grammatikalisch verschleierter Vorwurf. Immerhin, eine Frage ist nur eine Frage, wenn man sich für die Antwort interessiert).

Darum fragt Jesus nach ihrem Vertrauen, ihrem Glauben. Erleben seine Lehrlinge Jesus wirklich als einen Menschen, der sie im Stich lässt? Haben sie wirklich die Erfahrung gemacht, dass ihm das Schicksal seiner Menschen egal ist? Wo und wann haben sie so etwas mit ihm erlebt?

Das passiert uns Menschen, wenn wir gebeutelt, frustriert und erschöpft sind. Wenn wir uns unwohl, bedroht oder überfordert fühlen, wenn wir in der Vergangenheit solche Verletzungen bei anderen erlebt haben, tun wir uns schwer mitfühlenden Herzens ein Gespräch zu führen. Wenn wir tief und mitfühlend zuhören können, dann ermutigen und befähigen wir eine Person, aus dem Herzen zu sprechen und sich die Zeit zu nehmen, den weiteren Kontext und die vorhandenen Emotionen zu verstehen. Wenn wir auf der Ebene unserer Abwehrkräfte sprechen, die wir aufgebaut haben, um unsere Emotionen und unseren Wesenskern zu schützen, dann werden die Verletzung und der Frust sprechen.

In diesem Boot sitzen wir alle immer wieder mal im Laufe eines Lebens. Alle Menschen in dieser Geschichte sind müde und frustriert. Sie sind aber auch Menschen, die miteinander verbunden sind, Wege gemeinsam wagen und sich gegenseitig lieben. Und trotzdem kommt das Fass zum Überfließen und dann schlagen sie mit ihren Worten um sich. Wir sind sehr verletzbare Wesen, besonders wenn unsere Kräfte schwinden.

Es kann uns nicht schaden, die Reihenfolge Jesu im Text zu beherzigen, wenn Stürme unsere Beziehungen, Freundschaften und Lieben beuteln.

  1. Stellt Fragen anstatt Aussagen.
  2. Lassen wir uns sanft auf die Vertrauensfrage ein. Schaut die große Geschichte des Miteinanders an. Deute eine Episode der Unsicherheit und des Unverständnisses nicht außerhalb des Kontextes einer größeren, reicheren und vielfältigeren Geschichte eines gemeinsamen Weges.

Missverständnisse kommen sehr schnell hoch in den Stürmen des Lebens. Aber wir können auch lernen, die Missverständnisse des Lebens zu navigieren und zu bewältigen. Wenn wir ein wenig üben, gut zuzuhören, offene und ehrliche Fragen zu stellen, statt Vorwürfe zu erheben, und wenn wir darauf vertrauen, dass Güte, Barmherzigkeit und Verlässlichkeit auch in solchen stürmischen Stunden vorhanden sind, auch wenn wir sie zunächst nicht wahrnehmen können, dann tragen wir alle das Potenzial in uns, einen Sturm zu beruhigen.

 

Erik Riechers SAC, 20. Juni 2021

 

 

Liebe, bete und reife III: Der Weg, der vom Kind zum Erwachsensein führt.

 

Daher jetzt zu meinem dritten Punkt. Es gibt einen Weg, das schreckliche Schicksal der ewigen Unreife in der Liebe zu vermeiden. Wir müssen beim Meister des Geistes in die Lehre gehen und Jesus unser Weg zur erwachsenen Liebe sein lassen. In seiner Person finden wir die Verschmelzung des Allerbesten, das die Liebe zu bieten hat, mit dem Allergrößten, das sie zu geben gesandt ist.

Wenn wir Jesus erlauben, uns zu lehren, dann werden wir in den Haushalt der Liebe aufgenommen, aber auch in ihre Weinberge gesandt, um Arbeiter für die Ernte zu sein. Der Meister des Geistes wird uns eine Liebe zeigen, die bereit ist, alles um unseretwillen zu opfern, sogar den Tod am Kreuz. Dann wird er uns auffordern, unsere eigenen Kreuze auf uns zu nehmen und ihm zu folgen, damit andere aufgrund unserer Liebe leben können. In Jesus wird uns derjenige begegnen, der uns als leidender Diener liebt und der uns prompt dazu einladen wird, im Dienst an anderen zu leiden. Der Herr und Meister von uns allen wird uns eine Liebe zeigen, die bereit ist, sich zu entleeren, so dass der König aller Könige und Herr aller Herren bereit ist, Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein zu werden. Dann wird er uns einladen, das Gleiche zu tun.

          Die erste große Erfahrung der Liebe besteht im »Selbst«. Es ist die Entdeckung, dass wir umsorgt und geliebt, genährt und geführt werden. Der Höhepunkt der Liebe wird in dem Moment gefunden, wenn wir unser »Selbst« transzendieren. Wir werden wissen, dass wir mit Jesus unterwegs sind, wenn wir in unergründlicher Dankbarkeit schätzen können, was die Liebe für uns getan hat, und von der Leidenschaft verzehrt werden, dies auch für andere zu tun. Wenn wir vor Dankbarkeit für alles, was unsere Eltern für uns getan haben, überfließen und mit dem Wunsch brennen, unsere Kinder mit der gleichen Inbrunst zu lieben, ist das Reich Gottes uns sehr nahe. Wenn wir in der Erinnerung an Lehrer schwelgen, die uns den Weg gezeigt haben, und vor dem Wunsch zittern, anderen diesen Weg zu zeigen, ist Christus nicht weit von uns entfernt. Wenn wir uns dabei ertappen, wie wir darüber nachdenken, wie wir die Geliebten in unserem Leben bereichern können; wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Geliebten in unseren Armen segnen können; wenn wir uns danach sehnen, die Wunden derer zu heilen, die unser Augapfel sind, und die Kosten dafür nicht meiden, dann wachsen wir in der Tat zur vollen Statur in Christus heran, dann wachsen wir in der Liebe heran.

          Rudyard Kipling schrieb ein Gedicht an seinen Sohn darüber, was es bedeutet, ein erwachsener  Mensch zu werden. Mögen diese Worte auch uns gelten. 

 

Wenn du den Kopf behältst, falls sie dich rügen

Dafür, dass sie verlor’n ihr eig’nes Haupt,

Wenn alle zweifeln, lässt du dich nicht trügen,

Und gibst noch zu, ihr Zweifel sei erlaubt,

 

Wenn warten kannst du, ohne zu erlahmen,

Und Lug verdammst, auch wenn man dich belügt,

Wenn man dich hasst, du ablehnst, nachzuahmen,

Und wenn bescheid’ne Weisheit dir genügt,

 

Wenn deine kühnsten Träume dich nicht binden,

Wenn dein Gedanke nicht zum Selbstzweck wächst,

Wenn kannst du dich mit Sieg und Sturz abfinden,

Und beide Schwindler gleichermaßen deckst,

 

Wenn du erträgst das Wort, das du gesprochen,

Verzerrt vom Schuft, um Narr’n zu irritier’n,

Und einsteckst, wenn du siehst dein Werk zerbrochen,

Und baust es auf von vorn auf allen Vier’n,

 

Wenn du den ganzen Haufen an Gewinnen

Beim simplen Münzwurf zu verspiel’n riskierst,

Dabei bereit, von Null an zu beginnen,

Und nicht ein Wort über dein Pech verlierst,

 

Wenn Herz und Nerv und Sehne kannst du zwingen

Dir noch zu dienen, wenn sie längst verweht,

Damit du stehst, wenn Risse dich durchdringen,

Und bloß dein Wille ihnen vorschreibt: „Steht!“

 

Wenn du mit Sitte sprichst zu Menschenheeren,

Und vor dem König bleibst dem Volk loyal,

Wenn weder Feind noch Freund kann dich versehren,

Wenn man dich hoch schätzt, doch nicht kolossal,

 

Wenn du erfüllst die herzlose Minute

Mit tiefstem Sinn, empfange deinen Lohn:

Dein ist die Welt mit jedem Attribute,

Und mehr noch: dann bist du ein Mensch, mein Sohn!*

 

»Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind; als ich erwachsen wurde, legte ich das kindische Verhalten ab.«  

Möge es so sein. Oh Herr. Möge es so sein.

 

*Übersetzung des Gedichtes „If“ von Rudyard Kipling aus dem Englischen ins Deutsche von Izzy Cartwell © 2009

 

Erik Riechers SAC, 18. Juni 2021

 

 

Liebe, bete und reife II: Die Art und Weise, wie ein Erwachsener liebt

 

Jetzt müssen wir eine zweite große Frage anschauen: Wie muss die Liebe der Erwachsenen aussehen? Wie gesagt, die Art und Weise, wie Liebe von einem Kind erlebt wird, ist kein Problem, solange wir über Kinder sprechen. Doch was bei 3-Jährigen niedlich ist, ist bei Erwachsenen grauenhaft.

Ein Erwachsener in der Arbeit der Liebe zu werden, bedeutet, sich weit über die bloße Erfüllung der eigenen Wünsche und Sehnsüchte hinaus zu bewegen. Der reife Mann oder die reife Frau weiß, dass es bei der Liebe nicht nur darum geht, dass die andere Person tut, was ich will, wann ich es will und wie ich es will. Wenn ein Erwachsener uns um einen Gefallen bittet und wir ihn ablehnen, gibt es die klare Erwartung, dass er sich nicht umdreht und sagt: »Liebst du mich nicht?«

Ein Erwachsener in Gottes Augen zu sein, bedeutet, am rettenden Werk der Liebe teilzunehmen. Kinder verlangen den Dienst der Liebe. Erwachsene lassen sich in ihren Dienst nehmen. Als Christgläubige erwachsen zu werden bedeutet, dass wir nicht nur jedem Menschen, der die Taufe sucht, erzählen müssen, wie er oder sie von Christus geliebt wird, sondern wie seine Liebe uns in eine Welt der liebevollen Fürsorge, der Barmherzigkeit und der Sorge für andere treibt. Wenn wir ganz in Christus leben, ganz im Geist gewachsen sind, verändert sich unser Blick auf die Welt, auf Beziehungen und auf Gemeinschaft radikal. Ein sicheres Zeichen geistlicher Unreife ist der Moment, in dem wir denken, dass die Welt nur zu unserem Vergnügen gemacht ist, dass Beziehungen nur dazu da sind, unsere Wünsche zu erfüllen, und dass die Gemeinschaft uns immer etwas schuldet. 

Der Staat erklärt uns zu Erwachsenen, wenn wir das Alter von 18 Jahren erreichen. Mit Erreichen der Volljährigkeit werden uns automatisch alle möglichen Rechte zugesprochen. Wir können eine Kneipe besuchen, Zigaretten kaufen, wählen gehen oder für ein Amt kandidieren. Aber es gibt keine automatische Übertragung von Verantwortung. Achtzehn Jahre auf diesem Planeten sind keine Garantie dafür, dass man in Maßen trinkt, die Gefahren für unsere Gesundheit bedenkt, in einem politischen Prozess klug wählt oder bereit ist, sich in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen.

So ist es auch in der Welt der Liebe. Christus gewährt uns die Freiheit, wie Söhne und Töchter seines Vaters zu leben, aber wir müssen nicht erwachsen werden. Es gibt Männer und Frauen, deren gesamte Erfahrung von Liebe kindisch ist. Sie wollen verhätschelt und umsorgt werden, während sie jeden egoistischen Impuls bewahren, den sie je hatten. Sie verlangen, geliebt, geschätzt und respektiert zu werden, fühlen sich aber nie dazu getrieben, das Gleiche zu tun. Es ist eines der traurigen Geheimnisse des Lebens. Reife Körper können leicht unreife Herzen und Seelen beherbergen.

(Fortsetzung folgt)

 

Erik Riechers SAC, 16. Juni 2021

 

 

Liebe, bete und reife I: Die Art und Weise, wie ein Kind liebt

 

In Rosemaries Impuls vom 4. Juni 2021 »Worum beten?« wirft sie ernste und lebenswichtige Fragen auf über die Themen, die wir in unseren Herzen tragen und ob wir als reife Christen beten.

Vor einigen Jahren schrieb Elizabeth Gilbert einen halb-autobiografischen Roman mit dem Titel »Eat Pray Love« (Iss, bete, liebe). Wenn ich ein Buch über mein Gebetsleben schreiben würde, würde ich es »Liebe, bete und reife« nennen.

Das Thema der Reife und des Gebets ist in diesen Tagen der Pandemie oft zur Sprache gekommen. Manche Menschen sind durch diese Krise in ein tieferes und reicheres Gebetsleben hineingewachsen. Andere haben es als eine Zeit der Bedrängnis empfunden, da kindliche Gebetsgewohnheiten plötzlich ans Licht kam und sich als völlig unfähig entpuppten, uns durch schwierige Zeiten zu tragen und zu unterstützen.

Sobald junge Menschen ein gewisses Alter erreichen, beschweren sie sich ständig bei den Eltern. Sie wollen nicht wie Kinder behandelt werden. Wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Eltern oder Lehrer ihnen nicht volles Vertrauen entgegenbringen und sie behutsam beschützen, rebellieren sie mit Nachdruck und hormongesteuerter Wut. Die jungen Menschen wünschen sich immer, dass ihre Ältesten anerkennen, dass sie erwachsen werden.

Im ersten Brief an die Korinther spricht Paulus auch über das Erwachsenwerden. Passenderweise können wir uns vom Apostel inspirieren lassen und uns fragen, ob wir als gläubige und treue Menschen der Kirche erwachsen werden. So leiten drei Gedanken diesen Weg zu einem reifen Gebetsleben: (1) Die Art und Weise, wie ein Kind liebt, (2) die Art und Weise, wie ein Erwachsener liebt, und (3) der Weg, der vom Kind zum Erwachsensein führt.

Der heilige Paulus spricht in seinem ersten Brief an die Korinther ein erstaunliches Wort zu uns. Er sagt: »Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind; als ich erwachsen wurde, legte ich das kindische Verhalten ab.« (1 Kor 13,11) Das ist zwar der Weg aller menschlichen Reifung, aber Paulus wendet ihn besonders auf das Thema an, ein Kind zu sein, das erwachsen werden muss, wenn es um das Lieben und damit um das Beten geht.

Die Wahrnehmung von Liebe durch ein Kind basiert auf einer sehr begrenzten Wahrnehmung seiner Wünsche und Bedürfnisse. Wenn Sie ihm geben, worum es bittet, wird die Handlung als liebevoll angesehen. Versuchen Sie aber, einem Kind etwas abzusagen! Eines der ersten Worte aus seinem Mund wird sein: »Hast du mich nicht lieb?«

Natürlich basiert diese Sicht der Liebe aus der Sicht eines Kindes auf einem unvollständigen Bild der Welt, der Beziehung und der Gemeinschaft. Ein Kind glaubt, dass Mutter und Vater genau deshalb da sind, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Es ist eine Einbahnstraße. Es gibt wenig oder gar keine Rücksicht auf Verantwortung oder Gegenseitigkeit. Kinder verstehen nicht automatisch, dass es mehr Menschen gibt, die uns brauchen, als nur sie selbst, und finden es schmerzhaft zu begreifen, wie wir anderen Interessen nachgehen können, wenn sie unsere Aufmerksamkeit, Zeit und Energie wollen.

Nichts daran ist sündhaft, böse oder unangemessen, solange wir von Kindern sprechen. Es ist das Vorrecht der Kinder, eine Liebe zu erfahren, die sie vollständig und ohne Kosten abschirmt. Es ist das Geburtsrecht der Kinder, eine Liebe zu kennen, die um sie kreist, ihre Bedürfnisse stillt, ihre Sorgen lindert, ihre blauen Flecken auf der Haut und im Geist heilt und die Tränen von ihren Wangen wischt. Es gehört zum Wesen des Kindseins, im Wissen um eine Liebe zu wachsen, zu der man vor jedem Schrecken der Nacht fliehen kann. Sie sollen sich einer Liebe erfreuen, in die man sich kuscheln kann, bis der Kummer verklungen ist. Sie sollen ein Recht auf Liebe haben, an die man sich klammern kann, wenn einem die Welt viel zu groß erscheint für die Kleinen.

          Das ist die erste und entscheidende Stufe des Erlernens der Liebe. Wir müssen Kinder sein. Es ist die Art und Weise, wie wir die Liebe von Jesus selbst lernen. In Jesus lernen wir von einem Vater (Abba), der sich um jedes Haar auf unserem Kopf kümmert, der uns mit dem täglichen Brot versorgt, der unsere tiefste Angst in seine liebevolle Umarmung aufnimmt und uns die Tränen aus den Augen wischt. Wenn Männer und Frauen in eine tiefere Umkehr in ihrem Leben eintreten, müssen sie diese Phase der Liebe sehr intensiv erleben. Sie müssen sich über alle Maßen geliebt wissen, wie geliebte Kinder, wie Jesus im Jordan vor seinem Vater. »Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.«

(Fortsetzung folgt)

 

Erik Riechers SAC, 14. Juni 2021

 

 

Gott sieht mehr in uns als wir in uns selbst sehen

 

11. Sonntag B 2021                   Mk 4, 26–34

 

Der Text, der diesen Gleichnissen vorausgeht, erzählt von 4 Formen von Erde und wie sie Frucht tragen, oder auch nicht.

Die Erde ist das Bild des menschlichen Herzens und Jesus spricht über die vier Formen der Empfänglichkeit, die in diesem Herzen zu finden sind.

Harte Erde bedeutet keine Empfänglichkeit.

Felsige Erde repräsentiert die blockierte Empfänglichkeit.

Dornige Erde ist das Bild für die erstickte Empfänglichkeit.

Gute Erde symbolisiert eine gesunde Empfänglichkeit.

Was ein bisschen untergeht in dem Ganzen ist die gute Erde. Sie wird nicht besonders befriedigend kommentiert. »Auf guten Boden ist das Wort bei denen gesät, die es hören und aufnehmen und Frucht bringen, dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach.« (Mk 4, 20)

 

Wenn wir über die drei Formen der Unempfänglichkeit im menschlichen Herzen nachdenken, gibt es klare Strategien des Geistes, um mit ihnen umzugehen.

Wenn Ihr Herz hart ist, erweichen Sie es.

Wenn Ihr Herz blockiert ist, gehen Sie unter die Oberfläche, suchen Sie, sieben Sie aus und entfernen Sie die Blockaden, die das Leben an der Entfaltung hindern.

Wenn Ihr Herz erstickt ist, entfernen Sie das, was das neue Leben, das sich in Ihnen zu entwickeln versucht, stranguliert und erstickt, an den Wurzeln.

Aber was sollten wir tun mit der guten Erde?

Die Antwort der heutigen Gleichnisse ist einfach: gar nichts. Lass die gute Erde, das empfängliche Herz in Ruhe. Lass sie einfach mal wirken.

Wir müssen tief durchatmen und uns einen Moment lang entspannen. Wenn wir Härten, Blockaden und erstickende Elemente entfernen, machen wir immer eine einfache, aber schöne Entdeckung: Was bleibt, ist immer die gute Erde. Wenn es um ein gutes und aufnahmefähiges Herz geht, geht es nie darum, ein solches zu erschaffen, sondern darum, es von allem zu befreien, was es daran hindert, das zu sein, wozu es geschaffen wurde. Es geht uns nicht darum, gute Erde zu erschaffen. Wir sind einfach dabei, sie zu befreien.

Hier legt Jesus aus, wie die gute Erde wirkt, wie ein empfängliches Herz in uns entfaltet und aufrechterhalten wird.

Im ersten  Gleichnis legt er uns nahe, dem natürlichen Wachstumsprozess des Herzens zu trauen. Wenn Kontakt aufgenommen wird zwischen dem Samen (das Wort) und der guten Erde (das empfängliche Herz), wird ein Entwicklungsprozess beginnen. Aber dieser Prozess ist geheimnisvoller als wir meinen und wir sollten uns da nicht voreilig einmischen.

Der Sämann schläft und »steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie«.  Die Einmischung des Sämanns wird zum Wachstumsprozess nichts beitragen. Es gibt ein Muster im Wachstum, das geschieht, wenn Samen und Boden (Wort und Herz) gut zusammenarbeiten. Dieses Muster zeigt uns, dass sich allmählich eine Vermehrung des Lebens entfaltet. Der Samen und die Erde produzieren, »zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre.«  Letztendlich wird es Reife und Ernte geben, und der Samen wird dann zum Brot.

Wenn schon von der Einmischung im Prozess abgeraten wird, dann wird die Kooperation mit dem Prozess beschrieben als ein Wahrnehmen des geheimnisvollen Wachstums.

Wir wollen das Größere für die Menschen, dass sie ein Mehr an Glauben, Leben und Freude haben. Aber das Größere ist im Kleineren beinhaltet und wird daraus hervorkommen. Hierfür sollten wir achtsamer werden.

Mit anderen Worten, der ganze Prozess kann nicht auf einmal erkannt werden. Das volle Korn ist in der Ähre, und die Ähre ist im Halm. Das Hundertfache liegt im Sechzigfachen, und das Sechzigfache im Dreißigfachen.

Diese Lehre Jesu ist als Trost gedacht. Es ist alles da. Lass es mal wachsen. Dafür schenkt uns Gott Zeit und Raum. Gute Erde zu werden, die fruchtbares Leben hervorbringt, ist das, was wir sicherlich alle wollen. Aber das heißt nicht, dass wir den ganzen Werdegang dirigieren müssen. Es heißt nicht einmal, dass wir ihn verstehen müssen.   

Der Prozess des Wachstums verlangt Vertrauen und Kooperation von uns.

Menschen brauchen

  • unsere Geduld (Raum und Zeit), damit Leben eine Chance hat sich so zu entfalten, wie es für sie stimmig ist.
  • unsere Aufmerksamkeit, damit wir auch liebevoll merken, was in ihnen wächst und sie ermutigen.
  • unsere zärtliche Begleitung.

 

Was wir nicht brauchen ist Panik: Nachdem der Samen in uns gesät ist, werden wir etwas über den Halm lernen. Wenn der Halm erscheint, werden wir die Ähre entdecken; wenn die Ähre bekannt ist, dann wird das volle Korn hervorkommen.

Gott sieht mehr in uns, als wir in uns selbst sehen. Da er weiß, wie er uns geschaffen hat, hat er ein tiefes und beständiges Vertrauen, dass alles, was wir brauchen, schon da ist. Und genau dieses Vertrauen haben wir oft nicht in uns selbst, in unser Leben und in unser eigenes Herz. Es ist leicht, uns selbst als ein Senfkorn zu betrachten, klein und unbedeutend. Was ein wenig mehr Arbeit und Gewöhnung erfordert, ist die Erfahrung und Begegnung mit einem Gott, der bereits den schützenden, beherbergenden Baum des Lebens sieht, der in unseren senfkorngroßen Herzen steckt und nur darauf wartet, sich zu entfalten.

In Psalm 92 heißt es:

Denn mit deinem Werk, DU, hast du mich erfreut,

ich bejuble die Taten deiner Hände.

Wie groß sind deine Taten, DU,

gar tief sind deine Planungen!

 

Wie viele von uns haben diese Worte auf uns selbst bezogen? Gott tut es auf jeden Fall.

Also, keine Panik! Es ist  schon alles da. Nehmen wir uns Zeit, denn wir dürfen wachsen und größer werden als das, was wir vorerst sind. Vertraut auf die gute Erde eurer Herzen!

 

Erik Riechers SAC, 13. Juni 2021

 

 

Wohin geht unsere Sehnsucht?

 

Leichtfertig gehen wir um mit diesem Wort. Wir bedürfen der Ruhe oder wünschen uns mehr Leichtigkeit. Wir erhoffen gesund zu werden oder zu bleiben. Wir haben Verlangen nach einer Urlaubsreise oder Lust auf ein vorzügliches Essen. Wir begehren, unsere Freunde wieder in die Arme zu schließen. Ja, was können Menschen nicht alles ersehnen.

Denn vielfältig sind unsere Sehnsüchte und wahrscheinlich sind sie uns in diesen Zeiten viel bewusster geworden als je zuvor.

Neu und fremd war für viele von uns, dass wir warten mussten und immer noch müssen, dass vieles nicht so flott befriedigt werden kann, wie wir es gewöhnt sind und sogar oft beanspruchen.

Darin liegt eine große Chance: wir können uns die Frage stellen, was tiefer liegt als all die Bedürfnisse, die wir so schnell auf der Zunge haben. Wonach sehnen wir uns wirklich? Eine schwer kranke Frau, der vieles weggebrochen ist, sagte neulich mit strahlenden Augen, dass ihre eigene lange Leidenszeit ihr zeigt, was wahrhaft wesentlich für sie ist.

Seien wir ehrlich: als das Wünschen und Erfüllen noch einfach war, blieben wir oft leer zurück und irrten suchend umher. Nehmen wir doch unsere tiefe Sehnsucht einmal sanft in unsere Hände und halten sie hoch. Betrachten wir, was sich regt in unseren Herzen. Nehmen wir die Unruhe ernst, auch wenn sie noch ganz diffus ist. Halten wir dies aus und wagen wir einen neuen Blick.

Andreas Knapp hat damit seine Erfahrung gemacht und teilt sie mit uns so:

von gott aus gesehen

ist unser suchen nach gott

vielleicht die weise wie er uns auf der spur bleibt

und unser hunger nach ihm das mittel

mit dem er unser leben nährt

 

ist unser irrendes pilgern

das zelt in dem gott zu gast ist

und unser warten auf ihn

sein geduldiges anklopfen

 

ist unsere sehnsucht nach gott

die flamme seiner gegenwart

und unser zweifel der raum

in dem gott an uns glaubt

(aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel 2018)

  

Rosemarie Monnerjahn, 11. Juni 2021

 

 

Was ist dir dein Leben wert?

 

Für alle, die sagen: Aber ich darf doch auch mal ein bisschen Kritik üben, oder?

Ein Gleichnis.

 

Der Mann setzte sich mit einem dumpfen Schlag auf den Stuhl. Sein Begleiter hob die Augenbrauen bei dieser eher mürrischen Ankunft und antwortete mit Freundlichkeit. »Herzlich willkommen. Es ist schön, dich wiederzusehen. Bitte fühle dich frei, von der Speisekarte zu bestellen, was immer du dir wünschst. Du bist heute mein Gast.«

Doch der mürrische Gast schien von der Gnade seines Gastgebers nicht beeindruckt zu sein. Er schnauzte die Kellnerin an: »Bringen Sie mir einen Cappuccino!«, warf ihr die Speisekarte zu und winkte sie abweisend ab. Es ist wirklich recht erstaunlich, wie Sterbliche eine Immunität gegen Freundlichkeit entwickeln können.

Nachdem er wieder eine Augenbraue hochgezogen hatte, sagte sein Gastgeber: »Komm doch, lass uns entspannen und die Gesellschaft voneinander genießen, wie auch den guten Kaffee, die frische Luft und den warmen Sonnenschein. Du bist gekommen, weil du dich unterhalten wolltest. Also lass uns das tun und ein schönes Gespräch führen.«

Aus den spröden Lippen des Gastes quoll jedoch eine Litanei der Beschwerde. Unerbittlich kritisierte er jede wirkliche oder eingebildete Kränkung, die ihm in den letzten Wochen widerfahren war. Als die Kellnerin seinen Cappuccino brachte, machte er sich nicht die Mühe, sie mit einem Wort des Dankes oder einem Blick zu beehren. Stattdessen nahm er einen Schluck und murmelte: »Hier kann man nicht einmal eine anständige Tasse Kaffee aufbrühen. Und wenn die Kellnerin ihn bringt, ist er nicht einmal mehr heiß.«

Während die junge Frau zurück ins Restaurant ging, lehnte sich der Gast in seinem Stuhl zurück, erschöpft von der schweren Last, die Welt zu verurteilen und zu verdammen. Es ist wirklich ziemlich anstrengend, wenn man Gottes Arbeit für ihn machen muss. Nun saß er erwartungsvoll da und erwartete von seinem Gastgeber den Trost und die Bestätigung, die ihm so sehr zustanden.

»Was ist dir dein Leben wert?«, fragte sein Gastgeber.

Der Mann war völlig aus dem Häuschen. »Was meinst du?«

»Nun, ich habe mir die ganze Zeit über deine Forderungen angehört. Du hast klare und massive Erwartungen an das, was deiner Meinung nach andere für dein Leben tun sollten. Du zählst ziemlich akribisch all die Anstrengungen auf, die sie machen sollten, um dich zu unterhalten, zu befriedigen, zu besänftigen und die Lasten deines Lebens zu tragen. Aber, was ist dir dein Leben wert?

Welche Zeit und welchen Raum investierst du in das Lernen und Wachsen, in die Erweiterung des Horizonts deiner Anliegen? Welche Anstrengungen unternimmst du, um ernsthaft zu leben? Welche Schritte unternimmst du, um ein Mensch von größerer Freundlichkeit und Höflichkeit zu werden? Bist du bereit, dir die Mühe zu machen, ein großes Gespräch zu führen, oder begnügst du dich mit diesen ermüdenden Monologen selbstbezogener Beschwerden? Arbeitest du daran, die Lasten des Lebens mitzutragen, oder bist du lediglich eine Last, die der Rest von uns zu tragen hat? Wirst du erwachsen? Wie steht es um dein Engagement? Oder sitzt du immer noch auf dem Zaun und kritisierst das Leben in anderen, das du selbst nicht zu leben bereit bist? Gibst du dir so viel Mühe, andere zu kennen, wie du von ihnen erwartest, dass sie jede Marotte, jede Laune und jeden Wunsch von dir kennen?

Was ist dir dein Leben wert? Denn wenn du dein Leben nicht genug wertschätzt, um all diese Dinge dafür zu tun, warum sollte es dann jemand anderes tun? Wenn du dich nicht genug kümmerst, um es schön, geliebt und attraktiv zu machen, warum sollte sich dann jemand anderes die Mühe machen?«

Der Gast schimpfte und stotterte. »Aber ich darf doch auch mal ein bisschen Kritik üben, oder?« Als sein Gastgeber nicht antwortete, erhob er sich von dem Stuhl der Gastfreundschaft, den er in einen Richterstuhl verwandelt hatte, und stapfte davon.

Der Gastgeber sah zu, wie er in der Ferne verschwand. Dann rief er die Kellnerin herbei und bezahlte ihr die Kaffees, gab ihr ein exorbitantes Trinkgeld und machte ihr ein exquisites Kompliment für ihren freundlichen, fürsorglichen und aufmerksamen Service. Dann flüsterte er ihr ein Wort ins Ohr und ging, eine fröhliche Melodie pfeifend, davon.

Im Restaurant fragte die Barista die junge Kellnerin, was sich draußen auf der Terrasse zugetragen hatte.

»Der Mann, der weggestapft ist, war ein Scharfschütze.«

Die Barista lachte ungläubig. »Ein Scharfschütze. Wie kommt du dazu, so etwas zu sagen?«

Die Kellnerin schaute sie aufmerksam an. »Ja, ein Scharfschütze. Er schießt auf andere, ist aber zu feige, sich offen in den Kampf des Lebens zu begeben, wo er selbst einige Wunden riskieren würde.«

»Ist es das, was dir der Mann ins Ohr geflüstert hat?«, erkundigte sich die Barista, die ihre  Neugier nicht verbergen konnte.

»Nein«, lachte sie. »Er hat sich für die schlechten Manieren seines Gastes entschuldigt und mir dann erzählt: Kleinliche Kritik wird immer von denen geübt, die keinen eigenen positiven und kreativen Beitrag in die Welt bringen.«

 

Erik Riechers SAC, 9. Juni 2021

 

 

Wie leben?

 

 

Eines Tages kamen Besucher zu einem Einsiedler. Sie fragten ihn: »Welchen Sinn siehst du in deinem Leben der Stille?« Er war gerade mit dem Schöpfen von Wasser beschäftigt. Er holte es aus einer Zisterne. Er dachte nach und sprach: »Schaut in die Zisterne. Was seht ihr?«

Die Leute blickten in die Zisterne: »Wir sehen nichts.«

Nach einer Weile forderte der Einsiedler die Besucher wieder auf: »Schaut in die Zisterne. Was seht ihr?« Sie blickten hinunter und sagten: »Jetzt sehen wir uns selbst!«

Der Einsiedler sprach: »Als ich vorhin Wasser schöpfte, war das Wasser unruhig, und ihr konntet nichts sehen. Jetzt ist das Wasser ruhig, und ihr seht euch selber. Das ist die Erfahrung der Stille.«

 

Einige der Erfahrungen der letzten 15 Monate waren für die meisten von uns eine deutlich größere Ruhe, viel weniger Ablenkungen und Getrieben sein und mehr Zeit.

Wie haben wir sie gefüllt? Wie haben wir sie genutzt? Haben wir uns selbst ehrlich angeschaut? Konnten wir Wesentliches über uns selbst und für unser Leben entdecken? Oder war alles nur ein schrecklich langes Warten darauf, dass die Welt uns wieder all das bieten kann, was wir vermeintlich zum Leben brauchen?

Der Einsiedler unserer kleinen Geschichte hat seine Besucher nicht so schnell entlassen. Er fuhr nämlich fort: »Und nun wartet noch eine Weile.« Und nach einer Weile sagte er erneut: »Schaut jetzt in den Brunnen. Was seht ihr?«

Die Menschen schauten hinunter: »Nun sehen wir die Steine auf dem Grund des Brunnens.«

Da erklärte der Mönch: »Wenn man lange genug wartet, sieht man den Grund aller Dinge.«

 

Den Grund aller Dinge wahrzunehmen verhilft uns zu einem guten Stand im Leben; tief gegründet, fest verankert und wahrhaft geerdet können wir unsere Gegenwart annehmen und gestalten. So wanken wir nicht bei jedem Wind, stets bedroht, unseren Halt zu verlieren und immer versucht, uns an äußeren Dingen festzuklammern. Dann werden wir innerlich frei von äußeren Umständen. Natürlich gehört zum Leben das Genießen von gemeinsamen Feiern, guten Mahlzeiten, schönen Reisen - aber eben nicht in der Weise des Geierns nach dem nächsten Kick. Das alte Wort von »weniger ist mehr« stimmt: dann leben wir bewusster, achtsamer und intensiver.

In diesem Sinne schenke ich Ihnen ein Gedicht von Andreas Knapp:

 

Regeln für die Realpräsenz

wir haben mit dem Leben

keinen unbefristeten Vertrag

Zeit schenkt sich nur

von nun auf jetzt

 

vertreibe deine Zeit doch nicht

und schlage sie auch nicht tot

gleich einer Fliege die belästigt

zerpflücke nicht den Tag

 

nutze die Zeitfenster

zum stillen Schauen

geistesgegenwärtig

bewohne deinen Leib

 

übergehe nicht die Rose unterwegs

bleib stehn und atme ihren Duft

nur der Augenblick ist wirklich

wann lebst du wenn nicht jetzt

 (aus: Andreas Knapp, Gedichte auf Leben und Tod, 2016)

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Juni 2021

 

 

Die Wahrheit leugnen, die wir bereits kennen

 

10. Sonntag B 2021                   Mk 3, 20–35

 

Die Schriftgelehrten erheben eine erstaunliche Anschuldigung gegen Jesus. »Die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er ist von Beélzebul besessen; mit Hilfe des Herrschers der Dämonen treibt er die Dämonen aus.«

Das Problem ist hier ganz einfach: Die Schriftgelehrten wissen selbst ganz genau, dass das, was sie sagen, nicht wahr sein kann. Theologisch versiert, wissen sie, dass das, was sie behaupten, ein totaler Widerspruch zu fundamentalen Glaubenswahrheiten ist, die sie selbst lehren und hochhalten.

»Da rief er sie zu sich und belehrte sie in Gleichnissen: Wie kann der Satan den Satan austreiben? Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. Und wenn sich der Satan gegen sich selbst erhebt und gespalten ist, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen. Es kann aber auch keiner in das Haus des Starken eindringen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt; erst dann kann er sein Haus plündern.«

Worauf Jesus in all dem hinweist, ist eine grundlegende Wahrheit: Das Böse handelt nie gegen sein eigenes Interesse. Das ist es, was es völlig vom Guten trennt. Gute Menschen können gegen ihren Eigennutz handeln: Sie teilen ihr Brot, auch wenn sie hungrig sind, sie bringen Opfer, und sie praktizieren keine Menschenopfer, jene zeitlose Bereitschaft, andere dem Leid und dem Schmerz zu opfern, nur damit wir besser und leichter leben können. Sie können sich selbst transzendieren.

Die Bösen tun dies nie. Das Böse kennt nur ein Interesse, und das ist der Eigennutz. Es wird niemals gegen sein Eigeninteresse handeln. Warum sollte also der Herrscher der Dämonen helfen, andere Dämonen zu vertreiben? Seit wann helfen Dämonen den Exorzisten?

Die Schriftgelehrten sind nicht dumm. Sie wissen, wie fadenscheinig dieses Argument ist. Was sie hier tun, wird Jesus klar benennen:

»Amen, ich sage euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften.« 

Jesus nennt dies eine Lästerung gegen den Geist. Es ist das, was passiert, wenn wir die Wahrheit sehr wohl kennen, sie aber leugnen, um unseren Zwecken zu dienen. Wir sprechen eine Unwahrheit aus, damit wir uns nicht der Wahrheit stellen müssen, die wir bereits erkannt haben, aber nicht ertragen können. Wir tun es, damit wir nicht zugeben müssen, was wir nicht wahr haben wollen. Wir würden lieber über die Wahrheit lügen, die wir kennen, um sie zu leugnen, als die Realität zu akzeptieren, die vor unseren Augen liegt. Selbst die theologischen Analphabeten wissen, dass nur ein Mensch, der mit der Kraft Gottes erfüllt ist, Dämonen austreiben kann. Aber dies zuzugeben, bedeutet zuzugeben, dass Jesus mit der Kraft Gottes erfüllt ist, und das ist die Wahrheit, die die Schriftgelehrten  nicht akzeptieren können. Da der Geist uns in alle Wahrheit führen wird, ist es eine Lästerung gegen den Geist, die Wahrheit zu leugnen, die der Geist uns bereits gegeben hat.

Das Problem geht sehr tief. Das ist es, was passiert, wenn wir die Lüge so lange vor uns selbst wiederholen, dass wir schließlich sogar anfangen, sie zu glauben. Wir verleugnen, was wir bereits kennen und erkennen, bis wir es nicht mehr kennen und erkennen. 

Diese Sünde, die uns für immer anhaftet, liegt nicht im Inhalt der Lüge, sondern im Prozess der Lüge, im Prozess der Verleugnung. Schauen wir uns die Menschen in den USA an, die immer noch an der Lüge festhalten, dass die Präsidentschaftswahl 2020 von Donald Trump gestohlen wurde. Sie akzeptieren keine Vergebung, keine Verzeihung, und auch kein Angebot, zum Wohl des Landes jetzt zusammenzukommen. Warum? Weil sie diese Lüge so lange und so überzeugend erzählt haben, dass sie sie selbst glauben. Und weil sie es glauben, können sie keine Vergebung, Versöhnung und das Angebot, weiterzumachen, akzeptieren. Trotz aller Beweise glauben sie, dass sie keine Begnadigung und Vergebung brauchen, weil sie überzeugt sind, im Recht zu sein. 

»Wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften.« Solche Menschen werden keine Vergebung finden, aber nicht, weil Gott sie nicht anbieten würde. Sie werden niemals Vergebung finden, weil sie sie niemals annehmen werden. Das ist nie so weit von uns entfernt, wie wir gerne glauben möchten. Wie schwer ist es, Güte, Freundlichkeit, Wahrheit oder Großzügigkeit in Menschen zuzugeben, die wir nicht mögen? Können wir bereitwillig die Wahrheit zugeben, wenn sie von jemandem kommt, den wir nicht ausstehen können? Werden wir akzeptieren, dass der Heilige Geist am Werk ist, wenn wir diesem Werk in Menschen begegnen, die anders denken, anders wählen und anders entscheiden als wir?

In einer Welt voller Verschwörungstheorien, von den Ursprüngen von Covid 19 bis zum Tragen von Masken als Regierungskomplott, werden wir Zeugen, wie weit Menschen gehen werden, um ihre persönliche Sicht der Dinge aufrechtzuerhalten, egal wie überwältigend und schlüssig die Fakten sind. Sie haben oft großen Schaden angerichtet, sogar bis hin zur Gefährdung anderer. Aber selbst wenn wir ihnen die Hand reichen und einen Weg nach vorne in Frieden und Vergebung anbieten, werden sie die Vergebung annehmen oder einfach weiter darauf bestehen, dass sie die ganze Zeit Recht hatten?

 

Erik Riechers SAC, 6. Juni 2021

 

 

Worum beten?

 

Müde Gesichter begegnen mir in diesen Wochen. Frage ich nach, klingt die Stimme schwer und beladen. »Es reicht«, sagt der eine und meint die Einschränkungen aufgrund der Pandemie. »Ich habe meine Leichtigkeit verloren«, klagt die andere.

Ich treffe auch Menschen mit frohen Augen. »Meine Tochter hat mehrere Operationen überstanden. Sie lebt!«, jubelt der eine. »Mein Mann und ich waren an Corona erkrankt und mussten einige Wochen im Krankenhaus bleiben. Nun geht es uns wieder gut - trotz unseres Alters», freut sich die andere.

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen des Lebens stimmen mich nachdenklich.

Haben wir Menschen ein Recht auf ein einfaches, leichtes, unangestrengtes Leben? Oder können wir erst wahre Leichtigkeit gewinnen, wenn wir tief verankert sind und Stürme uns nicht haltlos machen?

Verlieren wir schon die Perspektive, wenn unser Leben äußerlich etwas eingeschränkt wird? Oder machen wir Erfahrungen dessen, was wahrhaft wesentlich ist und gewinnen so einen weiten Blick?

Können wir noch dankbar sein? Haben wir ein Gegenüber für unsere Dankbarkeit, vor dem wir sie aussprechen können?

Und welche Bitten tragen wir in unseren Herzen? Sind wir verwöhnte Kinder oder werden wir reife, kraftvolle Menschen?

Um was können wir beten?

Psalm 138 kommt mir da zu Hilfe. Der Beter, David, zeigt uns, dass er sich bewusst und sehr klar entscheidet zu danken und zu loben; »ich will« sagt er viermal! Die Antwort, die er von Gott erfahren hat, ist lebenstragend: »du weckst Kraft in meiner Seele« kann er darum sagen. Die Kraft war schon da, aber Gottes Nähe und Begleitung weckt sie, setzt sie frei. So kann er handeln und gehen, auch wenn es schwer und bedrückend wird, stets in dem Bewusstsein, dass Gott es ist, der ihn am Leben erhält und das vollendet, was er selbst nicht schaffen kann. So bittet er nicht um ein bequemes Leben und das Abnehmen von Gefahren. Er ist dankbar für die in ihm geweckte Kraft. Mit ihr und daraus handelt er und lässt Gott vollenden, was seine Möglichkeiten übersteigt. Vielleicht können wir uns einschwingen in die Spur seines Gebets:

 

Ich will dir danken mit meinem ganzen Herzen,

vor Göttern will ich dir singen und spielen.

Ich will mich niederwerfen zu deinem heiligen Tempel hin,

will deinem Namen danken für deine Huld und für deine Treue.

Denn du hast dein Wort größer gemacht als deinen ganzen Namen.

Am Tag, da ich rief, gabst du mir Antwort, du weckst Kraft in meiner Seele.

Dir, HERR, sollen alle Könige der Erde danken, wenn sie die Worte deines Munds hören.

Sie sollen singen auf den Wegen des HERRN Die Herrlichkeit des HERRN ist gewaltig.

Erhaben ist der HERR, doch er schaut auf den Niedrigen,

in der Höhe ist er, doch er erkennt von ferne.

Muss ich auch gehen inmitten der Drangsal, du erhältst mich am Leben trotz der Wut meiner Feinde.

Du streckst deine Hand aus, deine Rechte hilft mir.

Der HERR wird es für mich vollenden. HERR, deine Huld währt ewig.

Lass nicht ab von den Werken deiner Hände!

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. Juni 2021

 

 

Es kommt ein besserer Tag

 

In dem überschwänglichen Gospellied »In That Great Gettin' Up Morning« gibt es eine Zeile, die uns immer wieder innehalten lässt.»There’s a better day a coming.« (Es kommt ein besserer Tag)

Es ist leicht, den Gedanken zu bewundern und das Lied zu singen, bis wir an der Reihe sind, die Realität zu erleben, aus der dieses Lied geboren wurde. Dies ist kein billiges Tonikum, das uns von irgendeinem Selbstwertgefühls-Guru verkauft wird. Diese Worte wurden in einer Zeit der Erschütterung und schweren Unterdrückung geboren. Sie wurden von Menschen gesungen, die wussten, dass ihre Besitzer darauf abzielten, den menschlichen Geist zu brechen und nicht nur den Körper, sondern auch die Seele der Menschen zu versklaven, die sie fesselten und in Ketten legten. Aus dieser Dunkelheit heraus fand ein Volk die inneren Quellen der Hoffnung in den großen biblischen Geschichten. Und diese Geschichten von Gott führten sie dazu, zu verkünden, dass ein besserer Tag kommen wird. Sie sangen von diesem Tag, bevor sie ihn sehen konnten. Sie sangen von diesem Tag, bevor sie auch nur ein Jota von seiner Verheißung erleben konnten. Ein Volk in der Sklaverei sang dieses Lied.

Gestern haben wir unser Siebenquell-Programm für das zweite Halbjahr 2021 ausgerollt. Wochen, ja Monate der Vorbereitung sind darin eingeflossen. Darin steckt mehr als nur Planung und Organisation. Wir haben das Programm frühzeitig vorgestellt, Monate bevor wir mit der ersten Veranstaltung beginnen, um unseren Menschen wieder einen Horizont der Hoffnung zu geben, damit sie eine Perspektive jenseits der vergangenen Tage der Begrenzung und Einschränkung haben. Es ist unsere Art zu singen: There's a better day a coming.

Für die Zukunft zu planen, bedeutet, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen. Es gibt uns die Motivation, auf diesen besseren Tag zuzugehen, bevor wir tatsächlich in seiner Umarmung stehen. Es ermutigt uns, ihm einen Empfang zu bereiten. Es ist eigentlich eine sehr einfache Sache, und doch kann sie leicht eine brillante Wahrheit verdecken. Nur diejenigen, die eine echte Hoffnung und Erwartung für eine Zukunft haben, machen sich überhaupt die Mühe, sich auf eine solche vorzubereiten.

Und es geht darum, den Mächten zu widerstehen, die den menschlichen Geist brechen würden. Wir planten für die zweite Jahreshälfte, auch wenn die erste Hälfte des Jahres jeden Plan, den wir geschmiedet hatten, veränderte. Doch auch wenn wir gezwungen waren, unsere Pläne zu ändern, führte das nicht dazu, dass wir die Hoffnung und den Willen aufgaben, dem Geschenk des Lebens zu dienen. In der einen oder anderen Form fanden wir einen Weg, die Geschichten von Gott und dem Glauben und der Heimat zu erzählen, die uns so sehr am Herzen lagen.

Als Jesse Jackson 1988 seine Kandidatur als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei verlor, hielt er eine mitreißende Rede über einen besseren Tag, der kommen würde. Er schmollte nicht, und zog sich nicht aus dem Kampf zurück. Stattdessen gab er einen leidenschaftlichen Überblick über seine Pläne für die Zukunft, die Gründe, für die er kämpfen würde. Am Ende teilte er mit den Zuhörern den Geist, der ihn antrieb:

»Wo immer Du heute Abend bist, Du kannst es schaffen. Halte Deinen Kopf hoch; streck Deine Brust heraus. Du kannst es schaffen. Es wird manchmal dunkel, aber der Morgen kommt. Gib nicht auf!

Leiden züchtet Charakter, Charakter züchtet Glauben. Am Ende wird der Glaube nicht enttäuschen.

Du darfst nicht aufgeben! Du kannst es schaffen oder auch nicht, aber du musst wissen, dass du dazu in der Lage bist! Und halte durch, halte durch! Wir dürfen niemals aufgeben!! ...Erhalte die Hoffnung am Leben! Am morgigen Abend und darüber hinaus, erhalte die Hoffnung am Leben!«

Trotz aller Überraschungen, Unwägbarkeiten und unvorhersehbaren Risiken, die die Zukunft birgt, einschließlich der Enttäuschung, die sie manchmal auch mit sich bringen kann, machen wir weiter, planen wir und erhalten die Hoffnung am Leben. Es wird ein besserer Tag kommen. Glauben Sie daran, tief und leidenschaftlich. Die vielen Hindernisse und Widerstände auf dem Weg können die Sehnsucht in uns nicht auslöschen.

 

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

2. Juni 2021

 

 

Versprechen

 

Nach fast 10 Jahren griff ich zu einem Buch und begann es erneut zu lesen. Ich staunte, wie vieles ich gar nicht mehr in Erinnerung hatte, es war fast wie eine Neuentdeckung - »Die italienischen Schuhe« von Henning Mankell. Bald kam ich an eine Stelle, die mir seither nachgeht. Bei der ersten Begegnung der Protagonisten nach fast vier Jahrzehnten erinnert Harriet den Erzähler an ein Versprechen, das er ihr einst gab; sie nennt es das »einzig wirklich schöne Versprechen«, das sie je erhalten hat. Und dann legt sie ihm dar: »Man bekommt ständig Versprechen … Man gibt selber Versprechen. Man lauscht den Versprechen anderer Menschen. Politikern, die von einem besseren Leben für die Alternden sprechen, von einer Krankenpflege, bei der niemand wundgelegene Stellen bekommt. Von Banken, die Versprechungen über höhere Zinsen machen, Lebensmittel, die eine Gewichtsabnahme versprechen, und Cremes, die ein Alter mit weniger Falten garantieren. Das Leben ist nichts anderes, als mit seinem kleinen Boot zwischen einem wechselnden, aber nie versiegenden Strom von Versprechungen zu kreuzen.«

Ich hielt inne. In der Tat: Binden wir unser Leben an das, was uns über die Medien gesagt wird, dann sind wir einer Flut von Versprechen ausgeliefert. Wenn wir ihnen Glauben schenken und auf die Erfüllung setzen, werden wir immer wieder enttäuscht die Erfahrung machen, dass sich nichts ändert, weder auf meinem Bankkonto noch in der Haut. Das ist frustrierend, das wird ein Grund für viel Verdrossenheit sein, aber davor kann ich mich schützen. Mir hilft es etwa, sie als das zu betrachten, was sie oft sind: Verlockungen nicht um meines Wohles willen, sondern zum je eigenen Vorteil dessen, der hier etwas verspricht.

Anders empfinde ich es mit Versprechen, die mir ein Mensch persönlich gibt. Sie gelten mir. Ich vertraue darauf, dass sie eingehalten werden. Geschieht dies nicht, sprechen wir von einem gebrochenen Versprechen. »Gebrochene Versprechen sind wie Schatten, die in einer Dämmerung dahintanzen. Je älter ich werde, um so deutlicher sehe ich sie.«, sagt Harriet zu dem Menschen, der ihr einst das »einzig wirklich schöne Versprechen« gegeben hatte und auf dessen Erfüllung sie nun, gealtert und schwerkrank, besteht. Es war ein Versprechen, das damals von Herz zu Herz gesprochen hatte: er wollte ihr einen Ort zeigen, der tief verbunden war mit einem Moment seiner Kindheit.

Es ist uns Menschen zutiefst eigen, dass wir ernstnehmen und darauf vertrauen, was andere uns versprechen. Das ist lebensnotwendig und existentiell wichtig und wird grundgelegt im Urvertrauen unserer frühesten Kindheit. Müssen wir auf die Erfüllung auch lange warten, wir vergessen es meist nicht. So geschieht es auch mit allem, was wir anderen versprechen. Schauen wir ehrlich auf die letzten 15 Monate: Wem haben wir Aufmerksamkeit und Zeit versprochen? Was haben wir versprochen anders zu machen, wenn die Krise überwunden ist? Wissen wir überhaupt noch, was wir versprochen haben? Machen wir uns die Mühe, einander an unsere Versprechen zu erinnern?

Solchen Fragen müssen wir uns stellen, soll diese außergewöhnliche Zeit Früchte bringen und uns als einzelne und als Gemeinschaft wachsen lassen.

Die Bibel spricht oft von Gottes Huld und Treue. Gott wendet sich uns wohlwollend zu und er ist treu. Er hält sein Wort. Immer wieder erzählen Menschen von genau dieser Erfahrung, so wie der Beter des 40. Psalms: »Du, HERR, wirst dein Erbarmen nicht vor mir verschließen. Deine Huld und deine Treue werden mich immer behüten.«

Wir sind von Seiner Art. Trauen wir uns, einander Versprechen zu geben und bemühen wir uns, sie zu halten. Dann leben wir als Menschen Gottes und nicht als Frevler, deren Worte leer sind und wie Spreu verfliegen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 31. Mai 2021  

 

 

In welcher Liebe wollen wir wohnen?

 

Dreifaltigkeitssonntag 2021                   Mt 28, 16–20

 

Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern;

tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

 

Damit wissen wir, in wessen Namen wir sie taufen. Aber das wird nicht reichen. Immerhin, wir sagen nicht nur, dass Gott dreieinig ist, sondern dass wir in das Leben der Dreifaltigkeit hineingezogen werden. Dann stellt sich die Frage, wie sieht die Beziehung aus, in die wir alle hinein getauft worden sind?

Richard von St. Viktor (1110–1173), ein Denker des Mittelalters und einer der wichtigsten Theologen in Paris, wird vermutlich den meisten von Ihnen nicht viel sagen. Aber von ihm habe ich eine sehr tiefe und hilfreiche Einsicht gewonnen über das Leben der Dreifaltigkeit.

In seinem Werk »De Trinitate« bezeichnet er das Leben der Dreifaltigkeit als gegenseitige Freundschaft zwischen den drei Personen. Er nennt diese Beziehung eine absolute Freundschaft.

Da Sie vermutlich Ihre Kopie der gesammelten Werke des Richard von St. Viktor einem Freund ausgeliehen haben, fasse ich seine Gedanken kurz zusammen.

Er beginnt mit dem Wort: Gott ist gut. Aber um gut zu sein, muss Gott nur eins sein.

Dann sagt er, dass Gott auch liebend ist, aber um zu lieben, muss Gott zwei sein, denn jede Liebe ist eine Beziehung des Gebens und des Empfangens.

Dann kommt Richard von St. Victor zu dem Teil, der mich immer wieder begeistert, denn er sagt, dass Gott auch von genüsslicher Freude erfüllt ist und glücklich, Gedanken, die der biblischen Erzählung nicht fremd sind, aber die kaum vorkommen, wenn wir die Geschichten Gottes erzählen. Aber um von genüsslicher Freude erfüllt und  glücklich zu sein, muss Gott drei sein. Er sagt, genüssliche Freude kommt erst zustande, wenn zwei zusammen die gleiche Sache zur gleichen Zeit genießen und sich darüber freuen. Als  Beispiel nennt er neue Eltern, die ihr neues Kind lieben und nicht aufhören können, zusammen das Kind zu bewundern. Diese Liebe hat sich entfaltet. Ursprünglich floss diese Liebe hin und her zwischen Mann und Frau. Jetzt aber fließt sie in einem unendlichen Kreis, zwischen Mutter, Vater und Kind. Jeder der drei hat seinen Anteil an der Erzeugung und dem Vorantreiben der Sehnsucht und der Liebe. Und das nennt Richard von St. Viktor die wahre, absolute Freundschaft.

Das gefällt mir sehr. Die Theologie dieses außergewöhnlichen Mannes stellt die Freundschaft mitten ins Herz Gottes.

Diese Freundschaft, die in der Lage ist, über sich selbst hinaus zu lieben, ist der Höhepunkt eines menschlichen Lebens. Sie muss ihre Quelle in Gott haben, denn Gott ist der Urheber alles Guten und aller Liebe. Authentische Liebe geht vom Selbst zum anderen hin und bleibt nicht bei zwei, denn sie werden diese Liebe teilen wollen mit einem anderen. Um die Fülle der Liebe zu erfahren, spüren und genießen, suchen wir einen, der unsere Liebe zu dem Geliebten, zu dem, was wir so lieben, teilt. Richard sieht die Freundschaft in der Dreifaltigkeit als ein ekstatisches Hinausbrechen über die zwei hinaus, um einen dritten einzubeziehen. Der Dritte wird in keiner Weise weniger geliebt als die anderen beiden, denn die Liebe fließt gleichermaßen in allen Richtungen. Fragen Sie nur das geliebte Kind zweier liebevoller Eltern.

In diese Freundschaft werden wir hineingetauft, ja, hineingesenkt. Die Menschen, die wir am tiefsten lieben, mit großer Hingabe und aus voller Freiheit, werden niemals einfach die Menschen sein, die uns lieben. Die Menschen der tiefsten echten Freundschaft sind die, die auch lieben, was wir lieben. Wie kann ein Elternteil zum anderen sagen: »Ich liebe dich, aber nicht unser Kind«, ohne die Liebe, die sie schon haben, zu mindern oder sogar zu zerstören? Wie sage ich zu einem Freund, ich liebe dich, aber nicht was du mit Herzblut liebst?

Im Optimalfall verlieben sich beide Eltern in die Herausforderung und Freude, die ihr neugeborenes Kind ist. Das Kind, in das sie verliebt sind, hält das Paar in einer Art ekstatischer und dienstbereiter Erregung zusammen. Liebe ist dann kein Kraftakt; sie fließt in jedem neuen Moment zwischen dem Einen, der zustimmt, den Fluss in Gang zu setzen, dem Zweiten, der den Fluss empfängt und erwidert, und dem Dritten, der der Nutznießer und der Fluss selbst wird. Und sie wechseln ständig die Plätze!

Denken Sie ein paar Stunden darüber nach. Sie werden nirgendwo anders leben wollen.

 

Erik Riechers SAC, 30. Mai 2021

 

 

Die Wahl, die uns zu neuen Geschichten führt

 

In meiner Reflexion »Die Geschichten, die uns zu neuen Entscheidungen führen«, sprach ich von meiner Liebe zu Dr. Eva Edith Egers Buch »Ich bin hier, und alles ist jetzt«. Darin habe ich wunderbare Beispiele für die Macht von Geschichten gefunden, die unser Leben beeinflussen, uns aus alten inneren Gefängnissen ausbrechen lassen und uns zu Entscheidungen führen, die wir sonst nicht wagen würden, und zu Freundschaften, die wir sonst nicht schließen würden.

Heute wende ich mich einer weiteren mächtigen Wirkung zu, die eine gute Geschichte haben kann. Es ist die Langzeitwirkung der Geschichte, die Jahre, ja Jahrzehnte dauern kann, um ihre volle Kraft zu entfalten. 

Die Zeile aus Viktor Frankls Buch, die Eva Edith Eger für das Herzstück seiner Lehre hält, ist diese: dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen

Viele Jahre später erhält Dr. Eger eine Einladung zu einem Besuch und einer Lehrtätigkeit in Deutschland. Sie soll vor 600 Seelsorgern der US-Armee über ihr Fachgebiet, die Posttraumatische Belastungsstörung, sprechen. Tatsächlich wird sie in Berchtesgaden sein, in einem alten Alpenhotel, das einst von SS-Offizieren genutzt wurde. Sie ist sehr zwiegespalten. Dann besucht sie zum ersten Mal seit ihrer Befreiung Auschwitz.

Hier blüht die Geschichte, die mit einem Buch begann, das ihr ein Student in die Hand drückte, zu voller Größe auf. Sie wird von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt, von der unbeantwortbaren Frage: Warum habe ich überlebt und nicht die anderen. Dann trifft sie ihre Wahl:

Hätte ich meine Mutter retten können? Vielleicht. Und mit dieser Möglichkeit werde ich mein ganzes restliches Leben verbringen. Und ich kann mich kasteien, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe. Das ist mein Privileg. Oder ich kann akzeptieren, dass die wichtigere Entscheidung nicht diejenige ist, die ich getroffen habe, als ich hungrig und verängstigt war, als wir von Hunden, Pistolen und Ungewissheit umgeben waren, als ich sechzehn war – es ist die Entscheidung die ich jetzt treffe. Die Entscheidung, mich so zu akzeptieren, wie ich bin: menschlich, unvollkommen. Und die Entscheidung, für mein eigenes Glück verantwortlich zu sein. Mir meine Unvollkommenheiten zu vergeben und meine Unschuld wieder einzufordern. Nicht mehr zu fragen, warum ausgerechnet ich überlebt  habe. Zu funktionieren, so gut ich kann, mich dafür einzusetzen, anderen von Nutzen zu sein, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um meine Eltern zu ehren, mich darum zu kümmern, dass sie nicht vergebens gestorben sind. Mit meinen beschränkten Möglichkeiten mein Bestes zu geben, damit zukünftige Generationen nicht das erleben müssen, was ich erlebt habe. Nützlich zu sein, gebraucht zu werden, weiterzuleben und erfolgreich zu sein, damit ich jeden Augenblick nutzen kann, um eine bessere Welt zu schaffen. Und am Ende, am Ende nicht mehr vor der Vergangenheit davonzulaufen. Nach Möglichkeit alles zu tun, um mich mit meiner Vergangenheit zu versöhnen und sie dann zu erlösen. Ich kann die Entscheidung treffen, die wir alle treffen können. Ich werde die Vergangenheit niemals ändern können. Aber es gibt ein Leben, das ich retten kann: Es ist mein Leben. Das Leben, das ich gerade jetzt lebe, diesen kostbaren Augenblick. *

Ich denke, das ist die schwerste Entscheidung von allen, uns selbst zu vergeben für das, was wir nicht in der Lage waren zu sein oder zu tun, und das Leben zu wählen. Die Worte von Dr. Eger sind einer der reinsten und rohesten Ausdrücke der Worte des Deuteronomiums: Ich stelle vor dich Segen und Fluch, Leben und Tod. Wähle das Leben, damit du leben kannst.

Wir haben nicht den Luxus, immer den Zeitpunkt und den Ort zu wählen, an dem wir das Leben wählen müssen. Den meisten von uns bleibt die Erfahrung von Auschwitz erspart, aber viele Männer und Frauen sind durch andere Grausamkeiten und Nöte und Schläge traumatisiert.

Und zu dem riesigen Todeslager, das meine Eltern und so unendlich viele andere verschlang, zu der Schule des Horrors, die mir dennoch eine sakrale Lektion darüber erteilte, wie ich mein Leben meistern kann – darüber, dass ich zu einem Opfer gemacht wurde, aber kein Opfer bin. Dass ich verletzt wurde, aber nicht zerbrochen bin. Dass die Seele niemals stirbt, dass Sinn und Ziel tief aus dem Herzen dessen kommen können, was uns am meisten schmerzt – sage ich meine letzten Worte. Adieu, sage ich. Und Danke. Danke für mein Leben und für die Fähigkeit, am Ende das Leben zu akzeptieren, das ist.*

Viktor Frankl gab seine Geschichte an die Welt weiter, ein Mann gab Frankls Geschichte an eine verängstigte Frau weiter, die von den gleichen Ereignissen traumatisiert war, und sie erzählte ihre Geschichte weiter an viele andere. Und ich gebe ihre Geschichte an Sie weiter. Sie wird nie zu Ende sein. Nach harten 15 Monaten mit pandemischen Einschränkungen, Verlusten und Ungewissheiten wird uns diese Geschichte vielleicht zu neuen Entscheidungen führen, vielleicht sogar dazu, uns selbst zu verzeihen, dass wir nicht alles waren und taten, was wir dachten, dass wir es hätten tun sollen, und zu diesen Tagen zurückzukehren und zu sagen: »Adieu, sage ich. Und Danke. Danke für mein Leben und für die Fähigkeit, am Ende das Leben zu akzeptieren, das ist.«

* Dr. Edith Eva Eger, Ich bin hier, und alles ist jetzt. S.399-401

 

Erik Riechers SAC, 28. Mai 2021

 

 

Die Geschichten, die uns zu neuen Entscheidungen führen

 

Im letzten Jahr habe ich viele, viele Bücher gelesen. Wenn mich jemand fragen würde, zu welchem Buch ich am häufigsten zurückgekehrt bin, würde ich zweifelsohne »Ich bin hier, und alles ist jetzt« von Edith Eva Eger sagen. Das Buch ist ein faszinierender Bericht über ihr Leben, von ihrer Kindheit in Budapest über ihr Überleben in Auschwitz, ihre Emigration in die USA bis hin zu ihrer eigenen Entwicklung zur Therapeutin, die sich auf die Behandlung von Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) spezialisiert hat.

Aber es ist die Botschaft im Herzen des Buches, die mich immer wieder zu ihm zurückbringt. Und diese Botschaft ist, dass wir eine Wahl haben und durch diese Wahl können wir unser Leben und die Welt um uns herum formen und sogar gestalten.

Dr. Eger beschreibt, wie sie gleich zu Beginn ihres Studiums von einem Kommilitonen ein Exemplar von Viktor Frankls »Die Suche des Menschen nach dem Sinn« geschenkt bekommt. Allein das hat mich verzaubert, denn es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Geschichten in unser Leben treten und ihm eine neue Richtung geben.

In diesem Fall findet Frau Dr. Eger eine Stimme, die eine Geschichte erzählt, die sie kennt, der sie sich aber in ihrem eigenen Leben nicht stellen, geschweige denn erzählen konnte.

[Frankl] spricht mit mir. Er spricht für mich. . . . Ich starre auf all das, was ich zu verbergen gesucht habe. Und während ich lese, stelle ich fest, dass ich nicht das Gefühl habe, handlungsunfähig zu sein, in der Falle zu sitzen oder abermals dort eingesperrt zu sein. Zu meiner Überraschung habe ich keine Angst. Für jede Seite, die ich lese, will ich zehn schreiben. Was, wenn der Druck auf die Vergangenheit sich dadurch, dass ich die Geschichte erzähle, löst statt erhöht? Was wenn die Vergangenheit dadurch, dass ich über sie spreche, bewältigt statt in Stein gemeißelt wird? Was wenn Schweigen und Verleugnen nicht die einzigen Entscheidungsmöglichkeiten sind, die mir nach katastrophalen Verlusten offenstehen. *

Das ist die Kraft einer guten Geschichte: uns Worte und Bilder für Erfahrungen zu geben, die wir tief erlebt haben, aber nicht formulieren können. Die Geschichten sind die Begleiter, die uns den Mut geben, die verschütteten Geschichten des Schmerzes anzuschauen und zu erzählen. Die Geschichten können uns von alten Dämonen befreien, indem sie uns ungesehene Horizonte, unbetretene Wege und unerprobte Möglichkeiten zeigen. Und sie lehren uns, dass wir nicht allein sind, auch nicht mit den Albträumen, die wir erlitten haben.

Dr. Eger macht dann eine lebensverändernde Entdeckung:

In jenen Stunden vor Tagesanbruch im Herbst 1966 lese ich das, was den Kern von Frankls Lehre ausmacht, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Jeder Augenblick ist eine Entscheidung. Unabhängig davon, wie frustrierend, langweilig, einschränkend oder qualvoll unsere Erfahrungen sind, können wir immer entscheiden, wie wir darauf reagieren. Und ich beginne schließlich zu erkennen, dass auch ich eine Wahl habe. Diese Erkenntnis wird mein Leben verändern. **

Später wird sie einen ersten Versuch unternehmen, ihre eigene Geschichte in einem Essay mit dem Titel »Viktor Frankl und ich« zu erzählen. Sie ist überwältigt, als sie einen Brief Viktor Frankls erhält, der mit dem Gruß »Von einem Überlebenden zum anderen« beginnt. Die beiden werden Freunde. Außerdem wird er die Rolle eines Mentors übernehmen und ihren Weg zu einer gefragten Therapeutin begleiten.

All das kommt zustande, weil ihr jemand eine Geschichte zum Lesen gegeben hat. Geschichten eröffnen nicht nur neue Horizonte und Möglichkeiten, die bisher ungesehen und unbemerkt waren, sie führen uns auch zu Weggefährten und leiten uns zu Freundschaften, die wir sonst vielleicht nie kennengelernt hätten.

* Dr. Edith Eva Eger, Ich bin hier, und alles ist jetzt. S. 271-272

** ebd. S. 273

 

Erik Riechers SAC, 26. Mai 2021

 

 

Sei etwas Schönes für Gott

 

Pfingsten 2021                    Sirach 39, 12-16

 

Hört mich an, ihr frommen Söhne und Töchter,

und gedeiht wie eine Rose, die am Flusslauf wächst!

 

Verströmt Wohlgeruch wie Weihrauch!

Treibt Blüten wie eine Lilie!

 

Verbreitet Wohlgeruch und stimmt ein Loblied an

und preist den Herrn für all die Werke!

 

Macht seinen Namen groß, preist ihn im Lobgesang!

Mit Liedern auf den Lippen und mit Saitenspiel,

so werdet ihr preisend sprechen:

Alle Werke des Herrn sind überaus gut und jeder Befehl geschieht zur rechten Zeit.

 

Pfingsten ist das Fest der Sendung, der Moment, in dem der Geist uns berührt, uns in Brand setzt und uns aus der Enge der Räume befreit, in die wir uns zurückgezogen haben, damit wir uns in die weiteren Räume bewegen können, die Gott uns berühren lassen möchte. 

Aber es gibt immer eine begleitende Frage zu unserer Bewegung vom Coenaculum in die Stadt. Wie leben wir das aus? Ich bezweifle nicht, dass wir unseren geisterfüllten Glauben in die Welt bringen, aber ich habe oft und zunehmend den Eindruck, dass wir das in einer stark abgespeckten Form tun. Deshalb habe ich diese Worte von Jesus Sirach gewählt, denn so hinreißend sie sind, sie stellen uns auch eine dringende Frage.

In der Tat preisen wir den Herrn »für all die Werke«, aber verbreiten wir Wohlgeruch aus?

Sicherlich machen wir »seinen Namen groß«, aber wir sind nicht übermäßig darauf bedacht, dabei so wohlriechend wie Weihrauch zu sein.

Christliche Verkündigung, synodale Prozesse, theologische Debatten über die drängenden Fragen unserer Zeit, kirchliche Dokumente und kirchliche Reformen sind zu einem grimmigen Geschäft geworden. Der letztendliche Eindruck, den das alles hinterlässt, wird von einem Kommentator gut eingefangen, der bemerkt hat: Sie sind ein ziemlich freudloser Haufen.

Ich weiß natürlich, dass es eine ernste Angelegenheit ist, ein vom Glauben durchdrungenes Leben zu führen. Aber im Laufe des Hinausgehens in die ganze Welt haben wir den Kontakt zu einem tief empfundenen Wunsch Gottes verloren, an den uns Jesus Sirach erinnert. Wir selbst sollen aufblühen und wachsen, während wir die Leute versammeln, die Geschichten erzählen und das Brot brechen.

Kürzlich habe ich an einer Vesper teilgenommen. Gute und fromme Frauen zeigten grimmige Entschlossenheit, das Geschäft des Lobes Gottes zu erledigen, und zwar richtig gründlich. Seite nach Seite des Lobpreises wurde rezitiert, wobei in lebendigen, akribischen Details all die Gründe dargelegt wurden, die wir Menschen haben, um der Welt zu verkünden, dass dies unser Gott ist.

Aber ich muss hinzufügen, es war kaum attraktiv, inspirierend oder ansprechend. Es hatte etwas Hartes und Kaltes an sich. An einem Punkt sagte ich einfach zu mir selbst: Wo sind wir in all dem? Reicht es wirklich aus zu sagen, dass wir dafür gesorgt haben, dass Gott seine tägliche Dosis Lob erhält, ohne zu fragen, was Gott sich für uns wünscht. Wenn es um die Werke des Herrn geht, beschreibt der Psalmist die Pfingstmission so: »Das wollen wir auch unseren Kindern nicht vorenthalten. Denen, die nach uns kommen, wollen wir von den großartigen Taten des Herrn erzählen, von seiner Macht und den Wundern, die er vollbracht hat.« (Psalm 78,4) . Deshalb frage ich mich, ist das die Art und Weise, wie wir der nächsten Generation die Geschichten von Gott erzählen wollen? Ist das die Art und Weise, in der uns die Erfahrung von Pfingsten in die Welt schicken möchte?

Oder ist es nicht so, dass das größte und zutiefst überzeugende Argument für Gottes Gegenwart immer die Wirkung war, die seine Geschichte auf unser Leben hat? 

Wenn wir nicht gedeihen »wie eine Rose, die am Flusslauf wächst«, während wir die Geschichten von Gott erzählen, sondern stattdessen am Weinstock verdorren und ein graues, farbloses und tristes Leben führen, was erwarten wir dann von den anderen als Reaktion auf unsere Einladung? Was ist das Motto eines solchen Erzählens? Elend sucht Gesellschaft?

Wenn wir in unseren Erzählungen des Glaubens nicht »Wohlgeruch wie Weihrauch« verströmen, sondern rauchende Wut, Anschuldigungen und Schuldzuweisungen, die fast den gesamten öffentlichen Diskurs prägen, hinzufügen, wo liegt die attraktive Qualität darin? In einer Welt, die mit den Nebenprodukten von Wut und bitterer Schmähung überschwemmt ist, gibt es kaum einen Grund, noch mehr davon auf den Markt zu bringen.

Wenn die Geschichten, die wir als Gefährten Gott erzählen, uns nicht dazu bringen, Blüten zu treiben wie eine Lilie, sondern zur Hässlichkeit und Gemeinheit des öffentlichen Diskurses beitragen, dann gießen wir nur Öl in ein bereits hell brennendes Feuer. Aber wir entzünden sicherlich keine neue Flamme.

Wenn unsere Geschichten uns nicht dazu bringen, Wohlgeruch zu verbreiten, sondern das bisschen Geheimnis, das wir begriffen haben, an uns klammern, es in unser Herz der privaten Frömmigkeit sperren und eifersüchtig für unsere persönliche Erbauung bewachen, dann verhalten wir uns wie Bettler, während wir verkünden, dass wir aus einem guten, weiten Land des Überflusses kommen. Parfüm, das nie die Flasche verlässt, kann seine Bestimmung nicht erfüllen.

In der Erfahrung von Pfingsten will Gott ganz sicher, dass wir dem Leben der Welt dienen, aber er will auch ganz sicher, dass wir selbst leben und gedeihen, während wir das tun. Wir sprechen vom Geist als dem Herrn und Geber des Lebens, aber wir, die wir die vom Geist gewebten Geschichten erzählen, haben genauso das Recht, Empfänger des Lebens zu sein. Wir sollen es genießen, nicht nur verkünden.

»Wir sollen nicht nur die Welt schöner machen, sondern diese Schönheit selbst genießen und in sie eintreten: Wir wollen nicht nur Schönheit sehen ... wir wollen etwas anderes, das sich kaum in Worte fassen lässt - mit der Schönheit, die wir sehen, vereint sein, in sie übergehen, sie in uns aufnehmen, in ihr baden, Teil von ihr werden.«  C.S. Lewis

 

Wir sollen wachsen, in Schönheit wie auch in Kraft.

Unser Leben soll sich entfalten, sowohl in Attraktivität als auch in Fleiß.

Wir sollen erblühen, nicht nur produzieren.

Ich habe nie einen Mann gekannt, der Schönheit so ernst genommen hat wie John O'Donohue. Er bezeichnete sie als eine menschliche Berufung. 

»Bei der Schönheit geht es um ein abgerundetes, substantielles Werden. Und ich denke, wenn wir eine neue Schwelle überschreiten, wenn wir sie würdig überschreiten, dann heilen wir die Muster der Wiederholung, die in uns waren, die uns irgendwo gefangen hatten. Und bei unserem Überschreiten betreten wir dann neuen Boden, auf dem wir einfach nicht wiederholen, was wir an dem letzten Ort, an dem wir waren, durchgemacht haben. Ich denke also, dass es bei Schönheit in diesem Sinne um eine entstehende Fülle geht, einen größeren Sinn für Anmut und Eleganz, einen tieferen Sinn für Tiefe und auch eine Art Heimkehr für die bereicherte Erinnerung an Dein sich entfaltendes Leben.«

Derselbe John O'Donohue gestand einst poetisch einen geheimen Wunsch seines Herzens. »Ich möchte gerne leben, wie ein Fluss fließt, getragen von der Überraschung seiner eigenen Entfaltung.« Jesus Sirach beschreibt, wie das aussehen würde.

 

Hört mich an, ihr frommen Söhne und Töchter,

und gedeiht wie eine Rose, die am Flusslauf wächst!

Verströmt Wohlgeruch wie Weihrauch!

Treibt Blüten wie eine Lilie!

Verbreitet Wohlgeruch und stimmt ein Loblied an

und preist den Herrn für all die Werke!

 

Wenn diese Worte unsere Art und Weise beschreiben, wie wir in der Welt sind und wie wir in dieser Welt Menschen ein Willkommen bereiten, wird die Qualität unseres Zeugnisses außerordentlich attraktiv sein.

 

Erik Riechers SAC, Pfingsten, 23. Mai 2021

 

 

Es gibt noch Erzähler: »Theater am Faden«

 

Wo sind die Geschichtenerzähler für unsere Jugendlichen, Kinder und Enkel?

Welche Geschichten werden ihnen angeboten? Wovon können sie sich nähren?

Diese Fragen beschäftigen mich seit langem und nicht bloß akademisch. Wer in Kitas und Schulen oder im privaten Umfeld mit Kindern zu tun hat, erlebt häufig Kinder, die wenig Phantasie zeigen und nur noch unterhalten werden wollen. Sie sind auch schnell abgelenkt, vermögen nicht, in eine Sache zu versinken. Ausdauer und Begeisterungsfähigkeit fehlen ihnen. Das ist alles nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, wie der Alltag vieler Kinder aussieht. Sie verbringen den größten Teil des Tages fremdbestimmt, werden überallhin gefahren, sind wenig unterwegs in der Natur. Zweckfreie Zeiten mit Muße und Räumen, die die Phantasie beflügeln, gibt’s selten und oft fehlen an ihrer Seite Erwachsene, die auf sie eingehen, die erzählen und vorlesen oder kleine Abenteuer mit ihnen suchen. Dazu dienen eher der Fernseher oder das Tablet: die Bilder werden vorgegeben, die Geschichten sind nie angepasst an die jeweilige Situation der Kinder und sie sind passive Konsumenten. Vieles wäre dazu noch zu sagen. 

Mir tut es weh, dies zu beobachten und es macht mir Sorge. Ich frage mich: Wo begegnen Kinder heute noch echten Erzählern und lebendigen Geschichten?

Anfang Mai spazierte ich mit meinem jüngsten Enkel und seinen Eltern durch Stuttgarts Süden, als plötzlich mein Blick von einem Hof angezogen wurde. Es war, als ob mitten in der gut situierten Welt dieses Stadtteils ein Fenster aufging in eine verzauberte andere Welt. Mir fiel ein, dass ich im Winter schon einmal in diesen alten, etwas chaotischen Hof geschaut hatte; da war er unbelebt und leer gewesen. Doch jetzt blickten mich viele Gesichter an, Farben sprühten, märchenhafte und exotische Figuren schienen lebendig zu werden. Sie warteten nur darauf, in Bewegung zu geraten und zu uns zu sprechen.

Es waren große Marionetten und sie gehörten zum »Theater am Faden«; die Puppen hatten die Treppe bevölkert und lockten uns in den Hof hinein. Meine Tochter sah sich um und bemerkte: »Ich spüre genau, wie ich hier als Kind abgetaucht wäre.«

Mir ging das Herz auf: Es gibt sie noch, die Erzähler, die Zauberer neuer Welten. Sie haben die Pandemie überlebt und bieten sich wieder an für den Sommer. Hier saßen schon Kinder und hier werden sie wieder sitzen und sich in verzauberte Welten mitnehmen lassen.

Lassen wir uns also den Mut nicht nehmen! Und lassen wir uns immer wieder inspirieren!

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Mai 2021

Nächster Abschnitt

Die Wahl zwischen dem, was richtig ist und dem, was leicht ist

 

In J.K. Rowlings Buch »Harry Potter und den Feuerkelch« spricht Albus Dumbledore, der weise und geniale Schulleiter der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei, eine Warnung an seinen jungen Schützling:

»Vor uns liegen dunkle, schwere Zeiten. Schon bald müssen wir uns entscheiden zwischen dem richtigen Weg und dem leichten.«

Dies ist eine bewundernswerte Unterscheidung, weil sie eine überraschende Wendung bietet. Normalerweise stellen wir die klassische Wahl als zwischen richtig und falsch dar. Doch die viel realistischere und daher schwierigere Wahl, vor der wir stehen, ist die zwischen dem, was leicht ist, und dem, was richtig ist.

Wir alle treffen zwar falsche Entscheidungen, aber wir treffen sie selten aus dem Wunsch heraus, das zu tun, was unangemessen oder moralisch falsch ist. Wir wählen den falschen Weg, weil es der leichtere Weg ist, der Weg des geringsten Widerstandes.

In der unnachahmlichen Sprache der biblischen Geschichten wird diese Wahl sehr fein beschrieben. Wir sind aufgerufen, zwischen der Fülle des Lebens oder einem leichten Leben zu wählen. Fülle ist nicht Leichtigkeit. Doch unsere Sprache verrät uns oft. Ich kann nicht zählen, wie oft Menschen zur geistlichen Begleitung gekommen sind, weil sie eine größere Fülle in einem Leben suchen, das unerträglich geworden ist. Doch in dem Moment, in dem ich ihnen mögliche Wege zu dieser Fülle zeige, schießen die Worte aus ihnen heraus: »Das ist doch nicht so leicht!« Sie haben Recht, aber Leichtigkeit ist nicht das Thema. Wir alle haben eine Wahl zu treffen. Wollen wir das Leben und das Leben in Fülle? Oder wollen wir ein leichtes Leben? Beides werden wir mit Sicherheit nicht haben.

Wenn diese Pandemie zu Ende geht, werden wir einige Entscheidungen zu treffen haben. »Vor uns liegen dunkle, schwere Zeiten. Schon bald müssen wir uns entscheiden zwischen dem richtigen Weg und dem leichten.« Es wäre in der Tat sehr töricht zu glauben, dass die Tage nach Covid-19 voller Sonnenschein und Schmetterlinge sein werden. Gier, Konsumdenken und radikaler Individualismus hämmern bereits auf das Gemeinwohl und die menschliche Brüderlichkeit ein. Das ist der leichte Weg, aber kaum der richtige. Stattdessen könnten wir fragen: Werden wir versuchen, mehr miteinander verbunden zu sein? Werden wir von neuem sehen, wie sehr wir einander schon immer gebraucht haben? Werden wir etwas von dem Schaden reparieren, den wir anderen und uns selbst zugefügt haben?

Hört und beherzigt die poetischen Worte von John O'Donohue:

»Du schwebst in dieser Zwischenzeit, in der

alles zurückgenommen wirkt.

Der Pfad, den du hierherkamst, ist verschwunden;

Der Weg nach vorne verbirgt sich noch vor dir.

Das Alte ist noch nicht alt genug fürs Sterben;

Das Neue noch zu jung für die Geburt.«

Im Herrn der Ringe erzählt Frodo einem anderen Zauberer, dass er sich wünscht, er wäre von den Geschehnissen seiner Zeit verschont geblieben. Gandalf antwortet mit einer Weisheit aus tiefstem Herzen: »Das tun alle, die solche Zeiten erleben, aber es liegt nicht in ihrer Macht das zu entscheiden. Wir können nur entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen wollen, die uns gegeben ist.«

In großen Geschichten sind Zauberer oft die Träger einer großen Weisheit über Entscheidungen, die das Leben verändern. Ich vermute, dass diese Weisheit in der großen Geschichte Gottes zu finden ist, in der wir alle eine Rolle spielen.

 

Erik Riechers SAC, 19. Mai 2021

 

 

Wovon leiten lassen?

 

Es ist nicht so, dass wir, wie wir gern behaupten, ja nicht anders könnten als so oder so zu handeln, als sei das, was wir tun, alternativlos. Nein, wir haben eine Fülle von Möglichkeiten des Denkens, des Entscheidens und Handelns. Diese Vielfalt gilt es anzuschauen, auszuhalten, abzuwägen und dann auszuwählen. Ja, das ist manchmal ganz schön anstrengend; es ist kein Laissez-faire-Lebensstil, in dem ich nach Lust und Laune mal hierhin und mal dorthin schnuppere.

Die Vielfalt zwingt mich und uns alle zu Entscheidungen, die Konsequenzen haben.

Wie aber gelangen wir zur guten Wahl, zu tragenden Lebensentscheidungen?  Vor über einem Jahr, angesichts der sich ausbreitenden Pandemie, hat sich der amerikanische Philosoph und Autor Charles Eisenstein in vielen Essays mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Die Thematik wird für ihn durch die - noch immer andauernde - Krise besonders deutlich, aber die Frage, was uns leitet, gilt immer. Denn:   

»Eine Million Wege gabeln sich vor uns auf. . . .

Was kann uns als einzelne und als Gesellschaft leiten, die wir durch diesen Garten sich verzweigender Wege gehen?

An jeder Wegkreuzung können wir uns bewusst machen, wovon wir uns leiten lassen:

Angst oder Liebe? Selbstschutz oder Großherzigkeit?

Sollen wir in Angst leben und eine darauf basierende Gesellschaft einrichten?

Sollen wir leben, um unsere abgetrennten Egos zu wahren? . . .

Ein nächster Schritt in Richtung Liebe liegt vor uns.

Er fühlt sich wagemutig an, aber nicht leichtsinnig.

Er umspannt die Wertschätzung des Lebens und zugleich die Anerkennung des Todes.

Er kommt aus dem Vertrauen darauf, dass mit jedem neuen Schritt

der nächste sichtbar wird.«

 

Schauen wir auf den Lebensweg und die Lebensweise Jesu und nehmen wir einmal dankbar wahr, welch einen Meister wir haben!

 

Rosemarie Monnerjahn, 17. Mai 2021

 

 

Wie sollte es weiter gehen?

 

7. Sonntag der Osterzeit 2021                    Apg 1,15–17.20ac–26 

 

Wenn eine große Ära oder eine besonders intensive Zeit zu Ende geht, stellen wir uns automatisch eine Frage: Wie sollte es danach weiter gehen?

Vor dieser Frage stehen auch die Jünger nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Ausgestattet mit dem Auftrag des Herrn, seine Zeugen zu sein, müssen sie nun das Leben des Glaubens gestalten und die Gemeinschaft der Gläubigen führen und begleiten. Dazu gehört auch, dass sie einen Nachfolger für einen Kollegen suchen müssen, der nacheinander erst durch Habgier, dann durch Verrat und schließlich durch Hoffnungslosigkeit verloren ging: Judas Iskariot.

Das Kriterium für den Nachfolger ist klar:

Es ist also nötig, dass einer von den Männern,

die mit uns die ganze Zeit zusammen waren,

als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging,

angefangen von der Taufe durch Johannes

bis zu dem Tag,

an dem er von uns ging

und in den Himmel aufgenommen wurde –

einer von diesen muss nun zusammen mit uns

Zeuge seiner Auferstehung sein.

Aber auch wenn Petrus und die Apostel in diesen beiden Kriterien der steten Anwesenheit bei Jesus und ein Augenzeuge der Auferstehung zu sein ihre Fragen an die vorgeschlagenen Nachfolger »Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen Justus, und Matthias« stellen, sie müssen sich selbst auch eine Frage stellen: Kann ich ein Nachfolger anstatt ein Pionier sein?

Matthias ist ein Mann, den ich sehr bewundere. In seiner Bereitschaft, sich zur Wahl zu stellen und diese anzunehmen, sehe ich in ihm einen Mut, der vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Denn durch seine Wahl wird er der einzige Nachfolger in einer Truppe von Pionieren.

Gleichzeitig gibt es einige Vorteile, ein Pionier zu sein, die wir normalerweise nicht berücksichtigen. Pioniere haben keine Vorgänger. Und weil sie keine Vorgänger haben, gibt es niemanden, der ihnen sagt: »Ich habe das schon immer so gemacht.« Weil sie die Ersten sind, werden sie auch nicht ständig mit denen verglichen, die die Aufgabe vor ihnen erledigt haben. Sie sind frei, ihre ganze Kreativität einzusetzen, frei von allen Vorerfahrungen, die so nonchalant als normativ für alle, die folgen, gelten.

Matthias gerät durch seine Wahl in eine schwierige Situation. Die Elf waren alle Pioniere. Vor ihnen gab es keine Apostel. Sie waren die ersten, die diese Rolle ausfüllten, und es gab keine Stellenbeschreibung. 

Matthias muss in der Tat als einziger Nachfolger in eine Gruppe eintreten, die alle keine Vorgänger hatten. Deshalb ist er der einzige der Apostel, der mit seinen Vorgängern verglichen werden kann, und wie wir alle nur zu gut wissen, sind alle Vergleiche teuflisch. Auf ihn können vorgefasste Erwartungen projiziert werden, eine Erfahrung, die keiner seiner Kollegen machen musste.

So wird er auch einen besonderen Druck erfahren, den alle Menschen ertragen, die eine Position übernehmen, die ein anderer vor ihnen innehatte. Er wird im Schatten seiner Vorgänger stehen. Und dieser Schatten kann in der Tat ein sehr dunkler Ort sein. Dort werden uns Botschaften ins Ohr geträufelt, Botschaften, die das Selbstvertrauen des Herzens zerfressen wie Gift: Sei nicht dein eigener Mann, sei der Verwalter dessen, was vor dir gewesen ist. »Wie es war vor aller Zeit, so muss es bleiben in Ewigkeit.« ist ein Satz, den Pioniere nicht hören, aber alle, die nach ihnen kommen, können sich ihm nicht entziehen.

Wir waren vermutlich alle mal in Matthias‘ Situation. Wir waren die Neulinge, in der Schule, in der Firma oder in einer Arbeitsgruppe. Alle anderen kennen sich aus, deshalb führen sie uns ein und sagen uns, wo es lang geht, was zu tun ist und wie die Dinge hier ablaufen. Es kann recht lange dauern, bis wir uns zurecht finden.

Was sicherlich deutlich länger dauern wird, ist den Mut zu finden, uns selbst mit unseren Gedanken und Vorstellungen einzubringen. Denn es kostet einiges an Selbstvertrauen, um etwas anderes vorzuschlagen, geschweige zu wagen.

Hier erleben wir die große Herausforderung des Matthias. Muss ein Nachfolger nur ein Verwalter der alten Wege sein? Was für ein Nachfolger will ich sein?

Auch wenn wir ständig verglichen werden mit den Menschen, die schon vor uns Hand angelegt haben, müssen wir widerstehen, um das zu sein, was wir von Gott her sind. Wir werden Kraft und Mut brauchen, um frei von allen Vorerfahrungen unsere ganze Kreativität einzusetzen. Es ist nicht einfach, das Gute zu bewahren und trotzdem das Neue zu wagen.

Wir stehen heute vor einer ähnlichen Situation wie Matthias. Wenn die Pandemie vorbei ist, geht eine außergewöhnliche, intensive und vermutlich (hoffentlich) einmalige Ära unseres Lebens zu Ende. Jetzt schon stehen wir vor der Frage: Wie sollte es danach weiter gehen?

Bisher gibt es einen dominanten Kult der Wiederherstellung. Es sollte alles wieder so sein wie es war. Wirtschaftlich wollten wir alles wieder herstellen. Gesellschaftlich wollen wir alle Möglichkeiten des Konsums und der Unterhaltung wieder genießen dürfen. Das Leben nach der Krise sollte so ablaufen, wie es vor der Krise war.

Die Frage, die kaum gestellt wird, ist, ob wir nicht auch einiges ändern müssen. Hier wären auch Chancen, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen durchzuführen. Wenn wir nämlich nur alles wiederherstellen müssen und dann weiterführen, sind wir schon alle nur die Verwalter des Alten. Auch hier könnten wir, müssten wir, aus dem Schatten dessen, was wir mal waren, heraustreten. Wie wäre es mit neuen Wegen?

Papst Franziskus stellt diese Frage schon seit Beginn der Pandemie.

»Gott fordert uns auf, es zu wagen, etwas Neues zu erschaffen. Wir können nicht einfach zu den falschen Sicherheiten der politischen und ökonomischen Systeme von vor der Krise zurückkehren. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das allen Zugang zu den Früchten der Schöpfung verschafft, zu den grundlegenden Bedürfnissen des Lebens: zu Land, zu Arbeit und zu Wohnraum. Wir brauchen eine Politik, welche die Armen, Ausgeschlossenen und Schwachen integrieren und mit ihnen einen Dialog führen kann, einen Dialog, der den Menschen ein Mitspracherecht bei den ihr Leben bestimmenden Entscheidungen gibt. Wir müssen verlangsamen, Bilanz ziehen und bessere Weisen des Zusammenlebens auf dieser Welt entwerfen…

Wir brauchen eine Bewegung von Menschen, die wissen, dass wir einander  brauchen, die ein Verantwortungsgefühl[ für andere und für die Welt haben. Wir müssen verkünden, dass Freundlichkeit, Glaube und die Arbeit für das Gemeinwohl große Lebensziele sind, die Mut und Kraft brauchen…«                                          (»Wage zu träumen«, S.13-14)

Ist das nicht die Revolution der Zuversicht, von der Rosemarie so treffend und rührend schrieb am Tag vor Christi Himmelfahrt? Sie schreibt: »Zuversicht ist nicht Schönreden oder oberflächlich Überspielen im Sinne von ‚alles gut‘, wie es erschreckend oft daher gesagt wird. Zuversicht meint fest zu vertrauen auf das Gute, das ich erwarte. ‚Sehen‘ steckt darin: Ich habe schon eine Sicht auf das Gute, das im Werden ist, auch mit meiner Hilfe.« Nachfolger in diesem Sinne sollten wir alle sein.

Wenn wir die Rollen übernehmen, die andere vor uns hatten, ausfüllten und ausübten, dann kommen wir in die Zeit des Übergangs. Und dazu spricht John O’Donohue Worte, die uns auch segnen und stärken können.

Was hier verklärt wird, ist dein Gemüt,

und es ist schwierig, neu zu werden, und braucht lang;

je treuer du hier aushältst, desto mehr

wird dein Herz geläutert und verfeinert werden

für deine Ankunft im neuen Morgenrot.

(John O’Donohue , Benedictus, S. 14)

 

Erik Riechers SAC, 16. Mai 2021

 

 

Grenzen

 

Die Erfahrungen einschränkender Begrenzungen gehören zu unserem Leben, dauerhaft so wie zeitlich vorübergehend. Dabei erleben wir von außen gesetzte Grenzen so wie auch jeder von uns seine je eigenen inneren Grenzen hat. Seine Beobachtungen in den ersten Wochen der Pandemie regten Willi Bruners im März letzten Jahres zu einem Gedicht darüber an, wie wir mit diesen damals ganz neuen Begrenzungen umgingen. Nun sind 14 Monate seither vergangen, wir hatten Zeit zum Innehalten und Nachdenken und es gibt inzwischen gute Perspektiven. Doch als mir dieser Text jetzt in die Hände fiel, war ich erstaunt, ja sogar erschrocken, wie aktuell er ist.

Könnte es sein, dass unsere inneren Grenzen starrer sind als die, die uns von außen zeitweise aufgenötigt werden?

Lesen Sie selbst:

begrenzte zeiten

 

jetzt sitzen wir da und warten auf die nachricht

dass wir wieder leben dürfen wie vorher

ins auto steigen und losfahren

in den flieger steigen und losfliegen

schließlich ist die reise schon bezahlt

dass wir die aldi-hamster-käufe mit verfallsdatum

beim nächsten müll entsorgen können

dass die regale in den konsumtempeln

wieder frisch gefüllt sind mit actionspreisen

dass die kitas wieder offen und die schulen auch

der lärm im kinderzimmer war nicht länger auszuhalten

 

ach ja, fast schon vergessen die geflüchteten

an griechenlands grenzen mit vielen kindern

die ohne begleitung gekommen und mit großen augen

auf unsere trotz krise immer noch gefüllten teller schauen

dass mit corona-viren auch ihre probleme verschwinden

ist eine illusion die uns bald vom regen weggespült wird

und auf die nachricht vom ende aller schrecken

werden wir noch lange warten auch wenn corona

uns längst nicht mehr in die vier wände sperrt

und davon abhält einander ohne maske zu besuchen

 

Rosemarie Monnerjahn, 14. Mai 2021

 

 

»Revolution der Zuversicht«

 

Zwei riesige Problemfelder unserer Erde und unserer Zeit ringen um die Vormachtstellung im öffentlichen Bewusstsein: die COVID 19-Pandemie und die Klimakatastrophe.

Wir gehen wir mit ihnen um, was lernen wir?

Sicherlich dies: vieles liegt in unseren Händen, auch wenn wir nicht die Erlöser und Retter der Welt sein können. Darin liegt eine große Spannung, die es auszubalancieren und auszuhalten gilt.

Das Coronavirus ist in der Welt, aber wir kennen klare Regeln, die uns schützen, wenn wir sie befolgen und wir haben inzwischen mehrere (!) Impfstoffe dagegen.

Der Klimawandel ist seit langem sichtbar, aber viele Zusammenhänge haben wir bereits erkannt und Lösungen teilweise umgesetzt, um den Wandel positiv zu beeinflussen.

Wir schwanken in unseren Reaktionen jedoch oft zwischen Machtlosigkeit und Resignation angesichts der großen Bedrohungen einerseits und auf der anderen Seite den Phantasien, dass wir alle Probleme lösen können und müssen.

Da taucht im neuen Buch von Frank Schätzing (»Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise«) der Gedanke auf von einer »Revolution der Zuversicht«. Allein das Wort Zuversicht scheint in der medialen Welt im wahren Sinn kaum vorzukommen – und dann in diesem Zusammenhang! Ja, mir scheint der Autor richtig zu liegen: es bedarf einer Revolution, eines tiefgreifenden Wandels. Zuversicht ist nicht Schönreden oder oberflächlich Überspielen im Sinne von »alles gut«, wie es erschreckend oft daher gesagt wird. Zuversicht meint fest zu vertrauen auf das Gute, das ich erwarte. »Sehen« steckt darin: Ich habe schon eine Sicht auf das Gute, das im Werden ist, auch mit meiner Hilfe.

Dass wir so schnell mehrere Impfstoffe zur Verfügung haben, hat alle bestätigt, die zuversichtlich an unsere Möglichkeiten geglaubt bzw. daran als Fachleute gearbeitet haben.

Im Blick auf unser Klima, dem sich Schätzing verschreibt, ist in seinen Augen die »Revolution der Zuversicht« not-wendig, aber auch herausfordernd. Wir können auf den Abgrund des Planeten stieren, aber wir könnten auch erkennen, »dass wir uns durch konsequentes Handeln … vom Abgrund wegbewegen können.« Denn wir haben, so Schätzing, »die Wahl, es besser zu machen.« Und er mahnt an, dass wir maßhalten »und eben nicht nur alles ausrichten auf Konsum, Maximierung und Gewinnsteigerung.«

Und hier verweben sich die beiden großen Themen unserer Tage. Sie anzugehen erfordert in der Tat revolutionäre Veränderungen, deren Ziel weder ein »Weiter so wie bisher!« noch ein »Endlich wieder so wie es war!« sein kann. Haben wir nicht bemerkt in den letzten 14 Monaten, dass Leben mehr ist als das, was wir uns größtenteils seit Jahrzehnten vormachen?

 

In dieser Rubrik »Bleiben Sie behütet!« üben wir seit 40 Tagen österliches Sehen.

Ich denke, wir sollten die Anführer einer Revolution der Zuversicht werden.

Denn uns ist zugesagt, dass wir nie allein sind: »ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.« (Mt 28,20)

Uns ist zugesagt, dass es Leben durch das Dunkel und darüber hinaus gibt. So hören die Frauen am Grab: »Er ist auferstanden; er ist nicht hier.« (Mk 16, 6)

Wir sind die Nachfahren der ersten Zeugen, von denen es morgen am Himmelfahrtstag heißt: »Sie aber zogen aus und verkündeten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte das Wort durch die Zeichen, die es begleiteten.« (Mk 16, 20)

Beten wir also, wie John O’Donohue es einem Morgengebet ausdrückt, um ein mitfühlendes Herz, um klares Reden, gütiges Gewahrsein, tapferes Denken und liebenden Mut, damit wir zu Mitgestaltern eines Wandels der Zuversicht werden, dass neues Leben möglich ist.

Und werden wir Zeugen der Hoffnung.

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. Mai 2021

 

 

Der Stab des Hirten

 

Vor zwei Wochen habe ich eine Predigt über Jesus als den guten Hirten geschrieben. Kurz nachdem sie auf der Website veröffentlicht wurde, erhielt ich eine E-Mail mit Worten der Ermutigung und Dankbarkeit, die mein Herz sehr stärkten. In dieser E-Mail war auch ein Kunstwerk enthalten, das Karl Ditt als kreative Antwort auf meine Predigt geschaffen hat.

Geschichten erzeugen Geschichten. Deshalb wird es nie ein Ende geben, etwas, wofür wir meiner Meinung nach viel dankbarer sein sollten, als wir es normalerweise sind. Heute möchte ich einfach die Geschichte teilen, die mir geschenkt wurde, in der Hoffnung, dass Sie am Segen dieser Geschichte teilhaben können. Ich hege auch eine stille, tiefe Hoffnung, dass der Stab des Hirten eine neue Geschichte in Ihnen inspirieren könnte, vielleicht den schlummernden guten Hirten in Ihnen erwecken. Wer weiß? Vielleicht werden Sie sich selbst dabei ertappen, wie Sie nach dem Hirtenstab greifen und eine ganz neue, eigene Geschichte beginnen.

Erik Riechers SAC, 10. Mai 2021

Nächster Abschnitt

Auf der Suche nach Freunden unter Menschen, die Sklaverei gewohnt sind

 

6. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 15, 9-17

 

Ich nenne euch nicht mehr Knechte;

denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut.

Vielmehr habe ich euch Freunde genannt;

denn ich habe euch alles mitgeteilt,

was ich von meinem Vater gehört habe.

 

Ob Gott uns damit einen Gefallen getan hat?

Um den Schock des Textes etwas abzumildern, wurde das Wort »doulous« mit »Knechte« übersetzt, anstatt »Sklaven«. Aber hier ist nicht die Rede von schlecht oder kaum bezahlten Bediensteten. Diese Menschen wurden ihrer Freiheit beraubt, hatten kaum Rechte und keinen Schutz vor der Willkür ihrer Herren.

Jesus greift dieses Bild auf, um die Beziehung zwischen ihm und seinen Lehrlingen zu klären. Er sagt: »Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.« Aber ob wir diese Freunde werden, uns auf diese Beziehung des Vertrauens einlassen, ist unsere freie Wahl. Damals wie heute sind Menschen, im Gegensatz zu Sklaven, einfach gegangen, wenn es ihnen nicht mehr passte.

Um die Dringlichkeit und auch die Schönheit des Angebotes Jesu wahrzunehmen, sollten wir die Unterschiede zwischen Sklaven und Freunden genau merken.

Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit.

Jeder der Freunde Jesu

ist Geber und Empfänger zugleich.

Sklaverei ist eine einseitige Beziehung.

Es geht um den Meister,

die Erfüllung seiner Wünsche

und das Austragen seiner Pläne.

Freundschaft bedeutet Mitverantwortung.

Beide Seiten müssen die Beziehung gestalten.

Sklaven sind nicht mitverantwortlich.

Sie müssen nur die Pläne anderer ausführen.

Freundschaft ist eine Erfahrung

der Entdeckung und des Abenteuers.

Freunde müssen immer schauen,

was gerade dran ist, was stimmig ist,

und diese Rollen ändern sich ständig.

Deshalb brauchen sie Feingefühl und

Sensibilität.

Sklaven haben eine klare Rolle,

bestimmt von oben und unten,

und sie haben eine feste Struktur

sowie eine feste Befehlskette.

Der Sklave braucht weder Feingefühl

noch Sensibilität.

Er braucht sich keine Gedanken zu machen

über die Qualität der Beziehung.

Er muss nur gehorsam sein.

Freunde tragen Sorge für die Herzensanliegen

des Anderen.

Sklaven erfüllen ihre Pflichten,

egal ob sie die Herzensanliegen

des Herrn tragen oder nicht.

Freunde müssen auch Initiative ergreifen.

Der Freund muss nicht nur warten,

dass er andere handelt, vorschlägt oder

einführt, sondern handelt selbst

Sklaven empfangen Befehle und

verrichten Dienste.

Sie setzten lediglich die Initiativen

ihrer Meister um.

 

Das heißt, wenn wir nicht mehr Sklaven, sondern Freunde sind, verändert sich nicht nur unser Selbstverständnis, sondern die gesamte Beziehung zu Gott. Ob Gott uns damit einen Gefallen getan hat? Denn Gegenseitigkeit, Mitverantwortung, Feingefühl und Sensibilität, Sorge um Herzensanliegen und Initiativen zu ergreifen ist deutlich schwieriger, anstrengender und herausfordernder als einfach zu tun, was ein anderer sagt.

Es ist erheblicher einfacher, ein Sklave Jesu zu sein als sein Freund. Beide werden zwar dienen, aber der Sklave dient aus Angst, Zwang und Druck. Der Freund sollte allerdings seinen Dienst aus Liebe anbieten. Von ihr berührt und bewegt, hat der Freund das innere Bedürfnis, das Leben eines anderen Menschen zu stärken, heilen und begleiten.

Vor Jahren habe ich einen Autoaufkleber gesehen. Darauf stand: »Gott hat es gesagt. Ich glaube es. Damit ist alles erledigt.« Manche werden sich das anschauen und denken, das sei eine mutigere, einfachere oder sogar reinere Art des Glaubens. Doch wenn wir diese Geschichte von Jesus ernst nehmen, dann müssen wir zugeben, dass das nicht die Glaubensbeziehung ist, die er sucht. Das ist die Stellenbeschreibung eines Sklaven. Jesus kam auf der Suche nach neuen Freunden.

Ob Gott uns damit einen Gefallen getan hat? Das kommt darauf an, wie wir leben möchten.

 

Erik Riechers SAC, 9. Mai 2021

 

 

Wunderbar

 

Üben Sie es auch in diesen österlichen Zeiten? Nicht in Gräber zu schauen, sondern ins Leben? Die Natur macht es uns leicht und wir entdecken Leben an unscheinbaren Orten: in allen Gärten sprießt es, an trockenen Steinwänden und Mauern lachen uns leuchtende Farben an und am Boden der noch hellen Wälder leuchten weiße Sternenblüten.

Wie viel Leben steckt in den Geschichten der Menschen, denen wir begegnen. Schauen und hören wir genau hin und tun sie nicht ab als Kleinkram. Hier zeigen sich manchmal große Schritte vom Dunklen ins Licht.

Eine solche kleine Geschichte von Leben und Liebe begegnete uns kürzlich. Sie erzählt von einer wandelnden Begegnung zwischen Veronica, einer jungen südamerikanischen Frau, die ihren Freiwilligendienst in einem deutschen Kindergarten macht, und dem kleinen Luca.

 

»Du bist wunderbar«, sagt Veronica einem Kind im Kindergarten.

Das Kind stutzt kurz, holt dann tief Luft und schreit Vero an:

»Nein, du bist wunderbar.«

Jetzt stutzt Vero und fängt dann herzhaft an zu lachen.

»Das ist kein Schimpfwort, Luca. Ich bin dir nicht böse. Das ist ein gutes Wort.

Ich bin glücklich mit dir. Du bist ein guter Junge.

Ich mag dich. Ich bastle gerne mit dir und spiele so gerne mit dir Verstecken.

Das heißt: ‚wunderbar‘. Du bist ein guter Freund. Du bist ein wertvoller Mensch.«

Luca schaut Vero mit großen Augen an. Schweigt. Guckt auf den Boden.

Dann sagt er leise: »Du bist auch wunderbar, Vero.«

 

So viel Leben in seiner Spannbreite steckt in dieser kleinen Begebenheit eines Alltags im Kindergarten!

Was spricht uns an? Was berührt uns? Was kennen wir?

Viel Freude beim »Auspacken« dieses kleinen Edelsteins!

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Mai 2021

 

 

Wer wird uns leiten?

 

In der CBC-Radiosendung »Tapestry« hörte ich ein Interview mit einer Schriftstellerin namens Leigh Stein. Mit erfreulicher Klarheit und Unverblümtheit weist sie auf ein Problem hin, mit dem sie sich schon seit einiger Zeit auseinandersetzt. In einer Gesellschaft, in der sich Prominente nicht mehr darauf beschränken, bestimmte Produkte durch Werbung und bestimmte Anliegen durch ihre Medienpräsenz zu fördern, sind immer mehr von ihnen zu »Wellness-Influencern« geworden. Obwohl sie es in der Regel nicht so nennen würden, bieten sie den Menschen an, ihre geistlichen Begleiter zu werden.

Leigh Stein ist davon ganz und gar nicht beeindruckt. Sie weist deutlich darauf hin, dass wir die Ergebnisse reicher Traditionen über spirituelles Leben nicht mit den Ergüssen von Menschen vergleichen sollten, die spät zum Spiel gekommen sind und wenig Gedanken in ihre Äußerungen investiert haben. »Was uns die Religion bietet, sind Tausende von Jahren, in denen Menschen durch sehr ähnliche Kämpfe gegangen sind. Wir wurden geboren. Wir heiraten vielleicht. Wir haben vielleicht Kinder. Und dann sterben wir alle. Es gibt religiöse Traditionen, die Tausende von Jahren zurückreichen, die mit diesen Fragen gerungen haben. Und ich finde nicht, dass die Influencer sich diesen Fragen auch nur annähern.«

Ich war begeistert und konnte nicht mehr zustimmen. Eine Pandemie ist ein hervorragender Zeitpunkt, um sich die Wahrheit dieser Lektion zu merken. Dies sind ernste Zeiten, die ernste Probleme schaffen. Sie erfordern eine ernsthafte Antwort, die aus einem tieferen Verständnis des Lebens geboren ist als aus den Oberflächlichkeiten, mit denen wir so viel von unserem täglichen Leben genährt haben, bevor die Krise uns traf.

G.K. Chesterton schreibt in seinem Buch »Orthodoxie« ein paar Zeilen, die ich sehr schätze. »Tradition bedeutet, der obskursten aller Klassen, unseren Vorfahren, Stimmen zu geben. Es ist die Demokratie der Toten. Tradition weigert sich, sich der kleinen und arroganten Oligarchie derer zu unterwerfen, die nur zufällig herumlaufen.«

Während wir sicherlich Fortschritte in der Technologie gemacht haben, die sich Ihre Vorfahren kaum hätten vorstellen können, haben wir auch Teile der Menschlichkeit geopfert, die sie entsetzt hätten. Unsere kurzen Aufmerksamkeitsspannen und das ständige Verlangen nach sofortiger Befriedigung dienen uns gut in einer Gesellschaft, in der der Konsum des Lebens König ist. Doch nun, da dies nicht mehr möglich ist, kehren die älteren, ehrwürdigeren Fragen zurück. Rabbi Jonathan Sacks hat es so formuliert: »Irgendwann im Leben stellt sich jeder nachdenkliche Mensch drei grundlegende Fragen: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie soll ich dann leben?«

Wenn diese Fragen aus unserer Tiefe auftauchen, entfesselt und unvermindert auch nach Jahren der Vernachlässigung, an wen werden wir uns dann wenden? Wer wird uns leiten? Die Menschen, die nur für den gegenwärtigen Moment lebten, sind die Architekten dieses gegenwärtigen Moments. Ein guter Ort, um damit anzufangen, sind die großen Geschichtenerzähler religiöser Traditionen, »die Tausende von Jahren zurückreichen und mit diesen Fragen gerungen haben«. Sie werden uns daran erinnern, dass wir nicht die Ersten und auch nicht die Letzten sind, die sich diesen Fragen stellen. Noch besser, sie werden uns daran erinnern, dass wir bei der Beantwortung dieser Fragen nicht allein sind.

 

Erik Riechers SAC, 5. Mai 2021

 

 

Zum zweiten Feuer gehen

 

In ihrem Impuls vom 22. April 2021 mit dem Titel »Aufgehoben« schrieb Sylvia Ditt eine Zeile, die mich von dem Moment an, als ich sie las, beschäftigt hat.

ich gestehe ein

nicht immun zu sein

gegen Todesangst

die an meinem Herzen nagt

mich an falschen Feuern zu erwärmen suchte.

 Die Geschichte, die sie erzählt, findet sich in Johannes 21. Dort lässt Jesus Brot und Fisch auf einem Kohlenfeuer zubereiten. Dieses kleine Detail ist wichtig, denn früher im Evangelium erzählt uns Johannes: »Die Knechte und die Diener hatten sich ein Kohlenfeuer angezündet und standen dabei, um sich zu wärmen; denn es war kalt. Auch Petrus stand bei ihnen und wärmte sich.« (Joh 18,18) Petrus wärmt sich an einem Kohlenfeuer, während er seinen Freund dreimal verleugnet. Eine Passion, einen Tod und eine Auferstehung später führt er ein Gespräch mit demselben Freund vor einem Kohlenfeuer, und dreifache Liebe fließt aus seinem Herzen.

Sylvia Ditts Worte sprechen eine zutiefst schmerzhafte Wahrheit auf sanfte und großzügige Weise aus. Wir alle kennen den Moment, in dem wir unser Herz an einem falschen Feuer erwärmt haben. Viele Wege führen zu diesen falschen Feuern, denn es gibt viele Hunger des Herzens. Logik allein regiert nicht die weiten und tiefen Orte eines menschlichen Herzens. Das menschliche Herz ist ein Land, in dem Verzweiflung, Einsamkeit, Trauer, intensive Sehnsucht, vereiteltes Verlangen, knochentiefe Angst und Wut, die sowohl brodelt als auch explodiert, nur eine Auswahl dessen sind, was uns zu jedem Feuer treibt, das uns auch nur einen Hauch von Erleichterung verschaffen würde.

Johannes macht es sich zur Aufgabe, uns eine Geschichte von einem zweiten Feuer zu erzählen, in dem neue Gespräche zu neuem Vertrauen führen können, in dem wahre Wärme und echte Verantwortung geboren werden können. Und doch werden wir alle, die unsere Herzen an falschen Feuern erwärmt haben, nicht nur Erleichterung und Freude über die gute Nachricht eines zweiten Feuers kennen. Wir werden auch Zweifel und Zögern kennen. Werden wir an diesem Feuer unser Willkommen in der Welt finden? Werden wir es wagen, dort aufzutauchen? Welches Gespräch wird dort stattfinden?

Denn es gibt ein Geheimnis über Herzen, die am falschen Feuer gewesen sind, das wir selten aussprechen, obwohl wir es zu gut kennen, um es jemals wirklich zu leugnen. Gott ist willens, fähig und begierig, zum zweiten Feuer weiterzugehen und ein völlig anderes, lebensveränderndes neues Gespräch mit uns zu führen. Aber wir klammern uns an unsere Schuld und Scham. Wir vergeben uns selbst nicht so leicht wie Gott es tut.

Nachdem ich über Sylvias wunderschönes biblisches Gedicht nachgedacht hatte, stand ich auf, ging zu meinem Bücherregal und holte einen anderen Gedichtband aus meinem Regal. Dort suchte ich ein Gedicht von Padraig O'Tuama, das ebenfalls die Evangeliumsszene des Feuergesprächs zwischen Jesus und Petrus als Ausgangspunkt verwendet. Und am Ende des Gedichtes lässt er Petrus sagen:

»Und er sagte

'Komm jetzt, Fischer, komm schon

und singe vielleicht eine andere Melodie

und finde ein Zimmer, wo du mich bleiben lassen kannst

und nimm vielleicht das Ruder aus deinem eigenen Auge

und paddle dorthin zurück, wo ich mit dir angefangen habe.

Lass uns über all das hinaus sein,

und lass uns weitermachen', sagte er zu mir.«

Und das ist die tiefste Einladung des zweiten Feuers. »Lass uns über all das hinaus sein und lass uns weitergehen.« Gott ist bereit, das zu tun, damit ein falsches Feuer nicht zur dominierenden Geschichte eines ganzen Lebens wird. Wir sollten diese sanfte Einladung annehmen und selbst bereit sein, weiterzugehen. Es würde uns nicht schaden, uns selbst ab und zu mal ein wenig zu vergeben.

 

Erik Riechers SAC, 3. Mai 2021

 

 

Gottes einsatzfreudige Pflege der Beziehung

 

5. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 15, 1-8

 

In der Ausbildung in Narrativer Theologie wird immer wieder darauf hingewiesen, dass wir darauf achten sollten, welche Bilder Menschen einsetzen, wenn sie über ihre Beziehungen erzählen. Diese Bilder sagen uns, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Darum sollten wir uns bewusst machen, dass es eine uralte Auseinandersetzung gibt zwischen den mechanistischen und organischen Bildern, die Menschen gebrauchen. Diese Auseinandersetzung spiegelt die darunter liegende Auseinandersetzung der Herzensanliegen.

In der Erzählung aus dem Johannes-Evangelium offenbart Jesus eines seiner großen Herzensanliegen, nämlich die Verbundenheit und Verbindlichkeit in unserer Beziehung zu ihm. Jesus greift zu einem organischen Bild, nämlich der Beziehung zwischen Weinstock und Reben und Frucht und offenbart uns dadurch, was ihm am Herzen liegt. Er will, dass wir leben und dass unser Leben fruchtbar ist. Er will eine Beziehung zu uns, die innerlich so gesund läuft, dass sie zur gegebenen Zeit äußerlich das hervorbringt, wovon wir und andere leben können, nämlich die Frucht. Das ist für uns, die wir die Geschichte gut kennen, zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Allerdings ist es ebenso wichtig zu bemerken, was Jesus nicht tut. Er hat kein mechanistisches Bild gewählt, um seine ersehnte Beziehung zu uns zu beschreiben. Das wiederum sagt uns, dass Jesus weder das Leben seiner Menschen noch seine Beziehung zu uns wie eine Maschine betrachtet.

Vor Jahren hörte ich, wie ein Prediger diese Wahl Jesu auf den Kopf stellte, und zwar genau bei der Auslegung dieser biblischen Erzählung. Er wollte Jesus als die Mitte unseres Lebens herausstreichen und griff zu dem Bild von dem Verhältnis der Speichen eines Rades zu seiner Nabe. Dabei wechselte er das organische Bild Jesu für ein mechanistisches Bild.

Für viele Menschen wird das egal sein. Andere sagen, das ist nur Wortklauberei. Aber Worte erzeugen Welten und die Bilder, die wir wählen, haben eine große Macht und Wirkung auf die Art, wie wir lieben, arbeiten und in Beziehung treten.

Räder mit ihren Naben und Speichen gehören zu den mechanistischen Bildern. Und wie bei allen Maschinen geht es um ein zentrales Thema: Sie müssen funktionieren. Wenn eine Maschine nicht funktioniert, dann wird sie repariert. Sinn dieser Zuwendung ist es lediglich, sie sobald wie möglich wieder zum Funktionieren zu bringen. Was hier überhaupt keine Rolle spielt, ist der Rhythmus. Maschinen werden nicht gefragt, ob sie gerade Lust, Laune und Zeit haben, ihren vorbestimmten Zweck zu erfüllen, oder ob es gerade passend ist, wenn wir ihre Funktionen brauchen. Deshalb brauchen wir auch nicht zu warten, bis sie soweit sind. Sie arbeiten auf Knopfdruck, und dann brauchen wir uns nicht zu gedulden mit Reifungsprozessen und Wachstum. Bei Maschinen sind das keine Themen.

Jetzt schauen wir, was passiert, wenn wir ein mechanistisches Bild wie die Beziehung von Rädern, Speichen und Naben einsetzen, um unsere Beziehung zu Jesus zu schildern. Wenn wir unsere Beziehung zu Jesus so beschreiben, dann werden wir glauben, dass Jesus von uns erwartet, was wir von unseren Maschinen erwarten, nämlich dass wir richtig und rechtzeitig zu funktionieren haben. Das Bild ist entsetzlich. Denn wir alle wissen, was passiert, wenn unsere Maschinen nicht funktionieren. Dann werden sie ersetzt. Sollte das die Aussage Jesu sein über seine erwünschte Beziehung zu uns? Funktioniert gefälligst, sonst werdet ihr ersetzt? Und wenn wir unsere Maschinen reparieren, dann lediglich um sie sobald wie möglich wieder zum Funktionieren zu bringen. Glaubt wirklich jemand, dass dieses Bild die Beziehung Jesu zu uns spiegelt?

In diesem mechanistischen Bild von Speichen und Nabe (wie in allen mechanistischen Bildern) spielt der Rhythmus keine Rolle mehr. In diesem Bild werden wir Menschen nicht mehr gefragt, ob wir in diese Beziehung eintreten können oder wollen, oder ob sie gerade passend und stimmig ist. Dann bekommen wir auch keinen Raum und keine Zeit für das, was wir oft dringend brauchen, damit wir unser Nein in ein Ja verwandeln können, damit wir heil werden können, damit wir in einer authentischen Beziehung wachsen und reifen können.

In allen biblischen Erzählungen weigert sich Jesus, so mit Menschen umzugehen, und deshalb greift er auch das organische Bild von Weinstock und Reben auf.

Im Gegensatz zu einer Maschine kann die fruchtbringende Beziehung zwischen dem Weinstock und den Reben nicht repariert werden. Sie muss nicht funktionsfähig gemacht, sondern gehegt und gepflegt werden. So auch unsere Beziehung zu Jesus.

Bei allem, was organisch ist (Menschen wie Pflanzen), spielt Rhythmus eine große Rolle. Wenn unsere Beziehung zu Jesus leben soll, müssen wir uns viele Rhythmus-Fragen stellen. Was ist gerade dran? Was ist stimmig und was voreilig? Wann muss ich handeln (wässern, jäten, pflanzen, stützen) und wann muss ich mich gedulden und den nötigen Abläufen Zeit und Raum lassen?

Organische Bilder erinnern uns daran, dass Beziehung ein Akt der gegenseitigen Abstimmung ist. Denn das Leben ist nicht nur in Jesus, sondern auch in uns. Es sollte zwischen uns fließen. Wir sollten es miteinander teilen. Diese Beziehung bindet uns zusammen und wir sind in diesem Leben in einer gegenseitigen, abhängigen Beziehung. »Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.« Das gilt aber nie für Maschinen. Nur weil der Weinstock schon voller Lebenssaft ist, heißt es nicht, dass die Rebe mit Frucht voll behangen sein muss. Ohne Teilnahme an den inneren Prozessen des anderen entsteht kein Leben.

Frucht kommt siebenmal in dieser Geschichte vor. Jesus spricht von Frucht tragen, Frucht bringen. Frucht ist offensichtlich wichtig und bedeutend für ihn. Frucht tragen ist der Grund des Bleibens in dieser Beziehung, warum die Verbindung zu Jesus als Lebensträger (Weinstock) nicht gekappt werden sollte.

Frucht ist Metapher und Bild. Frucht wächst und stammt aus dem Fluss des Lebens. Frucht ist dem Leben dienlich, weil sie stärkt und nährt und weil sie Leben erhält.

Frucht tragen ist aber kein mechanistisches Bild, denn das ist ein Prozess, der von innen nach außen fließt. Frucht wird nicht von außen an den Weinstock geklebt. Frucht entsteht nur, wenn der Kontakt zu den inneren Prozessen besteht. Frucht ist nur gegeben, wenn der Kontakt zu dem Lebensträger (Jesus = Weinstock) besteht. Diese Prozesse der Fruchtbarkeit können von außen nicht wahrgenommen werden.

Diese Frucht soll bleiben. Das, was wächst, sollte Bestand haben. Es soll von Dauer sein. In anderen Worten, wir sollten uns darauf verlassen können. Dies ist eine reichhaltige Beschreibung von der Art von Beziehung, die Jesus mit uns teilen möchte.

Das alles ist das Herzensanliegen Jesu für seine Menschen. Und gerade deswegen dürfen wir unsere Beziehung zu ihm nicht mechanistisch behandeln. Darum sollten wir teilnehmen an den inneren Ablauf des Lebensflusses in ihm, denn sonst entsteht diese Frucht nicht. Was in der Geschichte Jeus betont wird, ist, dass diese Beziehung nicht abgebrochen werden darf. Aber nirgendwo in der Erzählung sagt uns Jesus, wie schnell es gehen muss. Was er uns allerdings ans Herz liegt, sagt er gleich am Anfang. »Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer.« Unser Gott ist ein Winzer. Winzer haben ein Herzensanliegen, nämlich die Fruchtbarkeit. »Mein Vater wird dadurch verherrlicht,

dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet.« Solange auch nur ein bisschen Leben in den Reben steckt, wird der Winzer alles tun, um den Fluss zu sichern und zu stärken. Der Winzergott dient dem Leben und der Fruchtbarkeit unserer Beziehung zu Jesus zu allen Zeiten, auch im Winter, wenn alles brach liegt. Jesus leugnet nicht, dass diese Beziehung scheitern kann, aber im Gegensatz zu einer Maschine wird Gott seine ganze Kraft und Liebe und Fürsorge in sie investieren, solange noch ein Funken Hoffnung auf Fruchtbarkeit vorhanden ist.

Darum ist es nicht harmlos, welche Bilder wir wählen, um unsere Beziehung zu Gott zu  beschreiben. Denn Bilder offenbaren unsere wahren Herzensanliegen.

 

Erik Riechers SAC, 2. Mai 2021

 

 

Österlich leben - ein Beispiel

 

Vor vielen Wochen hörte ich unterwegs in einem Radiogespräch eine wahre Geschichte, die mich so fesselte, dass ich, am Ziel angekommen, noch bis zum Ende lauschte.

Eine Bratschistin erzählte von ihren aktuellen Aufgaben und Herausforderungen und kam dann auf ihre Studienzeit zu sprechen, vor allem auf einen Lehrer, der sie besonders beeindruckt und geprägt hat. Er war ihr Dozent im Studium der Bratsche. Dieser Mann hatte in jungen Jahren durch einen Unfall 2 Finger der linken Hand verloren, der Hand, die die Saiten spielt. Die Bratsche war da schon längst »sein« Instrument. Er hatte das Spielen zu seinem Beruf machen wollen und nun sah es so aus, als müsse er diesen Plan, diesen Wunsch, begraben - aus, Ende, unmöglich!

Aber seine Sehnsucht weiterzumachen war unglaublich groß. Und er folgte ihr. Er ließ sich eine neue Bratsche bauen, die er anders herum spielen konnte; seine linke Hand führte von nun an den Bogen. Er übte mit noch größerer Ausdauer und Hingabe an die Musik. Diese Hingabe, seine Beharrlichkeit und seine Sehnsucht, die ihn nicht aufgeben ließ, führten dazu, dass er zu einem Meister seines Fachs wurde.

Als Dozent machte er um all das keine Worte. Ab und zu - so erzählte es die Frau im Radio - kam es vor, dass er seinen Studenten etwas zeigen wollte und seine Bratsche nicht dabei hatte. Dann ließ er sich von ihnen eine Bratsche geben und spielte vor, was ihm wichtig zu demonstrieren war. Dieses Spiel war jedes Mal so überwältigend, dass es in den Schülern etwas auslöste: Wenn er, gehandicapt und auf einer für ihn »falschen« Bratsche so spielt, dann müssen wir noch mehr üben und üben und üben.

So endete die Erzählung.

Mich lässt sie nicht los. Da schaute ein junger Mann einst nach diesem Unfall in ein Grab, das Grab seiner Hoffnungen und Lebenspläne. Aber seine Sehnsucht war größer als dieses Grab - und sehr fokussiert. Er wollte weiter Bratsche spielen. Diese Sehnsucht nährte seine Beharrlichkeit, nach neuen Wegen zu suchen und somit sich vom Grab ab- und neuen Möglichkeiten zuzuwenden. Und schließlich muss er von einer großen Hingabe an die Musik erfüllt gewesen sein (und ist es bis heute), denn wie viel Raum und Zeit widmete er fortan dem Üben. Er blieb dran, auch wenn das Spielen zunächst viel schwieriger für ihn war. Er gab nicht auf und fand neu zu seinem Leben der Musik.

Es war für ihn wie es alle Auferstehungsgeschichten der Evangelien erzählen: Leben ist nicht zu finden im Grab. Es ist leer! Neues Leben finden wir, wenn wir uns dem Leben (wieder) zuwenden. Die Frauen und Männer begegnen Jesus in ihrer alltäglichen Welt: im Garten, auf dem Weg, im Zimmer, am See. Da beginnen sie anders, neu zu leben. Sie sehnen sich nach Leben und wagen neue Schritte, sie treten hinaus und gehen neue Wege – bis heute!

 

Rosemarie Monnerjahn, 30. April 2021

 

 

Aus der Asche soll ein Feuer geweckt werden, Ein Licht aus den Schatten soll entspringen.

 

»Alles was Gold ist, glitzert nicht,

Nicht alle, die wandern, sind verloren.

Das Alte, das stark ist, verdorrt nicht,

Tiefe Wurzeln werden durch den Frost nicht erreicht.

Aus der Asche soll ein Feuer geweckt werden,

Ein Licht aus den Schatten soll entspringen.«

Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht von J.R.R. Tolkien, aus seinem Buch »Die Gefährten des Rings«. Sie sprechen für mich von der echten Auferstehungserfahrung und der wahren Osterhoffnung. Sie sprechen für mich auch von der einen Person in den Geschichten des Evangeliums, die meiner Meinung nach diese Worte verkörpert hat, Maria von Magdala.

Meine Lieblings-Ostergeschichte ist die von Maria von Magdala im Garten. Hier ist eine Frau, deren Leben sich in Asche verwandelt hat, aber die ganze Geschichte erzählt uns, wie es unter dieser Asche ein Feuer gab und wie sie es durch ihre unermüdliche Suche nach dem, den ihre Seele liebte, wieder aufflammen ließ. Als sie sich aus der engen Dunkelheit der Gnade umdreht, um sich dem dämmernden Licht zuzuwenden, sieht sie zuerst einen Gärtner, aber schließlich den auferstandenen Herrn. Es ist in der Tat der Moment, in dem ein Licht aus den Schatten entspringt. Diese bemerkenswerte Frau lebte ihr Leben mit einer poetischen Eleganz, die mich bis heute dazu bringt, über sie nachzudenken und über sie zu schreiben. Es ist der Grund, warum ich mich sofort zu jedem hingezogen fühle, der über ihr poetisches Leben auf lyrische Weise schreibt.

Ron Rolheiser hat vor Jahren ein solches Gedicht geschrieben und jedes Jahr ziehe ich es wieder heraus und freue mich an seiner einfachen Wahrheit. Es sind Worte, die uns zum Herzen von Marias Erfahrung der Auferstehung führen. Deshalb sind es auch Worte, die uns ins Herz unseres eigenen Kampfes führen, ein Leben im Licht des österlichen Geheimnisses zu leben, eines Geheimnisses, das so groß ist, dass kein einziger Tag es fassen kann. Ich finde es besonders hilfreich in Zeiten, in denen ich mich zu sehr an das Leben klammere, das ich kenne, und mich schwer tue, das Leben anzunehmen, das brauche. Möge das Gedicht Sie heute segnen, wie es mich seit Jahren gesegnet hat

 

Maria von Magdalas Ostergebet

Ich habe nie Auferstehung

            vermutet

                        und dass sie so schmerzhaft sein würde

                        dass sie mich weinen lässt

Vor Freude

            Dich lebendig und lächelnd vor dem leeren Grab getroffen zu haben

Mit Bedauern

            nicht weil ich dich verloren habe

            sondern weil ich dich verloren habe, wie ich dich hatte -

                        in verständlichem, berührbarem, küssbarem, anfassbarem Fleisch

                        nicht als vollendeter Herr, sondern als fassbarer Mensch.

 

Ich möchte mich festhalten, trotz deines Protestes

            mich an deinen Körper klammern

            mich an deine, und meine, anfassbare Menschlichkeit klammern

            mich an das klammern, was wir hatten, an unsere Vergangenheit.

 

 Aber ich weiß, dass ... wenn ich mich festhalte

            kannst du nicht aufsteigen und

            ich werde an dein früheres Selbst geklammert bleiben

            ... unfähig, deinen gegenwärtigen Geist zu empfangen.

 

 

Erik Riechers SAC, 28. April 2021

 

 

Osteraugen

 

Der auferstandene Jesus ist derselbe, der nach Jahren unauffälligen Lebens die Menschen um sich scharte und ihnen erzählte und ein Beispiel gab von der barmherzigen Liebe Gottes.

Er ist derselbe, der verurteilt, gefoltert und gekreuzigt wurde.

Er ist derselbe, der begraben wurde.

Eine junge Frau sagte mir vor Jahren, dass dies für sie das Herausragende und Überzeugende unseres christlichen Glaubens sei: »Unser Gott kennt unser größtes Leid, weil er selbst da durch ging. Welche Religion kommt dem nahe?« Diesem Gott könne sie sich anvertrauen.

Darum sind die Ostererzählungen so bedeutsam. Sie leugnen nichts von all dem, was vor Ostern war. Sie zeigen vielmehr die Größe der Liebe Gottes zu uns Menschen, die immer schon unendlich war und die er durch Jesu Leben, Sterben und Auferstehen bestätigt. »Seht ihr, wie sehr ich euch liebe?« fragt er uns.

Der langjährige und von vielen verehrte Bischof von Aachen Klaus Hemmerle schrieb einmal folgenden österlichen Wunsch:

Ich wünsche uns Osteraugen,

die im Tod bis zum Leben,

in der Schuld bis zur Vergebung,

in der Trennung bis zur Einheit,

in den Wunden bis zur Herrlichkeit,

im Menschen bis zu Gott,

in Gott bis zum Menschen,

im Ich bis zum Du

zu sehen vermögen.

 

Dies ist ein Wunsch für ein ganzes Leben in all seiner Spannbreite und all seiner Fülle.

Osteraugen klammern nichts aus und sehen tiefer. Sie üben sich ein, immer mehr den liebenden Blick unseres Gottes auf uns wahrzunehmen und selbst so in die Welt zu schauen.

Osteraugen kennen keine Tabus und vermögen Welten zu verbinden. Gegensätze verschmelzen und Schweres kann seine Schönheit zeigen.

Ich wünsche uns solche Osteraugen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. April 2021

 

 

Zu Hause bei den guten Hirten

 

4. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 10, 11-18

 

»Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Wenn Jesus diese Worte spricht, versucht er, uns einen Einblick in die wahre Natur seiner Hingabe für uns zu geben. Indem er sich selbst als einen Hirten beschreibt, der bereit ist, sein Leben für diejenigen hinzugeben, die ihm anvertraut sind, beschreibt er, wie er uns liebt. Später wird Jesus sagen: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.« (Joh 15,13) Die Hingabe des Lebens, diese Bereitschaft, das Leben für das Wohlergehen eines anderen hinzugeben, ist für Jesus das sichere Zeichen der Liebe.

Jesus betont, dass seine liebevolle Hingabe weit über die normalen Grenzen des Eigeninteresses hinausgeht: Es ist eine Hingabe für den anderen jenseits von Gehaltsschecks und pragmatischer Nützlichkeit von bezahlten Knechten. Vor allem enthüllt Jesus die Integrität  seiner persönlichen Berufung, eine Integrität, die sich am vollständigsten zeigt, wenn ein hoher Preis zu zahlen ist, um diese Hingabe aufrechtzuerhalten.

»Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Diese Worte Jesu werden bis zum heutigen Tag immer wieder gesprochen. Dieses Wort ist Fleisch geworden in den vielen Menschen, die sich die tiefe persönliche Hingabe Jesu zu Eigen gemacht haben. Sie haben die Berufung eines guten Hirten übernommen und ausgelebt. Aber sie haben auch den Preis für diese Hingabe bezahlt. Sie sind nicht geflohen, als die Anforderungen des Liebens schwer wurden: Sie haben die Schafe nicht im Stich gelassen und nur sich selbst gerettet, als die Wölfe kamen.

In diesen Tagen der Pandemie ist es meine Gewohnheit, mich auf solche Menschen zu konzentrieren, und es ist nicht einfach. Die Medien sind eng fokussiert, ja besessen davon, über die Menschen zu berichten, deren Reaktion auf die weltweite Krise narzisstisch und selbstbezogen ist. Diejenigen, die selbstherrlich und selbstverliebt sind, die sich weigern, Masken zu tragen, die sich in Massen versammeln, Corona-Partys feiern und ganz allgemein ihre Verachtung für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zeigen, finden eine Kamera und ein Mikrofon, die auf sie warten. Es erinnert an das Buch der Richter, das beschreibt, wie das Volk in Chaos und Gewalt versinkt, weil es keinen Sinn für das Gemeinwohl mehr hatte. Traurig endet das Buch mit diesem letzten Satz: »Jeder tat, was in seinen eigenen Augen recht war.« Weit und breit keine Spur von Menschen, die sich den Satz zu Eigen machen: Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.

Darüber hinaus überschwemmen uns die Medien mit einer ebenso hirnlosen wie atemlosen Dringlichkeit mit Zahlen: die Infizierten, die auf der Intensivstation, die Zahl der Geimpften, die bestellten Dosen usw. Die einzige Statistik, über die nie berichtet wird, sind die Zahlen der Menschen, die diese auf ihr Herz tätowierten Worte gelebt haben: »Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Sie werden als uninteressant und nicht so nachrichtenwürdig eingestuft. Daher warten keine Kameras und Mikrofone auf sie.

Aber ich habe meinen Fokus auf Menschen gerichtet, die in der Lage sind, das Richtige für alle Menschen zu tun und nicht nur für sich selbst. Sie zu benennen, sich an sie zu erinnern und ihre Geschichten zu erzählen, ist das stärkende Gospel-Tonikum, um mein Gleichgewicht in einer unsicheren und unausgeglichenen Welt zu halten. Ihre Geschichte, wie jede Geschichte, schweigt, bis das Wort gesprochen wird, bezeugt und Fleisch wird, so dass es berührt, gefühlt und gelebt werden kann.

Was haben wir von den geistlosen Demonstranten und Agitatoren zu erwarten? Sie werden keinen Beitrag zum Leben der Welt leisten. In jeder Generation, in jeder Kultur, an jedem Ort und zu jeder Zeit sind echte Hilfe und authentische Veränderung von den guten Hirten ausgegangen, von Frauen und Männern, die ihr Leben hingegeben, ihr Leben investiert haben, damit andere leben können.

Heute ist der Weltgebetstag für geistliche Berufungen. So bete ich mit Dankbarkeit, dass so viele Menschen ihre Berufung ernst genommen haben. In der Welt wimmelt es von guten Hirten. Es sind die Nachbarn, die sich im Stillen umeinander kümmern. Ich sehe sie in Männern und Frauen, die alles für ihre Ehepartner und Kinder geben, damit sie in Würde leben können, auch wenn sie erschöpft sind und am Zahnfleisch gehen. Ich sehe die guten Hirten in den vielen Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, und in den Forschern, die monatelang in Labors eingesperrt waren und alle persönlichen Anliegen beiseiteschoben, um einen Impfstoff für die Welt zu finden. Und was ist mit den Menschen, die unzählige kreative pastorale Initiativen unternommen haben, um die Armen zu ernähren, die Frierenden in den Flüchtlingslagern zu kleiden, die Isolierten in Verbindung zu halten, die Müden und Zerschlagenen zu inspirieren und zu motivieren? Sind sie nicht gute Hirten? Oder die Angestellten in Lebensmittelgeschäften, die Regale einräumen und immer noch ein freundliches Wort und ein Lächeln für mich finden, nachdem sie gerade von dem Kunden vor mir so schäbig behandelt wurden?

Hier sind die geistlichen Berufe, um die wir beten. Hier sind die guten Hirten. Sie zeigen ihre liebevolle Hingabe nicht, weil sie persönlich gut dafür belohnt wurden. Sie waren keine bezahlten Knechte, denen nichts an den Schafen liegt. Sie tun das alles nicht, weil das Geld gut war, der Applaus endlos, die Dankbarkeit unsterblich und erbaulich. Sie haben es getan, weil sie echte Ostermenschen sind. »Wir sind hierher gesandt, um das Osterlicht in unseren Herzen zu suchen, und wenn wir es finden, sollen wir es großzügig weitergeben.« (John O'Donohue)

Hinter ihrer Berufung verbirgt sich eine tiefe Liebe. Dies ist keine blauäugige Liebe, die keine Ahnung von den Anforderungen und Risiken hat, die sie auf sich nimmt. Die Liebe des guten Hirten ist etwas, das versucht, Angelleinen der Hoffnung in das dunkle Herz der menschlichen Verzweiflung auszuwerfen.

Die Liebe steht im Mittelpunkt dieses Textes. Es ist wegen der Liebe, dass der gute Hirte sein Leben hingibt. Um diese Liebe auszudrücken, verwendet Jesus die interessante Metapher des Hirten, ein Bild aus dem Alltag der Arbeiterklasse. Die Evangelien erzählen uns, dass sich die Menschen der Arbeiterklasse mit ihm identifizieren. Schließlich kommt er als Sohn eines Zimmermanns aus diesem Milieu. Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr tägliches Brot verdienen, fühlen sich zu ihm hingezogen, wie z.B. die Fischer. Seine Gleichnisse sind voll von den Erfahrungen der Arbeiterklasse: die Arbeit der Bauern; die Erfahrung, die man macht, wenn das Geld knapp ist und man mit großer Entschlossenheit nach einer verlorenen Münze sucht, weil man nur noch zehn hat; das Einkneten des Sauerteigs in das Mehl, um Brot zu backen; das Säen und Ernten auf den Feldern; die schweißtreibende Arbeit in den Weinbergen.

Jesus spricht die Sprache dieses täglichen Lebens der arbeitenden Männer und Frauen. Die endlosen Stunden harter, rückenbrechender Arbeit endeten nicht immer mit einem großzügigen Lohn, der von einem großherzigen Arbeitgeber gezahlt wurde. Und selbst wenn der Tag geschafft war, wussten diese Menschen, bevor sie in den Schlaf der Erschöpften fielen, dass sie das Gleiche erwartete, wenn sie am nächsten Tag die Augen öffneten. Unabhängig davon, was der Tag brachte, wussten sie, dass sie arbeiten mussten, durch Krankheit, Stürme, Kälte und persönlichen Kummer hindurch, wenn sie ihr tägliches Brot haben wollten. Ihr Leben spielt sich ab am Ort der Mühsal, der Arbeit, der großen Anstrengung, um ihr Leben und ihre Zukunft von der Erde aus zu sichern. Es ist der Ort, an dem sie alles investieren, um Fruchtbarkeit hervorzubringen. Sie sind die Diener des Lebens. Sie sind es gewohnt, die Anforderungen des Lebens durchzuarbeiten.

Damit stehen sie in scharfem Gegensatz zu den Reichen und Mächtigen. Ihr Leben spielt sich dort ab, wo andere sich abmühen, um ihrem Leben zu dienen, wo andere arbeiten, um ihre Annehmlichkeiten zu sichern und sie mühelos leben können. Sie sind nicht Diener des Lebens, sondern Konsumenten desselben. Sie haben eine Erwartung, die die Arbeiterklasse nicht kennt, nämlich, dass andere ihrem Leben dienen. Sie arbeiten sich nicht an den Anforderungen des Lebens ab, sondern stellen einfach Ansprüche an das Leben.

Mitten in diese Welt der Arbeit hinein tut Jesus etwas Atemberaubendes und wählt dies als den Ort, an dem er über die Liebe sprechen wird. Er wählt keine versteckten Orte oder privilegierten Orte. Er spricht von der Liebe nicht in außergewöhnlichen und zärtlichen Momenten, die zutiefst persönlich und privat sind.

»Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.« Hirten tun dies, aber sie tun es in der Öffentlichkeit, vor den Augen einer beobachtenden Welt. Jesus macht den Wert der Liebe öffentlich. Für ihn ist das der Ort, an dem die Liebe gebraucht wird, inmitten einer ringenden Welt. Liebe wird an öffentlichen Orten gebraucht, dort, wo sich das Leben täglich abspielt. Sie sollte nicht in den Bereich der Privatsphäre verbannt werden. Die Liebe wird an den Orten unserer Professionalität gebraucht und sollte nicht zur Freizeitbeschäftigung degradiert werden. Liebe muss an den Orten der Politik gelebt und erzählt werden und darf nicht zu den Heiligtümern und Hörsälen relegiert werden.

Denn Liebe ist für Jesus keine Privatangelegenheit. Für Jesus ist die Liebe die schöpferischste Kraft in der ganzen Schöpfung. Sie hat eine unglaubliche Kraft, das Leben der Menschen zu bereichern, Gerechtigkeit zu schaffen, Veränderungen herbeizuführen und Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu stiften. Aber wo ist das ein dringenderes Anliegen als an den öffentlichen Orten der Welt? Liebe wird in unseren Vorstandsetagen dringender gebraucht als in unseren Schlafzimmern.

Ich muss gestehen, dass mir die Untergangspropheten in letzter Zeit zu schaffen machen. Ich habe immer wieder festgestellt, dass meine Frustration aufflammt, ich fühle mich genervt und irritiert von ihrer endlosen Litanei von Entmutigung, Jammern und Kritik. Wie viele andere habe ich es als einen harten Kampf empfunden, den Glauben am Leben und die Hoffnung am Brennen zu halten. Es gab Zeiten, in denen ich ernsthaft versucht war, das Handtuch zu werfen.

Aber es gibt auch eine hartnäckige Ader des Widerstands in mir. Ich weigere mich, meine Seele den Propheten des Untergangs zu überlassen. Ich bin müde, meine Freunde, aber ich bin immer noch stolz darauf, mit dem Meister zu sagen: »Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Dann kehre ich den plappernden Schwarzmalern den Rücken und halte stattdessen Ausschau nach all meinen Mitmenschen, die gute Hirten sind, achte ihre Geschichten und erzähle sie, weil sie Zeugnis davon ablegen, dass die Welt noch voller Liebe und Licht ist, und auch von Gott, dem ersten und wichtigsten der guten Hirten. Und es gibt mir Mut, weiterzumachen und weiter »auf den Weiden des Wunders« zu gehen (John O'Donohue). Und es gibt mir Trost, unter so vielen guten Hirten zu sein, ein Teil ihrer Zunft zu sein.

Und so habe ich mich, jenseits von Müdigkeit und Frustration, hingesetzt und getan, was gute Hirten tun, und diese Worte für Sie geschrieben.

Erik Riechers SAC, 25. April 2021

 

 

Leben mit der Auferstehung

 

Die Botschaft der Auferstehung, die Botschaften des Auferstandenen wirklich zu hören im umfassenden und biblischen Sinn braucht Zeit. So ist es gut und segensreich, dass die Osterzeit so lange dauert, denn um wahrhaft Mensch zu werden, brauchen wir Zeit und Übung.

Mit bloßem Wahrnehmen der Botschaften ist es nämlich auch hier nicht getan. Wir müssen – wie einst die Jünger – das Erlebte und Gehörte in uns aufnehmen. Allen Ostergeschichten gemeinsam ist, dass Jesus ganz unerwartet kommt, in ganz unterschiedliche alltägliche Situationen hinein: am Grab und auf dem Weg, hinter verschlossene Türen und beim Fischen am See. Ganz allmählich entfaltet sich so in den Seinen der Glaube und die Zuversicht: Er lebt. Er ist bei uns. »Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.« heißt es am Ende des Matthäus-Evangeliums. Dem zu vertrauen ist die Übung der österlichen Zeit damals wie heute. Er nennt auch uns beim Namen. Ihm begegnen auch wir in den Wunden und im Brechen des Brotes. Ihn hören auch wir, wenn er Frieden zusagt und uns nach unserer Liebe fragt. Er sendet auch uns. So können wir hineinwachsen in den 3. Schritt biblischen Hörens nach dem Wahrnehmen und Aufnehmen: das Mitnehmen.

Dann kann das Leben als österliche Menschen wahrhaft beginnen, eine Lebensart, die geprägt und durchdrungen ist von dem, was wir gehört haben. 

Ein Gebet von Papst Franziskus mag uns begleiten auf dem Weg, Ostern »weiter« zu leben:

Allmächtiger Gott,

du bist in der Weite des Alls gegenwärtig

und im kleinsten deiner Geschöpfe,

der du alles, was existiert,

mit deiner Zärtlichkeit umschließt,

gieße uns die Kraft deiner Liebe ein,

damit wir das Leben und die Schönheit hüten.

 

Überflute uns mit Frieden,

damit wir als Brüder und Schwestern leben

und niemandem schaden.

 

Lehre uns zu erkennen,

dass wir zutiefst verbunden sind

mit allen Geschöpfen

auf unserem Weg zu deinem unendlichen Licht.

 

Danke, dass du alle Tage bei uns bist.

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. April 2021

 

 

Ostern in Wüstenzeiten - Einladung zum Gebet

 

Manchmal nehmen wir Ostern kaum wahr, weil wir so abgelenkt sind.

Manchmal atmen wir für ein, zwei Tage auf, doch dann schieben sich andere Themen in ihrer »Wichtigkeit« so in den Vordergrund, dass die zarten Lebensimpulse erstickt werden.

Manchmal ist die Wüste in uns so stark, dass wir Angst haben, uns ganz auf das Leben einzulassen, weil wir befürchten, auf eine Fata Morgana hereinzufallen.

Versuchen wir, auch dieses Hier unseres Lebens wahrzunehmen und ehrlich in ihm stehend uns betend dem Auferstandenen anzuvertrauen:

 

In der Wüste unseres Herzens

rufst du, Verborgener, jeder und jedem zu:

Hab keine Angst, komm!

Und: Folge mir nach!

Lass dich ergreifen vom Feuer meiner Liebe.

Niemals sagt dieses Feuer: Es reicht.

Noch mit den Dornen unseres Herzens

entzündest du ein  Feuer;

selbst die Steine in uns, die unfruchtbaren Gegenden,

bringst du zum Glühen.

Mitten durch die Wüste unseres Herzens

bahnst du dir einen Weg,

lässt uns deine Gegenwart erahnen.

 

Auferstandener, der Hauch

deiner Gegenwart schafft uns neu -

Tag für Tag.

Aus versteinerten Eisblöcken formst

du uns zu Menschen.

Deine Vergebung, frisch wie am ersten Tag,

erfindet uns neu.

Noch im Dunkel unserer Schuld,

im Gefängnis unserer Gewohnheiten

- dein Antlitz: menschlich, erbarmend,

und belebend.

            Markus Grünling in: Gegen die Schwerkraft des Todes 2008  

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. April 2021

 

 

Langsam nur

 

Heute ist für uns der 16. Tag mit der Botschaft »Jesus lebt!«

 

Die Pandemie beherrscht die Schlagzeilen – seit so  langer Zeit!

»Nebenbei« so viele andere Nöte für so viele von uns!

 

 Ist es verwunderlich, dass wir zaghaft sind?

 

Vieles in unserem Leben ist schwer, düster, unsicher, . . .

 

Wie war es einst, bei denen, die ihr Leben ganz an ihren Meister Jesus gebunden hatten und nach dem Todesdunkel völlig verstört waren? Zwei verließen die Stadt, viele schlossen sich ein, es wird auch erzählt, dass einige resigniert an die alte Arbeit zurückgingen. Furcht und Verwirrung herrschten vor.

 

Wie gut wir das verstehen!

 

Ich fand diese Zeilen – ihre Quelle kenne ich nicht – doch sie sprechen so ehrlich von dem Weg, den die Auferstehung in unsere Herzen nimmt.

 

»Langsam nur lernt mein Herz deinen Jubel.

Zu mächtig sind mir die Bilder des Todes.

Ich weiß zu viel von den Qualen der Erde

und zu wenig von dem, der sie überwand.«

 

Rosemarie Monnerjahn, 19. April 2021

 

 

3. Ostersonntag 2021                         Lk 24, 35–48

 

Manchmal macht uns die Dringlichkeit unseres Hungers blind

für die Tatsache, dass wir bereits beim Festmahl sind.

Dies zu akzeptieren, kann alles ändern; wir

sind immer zu Hause, niemals im Exil.

- John O'Donohue

 

Das Evangelium nach Lukas erzählt die Geschichte, die in den Worten von John O'Donohue versteckt ist. Die Dringlichkeit ihres Hungers macht die Jünger blind für die Tatsache, dass alles, wonach sie hungern, direkt vor ihren Augen ist. Ihre Reaktion?  »Sie erschraken und hatten große Angst, denn sie meinten, einen Geist zu sehen.« 

So geht es uns, wenn wir zu sehr auf die Dringlichkeit unseres Hungers fixiert sind. Wenn wir wie die Jünger nur in der Rolle des Zuschauers bleiben, dann wird der Hunger, der uns erschreckt und ängstigt, nicht weichen. Dann ist es egal, wie die Auferstehung in unser Leben einbricht oder wo sie in unserem Leben auftaucht, auch wenn wir schon beim Festmahl sind. 

In einem Gespräch erzählt ein Mann seinem Begleiter all die Sehnsucht und Hoffnung, die er bezüglich seiner Zukunft in sich trägt. Dann sagt er: »Ich will leben. Das ist meine Entscheidung.« Sein Begleiter sagt zu ihm: »Nein, das sind nur deine Überlegungen. Entscheidungen bringen konkrete Handlungen und Zeichen hervor, nicht nur drastische neue Erkenntnisse über dein Problem, das du eigentlich nicht angehen willst. Da du die Herausforderungen der Entscheidungsfindung aufschieben willst, versteckst du dich hinter deinen Überlegungen, die dir das warme und beruhigende Gefühl geben, dass du etwas tust, ohne dass du dabei irgendetwas investieren müsstest.« Der Mann nickt, während er seinem Begleiter zuhört und sagt dann: »Ich kann gut hören, was du sagst. Ich werde es mir gut überlegen.«

Der auferstandene Herr kommt zu uns mit dem Angebot eines neuen Lebens, nicht mit einer vorgefertigten Lösung für die Dringlichkeit unseres Hungers. Aber Menschen sind nicht verpflichtet oder gezwungen, die Angebote Gottes anzunehmen. Wir können dieses Angebot des neuen Lebens auch ablehnen.

Österliches Leben besteht aus fünf klaren Schritten: Tod, Auferstehung, die 40 Tage, Himmelfahrt und Pfingsten. Jeder dieser Schritte hat auch eine tiefe Bedeutung für Menschen, die österlich leben wollen.

Tod bedeutet den Verlust des Lebens. In diesem Schritt müssen wir trauern und unsere Verluste würdigen.

Auferstehung ist das Angebot eines neuen Lebens.

Die vierzig Tage sind die Zeit der Reifung, der Überlegung und der Übung, damit wir uns allmählich für das neue Leben entscheiden.

Himmelfahrt ist die Übung, das alte Leben loszulassen, damit wir uns auf das neue Leben einlassen können. 

Und Pfingsten ist der Empfang eines neuen Geistes.

Der Herr bricht mit seinem Angebot des neuen Lebens dort ein, wo Menschen zu sehr um die Dringlichkeit ihres Hungers kreisen, wo sie zu passiv und zurückhaltend geworden sind bei der Gestaltung ihres Lebens. Hand in Hand mit diesem Angebot kommt allerdings die Kernfrage: Wie viel Leben wollt ihr wagen? Denn nur gewagtes Leben fordert konkrete Zeichen und Schritte von uns. Erst wenn wir mehr Leben wagen, müssen wir es bewältigen und gestalten. Die Frage »Wie viel Leben wollt ihr wagen?« ist ein Frontalangriff auf das ungelebte Leben. 

In dieser biblischen Erzählung sind die konkreten Zeichen und Schritte, die Jesus wagt um des neuen Lebens  willens deutlich: Begegnung, Berührung und Besprechung.

Auch wenn die Jünger meinen, einen Geist zu sehen: Jesus ist kein Gespenst. Der Geist, der ihn erfüllt, ist greifbar und berührbar, denn Begegnung, Berührung und Besprechung machen den Geist Gottes spürbar.

»Fasst mich doch an und begreift«: Hier begegnen wir dem alten biblischen Lebensprinzip wieder. Erst Leben, dann Erkenntnis. Erst ergriffen werden, dann begreifen.

»Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.« Was Fleisch hat, hat Substanz, da ist etwas dran. Und die Knochen bilden ein Skelett in uns, eine tragende Struktur für die Substanz unseres Fleisches. Analysen über das Leben, das wir möglicherweise, unter gewissen Bedingen, eventuell, eines Tages, zur gegebenen Zeit, vielleicht umsetzen werden, bieten uns weder eine tragenden Struktur noch die Substanz, die wir brauchen um zu handeln. Ein gelebtes Leben hat Fleisch und Knochen, wie wir es bei Jesus sehen. Der primäre Ort, an dem sich Tradition und Erfahrung treffen, sind das Fleisch und die Knochen eines jeden Menschen. Deshalb machen Begegnung, Berührung und Besprechung den Geist Gottes spürbar.

»Seht meine Hände und meine Füße an…Fasst mich doch an und begreift… Bei diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und Füße.« Hier setzt die Geschichte große Bilder ein, um uns die Wahrheit zu sagen: Ein authentisches, auferstandenes Leben hat Hände und Füße. Im Bild der Hand sagt sie uns: Hier ist Leben, das anpacken kann, das handeln und schaffen kann. Im Bild des Fußes zeigt es uns: Hier ist Leben, das beweglich ist, begleitend, auf dem Weg.

Und dann isst Jesus. »Habt ihr etwas zu essen hier? Sie gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch; er nahm es und aß es vor ihren Augen.« In diesem Bild vom Fisch und dem Essen wird ein weiterer Aspekt des authentischen Lebens in der Auferstehung enthüllt. Was Jesus seinen Freunden demonstriert, ist wesentlich: Was zu eurem Leben wesentlich gehört, gehört auch zu meinem Leben. Jedes Leben, auch das auferstandene Leben, muss genährt werden.

Fisch wird gegessen. Fisch ist etwas, das dem Leben hungriger Menschen dienen und sie ernähren kann, aber nur, wenn sie bereit sind, die harte Arbeit zu tun, diese Fische aus dunklen Gewässern und verborgenen Tiefen zu sammeln und sie an den Ort zu bringen, wo sie leben und arbeiten. Fische liegen bekanntlich nicht an der Wasseroberfläche und springen schon gar nicht von selbst ins Boot.

Dieser Fisch ist jedoch nicht roh, sondern gebraten. Er wurde verarbeitet und zubereitet, damit er das Leben nähren und stärken kann. Auch hier wird von uns erwartet, dass wir in unser Leben investieren und einen Beitrag leisten. Wenn sie nicht von selbst ins Boot springen, springen Fische sicher nicht in unsere Bratpfannen.

Dies sind die kraftvollen Bilder dieser Auferstehungsgeschichte. Sie werden zu unserer Gefahr ignoriert, solange wir die Bibel nicht sowohl für ihre Bilder als auch für ihre Gedanken schätzen. Diese Geschichten sind keine in das menschliche Leben eingeschmuggelten Fremden, sondern die unvermeidlichen Begleiter eines Volkes, das durch Geburt und Tod gebunden ist. Sie sagen uns: Überall ist Geist und Leben tief im Inneren: sei es in Menschen, in Träumen, in Geschichten, in Liedern. Sie haben Leben in sich. Aber wir werden diesem Leben begegnen, es berühren und besprechen müssen. Es wird, wie der Fisch, aus der Tiefe geholt und geformt werden müssen, wenn es für uns Nahrung für eine lebenslange Reise sein soll. Wir können das Leben der Auferstehung nicht als passive Beobachter unserer eigenen Existenz leben.

Wie viel Leben werden wir wagen? Wenn es nur Geist ist, dann bleibt alles vage, farblos und blutleer und ohne scharfe Konturen. Das wird niemals zu einem Leben führen, das gewagt wird, weil es absolut nichts von uns verlangt: wir müssen keine Haltung einzunehmen, keine Aktion riskieren und keine Entscheidung treffen. Der Geist, der in Jesus ist, spornt uns an, mehr zu wagen, zu leben.

Die Auferstehung ist Gottes Angebot zu neuem Leben. Doch das Wesen und die Herausforderung aller Angebote sind, dass sie Einladungen sind. So angenehm es auch ist, sie zu erhalten, sie sind völlig wertlos, bis wir uns entscheiden, sie anzunehmen.

 

Erik Riechers SAC, 18. April 2021

 

 

Gegen die Schwerkraft des Todes

 

Wenn wir weiter und tiefer die Osterbotschaft betrachten und vor allem leben wollen, dann sind wir herausgefordert, sie mit hineinzunehmen in all das Schwere, dem wir begegnen und das wir tragen. Wir können es nicht schön reden, wir können ihm nicht ausweichen, wir wollen es nicht verdrängen.

Wie aber können wir lernen, damit zu leben?

Indem wir die biblische Erfahrung von Ostern ernst nehmen.

Lassen wir dazu eine weitere Stimme zu Wort kommen:

 

Einer steht auf.

Gegen die Schwerkraft des Todes

erhebt er sich vom Tod.

Nimmt dem Tod seine Schwere

ein für alle mal.

 

Strahlend hell sind nun die Aussichten.

Ein Funke Hoffnung auf die geheilte Welt:

Jenseits des Todes: Leben!

 

Leben jenseits des Todes –

neue Perspektiven tun sich auf

für das Leben hier und heute!

 

Zentnerschwere Last bleibt Last,

unermessliches Leid bleibt Leid

und der Tod bleibt in der Welt.

Doch Last und Leid und Tod haben nicht das letzte Wort.

Das letzte Wort ist einem anderen vorbehalten.

Und der antwortet

auf die Schwerkraft des Todes

mit der Sprengkraft des Lebens.

 

Ursula Schauber aus: Dies. (Hg.), Gegen die Schwerkraft des Todes. Fastenzeit und Ostern, 2008

 

Der Tod begegnet uns in vielen Facetten unseres Lebens und macht unser Gehen schwer.

Nehmen wir ihn als das, was er ist: ein Durchgang zu mehr Leben.

 

Rosemarie Monnerjahn, 16. April 2021

 

 

Wir sollten einander nicht im Stich lassen

 

Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; sie liefen beide zusammen, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als Erster ans Grab.

Joh 20, 1-4

Was ist Marias erster Impuls, nachdem sie sieht, dass der Stein vom Grab weggerollt wurde? Maria kehrt mit ihrer Nachricht zurück zu ihren Gefährten. Sie kommt zu ihnen mit allem, was in ihr ist: mit den Emotionen, die diese Erfahrung geweckt hat, mit den Ängsten, die sie ausgelöst hat, mit  den unausgesprochenen Hoffnungen, die sie geweckt hat. Sie ist zurückgekommen und hat einen Ort des Teilens geschaffen, einen Ort der Begegnung. Aber leider wird es nicht zu einem Ort des Dialogs, des Gesprächs.

Warum nicht? Weil von Seiten der Jünger es keine Antwort auf ihre Erfahrung gibt. Keiner fragt nach dem, was sie erlebt hat, wie sie sich fühlt und wie es ihr mit all dem geht. Sie lassen sie im Stich. Sie lassen sie allein mit allem, was in ihr ist.

Sind Sie schon mal zurückgekehrt nach einem tollen Urlaub, einer bewegenden Feier oder einem Vortrag und wollten anderen erzählen von dem, wovon Sie voll waren? Haben Sie mal einen bewegenden Film gesehen oder ein inspirierendes Buch gelesen und wollten anderen unbedingt davon erzählten, sie daran teilhaben lassen? Was passiert, wenn keiner Ihnen richtig zuhört? Was passiert, wenn es kein Echo auf Ihre Erfahrung gibt, sondern nur schweigendes Desinteresse? Sie werden sich im Stich gelassen fühlen. Desinteresse an unseren Themen empfinden wir immer als Desinteresse an unserer Person.

Petrus und Johannes haben, was sie fürs Erste brauchen und dann machen sie sich auf den Weg, um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Sie befriedigen ihre Neugierde, ihren Hunger nach Wissen, aber sie tun dies, indem sie eine Freundin und Gefährtin opfern.

Die Suche nach Leben und Wahrheit kann nicht authentisch sein, wenn wir andere Menschen opfern, um unsere Ziele zu erreichen. Das ist aber leider oft die Erfahrung mit ungesunden religiösen Agenden, die uns so kurzsichtig machen und uns Scheuklappen aufsetzen, dass wir Gottes Menschen, besonders die Leidenden, übersehen oder, noch schlimmer, ignorieren. Wir sehen nur das, was wir von der religiösen Erfahrung, die wir suchen, brauchen, und dann sind wir bereit, andere zu opfern, um es zu bekommen.

Das ist genau das Gegenteil zu der Art und Weise, wie die auferstandene Liebe lebt und handelt. Jesus, der Auferstandene, weigert sich, alle anderen zurückzulassen. Jesus kehrt immer zu uns zurück. Er erscheint und sucht uns dort, wo wir sind, in den Bedingungen, in denen wir leben, in den Situationen und Erfahrungen, die uns im Griff haben. Das ist die Liebe Jesu und das ist die Liebe, die die Jünger vermissen: eine Liebe, die sich weigert, ihre eigene Erfüllung auf Kosten der anderen zu suchen. Das ist die Liebe, die sie suchen, aber nicht die Liebe, der sie nacheifern. Sie lassen Maria zurück.

Wir können von unseren religiösen Idealen so vereinnahmt werden, dass wir die Priorität des menschlichen Lebens im liebenden Herzen Gottes vergessen. Dann wird die liturgische Reinheit wichtiger als die Teilnehmer eines Gottesdienstes. Es gibt eine Besessenheit, das Leben des Glaubens zu regulieren, die oft das Leben der Gläubigen ignoriert.

Das ist es, was die Jünger tun. Sie ignorieren das Leben dieser gläubigen Frau. Ohne sie hätten sie nicht einmal die Geschichte, die sie in Bewegung setzt, gehört. Aber sie lassen sie zurück. Und sie tun es zweimal.

Nachdem sie das leere Grab und das, was sie interessiert hat, erkundet haben, gehen sie nach Hause. Maria, die ihnen allein zum Grab gefolgt ist, lassen sie mit ihren Tränen allein.

Menschen in ihrer Trauer allein zu lassen, ist nicht der Weg des Auferstandenen. Lassen Sie ihn dort, wo er in Auferstehungsgeschichten auftaucht. Er ist immer dort zu finden, wo seine Jünger leiden, sei es durch Angst, Depression, Trauer, Zweifel oder Hoffnungslosigkeit.

Das ist oft der Vorwurf an die hierarchische Kirche: Ihr habt uns in unserem Kummer und unserer Verletzlichkeit im Stich gelassen. Viele Menschen in schwierigen Beziehungen haben die Erfahrung gemacht, dass die offizielle Kirche sie eher verurteilt als begleitet. In einem Beispiel nach dem anderen sind Missbrauchsopfer nicht respektiert und begleitet worden, weil die Amtsträger den Skandal vermeiden wollten, den die Anerkennung ihres Schmerzes mit sich bringt.

Vor einigen Wochen haben wir alle erlebt, wie das Rechtsgutachten in Köln veröffentlicht wurde. Direkt danach wurde ein Weihbischof von seinem Amt entpflichtet. Danach schrieb er: »Tiefer noch beschämt mich, zu wenig beachtet zu haben, wie verletzte Menschen empfinden, was sie brauchen und wie ihnen die Kirche begegnen muss. Das ist ein Versagen als Seelsorger und als Mensch«. Wenn ein Weihbischof das erst sagen kann, nachdem er im Missbrauchsskandal enttarnt wurde, dann müssen wir schon fragen: Wo waren Sie in all den Jahren? Womit waren Sie so beschäftigt, dass Sie nicht wissen, was verletzte Menschen empfinden und brauchen?  Sicherlich nicht mit diesen Menschen. Er hatte Zeit für die Kirchenkarriere und war immer besorgt um die Menschen, die ihn befördern konnten, anstatt sich zu kümmern um die Menschen, die seinen Schutz brauchten. Seine Sorge um den Personenkult um Kardinal Meisner und das gepflegte Denunzieren aller, die nicht jede liturgische Regel eingehalten haben, ist dilettantisch gewesen, denn er sorgte nicht dafür, dass die Regeln des Kirchenrechts eingehalten wurden, sobald es um die gebrechlichsten Menschen ging. Die Sorge um all das ließ wohl kaum Zeit übrig für die Sorge um die Seelen der Menschen. So entstehen Menschen, die am Ende Maria von Magdala am Grab weinend stehen lassen.

Johannes zeichnet einen starken Kontrast zwischen Maria und den Jüngern. In ihrer Trauer 1. denkt sie an die anderen, 2. kehrt sie zu ihnen zurück (sucht sie auf, lässt sie nicht allein), 3. erzählt ihnen ihre Geschichte (und damit etwas, was auch ihr Leben stärken könnte in einer Zeit der Trauer) und 4. nimmt dafür Umwege in Kauf nimmt (sie könnte auch im Garten bleiben, ihren Interessen nachgehen und ihren Weg fortsetzten).

Die Jünger dagegen 1. denken nur an sich und lassen Maria zurück, 2. suchen sie nicht auf, 3.  erzählen ihr nichts von ihrer Geschichte (und damit teilen sie nichts, was Marias Leben stärken könnte in einer Zeit der Trauer) und 4. gehen einfach nach Hause, wenn sie fertig sind. Keine Umwege. Kein Warten, bis Maria so weit wäre.

Eine gesunde österliche Spiritualität muss ich die Frage stellen, wie wir den Auferstandenen suchen und ihm begegnen werden. Wenn wir Ostern „weiter“ feiern wollen, dann sicherlich nicht, indem wir einander im Stich lassen.

 

Erik Riechers SAC, 14. April 2021

 

 

Ostern »weiter« feiern

 

Liturgisch feiern wir an allen Sonntagen bis Pfingsten das Ostergeheimnis. Doch in unserem Bewusstsein tritt Ostern spätestens mit dem Weißen Sonntag, also nach einer Woche, in den Hintergrund. Schade!

Dem möchten wir entgegenwirken und Ostern mit Ihnen weiter feiern - zum einen zeitlich, zum anderen auch in Formen und durch die Stimmen anderer Menschen. Um unseren Blick und unsere Herzen zu weiten, lassen wir immer wieder andere zu Wort kommen. In der vergangenen Woche war es Willi Bruners. Heute spricht zu uns Susanne Ruschmann aus Freiburg über das, was in aller Frühe geschah und geschieht:

 

Wenn du

im Dunkel des Morgens

zu den Gräbern des Lebens gehst

in deinem Herzen mehr Nacht noch

als dämmender Tag

 

wenn deine Trauer nicht enden will

über alles, was du zu Grabe trugst

deine Hoffnungen, Pläne, gescheiterte Liebe

deine lebendige Sehnsucht, die mitten im Leben erstarb

der Sinn deiner Gegenwart, von dem du glaubtest, er trüge dich

in die blühende Zukunft und über die Zukunft hinaus

 

dann erinnere dich

dass schon einmal einer

der Hoffnung und Sinn für so viele war

verspottet, gescheitert, ums Leben gebracht

begraben wurde im Abgrund Tod.

 

Und denke daran

die ihn begruben, die um ihn weinten

erlebten nicht seine Wiedergeburt

keine Rückkehr ins Leben, als sei nichts geschehen.

Alles blieb wahr: die gestorbene Hoffnung, die Trauer, der Tod.

Als sie ihn sahen, trug er sogar seine Wunden noch.

Und doch wussten sie:

jetzt blüht uns ein neuer Anfang

wie es noch nie einen gab

weil er, der selber das Leben ist

aus Grabestiefe und Todesnacht

neues Leben erweckt.

 

Dann mache dich auf

im frühen  Licht deines Ostertags

und suche das Leben.

Doch suche es nicht im Grab.

Es begegnet dir anders und neu

befremdlich zuerst,

gezeichnet und zart

mitten im Alltag.

Im Arbeiten, Lieben

im Hoffen und Trauern, im Scheitern, Beginnen.

und mitten in dir.

Susanne Ruschmann, aus: Dies. (Hg.), Es wird in aller Frühe sein. Fastenzeit und Ostern, 2009

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. April 2021

 

 

Keine Türen können ihn aufhalten

 

2. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 20,19-31

 

»Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus…«

»Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte…«

 

Jesus kommt bei verschlossenen Türen. Johannes wiederholt diesen Satz zweimal. Bei einem so wortkargen Erzähler ist das immer ein Zeichen, dass es sich um etwas Wichtiges handelt. Warum? Weil, wenn etwas nur einmal gesagt wird, dann haben wir auch nur eine Gelegenheit es zu verstehen und umzusetzen.

Was aber wiederholt wird, gibt uns mehr als eine Chance, das Gesagte in uns aufzunehmen und zu verdauen. Deshalb betont Johannes zweimal, dass die Türen verschlossen waren. So signalisiert er schon im Voraus, dass diese verschlossenen Türen beide Male eine bedeutende Rolle spielen. Wenn es um die verschlossenen Türen unseres persönlichen Lebens geht, werden auch wir einen Gott brauchen, der mehr als einen Versuch unternimmt, sie zu durchzudringen.

Jedes Mal, wenn ich diese Geschichte höre, wird ein Bild meiner Kindheit in mir wieder wach. Denn als ich noch sehr klein war, schenkte mir eine Ordensfrau ein Heiligenbildchen mit dem Untertitel: Nur du kannst die Tür aufmachen. Im Bild war ein Mann zu sehen. Er saß hinter einer verschlossenen Tür, zusammengezuckt, von Angst und innerer Dunkelheit gelähmt. Draußen, vor dieser Tür, stand Jesus. Mit der einen Hand hält er eine Laterne, mit der anderen klopft er an der Tür. Und hier musste man sehr genau das Bild betrachten, denn erst dann merkte man, dass die Tür nur einen Griff auf der Innenseite hatte. Jesus kann nicht hinein, außer dass der Mann erst die Tür von innen aufschließt. Und so der Untertitel:  Nur du kannst die Tür aufmachen

Ein Teil des Bildes spiegelt die Erfahrung des Evangeliums, aber auch eine zu häufige Erfahrung unseres Lebens. Wir leben oft hinter verschlossenen Türen. Wir fühlen uns eingeengt und eingeschlossen. Aber auch wenn wir selbst diese Türen verschlossen haben, heißt es nicht, dass wir sie von allein sie wieder aufbekommen. Wenn dann die Botschaft erklingt »Nur du kannst die Tür aufmachen«, dann kommt es wie Hohn bei uns an.

Das heutige Evangelium bietet uns eine alternative Geschichte an. Nach der Auferstehung Jesu erscheint er den Jüngern, die, wie Johannes es beschreibt, in einem Raum versammelt waren, voller Furcht, hinter verschlossenen Türen. Jesus kommt direkt durch die verschlossenen Türen, stellt sich in die Mitte ihrer Ängste und haucht Frieden auf sie aus. Eine Woche später macht er es wieder. »Acht Tage darauf… Die Türen waren verschlossen.«

So niedlich wie das Bildchen meiner Kindheit war, harmlos war es nicht. Denn es kann eine Frage nicht beantworten, die Johannes klar beantwortet. Was ist, wenn wir die Tür unserer Ängste nicht öffnen können? Solche Lebenssituationen kommen gelegentlich vor. In diesen Tagen erzählten mir Menschen von einer Frau die sich das Leben genommen hat. Die Erzählung war erfüllt von Betroffenheit und tiefer Traurigkeit, aber auch von Hilflosigkeit.  Warum konnten wir sie nicht erreichen? Warum konnten wir nicht hinter diesen verschlossenen Türen ihres Herzens erscheinen, um etwas zu tun, etwas zu bewirken? Ja, hier begegnen wir den Grenzen unseres menschlichen Könnens. Und wo wir an diese Grenze stoßen, werden wir die Worte hören, die Jesus zu Petrus sprach, als dieser am Ende seiner Vorstellungskraft von dem, was möglich ist, angelangt war: Für Gott aber ist nichts unmöglich.

Wir sollten uns allerdings nicht als immun gegenüber solchen Stunden wähnen. Manchmal haben auch wir zu viel Angst, um die Türen zu öffnen. Andermal sind wir von Sorgen gelähmt. Manchmal können wir einfach die Kraft nicht finden oder aufbringen aufzustehen, um die Türen wieder aufzumachen.

Was dann? Heißt das, dass Jesus dann die Achseln zuckt und davongeht, nur weil wir die Tür nicht öffnen konnten? Sollten unsere Augenblicke der Schwäche, der Dunkelheit, der Schwere und der Lähmung die Orte bestimmen können, die Gott betreten darf?

Die biblische  Erzählung verneint so eine Vorstellung ganz energisch, eben zweimal. Denn beide Male kommt Jesus hinter verschlossene Türe zu uns. Haben wir es uns wirklich anders vorgestellt von diesem Jesus, von dem wir singen »da sprengt er Riegel, Schloss und Stein«? Wenn weder das Holz des Kreuzes ihn festhalten konnte, noch das mit Felsen versiegelte Grab ihn einzusperren vermochte, welche Chance haben dann von Menschenhand verschlossene Türen, seien sie in unseren Häusern oder in unseren Herzen?

Wenn wir vor Angst und Dunkelheit so gelähmt sind, dass wir uns selbst nicht mehr helfen können, wenn wir zum Augenblick kommen, wo wir es nicht mehr schaffen, die Tür zu öffnen, um Licht und Leben hineinzulassen, dort kommt Gott immer noch durch verschlossene Türen.

Gott kommt durch alle verschlossenen Türen unseres Lebens, stellt sich in die Mitte unserer Ängste und haucht den Frieden über uns aus. Es gibt Türen, die wir höchst persönlich abgeschlossen und verriegelt haben. Die Liebe Gottes steht nicht hilflos vor solchen verschlossenen Türen. Eben weil er auch hinter verschlossenen Türen erscheint, erkennen wir, dass es keine Gott-losen, keine Gott-leeren Räume geben kann.

Diese Erfahrung kann unser Leben verändern. Eine Frau schrieb mir in diesen Tagen: »Ich entdeckte, dass ich Liebeskummer mit meinem persönlichen Gott habe. Und irgendwie war es trotz Schmerz befreiend für mich. Weil ich so das erste Mal in meinem Leben erkannt habe, und gerade spüre, dass es keine gottlosen Räume gibt. Das ist ganz neu für mich. Eine ganz neue Erfahrung.«

Das heißt nicht, dass alles sofort gut wird, dass alle Sorge weicht und nur noch Leichtigkeit in uns herrscht. Denn, wie Johannes so treffend erzählt, nachdem Jesus schon einmal hinter verschlossene Türen kam, um die Ängste seiner Menschen zu lindern, ist es nur acht Tage später, wo wir dann hören, dass die Türen wieder verschlossen sind. Wir brauchen mehr als eine Chance, um vieles im Leben hinzubekommen. Wir haben das große Glück, dass der Herr, der zweimal für uns auf steinerne Tafeln schreibt, der Herr, der für uns zweimal im Staub schreibt, auch der Herr ist, der zweimal hinter verschlossene Türen kommt.

Und doch sollten wir hier die Botschaft nicht verkennen. Hier spricht Johannes uns Trost zu. Denn von woher kommt die Stimme Jesu, die so gerne wieder mit uns sprechen möchte? Im Bildchen kommt sie von außerhalb des Hauses. Dort steht die Tür zwischen einem Menschen und Jesus. Und diese Stimme fordert uns auf, die Tür zu öffnen.

In Johannes kommt die Stimme von innerhalb des Hauses. Der Jesus, der sich liebend gerne mit uns unterhalten möchte, steht im Raum unserer Ängste. Keine Türe steht zwischen unserer Zaghaftigkeit und seiner Bereitschaft, zwischen unserer Schwäche und seiner Kraft. Das ist wahrer Trost, denn diese zweifache Erzählung erinnert uns, dass all diese Dinge Raum und Platz und Zeit bekommen in den Räumen unserer Begegnungen mit Jesus. Seine Stimme ist neben uns, dort wo wir sind. Diese Stimme kommt in die Räume, wo wir bedrängt, eingeengt und gefangen sind.

Auch diese Auferstehungsgeschichte erzählt uns von der Erfahrung der Jünger mit der andauernden und doch verwandelten Gegenwart Jesu. Und heute hören wir zweimal, dass diese Gegenwart des Auferstandenen eine begleitende Präsenz ist, bereit, alle unsere Räume zu betreten, ob wir sie schon aufgeräumt haben oder nicht. Die Gegenwart Jesu macht uns die Türen von innen auf, damit wir wieder ins Leben hinausgehen können.

Hier ist einer, der präsent, nahe und gegenwärtig die Räume unseres Lebens betritt. Wir Menschen haben jede Menge Berührungsängste. Jesus teilt keine einzige davon.

Natürlich haben wir immer noch alle unsere Freiheiten hinter diesen Türen. Wir können sie geschlossen halten. Wir können weiterhin dort bleiben. Es gibt Türen, die wir persönlich verschlossen und verriegelt halten. Aber wir sollten niemals, niemals die Freiheit Gottes unterschätzen. Die Liebe Gottes steht nicht hilflos vor solchen verschlossenen Türen. Denn es gibt keine gottlosen, keine gottleeren Räume. Wir Menschen können zwar ziemlich hartnäckig sein, aber verglichen mit der Hartnäckigkeit Gottes sind wir alle nur Amateure. Gott kommt nicht nur einmal.

 

Erik Riechers SAC, 11. April 2021

 

 

Wenn das einer könnte

 

Wie ein Schmetterling möchten viele leben; leicht soll es sich anfühlen, einfach schön, vielleicht gemütlich, gern gesellig - wo können wir gut essen, was ziehen wir an? Geschichten von Leid? Schnell weiter- will ich nicht hören! Es ist doch schon schlimm genug, dass wir so lange nicht verreisen dürfen! Du machst dir Sorgen? Gönn‘ dir etwas Schönes, lenk‘ dich ab! Schmerzen? Dagegen gibt’s Mittel! Narben von alten Verwundungen? Alles überdeckt, verschwiegen, schön geredet.

Aber das Leben ist nicht nur leicht – weder in der großen Welt noch in der kleinen und in keinem einzelnen Menschenleben. Hunger, Flucht, Kriege sind Realitäten genauso wie Krankheit, Verlust, Trennung und Schmerz. Warum haben wir Angst, diese Wirklichkeit genauso anzunehmen wie die hellen Seiten des Lebens?

Warum tun wir uns so schwer, das Dunkle anzuschauen und Ja zu sagen zu Verletzungen und Vernarbungen, sie weder zu verleugnen noch zu verdammen?

Ist es nicht das Außergewöhnliche unseres Glaubens, dass wir einem Meister folgen, der das Leben in seiner ganzen Spannbreite durchlebt und durchlitten hat und nichts verdeckt, nichts schönredet? Die Narben sind geradezu das Erkennungszeichen des Auferstandenen. Sie gehören zu ihm so wie jedes Leid, das wir durchstehen, zu uns gehört. Wenn wir dies begreifen, brauchen wir weder ein andauerndes religiöses Hochgefühl, das so tut, als müssten wir nur richtig glauben und alles sei einfach. Noch müssen wir eine oberflächlich leichte Fassade aufrechterhalten aus Angst, das Schwere nähme uns etwas vom Leben. Wenn wir unsere eigenen Wunden annehmen könnten, dann würden wir auch nicht all jene Menschen ignorieren und an den Rand drängen, die leiden, weil deren Schmerz uns an unseren eigenen Schmerz erinnert.

Es könnte österlicher Friede in unsere Herzen und Gemeinschaften einkehren, in dem alles seinen Platz hat und das ganze Leben Gewicht bekommt.

Willi Bruners fand dafür vor vielen Jahren wunderbare Worte.

 

»Friede sei mit euch!

Nach diesen Worten zeigte

er ihnen seine Hände und

seine Seite«

(Joh 20, 19f)

 

Wenn das einer könnte

 

seine Narben zeigen

seine Wunden, das Blut

noch nicht getrocknet

 

            und nicht fluchen

            nicht richten

 

wenn das einer könnte

 

die Reihe wäre an ihm

den Himmel auszugraben

 

die vergessenen Toten

 

            aus: Wilhelm Bruners, Verabschiede die Nacht, S. 74

 

Rosemarie Monnerjahn, 9. April 2021

 

 

Schritt für Schritt

 

Ostern ist kein Fest für ein, zwei Tage. Wir feiern es in der Liturgie wochenlang. Wir nähern uns dem Geheimnis, wir buchstabieren es immer wieder neu. Das hat seinen Grund. Auferstehung erfahren ist nämlich kein triumphalistisches Ereignis, das über uns kommt und mit einem Schlag alles klärt. Das war es von Anfang an nicht. Da sind die biblischen Erzählungen eindeutig. Immer war und ist es ein zartes, fragendes Herantasten, das schließlich das Herz erwärmt und uns in Bewegung bringt.

Willi Bruners hat es so ins Wort gebracht:

Schritt für Schritt

lichtet sich das Chaos

wird das Leben erkennbar

das vor uns liegt

Hungrige Menschen

                       speisen

die auf Brot warten

Kranke Menschen

                  besuchen

die sich voll Erwartung 

nach einem guten Blick

                            sehnen

Tote herausrufen

die auf Worte

der Auferweckung

hoffen

 

Wenn wir ausziehen

aus dem Haus

unserer Ängste

und Enttäuschungen

werden wir wieder frei

füreinander

und geben dem Dämon

endloser Totenrede den Laufpass

 

Neu entdecken wir

die Lebensspur

neu entdecken wir den Auferweckten

neu entdecken wir im Chaos

die großen Zusammenhänge

die uns langsam aufgehen

und durchsichtig werden

auf eine offene Zukunft

in und mit

 

IHM

                                                                 w.bruners

 

Vielleicht nehmen wir uns in diesen Osterwochen immer wieder Zeit für einen inneren und auch äußeren Weg nach Emmaus. Wir könnten Fragen, Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen in uns wahrnehmen und benennen. Wir könnten den Auferstandenen in neuen Möglichkeiten und Lebensräumen erahnen und entdecken auf eine Weise, die wir nie erwarteten.

Öffnen wir die Augen und Ohren unserer Herzen, damit uns unser Osterlicht immer wieder neu aufgeht!

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. April 2021

 

 

 

Da wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten ihn

 

Ostermontag 2021                         Lk 24, 13-35

 

Die Auferstehungsgeschichten der biblischen Erzählung sind reich und komplex zugleich. Sie erzählen uns von der Erfahrung der Jünger mit der andauernden und doch verwandelten Gegenwart Jesu. Und das ist der Grund, warum es keine ekstatischen Auferstehungsgeschichten gibt. Die Jünger sind froh, dass Jesu Gegenwart andauert, aber sie können sich nicht leicht mit der Art und Weise abfinden, wie seine Gegenwart verwandelt worden ist. Sie sind immer wieder erschrocken, meist überwältigt, häufig verängstigt und größtenteils ahnungslos.

Gerade weil es so schwierig ist, sich auf diese verwandelte Gegenwart Jesu einzustellen, offenbaren uns alle Auferstehungsgeschichten vier Erkennungszeichen für die Art und Weise, wie der auferstandene Herr in unser Leben tritt.

  1. Zuerst tritt er in unsere gegenwärtige, ungefilterte und unbereinigte Lebenssituation ein.
  2. Er kommt unbekannt und ungebeten.
  3. Er offenbart sich zunächst als freundlicher Nachbar.
  4. Erst nach der Erfahrung der Wirkung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben erkennen wir ihn als Meister und Herrn.  

  

  1. Zuerst tritt er in unsere gegenwärtige, ungefilterte und unbereinigte Lebenssituation ein.

Die gegenwärtige Lebenssituation der Jünger ist niederschmetternd. Sie lebten einst mit der großen Gewissheit, dass Jesus ein Prophet war, »mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk«. Mit seinem Tod verwandelte sich diese »große Gewissheit« in die »große Ernüchterung« für die Jünger. Sein Tod beendete nicht nur sein physisches Leben, sondern in den Herzen und Köpfen dieser Jünger wurde auch die Wahrheit, an die er glaubte, seine große Gewissheit, dass Gott gnädig und barmherzig ist, zerstört.

»Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde.«

Es ist ein niederschmetternder Satz, denn es wird von Hoffnung in der Vergangenheitsform gesprochen. Wie viele Fragen sind in diesem einen Satz verwoben? Kann die letzte Macht des Lebens barmherzig sein, wenn gerade dieser Mann und alles wofür er stand, gekreuzigt wird? War die freudige Zuversicht, die Jesus auszeichnete, nur eine Fata Morgana?  Welche Art von Liebe erlaubt es Pilatus, in seinem Bett zu sterben und Jesus an das Holz zu nageln?

 

  1. Er kommt unbekannt und ungebeten.

Die Auferstehung ist die Erfahrung der Jünger mit der fortdauernden und doch verwandelten Gegenwart Jesu. Aber weil diese Gegenwart Jesu verwandelt worden ist, erkennen sie ihn nicht. Seine Auferstehung löst nicht die Rätsel der menschlichen Existenz.

Ein langer, liebevoller Blick auf die Realität dieser Auferstehungsgeschichte zeigt uns, dass die beiden Jünger Jesus begegnen und mit ihm unterwegs sind, aber das macht weder alles kristallklar, noch löst es ihre Zweifel und Ängste auf oder beruhigt ihre aufgewühlten Herzen.

Die beiden teilen ihren Weg und ihre Geschichten mit Jesus, aber seine Anwesenheit setzt nicht allen Stürmen ihres Lebens ein Ende, so dass sie nun beruhigt nach Hause zurückkehren könnten.

Ich erinnere Sie behutsam daran, dass dies eine Geschichte ist, in der von Hoffnung in der Vergangenheitsform gesprochen wird. Die beiden schütten ihren Kummer über die bösartige Verfolgung durch die Hohepriester und die Führer des Volkes aus. Sie erwähnen, dass »heute schon der dritte Tag« ist,  aber es werden keine Alarmglocken ausgelöst.

Sie sprechen von den bemerkenswerten Frauen ihrer Gemeinde.

Als die Zwölf ihn verließen, blieben die Frauen.

Als der Morgen noch dunkel war, brachten die Frauen die wohlriechende Gewürze.

Als das Grab leer war, verkündeten die Frauen die Frohe Botschaft.

Als die Männer ihnen nicht glaubten, gaben die Frauen nicht auf.

Aber nichts von alledem, keine ihrer eigenen Geschichten, scheint irgendeine Wirkung auf sie zu haben. Und die Gegenwart des auferstandenen Herrn verändert nicht die Art und Weise, wie sie ihre eigene Geschichte als Erfahrung hören und bedienen.

Warum ist das alles immer noch so verwirrend? Weil die Auferstehung die Rätsel der menschlichen Existenz nicht löst. Der auferstandene Herr ist ihr Begleiter, aber niemand in dieser biblischen Erzählung kann herumlaufen und singen »Verschwunden sind die Nebel all«.

Das ist nicht die Art und Weise, wie Auferstehung funktioniert. Das Merkmal unseres Christseins ist nicht, dass wir über die kommende himmlische Zukunft bestens informiert sind. Die Auferstehung klärt nicht ein für alle Mal das Geheimnis der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk.

Stattdessen lehrt sie uns, dass diese Beziehung real ist. Unsere Erfahrungen mit dem auferstandenen Herrn werden dort zu finden sein, wo sie unsere Zweifel und Unsicherheiten begleiten. Der auferstandene Herr wird uns zuerst auffordern, unsere Geschichten in ihrer ganzen betäubenden, verwirrenden, unordentlichen und chaotischen Fülle zu erzählen. Der auferstandene Herr ist nicht derjenige, der plötzlich auftaucht und sagt: »Ich bin wieder da. Macht euch keine Sorgen. Jetzt werde ich euch alles erzählen.« Er ist derjenige, der zuerst sagt: »Erzähle mir alles«.

Der auferstandene Herr führt uns allmählich in die Fülle des Geheimnisses dieser Beziehung ein.

 

  1. Er offenbart sich zunächst als freundlicher Nachbar.

Die Auferstehung ist die ursprüngliche religiöse Erfahrung für Christen, aber sie löst das Geheimnis Gottes oder unseres Lebens mit ihm nicht auf. Alle Auferstehungsgeschichten zeigen uns, dass die Jünger von der Auferstehung genauso schockiert sind wie von der Kreuzigung.

Wie alle Handlungen Jesu ist auch die Auferstehung eine Einladung. Er lädt uns ein, den Tod zu überwinden. Und wie? Indem er unser gegenwärtiges, ungefiltertes, unbereinigtes und reales Leben nimmt und es unwiederbringlich in die geheimnisvolle Beziehung eintaucht, die Gott mit seinem geliebten Volk genießt. Ostern ist eine Einladung in eine Welt der Möglichkeiten und Perspektiven, an die wir noch gar nicht gedacht haben. »Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.«

Die Auferstehungserfahrung ist zunächst mit einem gütigen Nächsten und Mitmenschen verbunden, der unsere Perspektiven auf all die Orte zwischen Himmel und Hölle öffnet, an denen das Leben erblühen kann.

Als Jesus ihnen all das präsentierte, wovon Mose, die Propheten und die ganze Heilige Schrift zu berichten haben, erinnerte er sie daran, dass wilde Dinge geschehen, wenn man es wagt, mit Gott zu gehen.  Er führt sie sanft zu einer Lektion, die John Shea so formuliert hat: »Die meisten Menschen, die tief von Gott getrunken haben, sind wild durchs Leben gelaufen«.  Jesus erzählt ihnen die Geschichten von Gott und die Geschichten des Glaubens, und diese Geschichten erzählen davon, wie die Gnade schleichend am Werk ist und unsere Wunden heilt. Das geschieht auf dem Weg nach Emmaus, während er davon erzählt. »Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete?« Er erzählte ihnen die Geschichten von einem Gott, der überraschende Einladungen ausspricht, und von einer langweiligen alten Welt, die von der unerwarteten Kraft des Menschensohns durchschossen wird.

Die Auferstehungsgeschichten sind Geschichten des Glaubens. Sie sind ein poetischer Überschwang von Glaubenserfahrungen. Was auch immer sie über den auferstandenen Herrn sagen mögen, sie erzählen uns mehr über uns selbst und wie wir das Leben nach der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn realistisch erleben.

 

  1. Erst nach der Erfahrung der Wirkung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben erkennen wir ihn als Meister und Herrn.  

Das ist es, was uns alle Auferstehungsgeschichten lehren. Erst jetzt und nur allmählich werden uns die Augen geöffnet. Unsere Herzen brennen lange Zeit, während wir unterwegs sind, bevor sie erkennen, wer der Brandstifter ist.

Die Auferstehung und die Herausforderung, das Leben über den Tod hinaus zu gestalten, ist für uns schwierig, damals wie heute, weil die Gnade durch die unwahrscheinlichsten Menschen wirkt. Hier ist einer, der sie aus ihrem Kummer und ihrer Depression herausholt. Sie erkennen ihn zunächst nicht, so wie Maria nicht erkennt, wer der Gärtner ist, der das für sie tut. Erst die Erfahrung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben, dann das Wissen, wem wir da begegnen. Hier ist einer, der sie zu neuen Perspektiven jenseits alter Schuld führt. Sie werden ihn zunächst nicht erkennen, so wie der Petrus den fischkochenden und brotbackenden Mann am Ufer des Sees von Tiberias nicht erkennt, der genau das Gleiche für ihn tut. Erst die Erfahrung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben, dann das Wissen, wem wir da begegnen. Hier ist ein guter Mann, der sie über die zu großen Enttäuschungen und die zu kleinen Geschichten hinausführen wird. Erst am Tisch werden sie ihn voll erkennen. Erst die Erfahrung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben, dann das Wissen, wem wir da begegnen. 

Halten Sie also die Augen offen für die Zeichen des Auferstandenen:

  1. Zuerst tritt er in unsere gegenwärtige, ungefilterte und unbereinigte Lebenssituation ein.
  2. Er kommt unbekannt und ungebeten.
  3. Er offenbart sich zunächst als freundlicher Nachbar.
  4. Erst nach der Erfahrung der Wirkung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben erkennen wir ihn als Meister und Herrn.  

 

Erik Riechers SAC

Ostermontag, 5. April 2021

 

 

Der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht

 

Ostersonntag 2021                         Joh 20, 1-11

 

In Genesis 28, 16-17 kommt Jakob, der an sich und an dem Ort, an dem er sich gerade befindet, überhaupt keine Gotteserfahrung erwartet, zu einer erstaunlichen Erkenntnis.  »Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. Und er erschrak und sagte: Wie großartig ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als das Haus Gottes, und dies ist die Pforte des Himmels.«

Wenn es um die Auferstehung geht, meinen viele von uns, dass sie an irgendeinem Ort stattfinden wird, außer in uns selbst und an den Orten, an denen wir wohnen. Doch die heutige Geschichte aus dem Johannesevangelium führt uns im Garten, in dem der Stein weggerollt wird, zu der gleichen erstaunlichen Erkenntnis, die Jakob in der Wüste mit einem Stein unter dem Kopf hatte. »Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.«

Versteckt in den Falten von Johannes' Geschichte ist eine ältere Geschichte von Liebe und Sehnsucht. Sie leitete sein Herz und seine Hand, als er seine erste Ostergeschichte für uns schrieb.

Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, /

den meine Seele liebt. /

Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, /

die Gassen und Plätze, /

ihn suchen, den meine Seele liebt.

Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Mich fanden die Wächter / bei ihrer Runde durch die Stadt.

Habt ihr ihn gesehen, / den meine Seele liebt?

Kaum war ich an ihnen vorüber, /

fand ich ihn, den meine Seele liebt.

Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, /

bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, /

in die Kammer derer, die mich geboren hat.

Hohelied der Liebe 3, 1-4

 

Wenn Sie eine vertrauenswürdige und trittsichere Begleiterin auf dem Weg zum auferstandenen, erlösten Leben suchen, empfehle ich Ihnen Maria von Magdala. Sie kann uns von einem der schlimmsten Probleme des Osterglaubens heilen: der Romantisierung der Auferstehung.

Zu oft sprechen und singen wir über die Auferstehung als etwas Fertiges, als ein Endprodukt. Aber nicht alle Dunkelheit, die schwer auf unseren Herzen lag, ist verschwunden. Wie die Jünger in jeder Auferstehungsgeschichte haben wir ein Problem: Niemand von uns lebt ein so antiseptisches Leben.

Wir träumen vom auferstandenen, erlösten Leben; von Freundschaften, die nach langem Winterschlaf wieder zur Lebendigkeit erwecken; von der Wiederbelebung alter Liebesgeschichten, die lang verloren sind; von Frieden, der Krieg ein Ende setzt, von Essen, das auf Hungersnot folgt, von Gesundheit, die Krankheit ersetzt, und von Freiheit, die Unterdrückung trumpft.

In der Tat ist dieses Leben für Jesus erfüllt, aber nicht für uns. Auf unserer Seite des Grabes erleben wir die Verheißung des auferstandenen Lebens wie Maria im Garten: weder ganz vollendet noch eine Hoffnung in der fernen Zukunft. Maria von Magdala ist die Begleiterin in dieses Geheimnis, denn sie allein geht alle Schritte durch, die dieser Prozess verlangt. Sie nimmt keine Abkürzungen und gibt nicht mitten auf dem Weg auf (im Gegensatz zu Petrus und Johannes, die einfach wieder nach Hause gehen). Sie lehrt uns: dieses auferstandene Leben ist kein Besitz, sondern ein Prozess, der sich in uns durch die Kraft Gottes entfalten muss. Das ist wichtig, wenn Ostern nicht nur ein Innehalten auf dem Weg der Verzweiflung sein soll.

Diese erste Ostererfahrung von Maria gleicht der Erfahrung, die wir im Laufe unseres Lebens unzählige Male gemacht haben. Unser Leben ist schmerzlich unvollständig und unvollkommen. Nur wer diese Erfahrung ernst nimmt, versteht den tiefsten Grund für den Tod Jesu: Eine wahre Liebe, die etwas erlösen will, muss bereit sein, für das zu kämpfen, was sie liebt. Authentische Liebe sucht »den, den meine Seele liebt«. Wir werden nicht das Blut unseres Herzens für das vergießen, was wir nicht erlösen wollen.

Im Hohelied sehen wir diese Bereitschaft, für das zu kämpfen, was uns ans Herz gewachsen ist. Was für einen gewaltigen und mühsamen Aufwand an liebevoller Anstrengung macht diese Frau um ihrer Liebe willen: Lange Nächte lang zu suchen und nicht zu finden, wonach sie Ausschau hält; die Stadt zu durchstreifen, die Straßen und Plätze zu durchkämmen; andere anzuhalten und zu befragen in der Hoffnung, einen Hinweis, eine Richtung zu finden; den Geliebten zu packen, nicht loszulassen und ihn nach Hause zu bringen.

In der Evangeliumsgeschichte vom ersten Ostermorgen schaut Johannes bewundernd auf Maria von Magdala und erkennt dieselbe Bereitschaft zum Kampf um der großen Liebe willen, die er aus dem Hohelied kannte. Maria ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die alttestamentliche Sängerin: Sie steht früh auf, wandert durch die Dunkelheit, nur um Leere zu finden. Sie geht zurück zum Ausgangspunkt und bespricht die Situation mit anderen, findet aber wenig Verständnis und keine Unterstützung; sie geht wieder zurück in den Garten, nachdem sie von ihren Begleitern zurückgelassen wurde. Sie steht vor dem Grab (draußen vor). Sie braucht eine Zeit zum Weinen, von der Kohelet wusste, dass sie kommen muss. Sie wagt es, in die Leere zu starren. Sie riskiert, befragt zu werden. Sie wendet sich ab von Dunkelheit und Enge zu Licht und Weite, vom Grab zum Garten. Und dann gibt es mehr Fragen, mehr Erkennen und noch mehr Loslassen

Aber Johannes bleibt nicht dabei stehen. Er sieht diese Bereitschaft, um der Liebe willen zu kämpfen, in dem auferstandenen Herrn. Die zugrunde liegende Frage ist: Wen liebt meine Seele? Das ist in der Tat die Kernfrage. Gott antwortet auf diese Kernfrage der Liebe. Zu unserem bleibenden Erstaunen, und oft zu unserem Unglauben, sind wir die Antwort. Jesus, der Auferstandene, sagt uns, dass wir diejenigen sind, für die er bereit war, um der großen Liebe willen zu kämpfen.

Das ist die ewige Botschaft der Erzählungen Gottes. Sie zeigen uns einen Gott, der bereit ist, Herzblut zu vergießen für die Menschen, die er wahrhaft liebt. Sie zeigen uns einen Gott, der bereit ist für uns zu ringen. Wenn es nicht so wäre, braucht er das Rote Meer nicht zu spalten und sich anzulegen mit Militärmächten. Wenn es nicht so wäre, dann braucht er keine Kohlenhydrate vom Himmel regnen zulassen. Dann dürfen Felsen weiterhin stur und stumm kein Wasser hergeben, auch wenn durstige Menschen davor jammern. Wenn Gott nicht um uns ringen würde, dann wäre die erste Gartengeschichte von Adam und Eva die letzte gewesen, und die heutige Gartengeschichte von Jesus und Maria hätte es nie gegeben.

Johannes weiß das alles und doch erkennt er mit dem Auge des Adlers auch, dass dieses auferstehende, erlösende Leben nicht nur in Gott, sondern auch in Maria pulsiert. Und in uns. Dieses Auferstehungsleben weigert sich, den, den meine Seele liebt, abzuschreiben und aufzugeben. Dieses Leben schreibt weiter an menschlichen Geschichten, die andere längst ins Grab gelegt haben. Dieses Herz ist in unserem Gott zu finden, aber es ist auch in seinem geliebten Volk zu finden. Es ist ein Herz, das weiß, wofür es sich zu kämpfen, wofür es sich zu leiden lohnt.

Vielleicht ist dies das bestgehütete Geheimnis des christlichen Glaubens. Wir tragen eine erlösende Liebe in uns. Erlösung ist nur ein anderes Wort für die göttliche Weite, die Gott allen Menschen an all den engen Stellen schenkt, an denen ihr Leben auf dem Spiel steht, ganz gleich, wie sie dorthin gekommen sind oder ob sie den Namen des Herrn kennen. Wir haben Anteil an diesem Erlösungswerk, weil auch wir fähig und willens sind, um der großen Liebe willen um das Leben der Welt zu ringen. Warum sonst kämpfen wir mit Arbeitslosigkeit, sozialer Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Ungleichheit? Warum wurschteln wir uns durch komplizierte Beziehungsgeschichten und werfen nicht gleich das Handtuch? Warum verbiegen wir uns für Menschen, die unsere Bemühungen nicht immer zu schätzen wissen? Warum ziehen wir uns nicht sofort zurück, wenn Tod, Krankheit oder Verzweiflung das Leben anderer anstecken und unser Leben belasten?

Wir leben in einer Zeit, in der wir uns von der Krise überrollt fühlen. Unser Vertrauen in die Zukunft ist erschüttert. So schließen Sie sich mir an, liebe Osterleute, nicht in triumphalistischen und unrealistischen Hymnen der österlichen Herrlichkeit, sondern in der erdverbundenen, geerdeten Geschichte einer bemerkenswerten Frau und ihrem Gang in diesen Garten.

Denkt daran, meine lieben Grabgänger und Gartengäste: Wir werden nie um das ringen, was wir nicht lieben. Wir werden nie für das ringen, was uns nicht am Herzen liegt. Wir werden nie etwas aufs Spiel setzen für das, was uns kalt lässt. Gott ringt mit uns und für uns, und das ist das einzig sichere und zuverlässige Zeichen der Liebe. Er gießt diese auferstehende, erlösende Liebe in uns, und sie macht uns bereit zu kämpfen, füreinander, für die Welt, für Gerechtigkeit, für die Kinder, für die Armen. Auferstehung fließt durch unsere Adern.

Der Weg Jesu, der Weg des Evangeliums und der Weg einer österlichen Spiritualität sind die Wege des Ringens. Ringen wird uns sehend machen. Wir werden sehen, was wir wirklich lieben. Wir werden sehen, wofür es sich zu ringen lohnt. Wir werden sehen, was wirklich in unserem Herzen ist. Geh voran, Maria von Magdala. Und erinnere uns daran, dass es Dinge gibt, die man nur mit weinenden Augen sehen kann.

 

Erik Riechers SAC

Ostersonntag, 4. April 2021

 

 

Was ist das für eine wundersame Liebe?

 

Karfreitag B 2021                         Joh 18, 1 – 19, 42

 

Es ist leicht genug, sich in der dramatischen und herzzerreißenden Passion Jesu zu verfangen. Diese Erzählung lässt uns die Tiefe seines Schmerzes mit einer neuen Heftigkeit spüren. Da wir seine Unschuld kennen, sind wir umso mehr entsetzt über die Ungerechtigkeit, die ihm angetan wurde. Da wir seine Güte kennen, sind wir umso entsetzter über die Grausamkeit, die er um unseretwillen ertrug. Die Bösartigkeit macht uns wütend, die Tragödie zerreißt uns das Herz, und sein erniedrigender Tod hat unsere Seelen über Jahrhunderte hinweg traurig gemacht.

Vor einigen Jahren nahm eine Lehrerin eine Gruppe von Kindergartenkindern mit auf einen Rundgang durch die Kirche. Der Kreuzweg bewegte einen der kleinen Jungen in der Gruppe besonders. Während er die Stationen entlangging und die Geschichte der Passion Christi verfolgte, wurde er immer unruhiger. Schließlich stand er unter dem großen Kreuz in der Kirche und sein jugendlicher Sinn für Empörung und Ungerechtigkeit brach hervor. Die Hände in die Hüften gestemmt, mit Trotz in der Stimme, platzte der Junge heraus: »Ich werde die Typen töten, die Jesus getötet haben!«

Meine Freunde, das ist nicht die höchste Theologie des Kreuzes, die ich je gehört habe, aber sie berührt das eine Geheimnis dieses Tages, das uns am meisten am Herzen liegen muss. Wie der kleine Junge muss uns das Leiden und Sterben Jesu Christi tief berühren und uns persönlich bewegen. Wie der kleine Junge muss die Passion Christi in denen, die mit ihm den Weg nach Golgatha gehen, eine Leidenschaft für Christus wecken.

Aber, damit wir auf noch tieferen Ebenen als Trauer und Wut uns berühren lassen, müssen wir drei Facetten des Geheimnisses betrachten, das sich an diesem Tag über uns erhebt.

(I)

Es ist die Liebe, die Christus ans Kreuz bringt. In der ganzen Passionsgeschichte des Johannes hören wir, wie Christus durch die allmählichen Stadien des Weges zum Kreuz kommt. Dennoch macht Johannes sehr deutlich, dass Jesus überhaupt nicht hätte gehen müssen, wenn er nicht gewollt hätte. Dies ist nicht das Leiden und Sterben eines machtlosen Mannes. Als Judas mit dem Trupp in den Garten kommt, rennt Jesus nicht weg und versteckt sich. Er tritt freiwillig vor, um sich der Stunde zu stellen. Als er dem Lynchmob gesteht, dass er derjenige ist, den sie jagen, fallen die Soldaten zu Boden. Jesus bietet sich für die Verhaftung an, besteht aber darauf: »Wenn ihr also mich sucht, dann lasst diese gehen!« Unerschrocken und furchtlos steht er vor dem Sanhedrin.  Angesichts des Beharrens von Pilatus, dass er Macht über ihn habe, erwidert Jesus: »Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre.«

In der Tat macht diese Vollmacht, das Kreuz zu vermeiden, den Tod Christi noch viel erstaunlicher. Die Strecken, die er bereit war, für uns zu gehen, in Leiden und Tod, finden ihre wahre Bedeutung in der Tatsache, dass er überhaupt nicht gehen musste. Dies ist ein freiwilliger Tod, ein frei gewähltes Leiden. Es ist ein Sterben, das sich durch die Jahrhunderte hindurch in Müttern und Vätern widerspiegelt, die ihre persönliche Sicherheit über Bord werfen, um in ein brennendes Gebäude zu rennen, um ihre Kinder zu retten. Es ist ein Sterben, das sich in einer zarten Geschichte widerspiegelt, die von Schwester Joan Delaplane erzählt wird.

»Der fünfjährige Johnny Quinn liebte seinen großen Bruder Tommy. Der Arzt erzählte Johnny, dass sein Bruder sehr krank sei und eine Bluttransfusion brauche, und der Arzt fragte: 'Johnny, wärst du bereit, deinem Bruder etwas Blut zu spenden?' Johnny schluckte schwer, seine Augen wurden groß, aber nach einem Moment des Zögerns sagte er: ‚Sicher, Doktor‘. Der Arzt nahm das Blut ab und Johnny lag ruhig auf dem Tisch. Ein paar Minuten später schaute Johnny zu dem Arzt auf und sagte: 'Wann sterbe ich, Doktor?' Erst da erkannte der Arzt das Ausmaß der Liebe dieses kleinen Jungen.« 

Es ist Liebe, nicht Gewalt, die Eltern in das Inferno schleudert. Es ist die Liebe, nicht die Gewalt, die Johnny dazu bringt, sein Blut für seinen Bruder zu vergießen. Es ist die Liebe, nicht die Gewalt, die Christus ans Kreuz bringt.

Dieser Moment muss unsere Herzen zum Bersten bringen. Wir sind der Grund, warum Christus nach Golgatha kommt. Er hegt eine so tiefe Liebe zu uns, dass er gerne auf sich nimmt, was er leicht vermeiden könnte. Für uns begibt er sich in ein Elend und eine Grausamkeit, die augenblicklich gelindert würden, wenn er nur sein Herz von unserem Schicksal lösen würde. Wenn wir vor Pilatus in Gabbatha stünden, an dem Ort, der »Lithóstrotos« genannt wird, wären wir nicht versucht, ihm zuzurufen: »Lass uns zurück, rette dich selbst.«? Doch er nimmt nicht Abschied von uns. Er nimmt das Kreuz für uns auf sich. Die Liebe, die Liebe zu uns, und nicht die Schuld bringt Christus ans Kreuz.

(II)

Das führt uns direkt zum zweiten Geheimnis des heutigen Tages. Wenn in der ersten Instanz die Liebe Christus ans Kreuz bringt, dann hält in der zweiten Instanz die Liebe Christus am Kreuz. Es ist ein Wunder des Kreuzes, dass Christus nicht zum Holz des Kreuzes gehen muss, sondern freiwillig um unseretwillen sich stellt. Es ist ein Wunder gleichen Ausmaßes, dass er nicht bleiben muss, sondern sich freiwillig dafür entscheidet zu bleiben.

Hier ist der Herr des gesamten Universums, der anwesend war, als Gott zuerst das Wasser zurückschälte, um das Werk der Schöpfung zu beginnen. Er hat die Macht, vom Kreuz herabzusteigen. Er hat die Macht, Legionen von Engeln herbeizurufen, so dass er nicht einmal seinen Fuß an einen Stein stoßen würde. Sein Wort schenkt Augen Licht, die in der Dunkelheit schmachten, und Kraft, um Beine in Gang zu setzen, die einst lahm waren.

Angesichts der Qualen des Kreuzes, des Spottes der Menge und der Demütigung durch die Soldaten, die vor seinen sterbenden Augen um seine Kleidung spielen, bleibt Jesus am Kreuz. Er verweilt an diesem erbarmungslosen Ort des Schmerzes. Er verlässt diesen entsetzlichen Moment nicht, der von gefühlloser Missachtung seiner Person und seiner Würde erfüllt ist. Erfüllt von der Agonie dieser Brutalität, die von der Haut bis zum Knochenmark nagt, bleibt Jesus am Kreuz.

Der Grund dafür ist einfach. Jesus muss zwei Werke der Barmherzigkeit vollenden. Das erste ist ein Werk der Offenbarung und das zweite ein Werk der Erlösung. Diese beiden Werke sind lebenswichtig.

In seinem Bleiben am Kreuz haben wir das Werk der Offenbarung, nämlich, dass Gott in den schmerzhaften Momenten der Liebe bei uns bleiben wird. Er wird nicht weggehen. Wir werden nicht verlassen, wenn es schwierig wird. Seine Liebe zu uns hält ihn in unserer Nähe. Das Kreuz offenbart, dass wir bis zum Tod geliebt sind.

Das zweite Werk der Erlösung ist ebenso wichtig. Wenn Christus am Kreuz bleibt, lernen wir, dass niemand durch Liebe gerettet werden kann, wenn wir nicht an den Orten des Leidens mit dem Geliebten bleiben. Das Kreuz erlöst uns, indem es uns die Erfahrung schenkt, dass wir von einem Gott geliebt werden, der an furchtbaren, schmerzvollen, blutgetränkten Orten und Zeiten, vor denen wir selbst am liebsten fliehen würden, gegenwärtig ist.

(III)

So kommen wir zu einem dritten Moment, in dem wir eine tiefere Wertschätzung für das Kreuz gewinnen. Erinnern Sie sich an den kleinen Jungen unter dem Kreuz. Er war so bewegt, dass er Rache an den Menschen nehmen wollte, die den Freund, den er in Jesus hatte, verletzt hatten. Wenn wir seine Leidenschaft auf einer erwachsenen Ebene teilen wollen, dann müssen wir uns klare Fragen stellen. Werden wir zulassen, dass unsere Liebe zu anderen uns ans Kreuz bringt? Werden wir unserer Liebe zu anderen erlauben, uns dort zu halten? Aber werden wir auch die Rache und Gewalt vermeiden, die das Kreuz oft in uns weckt?

Wir gehen nur zum Kreuz, wenn wir bereit sind, uns mit etwas anderem zu beschäftigen als mit unserer eigenen Agenda, unseren Sorgen und Bequemlichkeiten. Das ist die Frage, die das Kreuz aus unseren Herzen zieht. Lieben wir jemanden genug, um für ihn zu tun, was Christus für uns getan hat? Wenn wir von den Geschehnissen auf Golgatha ergriffen sind, dann müssen wir uns von der Liebe zum Kreuz leiten lassen, und das wird sich darin zeigen, ob wir die Orte des Leidens in unserem geliebten Menschen meiden oder umarmen. Werden wir freiwillig an die Orte gehen, wo die Liebe gekreuzigt wird? Werden wir frei an den Orten bleiben, wo die bloße Anwesenheit unserer geliebten Menschen eine Passion ist?

In diesem Jahr der körperlichen Distanzierung können wir unser geliebtes Ritual der Kreuzverehrung nicht feiern. Aber hier gibt es eine Einladung, die uns über das Ritual hinaus in das Herz und die Seele des Lebens führt.  Wenn Ihr Herz so bewegt ist wie das dieses kleinen Jungen, dann müssen Sie sich zu einer Verehrung des Kreuzes an jeden Ort bewegen, an dem es in der Landschaft Ihres Lebens aufgestellt ist. Es gibt Freunde, die im Stillen weinen, aber deren Tränen wir nicht beachten müssen. Wir sind nicht gezwungen, in das Herz ihres Leidens vorzudringen. Wir können unsere Augen vor genau den Tränen verschließen, die die ihren röten. Wir können vor ihrem Schluchzen Taubheit vortäuschen. Werden wir bleiben, wenn die Älteren uns die Geschichten erzählen wollen, die für uns langweilig und für sie eine Erleichterung sind? Wir verehren das Kreuz, wenn es eine Qual für unsere Herzen ist, die Lähmung unserer Eltern zu sehen. Wir tun es, wenn wir in die Schrecken, die ihre Seelen heimsuchen, eintauchen und in uns selbst ihre Qualen spüren. Unsere Knie beugen sich vor dem Holz des Kreuzes, wenn wir mit jeder Faser unseres Seins schmerzen, wenn wir bei Freunden stehen, die sich entmutigenden und schweren medizinischen Behandlungen unterziehen. Das Kreuz berührt unser Fleisch, wenn nicht einmal wilde Pferde uns von der Seite der Sterbenden wegziehen könnten, während alle anderen vor dieser unangenehmen Erinnerung an unsere Sterblichkeit fliehen. 

Das Kreuz ist geschmiedet aus jeder Instanz, wo wir leiden, weil wir uns in Liebe für den anderen einsetzen. Das ist das Holz des Kreuzes, an dem unser Erlöser hing. Was ist mit uns? Werden wir lieben, auch wenn es einen einfachen Ausweg gibt und nichts und niemand uns zum Bleiben zwingen kann? Werden wir an den Orten des Leidens unseres Geliebten bleiben, auch wenn wir die Bühne unauffällig verlassen könnten?

Vor genau zwanzig Jahren feierte ich einen Karfreitag, der für mich der bisher ergreifendste war. Drei Tage zuvor traf ich ein Ehepaar, Kevin und Jodie, in deren Fleisch ich das Bild des gekreuzigten Christus eingraviert sah. Jodie war mit ihrem vierten Kind schwanger, und das Baby war in Gefahr. Nach einer Reihe von Versuchen, das Kind im Mutterleib zu retten, gaben die Ärzte dem Paar eine einzige Hoffnung auf das Überleben, nämlich die Einleitung der Wehen. 36 Stunden lang dauerten die Wehen an, und dann wurde das Kind geboren. Ich wurde gerufen und eilte ins Krankenhaus, um den Kleinen zu taufen. Zwanzig Minuten später starb der kleine Keegan Patrick in meinen Händen, während ich ihn durch die Taufe in die Familie des Glaubens aufnahm.

Die Eltern mussten nicht zu diesem Kreuz gehen. Die Abtreibung wurde beraten und angeboten, aber abgelehnt. Sie gingen bereitwillig durch wochenlange Unannehmlichkeiten, stundenlange Schmerzen und die Qualen, einen geliebten Sohn durch den Tod zu verlieren. Sie hätten nicht zu diesem Kreuz gehen müssen. Und auch wenn sie anfänglich gegangen waren, mussten sie nicht bleiben. Aber sie gingen trotzdem. Und dann blieben sie dort. Deshalb erlebte ihr Kind, das nur 55 Minuten Atem hatte, sein Leben eingehüllt in eine gewaltige Liebe, die bereit war zu leiden, damit es diese 55 Minuten haben konnte.

Dieser Säugling erlebte in seinen Eltern, was wir in Christus erleben. Die Worte eines alten Kirchenliedes fassen Keegans Erfahrung der erlösenden Liebe Christi und die unsere so gut zusammen.

»What wondrous love is this, o my soul, o my soul?

What wondrous love is this, o my soul? 

What wondrous love is this,

 that made the Lord of bliss,

to bear the dreadful curse for my soul, for my soul,

 to bear the dreadful curse for my soul?«

 

»Was für eine wundersame Liebe ist das, o meine Seele, o meine Seele?

Was für eine wundersame Liebe ist das, o meine Seele? 

Welch wundersame Liebe ist dies,

 die den Herrn der Seligkeit dazu brachte,

den furchtbaren Fluch für meine Seele zu tragen, für meine Seele,

 um den furchtbaren Fluch für meine Seele zu tragen?«

 

Keegan starb und kannte nur die hingebungsvolle Liebe von Menschen, die bereit waren, kreuzigende Leidenschaft zu erleiden, um ihn das Leben kennen zu lassen. Ich würde sagen, dass seine Eltern die perfekte Vorbereitung für die Begegnung mit Jesus Christus waren. Möge das Gleiche von uns gesagt werden.

 

Erik Riechers SAC

Karfreitag, 2. April 2021

 

 

Begreift ihr, was ich an euch getan habe?

 

Gründonnerstag B 2021                         1 Kor 11, 23–26 und Joh 13, 1–15

 

Am Gründonnerstag strecken wir unsere Hand aus, um den Leib und das Blut des Herrn zu berühren. Einen Tag später strecken wir die Hand aus, um das Holz des Kreuzes zu berühren. Wenn das Berühren des Geheimnisses Gottes bedeutet, dass wir bereit sein müssen, dieses Geheimnis im Leben anderer zu berühren, dann müssen wir ernsthaft über die Frage Jesu bei der Fußwaschung nachdenken. »Begreift ihr, was ich an euch getan habe?«

(I)

Der Anfang der zweiten Lesung aus dem exquisiten ersten Brief des Paulus an die Korinther sagt uns eigentlich nichts, was wir nicht schon wissen. In der Nacht seines Verrats nahm Jesus einen Laib Brot und brach ihn. Im Laufe der vielen Jahre, in denen wir Christus auf Händen und Zungen getragen haben, sind wir ziemlich daran gewöhnt, ein gebrochenes Brot zu sehen. Es ist eine Erfahrung, die in unseren Küchen üblich ist und in unseren Esszimmern durchgeführt wird. Das Brechen des Brotes ist eine Routine. Doch Routinehandlungen sind keine bedeutungslosen Handlungen. Oft sind sie mit einer Bedeutung beladen, die unsichtbar und unbemerkt bleibt, weil wir die Handlung so häufig wiederholen. 

In diesem Sinne ist das Brechen des Brotes beim letzten Abendmahl alles andere als banal. Betrachten Sie einen Laib Brot in Ihren Händen, auf Ihrem Tisch. Er enthält Nahrung für die Hungrigen. Er befriedigt knurrende Mägen und gibt Grundnahrungsmittel, damit Nerven und Sehnen nicht versagen. Doch nichts von dieser potenziellen Nahrung und Kraft kann freigesetzt werden, wenn eine wichtige Voraussetzung nicht erfüllt ist. Der Laib muss zuerst gebrochen werden.

Betrachten Sie den Leib Christi auf dem Altar. Er enthält Nahrung für die Seele und sättigt das hungrige Herz. Er strotzt vor lebensspendender Gegenwart und hält Leib und Seele zusammen. Aber auch hier gäbe es keinen Tisch der Fülle, wenn Christus nicht einen besonderen Segen gewähren würde. Sein Leib muss zuerst gebrochen werden. Wenn Christus nicht das Brot für uns bricht, dann isst niemand. Wenn er nicht sein Blut für uns vergießt, dann wird kein Durst gestillt.

Der Akt des Brechens selbst ermöglicht das Teilen. Brechen teilt einen Besitz, so dass er von vielen genossen werden kann. Wenn man am Ganzen festhält, dann gibt es nichts zu teilen, und nichts kann anderen als Segen gegeben werden. Das Brechen des Brotes und des Leibes ist die Zertrümmerung des Besitzdenkens.

Eine entscheidende Zeile des Paulusbriefes lehrt uns diese Lektion. »Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.« Dieser Satz verbindet die Eucharistie mit dem Kreuz, und das aus gutem Grund.  Denn die Bereitschaft, sein Leben für uns in der Eucharistie aufzubrechen, wäre nichts ohne die Bereitschaft, sein Leben für uns am Holz des Kreuzes aufzubrechen. Wenn er bereit wäre, es am Tisch zu tun, aber nicht am Kreuz, dann wäre das Kreuz ein bedeutungsloser Moment und die Eucharistie ein hohles Ritual. Warum sollte Christus sein Leben aufbrechen, um ein Volk zu ernähren, das er nicht retten wollte? Warum ein Leben nähren, das man nicht erlösen will? Das Leben Christi muss für uns aufgebrochen werden, sonst lebt niemand. Sein Leben muss für uns ausgegossen werden, sonst wird niemand gerettet. Sehr einfach ausgedrückt: Echtes Lieben erfordert ein echtes Aufbrechen dessen, was wir besitzen, ob es nun Brot, Leib oder Gegenwart ist.

(II)

Authentische Liebe erfordert ein echtes Brechen unseres Brotes. Es gibt viele Formen von Brot, die uns nähren, und die echte Liebe, die uns am Kreuz und in der Eucharistie enthüllt wurde, lehrt uns, dass wir sie mit anderen teilen müssen, wenn ihre nährende Fülle freigesetzt werden soll. Brich dein Brot. Brecht das Brot eures Lebens. Brecht das Brot eurer Tische. Brecht das Brot eurer Freuden.

Die Bereitschaft, unser Brot um des Hungers in anderen Menschen willen zu brechen, ist die Essenz dessen, was wir gemeinhin als Opfer bezeichnen. Opfer bedeutet, unser Leben aufzubrechen. Wir brechen es auf durch Selbstlosigkeit und Dienst. Wir brechen es durch Selbstverleugnung auf. Doch ein wahres Opfer bedeutet immer, dass wir ein klares Ziel haben. Dieser Zweck ist es, andere leben, gedeihen und wachsen zu lassen. Ein Opfer muss einem anderen zugutekommen, nicht nur mich leer machen. Wenn Sie das Brot des Opfers brechen, reicht es nicht aus, dass Sie hungrig bleiben. Andere müssen auch essen. Ihre frei gewählte Verarmung muss in einem anderen eine unerwartete Bereicherung hervorbringen. Es ist nicht klug, dein Brot zu brechen, wenn es niemanden gibt, der hungrig genug ist, davon zu essen. Solches Brot wird nur schal werden. Es ist nicht weise, deinen Wein auszuschütten, wenn niemand da ist, der davon trinkt. Solcher Wein wird nur verderben und sauer werden.

(III)

Das wirft weitere Fragen auf. Werden wir ein Leben führen, das der Eucharistie würdig ist? Werden wir ein Leben führen, das des Kreuzzeichens würdig ist? Werden wir das Brot unserer Tische brechen? Werden wir das Brot unseres Lebens brechen? Der einzige Weg, wie wir sicher sein können, dass die Eucharistie und das Kreuz das göttliche Bild unseres Herrn und Meisters in uns eingraviert haben, ist, wenn wir beim Brechens des Brotes als opferbereite Menschen ertappt werden.

Beim Brechen des Brotes mag ein Vater oder eine Mutter um der Kinder willen auf eine Karrieremöglichkeit verzichten. So brechen sie ihr Brot der Macht und der persönlichen Erfüllung, damit ihre Kinder von ihrer Gegenwart und aufmerksamen Liebe zehren können. Teure Theaterkarten werden vielleicht ungenutzt gelassen, weil die Not eines Freundes größer war als unser Geschmack an Unterhaltung. In diesem Moment wird das Brot gebrochen, und wir geben von dem, was uns gehört, um einen anderen zu speisen.

Jesus fragt die Jünger nach der Fußwaschung: »Begreift ihr, was ich an euch getan habe?« Wenn wir auf ein lang ersehntes Vergnügen verzichten, weil eine größere Pflicht unsere Anwesenheit gebietet; wenn wir das Lieblingsfernsehprogramm ausschalten, um dem Weinen unserer Kinder zuzuhören, wenn wir einen freien Tag aufgeben, um jemand anderem den Tag zu verschönern; dann können wir die Frage Jesu getreu beantworten.  Ja, Herr, wir wissen, was du an uns getan hast. Du hast alles genommen, was dir gehört, hast es zerbrochen, um es zu teilen, und hast es uns gegeben, damit wir weiterleben können. Und wir haben dasselbe getan.

Um den Weg des Opfers zu gehen, bedarf es vor allem einer überwältigenden Realität. Wir müssen jemanden als würdig erachten, ein Opfer zu bringen. Wir müssen das Leben dieser Person als wertvoll genug ansehen, als kostbar genug, um unser eigenes Leben um seinetwillen aufzubrechen. Wenn wir unseren Blick auf einen anderen werfen und das, was wir sehen, als unter unserer Würde, jenseits unserer Verachtung und als erbärmlich unzureichend ansehen, werden wir sicherlich kein Opfer für ihn bringen.

Alles, was den Gründonnerstag ausmacht, besteht aus einer stillen, von Traurigkeit geprägten Freude. In der Tat, es gibt eine stille Freude, denn wir wissen, dass sein Brechen unser Segen ist. Es gibt einen Hauch von Traurigkeit, denn wir wissen, dass nicht nur das Brot Christi, sondern sein Leib gebrochen werden muss. Es ist unerlässlich zu wissen, dass dies der Weg all unseres Brechens ist. Es wird von stiller Freude geprägt und von Traurigkeit gefärbt sein. Sie werden die stille, befriedigende Freude kennen, wenn Sie Leben und Segen in die Schattenländer der zerbrochenen Herzen zurückbringen. Doch Sie werden auch den Hauch von Traurigkeit kennen, der mit dem Opfer kommt, denn es werden echte Verluste erlitten. Dies ist eine kritische Stunde. Sie kann das Herz zu Bitterkeit und Groll führen. Wenn wir zurückblicken, werden wir feststellen, dass einige unserer Träume unerfüllt blieben, dass bestimmte Bestrebungen notwendigerweise verloren gingen und dass bestimmte Freuden verweigert wurden, alles wegen anderer, die wir mehr geliebt haben als uns selbst. Dann müssen wir, wie Christus, ja mit Christus, die letzte Frage beantworten. Waren sie es wert? Mit Zittern müssen wir in diese Nacht des Gründonnerstags kommen, denn nach allem, was er für uns in der Fußwaschung, in der Eucharistie und am Kreuz ertragen hat, ist dies der Ort, ist dies die Stunde, in der Christus uns zuflüstert: Du warst es auf jeden Fall wert.

 

Erik Riechers SAC

Gründonnerstag, 1. April 2021

 

 

Was setzt die Auferstehung und das Leben in Bewegung?

 

Im Johannesevangelium (Joh 11, 1-44) webt der Evangelist eine großartige Geschichte über den Tod von Lazarus, einem Freund von Jesus. Zu Beginn der Geschichte stehen seine beiden Schwestern, Martha und Maria, im Mittelpunkt. Hier sind zwei Schwestern, die das gleiche Schicksal erleiden, nämlich den Verlust ihres Bruders. Jede von ihnen hat im weiteren Verlauf der Geschichte eine persönliche Begegnung mit Jesus. Beide Schwestern beginnen ihr Gespräch mit Jesus, indem sie genau das Gleiche zu ihm sagen: »Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.«

Die offensichtliche Erwartung wäre, dass zwei so identische Begegnungen zum gleichen Ergebnis führen würden. Aber so läuft es nicht ab.

Martha beginnt ihre Begegnung mit Jesus mit ihrer Aussage: »Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.« Sie vergießt keine Tränen, zeigt keine Emotion. Sie gibt Jesus auch keine Chance, zu antworten. Stattdessen prescht sie mit einer theologischen Erklärung vor. »Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben.«

Jesus seinerseits geht nicht direkt auf ihre theologische Aussage ein. Er geht direkt auf den Kern der Sache ein, nämlich auf das, was Marthas schmerzendes Herz in dieser Stunde am meisten braucht: »Dein Bruder wird auferstehen.«

Martha nimmt diese sehr existenzielle, persönliche Vergewisserung und verschiebt sie in den Bereich der Abstraktion. Sie spricht von fernen Tagen, an denen wundersame Dinge geschehen werden. »Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tag.«

Jesus antwortet ihr, indem er das Thema auf den gegenwärtigen Moment zurückbringt. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?«

Martha antwortet erneut, diesmal mit dem Bekenntnis, dass sie an ihn als den Christus, den Sohn Gottes, der in die Welt kommt, glaubt. Aber sie verliert kein Wort darüber, dass sie glaubt, dass Jesus die Auferstehung und das Leben ist, hier und jetzt. Sie spricht über den Glauben im Allgemeinen, aber nicht über ihr irdisches, dringendes Bedürfnis nach Auferstehung und Leben in ihrem zermürbenden Moment der Not.

Dann geht sie nach Hause. Und dann ist Maria an der Reihe. Sie geht hinaus, um Jesus zu sehen, der noch außerhalb des Dorfes ist.  »Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte.« Ein erstaunlicher Moment, denn er zeigt uns, dass die Begegnung mit Marta nichts in Bewegung gesetzt hat. Er ist immer noch genau an der gleichen Stelle, an der er war, bevor er mit ihr sprach. Die Auferstehung und das Leben haben sich nicht bewegt.

Maria beginnt die Begegnung genauso, wie ihre Schwester es tat. »Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.« Aber sie sagt dies, während sie auf den Knien liegt und weint. Ihre Begegnung hat keine Aussagen und Glaubensbekenntnisse. Aber sie ist voll von Tränen.

»Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert.« Und sofort werden die Auferstehung und das Leben in Gang gesetzt. Zuerst fragt Jesus, wo Lazarus begraben liegt. Dann fängt er selbst zu weinen ein. Von dort geht er zum Grab und begleitet die Trauernden zum Ort ihres Verlustes und ihrer Trauer und zur Quelle ihrer Tränen. 

Es sind die Tränen, die ihn bewegen. Es sind nicht die Diskussionen, nicht die Glaubensbekenntnisse, sondern die Tränen. Denn Tränen sind die Sprache der Betroffenen und Bedrängten. Sie entstehen nicht aus unseren Gedanken über Trauer und Verlust, sondern aus der existenziellen Erfahrung dessen, was diese Dinge mit uns machen. So wichtig die Diskussion über den Glauben auch ist, wenn sie nicht das Herz erreicht, bleibt sie letztlich eine kalte, klinisch distanzierte und leblose Realität. Sie wird nichts in Bewegung setzen. Denn das Herz ist der Ort, an dem sich alles entscheidet.

Die Ausgangspunkte für eine wirkliche Bewegung hin zur Auferstehung und zum Leben sind die Erfahrungen des Lebens, die uns in die Knie zwingen und unsere Augen mit Tränen füllen. Die reine Lehre wird nicht ausreichen, um uns an den Ort zu bringen, an dem die Auferstehung und das Leben erfahren werden können. Aber wir werden weinend uns den Weg dorthin bahnen, denn wo wir weinen, offenbaren wir uns als das, was wir wirklich sind, und zeigen, was wir wahrhaftig brauchen. Diese Tränen sprechen von dem, was wirklich mit uns und in uns geschieht. Sie offenbaren, was wir normalerweise in unserem Herzen gut versteckt halten. Tränen sind der Ort der Begegnung. Sie sind die Sprache der Seele. Und sie sprechen zu Gott. Und sie setzen die Auferstehung und das Leben in Bewegung, weil sie das Herz Gottes bewegen.

 

Erik Riechers SAC, 31. März 2021

 

 

Sich ergreifen lassen

 

Vielleicht machen uns persönliche Leiderfahrungen dünnhäutiger.

Vielleicht machen uns die Unsicherheiten und Bedrohungen durch die so lang andauernde Pandemie sensibler.

So mag es sein, dass wir beim Eintreten in die Karwoche stärker empfinden, auf welch einen Weg wir in diesen Tagen erinnernd Jesus begleiten und welch ungeheure Spannung in den Erzählungen zum Ausdruck kommt: die Anspannung wächst, der Konflikt tritt offen zutage, auf wen ist noch Verlass? Worte und Handlungen bekommen angesichts des Todes eine noch größere Bedeutung. Alles ist wesentlich.

Johannes erzählt im 12. Kapitel von Jesu letztem Besuch bei seinem Freund Lazarus und dessen Schwestern Marta und Maria, bevor er von Osten den Ölberg hinauf- und dann auf einem Esel hinab in die Stadt zieht. Maria salbt liebevoll seine Füße mit kostbarem Nardenöl. Sogleich zeigt sich der Riss innerhalb der Jünger, als Judas den Vorwurf der Verschwendung macht. Jesus aber spricht von seinem Begräbnis. Wie verwirrend und beängstigend für alle, die es hören!

Jerusalem füllt sich mit Menschen, die zum Passahfest pilgern; doch an allen Ecken lauern die Feinde Jesu und die Menge distanziert sich von ihm - von denen, die ihm beim feierlichen Einzug zuriefen, ist nichts zu erwarten.

Dann kommt es zum letzten Mahl im engen Kreis um den Meister. Vom Äußersten spricht Jesus da, von Blut und Hingabe, »für euch und für alle«, jedes Wort ein Vermächtnis. Johannes setzt in seiner Erzählung eine ergreifende Schilderung voran: Jesus hockt sich auf den Boden und wäscht den Seinen die staubigen Füße - am letzten Tag seines Lebens. Jesus wusste, »dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte« (Joh 13, 3) heißt es zuvor. Welch eine Verankerung und Perspektive!

Und dann gibt es kein Ausweichen mehr: verraten und verhaftet, beschuldigt und vorgeführt, verspottet und grausam erniedrigt, einsam und verlassen dem Pöbel ausgeliefert, gefoltert, gequält, ermordet. Und am Ende das Wort: »Es ist vollbracht!«

In keiner anderen Woche im Jahr werden wir so konfrontiert und herausgefordert, das Leben authentisch, treu und ganz zu leben, das Leiden nicht zu verdrängen, sondern diese Spannung auszuhalten. Diese letzten Tage Jesu können uns ergreifen, so dass wir Mittragende werden und in unseren Kreuzen mitgetragen werden.

Ich glaube, es ist der einzige Weg, um Ostern zu erfahren.

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. März 2021

 

 

 

Am Rande des Weges

 

Palmsonntag B 2021                                      Mk 11, 1-10

 

Wir sprechen oft von diesem Moment in der großen Geschichte des Evangeliums als dem triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Das ist eine Sprache, die ich lieber vermeiden möchte. Während ich ziemlich sicher bin, dass die Zuschauer entlang des Weges etwas von Triumph bei dieser Prozession in die Stadt Davids empfanden, bin ich ebenso sicher, dass Jesus das nicht tat.

Dies ist eine Geschichte über einen Weg, den ein Mensch gehen muss. Wo solche Geschichten erzählt werden, passiert einiges. Wen wird der Reisende auf diesem Weg treffen? Wie werden sie ihm begegnen? Was werden andere tun, um dem Reisenden auf dem Weg zu helfen? Diese Geschichte ist keine Ausnahme. Daher würde ich einen genaueren Blick darauf werfen, was die Menschen in der Erzählung bereit sind zu tun, um Jesus auf seinem Weg zu begleiten. Ferner möchte ich die eine Sache in den Blick nehmen, die niemand bereit ist, in diesem Moment für ihn zu tun. Markus sagt uns zwar, was viele tun werden (sie werden ihre Mäntel ausbreiten und Zweige niederlegen), aber das sagt uns nicht, was alle tun. Was wir sagen können, ist, dass niemand aktiv versucht, Jesus auf seinem Weg zu behindern oder zu blockieren. Viele werden neutrale Beobachter und unauffällige Zuschauer bleiben. Sie legen ihm keine Stolpersteine in den Weg. Das ist der Weg des Minimalismus. Dieser Minimalismus zeigt keine Unterstützung oder Ermutigung für Jesus, seine Mission oder seinen Weg, aber er entmutigt ihn auch nicht. Hier gibt es keine Investition, keine Beteiligung, nur die kühle Distanz des Zuschauers und die zurückgezogene Unnahbarkeit derer, die es vermeiden, überhaupt Stellung zu beziehen. So erleben wir oft Menschen auf unserem eigenen Lebensweg. Sie sind nicht unsere Feinde, aber sie sind sicher auch nicht unsere Begleiter.

Dann sehen wir die beiden Jünger, die ausgesandt wurden, um seinen Transport zu sichern. Nachdem sie ihre Aufgabe der Beschaffung erfüllt haben, erzählt uns Markus:

Sie brachten das Fohlen zu Jesus, warfen ihre Kleider auf das Tier und er setzte sich darauf.

Sie machen den ersten Versuch, einen Beitrag zur Erleichterung des Weges Jesu zu leisten. Aber das Bild ist nuancierter, als wir vielleicht bemerken. Sie »warfen« die Umhänge auf das Fohlen. Wenn wir einer Person oder einem Tier etwas über den Rücken werfen, ist das ein Bild für ein raues, unaufmerksames und ruppiges Leben. Es fehlt die Zärtlichkeit und Rücksichtnahme, die wir erleben, wenn sich ein Mensch Zeit nimmt, um sich mit Zeit und Sensibilität um unsere Bedürfnisse zu kümmern. Es vermittelt die Vorstellung, dass es sich um etwas handelt, das wir schnell hinter uns bringen wollen. Auch das ist eine Erfahrung, die wir machen, wenn wir auf unserem Weg sind. Es gibt immer die Erfahrung, dass einem geholfen wird, aber es fehlt an Wärme und Herzlichkeit.

Dann treffen wir die Vielen. Über sie sagt Markus:

Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg aus.

Beachten Sie die Veränderung des Tons. Diese Leute werfen die Kleider nicht hin, wie die beiden Jünger. Stattdessen breiten sie sie aus, ein Bild der Achtsamkeit. Es ist ein Bild des sich Zeitnehmens, um sorgfältige Vorbereitungen zu treffen. Es ist ein Bild des bewussten Handelns. Wir würden sofort den Unterschied bemerken, wenn eine Person uns am Tisch begrüßt, indem sie ein Tischtuch darüber wirft, oder wenn sie sich die Zeit nimmt, ein Tischtuch darüber auszubreiten. Das würde einen Unterschied in der Art und Weise machen, wie wir uns willkommen fühlen.

Zum zweiten Mal werden Kleider, Gewänder, eingesetzt. Ein Kleidungsstück ist etwas, das uns gehört, das uns ohne weiteres zur Verfügung steht. Wir müssen nicht weit gehen, um ein Kleidungsstück zu finden. Es gibt nur selten eine Zeit, in der wir sie nicht tragen, sie überallhin mitnehmen, wo wir hingehen. Die Vielen breiten ihre Gewänder auf der Straße aus und machen so den Weg für Jesus etwas weicher und sanfter. Aber wenn Jesus einmal vorbeigegangen ist, können wir sie leicht wieder an uns nehmen, den Staub abbürsten oder sie waschen und sie sogar reparieren, wenn es nötig ist. Dann können wir sie wieder anziehen und sie wieder in den Dienst unserer Bedürfnisse stellen.

Daran ist nichts Negatives. Es ist eine kleine Hilfe, die einem anderen angeboten wird, um ihm den Weg ein wenig zu erleichtern, um ihm die Reise etwas angenehmer zu machen. Wir haben solche Menschen auf unserem eigenen Lebensweg kennengelernt und haben ihre kleinen Gesten und Freundlichkeiten sicherlich zu schätzen gewusst. Sie lassen uns ein Werkzeug ausleihen, ein Zimmer teilen oder ihre Einrichtungen nutzen. Dann fordern sie es für ihre eigenen Zwecke zurück.

Markus fährt dann fort, eine weitere Reaktion zu beschreiben:

…andere aber Büschel, die sie von den Feldern abgerissen hatten.

Dies ist ein Bild für eine größere und gesteigerte Investition und ein Bemühen, den Weg Jesu zu erleichtern. Diese Menschen greifen nicht nach dem, was in der Nähe und leicht verfügbar ist (ihre Umhänge). Sie ziehen hinaus auf die Felder, ziehen hinaus in die weite Welt, auf der Suche nach anderen Ressourcen und Mitteln, mit denen sie den Weg Jesu ebnen können. Und sie machen sich die Mühe, sie einzusammeln und zurückzutragen. Darüber hinaus sind sie bereit, etwas abzugeben, was sie zurückzulassen bereit sind. Im Gegensatz zu den Kleidern dienen diese Zweige dem einzigen Zweck, den Weg Jesu etwas weicher, leichter und bequemer zu machen. Auch wir haben solche Menschen auf unserem Lebensweg kennengelernt. Sie haben sich große Mühe gegeben, uns den Weg zu ebnen. Aber sie gehen noch einen Schritt weiter als die Gewandspender. Sie investieren Ressourcen, die sie nicht zurückbekommen. Das sind die Menschen, die eine Mahlzeit mit uns teilen, wohl wissend, dass sie das Essen danach nicht zurückbekommen. Die Dankbarkeit für solche Menschen ist meist auch ein wenig tiefer, denn sie gehen auch ein wenig weiter für uns.

Also, was fehlt? Was ist die eine Sache, die niemand bereit ist, in diesem Moment für Jesus zu tun? Niemand bietet Jesus an, seinen Weg zu teilen, mit ihm den ganzen Weg zu gehen. Jeder der bisherigen Momente, so kostbar sie auch sind, zeigt uns eine vorübergehende Hilfe, keine langfristige Begleitung. Markus erzählt die Geschichte sehr subtil:

Die Leute, die vor ihm hergingen und die ihm nachfolgten, riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!

 Einige gehen vor ihm, aber nur für ein kurzes Stück dieses Weges. Andere gehen hinter ihm, wieder nur für ein kurzes Stück seines Weges. Aber keiner sagt zu ihm: Ich will den ganzen Weg mit dir gehen. Das soll die anderen Angebote nicht herabwürdigen oder schmälern, aber sie bleiben alle hinter dem zurück, was wir alle auf unserer langen Reise durch das Leben brauchen: Gefährten.

Das hat Konsequenzen. Kurze Abschnitte der Reise eines Menschen zu teilen, besonders die aufregenden oder besonders vergnüglichen Teile, ist gar nicht so schwierig. Die Erleichterung der Reise und die Vorbereitung des Weges für uns sind wertvolle Geschenke, aber sie können und werden am Ende nicht ausreichen. Wir brauchen auch Gefährten, Menschen, die mit uns durch jede Landschaft des Lebens gehen, jede Kurve mit uns nehmen und jede Jahreszeit mit uns durchstehen. Die Konsequenz aus dieser Geschichte im bemerkenswerten Markusevangelium ist ganz klar: Niemand wird mit Jesus am Fuß des Kreuzes stehen. Markus erzählt die krasseste Geschichte von allen Evangelisten und lässt absolut niemanden in der Nähe des Kreuzes von Jesus stehen, wenn er stirbt. Die anderen Evangelisten mildern die Szene in ihrer Erzählung ab. Aber ich halte es mit Markus. Wenn wir keine Langstrecken-Begleiter auf unserem Weg haben, sondern nur Zuschauer, dann werden wir allein sein, wenn wir unsere Karfreitage erreichen.

All diese Arten von Menschen sind uns auf unserer Reise durch das Leben begegnet. Dennoch sollten wir diese Geschichte nicht auf dieser Note verlassen. Stattdessen sollten wir uns fragen, wo wir in dieser Geschichte stehen. Sind wir Zuschauer, die anderen den Weg mal mehr, mal weniger erleichtern? Oder sind wir Gefährten, die anderen die Begleitung auf allen Wegen anbieten, die ihre Reise nehmen mag?

Ich lade Sie ein, mit mir ein Gebet aus der Feder und der Seele von  Padraig O'Tuama zu beten. Mögen seine Worte einen sanften und doch reichen Segen auf unseren Palmsonntag legen.

Jesus,

 

Person des Privatlebens und der Öffentlichkeit

populär - eine Zeit lang - aber nicht populistisch;

Du hast Deine Mitte gehalten,

basierend auf dem, was du als deinen Ruf verstanden hast.

 

Hilf uns, einen Ruf zu hören,

nicht zu Großartigkeit oder Grandiosität,

nicht zu Position oder Berühmtheit,

sondern auf den tiefsten Ruf von allen:

Liebe, Kreativität und Gerechtigkeit.

 

Möge dies uns tragen,

durch die Lobpreisungen und Wehklagen

unseres Lebens.

 

Und mögen wir der Liebe, Kreativität und Gerechtigkeit treu sein

so wie du es warst.

Amen.

 

Erik Riechers SAC, 28. März 2021

 

 

Nur jene, die sehen können, ziehen ihre Schuhe aus

 

In meinem letzten Impuls (Mose und Maud) schrieb ich über das Finden des Dornbusches, den Gott in Brand setzt, um uns zu rufen. Doch in dem Moment, in dem wir diesen brennenden Dornbusch finden, müssen wir eine der großen Regeln des Geheimnisses verstehen und befolgen. Wir müssen unsere Schuhe ausziehen.

Die englische Dichterin Elizabeth Barrett Browning sprach elegant und liebevoll über diese Grundregel des Mysteriums und ebenso eloquent darüber, was mit denen geschieht, die sie nicht beherzigen.

»Die Erde ist randvoll mit Himmel,

und in jedem gewöhnlichen Dornenbusch brennt Gott,

aber nur jene, die sehen können, ziehen ihre Schuhe aus;

die anderen sitzen darum herum und pflücken Brombeeren.«

Das ist eine Lehre über Sensibilität und wie man sie fördert und erhält. Nichts geht schneller und leichter verloren als unsere Sensibilität gegenüber den Erfahrungen des brennenden Dornbusches. Schauen wir uns deshalb genauer an, was passiert, wenn wir unsere Schuhe ausziehen.

  1. Wir gehen behutsam und vorsichtig.
  2. Wir achten darauf, wohin wir treten.
  3. Wir werden langsamer.
  4. Wir tun dies, weil wir ohne einen Schuh, der uns schützt, wieder verletzlich und extrem empfindlich sind.

Was Mose und Maud und Elisabeth über das Geheimnis Gottes gelernt haben, ist, dass wir dies vor jedem Geheimnis tun müssen, dem wir begegnen, sei es das eucharistische Leben unseres Herrn oder das spielerische Leben unserer Kinder. Dies muss unsere Haltung sein in der Stunde des Werbens, der Freundschaft und der Kollegialität. Dies muss unser Weg in der Ehe, in der Elternschaft und im Priestertum sein. Sonst werden wir die Momente des Geheimnisses mit Füßen treten. Dann werden wir nicht die lebensverändernden Gespräche halten, die Mose mit Gott hatte. Wir hätten keine der Gemälde von Maud Lewis, die unsere müden Seelen erregen und beruhigen, wenn die Welten, die sie in Farbe und Form darstellt, nicht zuerst ihre eigene Seele erregt und beruhigt hätte. Und es gäbe keine Gedichte von Elisabeth Barrett Browning, nur Brombeerpflücker. Diese Menschen hatten die Tiefe der Begegnung mit Gott, weil sie dieser Regel des tiefen Herzens folgten: sich dem Geheimnis mit Sorgfalt, mit Sanftheit, mit Zeit und mit Sensibilität nähern.

Dies sollten auch die vier goldenen Regeln unseres Heiligen Frühlings sein, eine neue und achtsamere Art, sich durch das Leben zu bewegen.

  1. Wir sollten behutsam und vorsichtig vorgehen, denn überall, wo wir uns hinwenden, können wir das Geheimnis Gottes finden.
  2. Wir sollten aufpassen, wohin wir treten. Es gibt keine gottlosen Orte oder Begegnungen auf der Welt.
  3. Wir sollten langsamer gehen. Wir können nicht sehen, erkennen und schätzen, woran wir vorbeirasen.
  4. Wir müssen dringend unsere Verletzlichkeit und unsere extreme Sensibilität wiederfinden. Die raue und grobe Art, wie wir mit dem Leben, der Liebe und der Sehnsucht umgehen, verdeckt, entstellt oder missbraucht oft Momente, die uns für das Geheimnis öffnen sollten. Der Mangel an Sensibilität tötet die Poesie in uns, verwischt die Färbung und Formung unserer Kreativität und erstickt die Gespräche, die zu außergewöhnlichem Leben führen.

Wenn wir mit dem Mysterium, das unser Leben ziert, gut leben wollen, müssen wir unsere Schuhe ausziehen.

 

Erik Riechers SAC, 26. März 2021

 

 

Mose und Maud: Menschen mit Augen, die brennenden Dornbüsche des Lebens zu sehen

 

Als ich im Westen Irlands Narrative Theologie studierte, gab es eine kreative Übung, die wir oft spielten. Wir sollten zwei Personen aus der Geschichte oder Literatur benennen und sie dann zu einem Gespräch zusammenbringen. Dann war es unsere Aufgabe, einen imaginären Dialog zwischen ihnen zu entwerfen.

An diese erheiternd kreative Übung wurde ich kürzlich erinnert, als ich mir das Leben von Maud Lewis, einer kanadischen Malerin aus Nova Scotia, ansah. Sowohl ihre Lebensgeschichte als auch ihre Bilder sind eine Quelle tiefgreifender Inspiration. In all ihren Gemälden zeichnet sie eine Welt ohne Schatten. Sie wird gewöhnlich als Volkskünstlerin bezeichnet, aber ich habe auch Hinweise auf ihre Arbeit als primitive Kunst gefunden. Ich könnte dem nicht mehr widersprechen. Es liegt etwas Erhabenes und Anspruchsvolles in ihrer Kunst, denn sie hatte die Fähigkeit, anderen zu zeigen, was ihr eine tiefe innere Gabe ermöglichte: Sie hatte die Fähigkeit, uns das Staunen zu zeigen.

Wenn ich also die Übung des imaginären Gesprächs noch einmal durchspielen würde, würde ich Maud Lewis gegenüber von Mose an den Tisch setzen. Ich glaube, dass sie etwas gemeinsam haben. Beide wussten etwas darüber, wie man einen brennenden Dornbusch erkennt und sich auf ihn zubewegt. Daher wussten beide etwas darüber, wie man sich dem Geheimnis Gottes nähert und vor ihm steht.

Ich denke, dass jeder in dem anderen einen verwandten Geist erkennen würde. Sie waren beide Kinder des Staunens. Das Staunen aber ist der Anfang des Glaubens. Wenn Mose nicht vom Staunen bewegt worden wäre, hätte er sich nie zur Seite gewandt, um den brennenden Dornbusch zu sehen, aber das hätte bedeutet, dass er die Begegnung mit Gott verpasst hätte.

Das Staunen bewegt Männer und Frauen zur Begegnung mit Gott. Man kann die Bilder von Maud Lewis nicht betrachten, ohne von ihrem nie versagenden Sinn für Wunder berührt zu werden. Sie fand Wunder in Bäumen, Vögeln, Fischerbooten und Tulpen, Hauskatzen und Kühen. Dies waren ihre brennenden Dornbüsche.

Wir haben unsere eigenen brennenden Dornbüsche. Brennende Dornbüsche sind jene Momente des Staunens, die Gott uns täglich in den Weg legt, um uns aufzuhalten. Es sind Momente, in denen der schöne Gott uns zu einer Begegnung einlädt, die einen langen, liebevollen Blick auf das Reale verlangt. Sie sind unsere ersten, kleinkindhaften Schritte auf Gott zu.

Allerdings würden Mose und Maud uns vor der einen großen Gefahr warnen, die zwischen uns und unseren brennenden Dornbüschen liegt: unserem gewöhnlichen, unscheinbaren Alltag. Mose war nicht auf der Suche nach spektakulären Erfahrungen des Göttlichen. Er hat Schafe gehütet. Maud Lewis reiste nicht um die Welt, um sich inspirieren zu lassen, sondern malte, was sie in der Welt vor ihrer Haustür sah, wobei sie nie weiter als eine Autostunde von ihrem Geburtsort entfernt war.

Wenn wir in den Mühen des Alltags gefangen sind, lautet die Frage, die unser Herz am meisten quält: »Wo sind diese sagenhaften brennenden Dornbüsche, von denen du sprichst?« Doch die eigentliche Frage lautet: »Wo sind die Söhne und Töchter von Mose und Maud, die in den brennenden Dornbusch Momenten des Lebens innehalten, sie wahrnehmen und sich ihnen nähern?«

Ein Dornbusch brennt, wenn Männer und Frauen zu dem Augenblick kommen, in dem sie im anderen einen Gefährten erkennen, mit dem sie eine Lebens- und Liebesgemeinschaft schmieden könnten, und sich gegenseitig in die gegenseitige Verpflichtung des Bundes aufnehmen. Doch das Wunder hält nicht alle, und zu viele weigern sich, den begonnenen Weg zu verlassen, zur Seite zu treten und ein Leben zu betrachten, das sich nicht nur um sie dreht.

Der Dornbusch brennt in den hochfliegenden Gedanken der leidenschaftlichen und funkelnden Redekunst der großen Geschichtenerzähler des Glaubens. Und doch ist es allzu leicht, daran vorbeizugehen und uns der Verstopfung des Denkens und dem Durchfall der geistlosen Worte im Fernsehen hinzugeben.

Der Dornbusch brennt, wenn wir aufwachen, weil wir neues Leben im Mutterleib finden, das Staunen über echte Liebe spüren, Küsse im Mondschein genießen, Zärtlichkeit in der Prüfung erfahren und Hände, die durch die Hölle gehalten werden, erleben. Aber jede dieser Aufforderungen zu einer neuen Begegnung mit Gott können wir leicht ignorieren, herabsetzen, ja sogar verspotten mit einer unverfrorenen Arroganz, die sich für zu hoch entwickelt hält, um mit solch trivialen Dingen des Wunders umzugehen.

Aus diesem Grund wird uns ein Heiliger Frühling geschenkt. Das ist ein Rennen, das nicht an die Schnellen geht, sondern an die Bezauberten. Das Thema ist klar. Wo sind Ihre brennenden Büsche, und haben Sie noch das Zeug dazu, für den Weg, auf den Gott sie vorerst gesetzt hat, zur Seite zu gehen? Können Sie ein geistlicher Sohn oder eine geistliche Tochter von Mose und Maud sein?

 

Erik Riechers SAC, 24. März 2021

 

 

Von Treue, Ausdauer und Gefährtenschaft

 

Vor genau einem Jahr starteten wir unser Angebot: »Bleiben Sie behütet!« Die Ausbreitung der Pandemie und die Festlegung des ersten Lockdown verunsicherten uns alle; unser Leben wurde ungewöhnlich und schmerzhaft eingeschränkt, wir waren regelrecht auf uns selbst geworfen, Sorge und Angst breiteten sich aus. Im beginnenden Frühling wurde es dunkel. So etwas hatte niemand von uns je erlebt. In dieser Situation begannen wir unseren gemeinsamen Weg - schreibend und lesend. Wir gehen ihn bis heute zusammen und haben gerade die 53. Woche begonnen. Das ist nicht so leicht wie es klingt, für beide Seiten. Keiner von uns wusste vor einem Jahr, wie der Weg verlaufen wird und wie lange er sein würde. Dieses Abenteuer hatten wir uns nicht ausgesucht, es war völlig neu. Und doch  gingen und gehen wir miteinander Tag für Tag und bleiben dran, bis heute und darüber hinaus.

Das ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Es fordert Treue, Beständigkeit und Ausdauer, auf beiden Seiten. Natürlich gibt es Momente der Versuchung auszusteigen. Als es so schien, als sei das Schwierigste geschafft, gab es Stimmen, die uns einflüsterten: »Es reicht; das war genug. Jetzt sind wir fertig.« Wir erinnern uns daran vom letzten Sommer. Wir kennen solche Stimmen von vielen langwierigen und herausfordernden Zeiten unseres Lebens und allein würden wir dieser Versuchung vielleicht erliegen: aufhören zu schreiben, aufhören zu lesen. Doch ein nüchterner Blick ließ klar sehen, dass die Krise nicht vorbei war und Covid19 keineswegs schon im Griff.

So wurden wir mehr und mehr herausgefordert zu üben, was das große Thema unserer Brunnentage im Jahr zuvor gewesen war, nämlich Atem für den langen Marsch zu behalten. Die großen Werke J.R.R.Tolkien’s, »Der Hobbit« und »Der Herr der Ringe« waren damals unsere Begleiter. Und nun üben wir miteinander, was es heißt: »Alles, was wir zu entscheiden haben ist, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist«. Wir setzen Prioritäten. Wir widersagen dem Jammern. Wir gestalten das, was möglich ist. Wir behalten einander im Blick. Wir sprechen an, was nicht verdrängt werden sollte. Und wir zeigen einander, was wertvoll, wesentlich und schön ist.

Die Schatten sind noch immer da, der Weg viel länger als gedacht. Ein Blick zu Tolkien möge uns immer wieder mahnen: »Treulos ist, der Lebewohl sagt, wenn die Straße dunkel wird«.

Wir haben uns miteinander auf diesen langen Weg durch das Dunkel eingelassen und gehen nun ins zweite Jahr. Vielleicht ist eine der wichtigsten Erfahrungen diese: Nicht ohne Gefährten! Gefährten teilen mit uns Brot und richten uns auf, wenn wir stolpern; sie ermuntern uns, wenn wir müde werden, sie singen mit uns im Dunkel und bringen uns zum Lachen, wenn unser Blick zu eng wird. All das ist möglich unter Beachtung von Abstands- und Hygieneregeln. Wir alle geben seit 52 Wochen dafür Zeugnis.

Darum machen wir weiter: Nicht ohne Gefährten!                

Rosemarie Monnerjahn, 22. März 2021

 

 

 

Wie Weizenkörner

5. Fastensonntag B 2021                                      Joh 12, 20–33

 

Vor dreißig Jahren, als ich in einem Park saß, beobachtete ich, wie ein Kind schluchzend auf seine Mutter zugelaufen kam und sich ein Glas an die Brust drückte. Irgendwie schaffte es die Mutter inmitten des Jammerns und Heulens, die Natur der Tragödie zu entdecken, die dem Kind widerfahren war. Sie hatte einen Schmetterling gefangen und in diesem Glasgefäß sorgfältig aufbewahrt. Nach mehreren Stunden in der Sonne, ohne jegliche Belüftung, starb das arme Geschöpf, sehr zum Entsetzen und fassungslosen Unglauben des kleinen Mädchens. Behutsam brachte ihre Mutter sie wieder zu einem Anschein von Ruhe und sagte dann einen kurzen und einfachen Satz. »Schatz, dafür war es nie gedacht.«

Das sagt auf den Punkt gebracht alles über die Geschichte aus dem Evangelium über das Weizenkorn.  »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein.« Jesus lehrt uns, dass wir uns nicht gegen jede Form des Sterbens in unserem Leben wehren dürfen. In der Tat gibt es eine Form des Sterbens, die für ein gut gelebtes Leben vor Gott und seinem Volk von größter Bedeutung ist. Es gibt eine Form der Fruchtbarkeit, die nur durch eine Erfahrung des Todes geboren werden kann.

Tragisch ist die Erkenntnis, dass wir unser Leben nicht in Glasgefäßen einfangen und sorgfältig konservieren können. Vielleicht werden wir schluchzen und unseren Protest zum Himmel schreien, ähnlich wie das kleine Mädchen. Jesus wird uns dann mit einem kurzen und einfachen Satz antworten: »Dafür warst du nie bestimmt.«

Sehen Sie sich ein Weizenkorn an. Von Natur aus muss es sterben, um Früchte zu tragen. Das ist Teil seiner Beschaffenheit, Teil seines Wesens. Wenn der Bauer beschließt, es sorgfältig in einem Glasgefäß zu konservieren, dann schützt er es nicht vor dem Tod. Stattdessen verweigert er ihm die Fülle, für die es geschaffen wurde, zu der es berufen ist und für die es immer bestimmt war. Das Weizenkorn ist das Bild für ein noch unerfülltes Lebens- und Fruchtbarkeitspotenzial, ein Leben voller Möglichkeiten, das sich erst noch in der Welt entfalten muss. Diejenigen, die sich an das Weizenkorn ihres Lebens klammern würden, müssen sanft zurechtgewiesen werden: »Dafür war es nie gedacht«.

Menschen sind ähnlich wie Weizenkörner. Teil unseres Wesens ist es, zur Fruchtbarkeit zu sterben. Es ist ein Teil unserer Natur. Niemand wird vorgeben, dass es ein angenehmer oder besonders erfreulicher Teil ist, aber ein Teil ist es. Das Sterben von Teilen unseres Lebens ist schmerzhaft, unangenehm und schwierig. Es ist aber auch notwendig, wenn wir das werden wollen, wofür wir geschaffen wurden, das, was wir sein sollen. Jeder Versuch, diesen Tod zur Fruchtbarkeit zu verweigern, ist eine Verleugnung unserer selbst, der Fülle und der Bestimmung, für die wir von Anfang an bestimmt sind.

Ein Ortswechsel ist jetzt angebracht, denn wir wenden uns einer Vignette aus dem Leben von Pater Pedro Arrupe zu, einem ehemaligen Generaloberen der Gesellschaft Jesu (Jesuiten). In seinen Memoiren schreibt er von einem jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren, der ein Opfer des Horrors von Hiroshima war. Die Strahlung der Atomexplosion hatte die Hälfte seines Körpers als eine einzige, große, eiternde Wunde hinterlassen. Als er vor Arrupe stand, sagte er: »Pater, helfen Sie mir.«

Arrupe schätzte die Situation sofort ein. »Es wird sehr wehtun.« Worauf der junge Mann antwortete: »Pater, zögern Sie nicht, mir wehzutun; ich kann es ertragen, aber retten Sie mich.« Es folgte das, was man nur als eine Zeit der schrecklichen Heilung beschreiben kann. Die Reinigung des verbrannten Fleisches musste mit Borsäure erfolgen, wobei der Eiter unter den Verbrennungen bereits verhärtet war. Zweieinhalb Stunden lang zog sich der schreckliche Prozess hin. Arrupe schrieb, dass »er am Ende vor Leiden am Boden lag, und ich war erschöpft von der Anspannung«. Dann kommt der vielsagende Kommentar. »Ich musste für diesen Mann wie ein Henker werden, wenn ich sein Leben retten wollte«.

Wir sind wie dieser Mann. Es gibt Wunden, die wir in unserem Leben tragen. Wir sind mit den Wunden von Momenten bedeckt, in denen wir unter unserem Niveau und unserer Würde gelebt haben, in denen wir unseren Beziehungen zu Gott, den Nächsten und der Schöpfung und zu uns selbst nicht gerecht geworden sind. Die Reinigung dieser Wunden ist mit Schmerzen verbunden, und es tut weh, den Schorf zu entfernen, um das zu sein, wozu wir geschaffen wurden: gesund und stark. Die Selbstbezogenheit muss uns abgestreift werden, und das ist schmerzhaft und verursacht Leiden, aber es gibt keine andere Möglichkeit, wenn wir das sein wollen, was wir sein sollen: ein Volk des Dienens. Wir müssen den Egoismus sterben lassen, denn wir sind zur Selbstentäußerung und Selbstlosigkeit geschaffen. Die Gier muss vergehen, denn wir sind für Großzügigkeit bestimmt. Der schroffe Individualismus wird von denen abgeschält, die für die Gemeinschaft bestimmt sind. Rassismus muss vergehen in einem Volk, das für Gerechtigkeit bestimmt ist. Der Hass muss sterben in einem Herzen, das für den Frieden geschmiedet ist. Es tut weh, all diese Dinge sterben zu lassen. Aber es ist eine Notwendigkeit, sie sterben zu lassen, denn wir wurden nie für sie geschaffen, nie für sie bestimmt. Wenn unser Leben mit all diesen sündigen Realitäten gefüllt ist, werden wir Gott hören, der uns die Worte der weisen, jungen Mutter ins Ohr flüstert: »Schatz, dafür war es nie gedacht.«

Wenn wir einer dienenden, sich selbst entäußernden, großzügigen, gerechten und friedlichen Person der Gemeinschaft begegnen, wissen wir, dass dieses Leben für Gott etwas Schönes ist. Dennoch sollten wir nie vergessen, dass dies eine Schönheit ist, die aus einem tiefen Sterben geboren wird. Keiner von uns kann diesen Prozess der schmerzhaften Reinigung vermeiden und trotzdem den Sinn unseres Lebens erfüllen. Durch das Sterben kommen wir zum Leben. Durch den Tod werden wir fruchtbar.

Gelegentlich sind wir versucht, dem natürlichen Rhythmus der Dinge den Rücken zu kehren, weil wir uns oder anderen den Schmerz und das Leid ersparen wollen und uns dadurch für edel und wahrhaftig halten. Vor Jahren traf ich einen sehr begabten geistlichen Leiter. Er machte die Bemerkung, dass er oft eine Klage von Menschen hörte, die er begleitete. Es ging nie um einen Mangel an Freundlichkeit, Mitgefühl oder Verständnis. Es ging um seine Klarheit. Er gab zu, dass ihn das oft auf die Palme brachte. Er war ein Mann, in dessen Herz eine tiefe und persönliche Sorge für alle Menschen wohnte, die ihm anvertraut waren. Doch er hatte ein echtes Mitgefühl und kein falsches Mitleid. Er nannte die Dinge beim Namen und rief seine Menschen, die Wahrheit, Schönheit und Güte zu sein, die Gott für sie vorgesehen hatte. Er sah in ihnen Potential und Treue, eine echte Kraft und liebevollen Adel. Aber oft war es gefesselt, zugedeckt oder durch Sünde und Vernachlässigung belastet. Nicht gewillt, sie mit weniger zufrieden zu stellen, übte er wahres Mitgefühl, indem er sie zur Befreiung einlud, sie zur Freiheit erhob und ihnen eine Vision dessen zeigte, was für sie  noch Wirklichkeit werden könnte.

Als ich die Geschichte dieses alten Mannes hörte, dachte ich, er muss sich ähnlich fühlen wie Pedro Arrupe. Am Ende ist es oft der einzige Weg zur Heilung, der einzige Weg, ein Leben zu retten. »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein.« Wie barmherzig wäre Arrupe gewesen, wenn er diesem Mann den furchtbaren Schmerz erspart hätte? Es ist eine aufschlussreiche Lektion unseres Glaubens. Wir können einem anderen den Schmerz ersparen, auf natürliche Weise zu sterben wie das Weizenkorn, und entdecken, dass wir ihm tatsächlich das wahre Leben verweigert haben.

 

Erik Riechers SAC, 21. März 2021

 

 

Ein Mann, »als Fels hineingestellt« *

 

Ein treuer Begleiter,

der Frau und Sohn gut und verlässlich versorgt,

der weiß, was bei Gefahr zu tun ist und entsprechend handelt,

der sich nicht in den Vordergrund stellt, doch seiner Verantwortung für die Seinen stets      gerecht wird,

der tiefe Verbindung zu Gott pflegt -

wer wünschte sich nicht einen solchen Gefährten, einen solchen Vater?!

All das erzählen uns Matthäus und Lukas von Josef aus Nazareth.

Und genau dies macht ihn für viele zum Vorbild ihres Lebens: sorgend wie er, hörend auf Gottes Stimme und Verantwortung verlässlich wahrnehmend. Wie viele Einrichtungen, in denen hilfsbedürftige Menschen betreut werden, tragen darum seinen Namen! In unserer Welt jedoch scheinen Selbstdarstellung und große Worte mehr beachtet zu werden; wenn es schwierig wird, fehlt es an Geduld und Ausdauer, Ausreden sind schnell auf den Lippen und Gott ist für viele ein Fremdwort.

Der Jesuit Alfred Delp lebte und litt in seiner Welt in den Jahren der Naziherrschaft. Doch er hielt stand und gewann seine ganz eigene Verbindung und Verehrung des hl. Josef. Wegen seiner Verbindung zum Widerstand wurde er im Juli 1944 verhaftet und schrieb im Gefängnis:

Josef »ist der Mann am Rande, im Schatten. Der Mann der schweigenden Hilfestellung und Hilfeleistung. Der Mann, in dessen Leben Gott dauernd eingreift mit neuen Weisungen und Sendungen. Die eigenen Pläne werden stillschweigend überholt. Immer neue Weisung und Sendung, neuer Aufbruch und neue Ausfahrt.

Er ist der Mann, der dient. Dass ein Wort Gottes bindet und sendet, ist ihm selbstverständlich. Die dienstwillige Bereitschaft, das ist sein Geheimnis. (...) Er ist der Mann, der sich eine bergende Häuslichkeit im stillen Glanze des angebeteten Herrgotts bereiten wollte, und der geschickt wurde in die Ungeborgenheit des Zweifels, des belasteten Gemütes, des gequälten Gewissens, der zugigen und windoffenen Straßen, des unhäuslichen Stalles, des unwirklichen fremden Lebens.

Und er ist der Mann, der ging...« *

Das bringt uns der tieferen Realität der kargen Worte des Evangeliums näher. Alfred Delp wusste, was es bedeutet, wenn Pläne durchkreuzt werden und die Treue zur eigenen Sendung immer wieder neu herausgefordert wird und zum Aufbruch drängt - in die Fremde, gegen die Ängste, ja sogar in den Tod.

Josef war ein Mann, der die Spannungen des Lebens aushielt und sich in ihnen bewegte, ohne sich zu verlieren. Er konnte all das leben, was die Evangelisten knapp erzählen, weil er tief verwurzelt war in Gott.

Er war ein Mensch von der Art, von der Jesus in der Bergpredigt sagt: »… ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut.« (Mt 7, 24-25)

Menschen wie ihn braucht die Welt auch und gerade heute - wie gut, dass Papst Franziskus ihn uns in diesem Jahr besonders ans Herz legt!

* Alfred Delp, Gesammelte Schriften, IV, 199f

Rosemarie Monnerjahn, 19. März 2021

 

 

 

Eine Legende vom heiligen Patrick

 

Heute ist St. Patrick's Day. Möge sein Segen auf Ihnen ruhen.

Sobald wir von St. Patrick sprechen, sind wir umgeben von einer Fülle von Legenden, die sich um seine Person gebildet haben. Und sobald wir die Legenden hören, werden wir verwirrt. Wir nehmen sie nicht ernst, weil wir sie für ein wenig kindisch halten, oder schlimmer noch, für etwas für die Einfältigen und Abergläubischen.

Die Legenden um Patrick sind aus der Volkswahrnehmung entstanden. So haben die Menschen ihn gesehen und wahrgenommen. Diese Geschichten sind eine andere Art der Annäherung an die historische Person Patricks. Sie sind nicht aus dem historisch-kritischen Auge des Gelehrten geboren. Sie entspringen dem ehrfürchtigen und tief berührten Herzen nach der Begegnung mit Patrick. Die Legenden sind nicht die kalten, analytischen Darstellungen des wissenschaftlichen Verstandes, der für immer dazu verurteilt ist, unter den Zuschauern und Beobachtern der Welt zu stehen. Dies sind die Geschichten von lebendigen Begegnungen, von der Wärme, die Menschen spürten, von den Horizonten, die sich den Herzen öffneten, die zitterten, weil sie das Privileg hatten, Patrick zu begegnen. Sie wussten, dass das, was sie in der Begegnung mit ihm erlebten, von Gott durchdrungen war. Diese Geschichtenerzähler waren nie Zuschauer, sondern Teilnehmer.

Erlauben Sie mir, meine Lieblingslegende von Patrick zu erzählen. Eine der Geschichten beginnt damit, dass Patrick sich von seinem Elternhaus in Großbritannien verabschiedet, um nach Irland zurückzukehren. Er nimmt seinen geliebten Wanderstab mit, der aus dem Holz der Esche gefertigt ist. Auf seiner Reise hält er immer wieder an, um die Leute zu versammeln, das Brot zu brechen und die Geschichten von Gott zu erzählen. Er nutzt jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, um die Frohe Botschaft von Jesus zu verkünden.

Wenn er in einem Dorf innehielt, war es seine Gewohnheit, seinen Wanderstab in den Boden zu stoßen. Damit setzte er ein Zeichen, dass er nicht einfach weitergehen würde, sondern bereit war, anzuhalten und eine Weile zu bleiben. Eines Tages erreichte er ein Dorf und beschloss, dort anzuhalten, um den Menschen dort die Geschichten von Gott und vom Glauben zu erzählen. Wie immer stieß er seinen Wanderstab in den Boden. Doch dieses Mal dauerte es sehr lange, bis die Geschichten gehört wurden. Beunruhigte Herzen, ängstliche Herzen und verhärtete Herzen öffneten sich nicht sofort und nahmen seine Worte nicht schnell auf. Es gab Zögern, Verwirrung, Widerwillen und Widerstand.  Also blieb Patrick viel länger an diesem Ort, erzählte die Geschichten und verkündete die gute Nachricht. Und weil es so lange dauerte, entwickelte der Wanderstab aus dem Holz der Esche Wurzeln und wurde zu einem lebendigen Baum. Der Ort, an dem all dies geschah, wurde danach Aspatria genannt, was »Esche des Patrick« bedeutet.

Wenden wir uns nun den Menschen zu, die diese Geschichte erzählt haben. Sie wählten den Baum als Symbol für das, was sie erlebten. In biblischen Erzählungen dient der Baum oft als Symbol für den Menschen und sein Wachstum. Der Baum erfreut sich einer großen Vielfalt, die man an den Ästen und Blättern und Früchten sieht, die er trägt. Und doch bildet diese Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit. Die Einheit ist der Stamm, von dem aus sich alles verzweigt. Diese Einheit (der Stamm) erhält ihr Leben aus den Wurzeln. Die Wurzeln aber sind tief in der Erde vergraben und verrichten ihre lebensspendende Arbeit an Orten, die wir nicht sehen können.

In tief symbolischer Sprache erzählen die Menschen, die Patrick begegnet sind, was sie erlebt haben, was sie berührt hat und was sie aus der Begegnung mitgenommen haben. Wenn wir heute innehalten, um Patricks Geschichten über Gott und Geschichten über den Glauben zu hören, dann wird das, was mit seinem Spazierstock geschah, auch mit uns geschehen. Diese Menschen lernten, dass wir Kraft aus den verborgenen Orten schöpfen müssen. Wir müssen in zwei Richtungen gleichzeitig wachsen - wir müssen in die Tiefe wachsen, um verbunden und gut geerdet zu bleiben. Wir müssen auch nach oben wachsen, um uns nach dem Himmel zu strecken, nach dem Licht. Unser Leben muss sich verzweigen, höher und breiter werden, Früchte tragen und den Himmel und das Licht erreichen. Und wir müssen den unsichtbaren Teilen dieses Prozesses vertrauen, der in der Tiefe (den Wurzeln) geschieht, auch wenn an der Oberfläche scheinbar nichts geschieht.

Wenn wir uns unter diesen Menschen bewegen, werden sie uns nach der Begegnung mit Patrick die Natur des ehrfürchtigen und berührten Herzens offenbaren. Woran erinnern sie sich? Was möchten sie uns über ihre Begegnung mit Patrick erzählen?

Ich möchte einen imaginären Brief für uns schreiben. Eines Abends setzen sich die Erzähler der Legende hin, um uns folgendes zu schreiben.

 »Freunde der Zukunft. Wir geben die Legende an euch weiter, denn was uns wertvoll ist, wollen wir euch nicht vorenthalten. Wir kannten Patrick, berührten seine Hände und wurden von seinen Händen berührt. Seine Stimme hallt noch in unseren Herzen nach, lange nachdem sie aufgehört hat, in unseren Ohren zu klingen. Diesen Mann kennengelernt zu haben, hieß, etwas von Gott erfahren zu haben. Und wer kann dann noch schweigen? Hier war ein Mann, der Geduld mit uns hatte. Selbst als er merkte, dass seine Botschaft lange brauchte, um zu uns durchzudringen, ging er nicht weg, verfluchte nicht unsere Ignoranz oder verachtete uns wegen unserem Mangel an Bildung. Er blieb bei uns und begleitete uns, indem er uns die Zeit und den Raum gab, den wir brauchten, um uns dem unbekannten Gott zu öffnen.

Es ist etwas, das wir nie vergessen haben. In unserer Zeit werden wir oft von den Mächtigen abgeschrieben, von den Gelehrten herabgesetzt und verspottet und selbst von Predigern mit Verachtung behandelt. Höchstwahrscheinlich werden die Gelehrten eurer Zeit uns und unsere Geschichten auf ähnliche Weise behandeln. Aber wir geben unsere Geschichten an euch weiter, nicht an sie. Von Patrick erhielten wir Würde. Von ihm lernten wir, dass echtes Geschichtenerzählen und authentisches Predigen keine Unternehmungen für diejenigen sind, die auf den schnellen Profit und den leichten Gewinn aus sind. Von diesem Mann lernten wir, dass echte Geschichtenerzähler und authentische Prediger nach Gottes Volk suchen, ihre Herzen aufsuchen und ihre Wunden berühren wollen.

Und wir sahen in seinem Gehstock den Prozess, der sich in uns abspielt und entfaltet. Es hat lange gedauert, bis wir Wurzeln geschlagen haben, liebe Freunde. Wir mussten tief gehen und durften nicht schnell sein. Deshalb erzählen wir unsere Geschichte allen, die Ohren haben, um zu hören. Wenn ihr nicht tief geht, werdet ihr nie mehr als ein Wanderstock sein. Wenn ihr nicht tief geht, werdet ihr nie zu einem lebendigen Baum werden.«

»Lá fhéile Pádraig sona dhuit!«  Ihnen einen schönen St. Patrick's Day.

 

Erik Riechers SAC

Fest des Hl. Patrick, den 17. März 2021

 

 

Wer die Wahrheit tut . . .

 

Recht weit fortgeschritten sind wir schon auf unserem Weg durch den »heiligen Frühling«. Viele von uns lieben diesen alten Namen für die Fastenzeit inzwischen sehr und in der Tat, wir sind gut vorangekommen. Zeitlich stimmt dies auf jeden Fall, denn wir sind nun bereits in der 4. Fastenwoche. Aber ist es auch innerlich stimmig und wahr? Ein Blick aus dem Fenster kann uns leiten. Draußen ist es derzeit recht kalt, dennoch bricht überall Leben hervor. Was im Dunkel der Erde begonnen hat, lässt sich nicht mehr stoppen. Es zeigt sich mehr und mehr: Schneeglöckchen und Krokusse, Narzissen und erste Tulpenspitzen, Triebe von Stauden, wo ich gar nichts mehr erwartet habe. Vielfalt zeigt sich im Garten, wo meine Augen sich an eintöniges, lebloses Braun gewöhnt hatten. Unsichtbar begann das Wachstum, zaghaft im Dunkeln, und bahnt sich nun seinen Weg ins Licht.  

Spüre ich auch in mir erste Zeichen von Lebendigkeit, zarte Anfänge vielleicht von Prozessen, die zunehmend Raum brauchen und langsam nach außen streben? Lasse ich sie durchbrechen, wenn es soweit ist? Dürfen sie sich zeigen? Vielleicht bricht sich - durch Stille, Gebet, gute Begleitung gefördert - endlich in meinem Herzen die Wahrheit Bahn, dass Gott mich anschaut, mich liebt und groß von mir denkt. Das lässt mich wachsen und treibt hinaus zu ganz neuer Lebendigkeit, mehr Farbe, Kreativität und Bewegtheit. Es muss sich zeigen dürfen, es will und muss hinaus ans Licht. 

»Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht« hörten wir im gestrigen Evangelium. Jesus sagt es zu Nikodemus, dem angesehenen Pharisäer und Lehrer, der sich nur bei Nacht traut, Jesus aufzusuchen. Die Sehnsucht hat ihn bewegt zu diesem Schritt, aber gleichzeitig hat er Angst. Er vertraut den gewohnten Sicherheiten seines Standes mehr als dem, was Jesu Worte in ihm ausgelöst haben. Er scheint mir kein Mann des Frühlings zu sein.

Frühlingsmenschen nämlich vertrauen dem noch unsichtbaren Keim in sich und lassen ihn ins Licht kommen, indem sie diese gefundene Wahrheit beginnen zu leben. Leben, das in uns zu wachsen beginnt, muss irgendwann umgesetzt werden in Handlung, ins Tun. Menschen können viel darüber sprechen, was in ihnen vorgeht, welche Vorstellungen und Wünsche sie haben und was sie alles tun wollen. Doch wird es nie in Handlung verwandelt, wird noch nicht der kleinste Trieb neuen Lebens sichtbar in ihrem Tun, dann leben sie ihre Wahrheit nicht und drohen zu verkümmern. Das Reden darüber ist noch kein Leben. Wenn ich die Wahrheit in mir wahrnehme, wenn sich neues Leben in mir regt und mich bewegt, dann kann heiliger Frühling werden: Wagen wir erste Schritte, zeigen wir uns der Welt, gehen wir, handeln wir! Mit der ersten Triebspitze einer Tulpe, die den Boden durchbricht, ist noch nicht die ganze Blume da. Aber wenn dieser Durchbruch ins Licht nicht geschieht, wird es keine Tulpe geben - keine Farbe, kein Duft, keine Nahrung, keine Freude, nichts! 

Ich wünsche uns, dass wir uns trauen, unsere Wahrheit zu tun, damit wir ins österliche Licht hineinwachsen - mal zaghaft und langsam, mal mutig in größeren Schüben - aber immer auf dem Weg zu mehr Leben. Ja, »die Wahrheit wird euch befreien«, sagt Jesus an anderer Stelle zu seinen Jüngern (Joh 8, 32) - lassen wir uns darauf ein!

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. März 2021

 

 

Erbarmen ist nicht nur ein Wort

4. Fastensonntag B 2021                                      Eph 2, 4–10

 

Gott, der reich ist an Erbarmen,

hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren,

in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat,

zusammen mit Christus lebendig gemacht.

 

Barmherzigkeit. Kaum fällt das Wort und schon spüren wir, welche Sehnsucht sie in uns weckt. Sie ist uns sehr willkommen in einer kalten und erbarmungslosen Welt. Wer von uns hat sich noch nie nach Barmherzigkeit gesehnt?

Aber Erbarmen ist nicht nur ein Wort. Es sollte ein Lebensstil sein. Deshalb sollten wir uns  zwei Fragen stellen, damit wir diese Erfahrung des Erbarmens, die auch eine Erfahrung Gottes ist, ernst nehmen:

  1. Wie geht Barmherzigkeit ganz konkret? (Ist es mehr als lieb sein?)
  2. Wie macht Barmherzigkeit lebendig?

Da können uns die großen Erzählungen des Evangeliums sehr behilflich sein, denn sie zeichnen den Weg der Barmherzigkeit auf. Drei große Merkmale bilden sich heraus, die Urerfahrung aller Gläubigen in ihrer Begegnung mit ihrem Gott und die Gründe, warum sie ihn als reich an Erbarmen erleben.

 

  1. Der erste Schritt der Barmherzigkeit heißt »Verständnis für die Überforderung des anderen«.

In biblischen Erzählungen  ist es klar, dass Jesus Verständnis hat für die Überforderung seiner Menschen, auch seiner Jünger. Immer wieder zeigt er dieses Verständnis, wenn Menschen außer Lage sind, mehr zu tragen, mehr zu hören, mehr aufzunehmen. Sie können im Augenblick nicht mehr.

Jesus hat dieses Verständnis, obwohl es ihn etwas kostet. Diese Überforderung der Menschen und der Jünger bedeutet, dass er sein Programm erstmal nicht durchziehen kann, denn er hat »noch vieles« zu sagen. Aber es gibt eben keine Barmherzigkeit ohne diesen ersten Schritt. Fragen Sie nur den Samariter des Gleichnisses. Es kostet ihn Zeit, Öl, Wein und Geld, um dem zusammengeschlagenen Mann zu helfen. Aber während er das tut, kann er seine Reise nicht fortsetzen und seine Pläne nicht durchführen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir alle schon Erfahrungen mit Erschöpfung, Ohnmacht und Überforderung gemacht haben. Es hat sicher Stunden gegeben, in denen wir einfach nicht mehr konnten. Ich bin mir auch sicher, dass wir in solchen Stunden gelegentlich die schmerzliche Erfahrung gemacht haben, dass Menschen kein Verständnis für das zeigten, was wir durchmachten. Und in diesem Moment wussten wir: sie haben auch kein Verständnis für uns.

Sehr oft gibt es kein Verständnis, weil der Andere nur hört, dass unsere Überforderung jetzt sein Problem werden könnte, dass seine Pläne geändert, verzögert oder durchgestrichen werden.

So erzählte mir vor Jahren ein Mann über ein Gespräch mit seinem Chef. Dieser Mann hatte seiner Firma einen millionenschweren Vertrag gebracht, ist dabei aber sehr krank geworden. Jetzt brauchte er eine  Behandlung sowie eine Auszeit. Sofort beklagte sich der Chef über die Probleme, die das für ihn bedeuten würde und welche Auswirkungen das auf den Dienstplan haben würde. Er fragte kein einziges Mal nach dem Wohlergehen seines Mitarbeiters noch nach seiner Prognose. 

Wenn es kein Verständnis für uns gibt, wenn wir in diesen Situationen überwältigt werden, dann können wir nicht gut leben. In diesem Moment hat keiner von uns das Gefühl, dass wir barmherzig behandelt werden.

 

  1. Der zweite Schritt der Barmherzigkeit ist die Geduld.

Jesus sieht zwar die Überforderung seiner Menschen, aber er geht nicht davon aus, dass sie uns definiert. Nur weil wir Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt etwas nicht tragen können, heißt noch längst nicht, dass wir es nie tragen werden.

Aber Geduld hat es so in sich. Ich habe als Jugendlicher mal meine Ungeduld und ihre verheerenden  Folgen in meiner Beziehung zu meinem Vater gebeichtet und erntete dafür den nicht besonders hilfreichen Rat: »Seien Sie doch geduldig!« Meine Reaktion war auch nicht gerade geduldig, als ich den Beichtvater im Frust sagte: »Herzlichen Dank für diese nutzlose Antwort. Wenn ich das schon könnte, würde ich sicherlich nicht Ungeduld beichten.«

Was ich damals brauchte war Hilfe. Wie sieht Geduld aus? Welche Schritte muss ich gehen, um Geduld zu leben? Geduld wird mich immer herausfordern, einem anderen zwei Dinge zu schenken, nämlich Raum und Zeit. Geduld heißt, Menschen den Raum und die Zeit zu schenken, die sie brauchen für Wachstum, innere Prozesse, Reifung, Entfaltung und Entwicklung und für das Heilwerden.

Das ist der zweite Schritt zur Barmherzigkeit. Und wir wissen es, denn wir fühlen uns nicht barmherzig behandelt, wenn jemand uns keinen Raum gibt für das, was in uns noch wachsen und reifen muss. Wie oft erleben wir, dass unseren Tränen, unserer Angst und Traurigkeit nicht der dringend benötigte Raum gegeben wird? Niemand fühlt sich barmherzig behandelt, wenn uns jemand nicht die Zeit gibt, die wir brauchen, um mit dem umzugehen, was noch in uns vorgeht. Allerdings erleben wir oft den unerbittlichen Druck, funktionieren zu müssen. Wenn wir einmal krank, traurig oder erschöpft sind, gibt es einen unbarmherzigen Druck, dass wir so schnell wie möglich wiederhergestellt und einsatzfähig sein müssen.

Der Barmherzige muss in der Lage sein, auf Prozesse zu warten, die nicht beschleunigt werden können. Auf diese Weise kann die Barmherzigkeit einen Menschen lebendig und vital werden lassen. Wer profitiert in solchen Momenten der Not nicht davon, zu hören: »Warum nimmst du dir nicht die Zeit, die du brauchst?«

 

  1. Der dritte Schritt zur Barmherzigkeit ist die Unterstützung und Förderung des Wachsens, das uns größer macht als wir es im Moment sind. 

Dieser dritte Schritt zur Barmherzigkeit liegt in der Verheißung Jesu, den Geist zu senden. Dieser Geist wird kommen und das, was in uns ist, noch vertiefen. Im Johannes-Evangelium spricht Jesus dies folgendermaßen aus:

»Er wird nicht aus sich selbst heraus reden…

er wird von dem, was mein ist, nehmen und es verkünden…«

(Joh 16, 13-14)

Jesus spricht in diesen Augenblicken unseres Lebens kein Misstrauensvotum aus. Seine Botschaft ist nicht: Nun ja, ihr habt nichts, es ist nichts vorhanden und deshalb müssen wir von vorne anfangen.

Ganz im Gegenteil. Jesus spricht sein Vertrauen aus, dass mehr möglich ist  als das, was gerade vorhanden ist. Deshalb schickt er den Geist. Damit will er sagen: was schon da ist, werde ich begleiten, vertiefen, unterstützen und fördern. Ich werde das, was vorhanden ist, was ich vorfinde, aufbauen.

Zu wissen, dass ich unterstützt werde in meinem Verlangen, größer, heiler, liebevoller, gerechter, gesünder oder besser zu werden, lässt mich aufatmen und aufleben.

Es ist aber nicht immer so. Manchmal werden wir einfach als hoffnungslos abgeschrieben. Manchmal hören wir einfach, dass wir uns ändern sollten, aber bekommen keine Unterstützung. Und manchmal wird uns gesagt, so wie wir gerade sind, so dürften wir eigentlich nicht sein. Es ist immer ein unbarmherziger Moment, wenn Menschen sich weigern, mit dem zu arbeiten, was wir zu bieten haben.

Verständnis für Überforderung, Geduld (Zeit + Raum) für nötige  Prozesse des Wachstums und der Entfaltung, und die Unterstützung des Größerwerdens bilden den Weg der Barmherzigkeit.  Das ist das Erbarmen, von dem Gott reich ist. So schenkt er uns einen Raum, in dem sich’s leben lässt.

Die Barmherzigkeit  ist weit mehr als nur jemandem eine Last abzunehmen. Auf Dauer erzeugt das Minderwertigkeit im Empfänger (Ich kann es doch nicht!) und Misstrauen im Geber (Du hast Recht, du kannst es nicht, also nehme ich es dir ab). Gottes Barmherzigkeit will nicht die Minderwertigkeit seiner Menschen, noch will sie sein grundsätzliches Misstrauen über unser Können ausdrücken. Der Gott, der reich an Erbarmen ist, will, dass wir leben können, frei, verantwortlich und kreativ.

 

Erik Riechers SAC, 14. März 2021

 

 

Eine anschwellende Barmherzigkeit

 

In meinem letzten Impuls habe ich die Geschichte der Ennis-Schwestern und ihres Liedes »I will sing you home« erzählt. Doch wie mein geliebter Lehrer oft sagte: »Jede gute Geschichte gebiert andere gute Geschichten«.

Vor ein paar Tagen schickte mir ein Freund ein Video, in dem »I will sing you home« aufgeführt wird. Er schrieb mir: »Das hat mich auf so vielen Ebenen bewegt, und seit ich es gehört habe, rollt es in meinem Herzen herum, Tag und Nacht. Es tröstet und ermutigt mich auf eine Weise, die ich nicht beschreiben kann, aber die ich so tief empfinde. Ich habe keine Worte dafür, mein Freund. Aber ich weiß, dass du sie hast. Also schicke ich es dir, weil ich weiß, dass du es in etwas Schönes für andere verwandeln wirst.«

Auf dem Video hörte ich den Holy Heart Chamber Choir das Lied singen. Dies war ein Projekt, das unter den Zwängen der Corona-Pandemie begann. Die Schüler, die normalerweise im Schulchor mitmachen, waren besorgt, ob sie unter den Einschränkungen der Masken und der sozialen Distanzierung singen könnten. Dennoch waren sie zuversichtlich, dass ihr Chorleiter und Musiklehrer, Mr. Robert Colbourne, einen Weg finden würde. Und sie hatten nicht unrecht.

Zuerst hörte er darauf, was die Herzen seiner Schüler bewegte. Gemeinsam wählten und arrangierten sie dieses Lied, das zu ihnen über Verlust und Einsamkeit, Liebe und Trost und von einem Mut, der uns nach Hause singt, sprach. Wie eine Schülerin es ausdrückte: »Es war ein Lied, das für uns Heimat bedeutet«. Im ersten Moment haben sie für sich selbst gesungen.

Aber die Barmherzigkeit schwillt an und wächst. Schon bald beschlossen der Chor und sein Leiter, dass ihr Gesang geteilt werden sollte, dass das, was sie sangen, andere trösten und stärken könnte. Also beschlossen sie, ein Video für einen Musikwettbewerb zu drehen, der von der Canadian Broadcasting Corporation (CBC) gesponsert wurde.

Aber die Barmherzigkeit schwillt an und wächst. Der Chor beschloss, inklusiver zu sein und eine der Strophen ins Französische zu übersetzen, um so eine Gruppe mit einer anderen Muttersprache stärker an der Botschaft und dem Trost des Liedes teilhaben zu lassen.

Aber die Barmherzigkeit schwillt an und wächst. Als sie in das Lied hineinwuchsen und das Lied in ihnen wuchs, begann sich in ihnen eine größere Inklusivität zu entfalten, und sie wollten für alle sprechen, die von den Gefühlen und Erfahrungen betroffen waren, die sie nur zu gut kannten. Sie wollten jeden nach Hause singen

Also beschlossen sie, die Gehörlosengemeinschaft mit einzubeziehen. Sie luden ein gehörloses Chormitglied, Paula Coggins, ein, mit ihnen zu singen. Der Newfoundland Deaf Choir half den Schülern, die Gebärdensprache zu lernen und sie als eine wirklich ausdrucksstarke Sprache zu schätzen, die den ganzen Körper als Ausdruck einer tiefen Kultur einsetzt.

Auf dem ergreifend schönen Video ihres Auftritts sehen Sie das Ergebnis ihrer Bemühungen.* Sie sehen Paula Coggins, die mit ihnen in Gebärdensprache singt. Sie werden Aufnahmen von Schülern sehen, die Schilder mit den verschiedenen Gründen hochhalten, warum sie singen. Sie werden eine Reihe von Schülern sehen, die Schilder mit einer gemeinsamen Botschaft hochhalten: »Ich singe, denn wenn ich singe, bin ich zu Hause!« Und Sie werden sehen, wie der gesamte Chor die letzte Strophe in Zeichensprache singt.

Eine winzige Gruppe von einsamen, verängstigten, orientierungslosen und isolierten Menschen hat ein Video geschaffen, das unzählige Menschen in ihrer Einsamkeit, Angst, Orientierungslosigkeit und Isolation integriert, einschließt und erreicht. Ein kleiner Anfang wurde zu etwas großem, weil die Barmherzigkeit anschwillt und wächst.  Und das ist die Geschichte hinter der Geschichte.

»Jede gute Geschichte gebiert andere gute Geschichten.« Rosemarie erzählte uns eine Geschichte über Moses, der ein Lied von Gott lernte, und ließ uns mit dem fragenden Impuls zurück: »Haben wir ein Lied für Zeiten der Not?« Ihre Geschichte weckte in mir die Geschichte der Ennis Sisters, drei Frauen, die eine persönliche Geschichte der Tragödie eines Selbstmordes in der Familie in eine Geschichte in Liedform verwandelten. Genauso wie die Barmherzigkeit, eine gute Geschichte schwillt an und wächst. Im Moment schwillt und wächst es in Ihnen, geliebter Leser.

Mein Freund hat mir dieses Video geschickt, weil dieses Lied sein Herz zum Schwingen gebracht hat.  Es hat ihn auch dazu bewegt, etwas mehr zu tun: »Deshalb schicke ich es dir, weil ich weiß, dass du es in etwas Schönes für andere verwandeln wirst.«

Das habe ich gerade getan.

 

Erik Riechers SAC, 12. März 2021

 * https://www.youtube.com/watch?v=CEIFBbHN0PY

 

 

Ich werde dich nach Hause singen

 

»Haben wir ein Lied für Zeiten der Not?« Die Frage, die Rosemarie in ihrem letzten Impuls gestellt hat, ist bei mir hängen geblieben, seit ich sie gelesen habe. Die Zeile, die mich am meisten beeindruckt hat, war, als sie von Gottes Lied für unruhige Zeiten schrieb:

»Für solche Zeiten hat einst Gott Mose ein Lied diktiert. Mose, am Ende seines Lebens und Leitens, musste es aufschreiben und das Volk lehren, das Volk musste es auswendig lernen für Zeiten der Not und Bedrängnis, die auf satte, selbstzufriedene Zeiten zu folgen pflegen.«

Die schiere Lieblichkeit der Szene berührte mich. Was für eine wundersame Liebe ist das, die innehält, um uns ein Lied beizubringen, es auswendig zu lernen und dafür zu sorgen, dass es Teil des Werkzeugkastens des Herzens ist, bereit, wenn die Notwendigkeit entsteht?

Nun bin ich sicher, dass viele von uns von dieser Szene berührt sind. Die Frage ist, ob wir von dieser Szene bewegt werden. Würden wir diesem Vorbild Gottes folgen?

In Neufundland, Kanada, hat ein singendes Schwesterntrio ein solches Lied komponiert. Die Ennis-Sisters schrieben ein Lied mit dem Titel »I will sing you home« (Ich werde dich nach Hause singen). Es wurde aus einer tragischen, schmerzhaften und emotional belastenden Erfahrung in ihrem Leben geboren. Ein junger Cousin von ihnen nahm sich das Leben. Maureen, eine der Schwestern, erzählt:

»Als das mit Steve passierte, war das ein ziemlicher Schock für unsere Familie, und in diesem Winter, als ich durch diese Art von Trauer ging, hatte ich wirklich keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Also schlug mein Schreibpartner Mark Murphy vor, dass wir uns hinsetzen und einen Song schreiben, und so entstand der Song an einem sehr notwendigen Punkt in meinem Leben, an dem ich versuchte, durch die Trauer zu heilen.« * Das war im Jahr 2008.

Seitdem haben viele Hunderte von Menschen dieses Lied gesungen, um durch die Wirren ihrer persönlichen unruhigen Zeiten zu navigieren. Im Jahr 2015 sangen die Ennis-Sisters das Lied als Teil der Gedenkfeier für die gefallenen Soldaten während des 100. Jahrestages der katastrophalen Schlacht von Beaumont-Hamel während des Ersten Weltkriegs. Im Jahr 2019 standen die drei Schwestern am Strand von Juno in der Normandie und sangen ihr Lied zum 75. Jahrestag des D-Day.

Maureen, Karen und Teresa, die Ennis-Schwestern, folgten Gottes Vorbild. Erstens schrieben sie ein Lied für unruhige Zeiten. Zweitens nahmen sie eine zutiefst persönliche Erfahrung und teilten sie mit anderen und lehrten sie ein Lied für ihre eigenen unruhigen Zeiten. Drittens: Unzählige Menschen lernten das Lied auswendig. Man kann sie bei ihren Konzerten, bei diesen Gedenkfeiern, mitsingen sehen, ohne Noten und Liedblätter. Und schließlich bringen die Menschen das Lied in Zeiten der Not hervor. Sie singen es dort, wo Trauer sie einhüllt, Kummer sie überwältigt, Verzweiflung ihr ständiger Begleiter ist und die Rohheit des Lebens einen lindernden Balsam braucht.

Was Gott für Mose tat, taten die Ennis-Sisters für andere in ihrer Welt. Und wenn Menschen tun, was Gott getan hat, glaube ich, dass wir an einem privilegierten Ort stehen, einem heiligen Ort, einem Ort, an dem Gott mit der geliebten Gemeinschaft wohnt.

Und ich glaube, sie haben eine schöne Formulierung gefunden, um den heiligen, heilenden Fluss zu beschreiben, den Gott in längst vergangenen Tagen in Bewegung gesetzt hat. »Ich werde dich nach Hause singen.« Das ist es, was Gott für sein Volk tut, bis zum heutigen Tag. Es ist das, was sein Volk füreinander tut, wenn es ganz nah an seinem großartigen Herzen lebt. So klingt ein solcher Moment in der Lyrik der Ennis Sisters.

Too soon to leave this earth.                             Zu früh, um diese Erde zu verlassen.

How could all your work be done?                      Wie könnte all deine Arbeit fertig sein?

Ash to ash and dust to dust.                              Asche zu Asche und Staub zu Staub.

Seemed to me you’d just begun                        Es schien mir, als hättest du gerade erst begonnen.

 

When grief invades my soul                               Wenn Kummer in meine Seele eindringt,

there's comfort in a prayer, I find.                      gibt es Trost in einem Gebet, finde ich.

Though these candles honor you                          Obwohl diese Kerzen dich würdigen,

They burn for those you left behind.                   brennen sie für die, die du zurückgelassen hast.

Chorus:

I'll sing for you because I need to                    Ich werde für dich singen, weil ich es muss.

Right now this is all I know                             Im Moment ist das alles, was ich weiß.

I’ll sing so we will not forget you                     Ich werde singen, damit wir dich nicht vergessen.

I will sing you home                                        Ich werde dich nach Hause singen.

I will sing you home                                        Ich werde dich nach Hause singen.

 

Know that you will live                                       Wisse, dass du leben wirst

on the lips of those who knew,                         auf den Lippen derer, die wussten,

what it was you had to give                               was du zu geben hattest

and what it was they learned from you.              und was sie von dir gelernt haben.

 

This is my prayer for you.                                  Dies ist mein Gebet für dich.

and maybe someday I will know,                         Und vielleicht werde ich eines Tages wissen,

if it helped your journey home,                          ob es dir auf deiner Reise nach Hause geholfen hat,

or if it helped me let you go.                              oder ob es mir geholfen hat, dich gehen zu lassen.

Chorus

 

We're born unto this earth,                                Wir werden auf diese Erde geboren,

generations one by one.                                    eine Generation nach der anderen.

Ash to ash and dust to dust,                              Asche zu Asche und Staub zu Staub,

there is nothing left undone.                              es bleibt nichts ungeschehen.

Chorus

 

Wir leben im Moment in ziemlich unruhigen Zeiten. Vielleicht könnten wir diese große Tradition aufgreifen.  Vielleicht könnten wir über unseren persönlichen Kummer und Kampf hinausgehen und ihn für andere öffnen. Vielleicht können wir uns gegenseitig sagen: »Ich singe dich nach Hause«. Es ist ein Werk, das Gottes würdig ist.

*CBC News, October 29, 2015

 

Erik Riechers SAC, 10. März 2021

 

 

Haben wir ein Lied für Zeiten der Not?

 

Satt an so vielem waren wir lange - und wären es gern wieder.

Götzen folgten wir - und merkten es nicht.

Selbstsicher planten wir unsere Tage -  und dachten, es gehe immer so weiter.

Wir hatten alles im Griff - nun stehen wir auf schwankendem Boden.

Nichts ließen wir uns sagen - nun kleben wir an jeder Stimme.

Doch: Welche ist richtig? Welcher sollen wir folgen? Wo geht es hin?

Kleine Boote und große Schiffe wanken allesamt. Wir klammern uns an dünne Stäbe: Zahlen, Regelungen, Verordnungen - was gilt heute, was morgen?

Wo ist fester Grund, ein Fels in der Brandung, verlässlich und treu?

Für solche Zeiten hat einst Gott Mose ein Lied diktiert. Mose, am Ende seines Lebens und Leitens, musste es aufschreiben und das Volk lehren, das Volk musste es auswendig lernen für Zeiten der Not und Bedrängnis, die auf satte, selbstzufriedene Zeiten zu folgen pflegen.

So beginnt dieses alte Lied:

Hört zu, ihr Himmel, ich will reden, die Erde lausche meinen Worten. Meine Lehre wird strömen wie Regen, meine Botschaft wird fallen wie Tau, wie Regentropfen auf das Gras und wie Tauperlen auf die Pflanzen. Ich will den Namen des HERRN verkünden. Preist die Größe unseres Gottes! Er heißt: Der Fels. Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade. Ein falsches, verdrehtes Geschlecht fiel von ihm ab, Verkrüppelte, die nicht mehr seine Söhne sind. Ist das euer Dank an den HERRN, du dummes, verblendetes Volk? Ist er nicht dein Vater, dein Schöpfer? Hat er dich nicht geformt und hingestellt? Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen. (Dtn 32, 1-7)

Ausführlich erzählt das Lied weiter die ganze Geschichte des Volkes, einst auserwählt, gerettet und geführt und irgendwann satt und gottvergessen geworden.

Finden wir und hören wir ein solches Lied, das singt

            von Verlässlichkeit und Treue unseres Gottes, der war und ist und sein wird,

            der auf uns wartet wie ein Vater und dem wir uns anvertrauen können?

Und wenn wir selbst ein solches Lied noch kennen -

            singen wir es denen, die es nicht kennen?

In einer Zeit der Krise sagte Simon Petrus zu Jesus: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.« (Joh 6, 68)

Huub Oosterhuis lässt uns singen:

»Sprich du das Wort, das tröstet und befreit und das mich führt in deinen großen Frieden. Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und lass mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.«

Ja, wir haben Worte und Lieder für schwere Zeiten. Üben wir sie wieder in unserem heiligen Frühling!

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. März 2021

 

 

Was für ein Haus ist dies?

3. Fastensonntag B 2021                                      Joh 2, 13-22

 

Alle vier Evangelien erzählen die Geschichte von Jesus, der den Tempel reinigt. Aber während Matthäus, Markus und Lukas die Geschichte gegen Ende des Evangeliums erzählen, in der Zeit, in der die Passion und das Leiden Jesu beginnt, trifft Johannes eine mutige andere Wahl. Er erzählt uns diese Geschichte ganz am Anfang des Evangeliums, als Jesu öffentliches Wirken gerade beginnt.

Was am Anfang einer Geschichte geschieht, weckt eine Erwartung. Wir behalten das Ereignis im Hinterkopf, weil wir sehen wollen, wie sich das Ganze entwickelt. Wenn sich die Geschichte entfaltet, beginnen wir die umfassendere Bedeutung und Kraft des früheren Ereignisses zu verstehen und erkennen, dass es hier mehr gab, als wir vermutet hatten.

Indem Johannes die Reinigung des Tempels an den Anfang der Geschichte stellt, zeigt er uns bereits etwas, das eine unverwechselbare und bedeutende Rolle in der Art und Weise spielen wird, wie Jesus uns durch das Leben begleitet. Die Tempelreinigung ist eine Geschichte der Störung, der Bereitschaft, laut zu sein, wenn andere sich hinter leisen Tönen verstecken, und des Sprechens und Lebens der klaren Wahrheit an Orten, wo Menschen das Entgegenkommen als den Weg des geringsten Widerstands wählen. Wenn wir diese Geschichte am Ende eines Evangeliums lesen, suggeriert sie, dass dies einer der Gründe ist, warum Jesus schließlich verhaftet, verurteilt und hingerichtet wird. Aber indem Johannes sie ganz an den Anfang der Geschichte stellt, sagt er uns, dass dies eine Einstellung zum Leben und zum Glauben ist, die von Anfang an zu Jesus gehört, ein wesentlicher Teil dessen, wer er ist und wie er lebt. So wird sie zu einem wesentlichen Teil dessen, was wir Lehrlinge von unserem Lehrmeister lernen werden.

In dieser Geschichte werden wir vor den Jesus gestellt, der nicht stillschweigend alle beteiligten Parteien beschwichtigt. Er ist bereit und ganz und gar in der Lage, in Angelegenheiten, die ihm am Herzen liegen, konfrontativ zu sein.

Das wiederum wirft die Frage auf, was war ihm so wichtig, dass er Tische umwarf? Was geschah hier, das ihn dazu brachte, sich offen, deutlich und öffentlich damit auseinanderzusetzen? Welchen Schaden oder welche Gefahr sah Jesus hier, die ihn dazu brachte, so zu reagieren?

Der Tempel war als eine Reihe von Höfen angelegt, die immer näher an das Allerheiligste heranrückten. Es gab einen Vorhof für die Heiden, zu dem jeder Zugang hatte. Darauf folgte ein Hof für die Frauen, dann ein Hof für die Männer, dann der Hof der Priester und schließlich das Allerheiligste. Jeder aufeinanderfolgende Vorhof wurde selektiver in Bezug darauf, wer näher an die heiligste Wohnstätte Gottes herankommen durfte.

So war der erste Hof, der Hof der Heiden, der demokratischste, egalitärste Ort im Tempel. Er war für Juden und Nichtjuden gleichermaßen zugänglich, für Männer und Frauen, und sogar die Unreinen durften ihn betreten. So war es der einzige Ort im Haus Gottes für alle Menschen. Für viele war es der einzige Ort im Haus Gottes, weil ihnen aufgrund ihres Glaubens, ihres Geschlechts, ihres religiösen Status oder ihrer rituellen Unreinheit der Zugang zu keinem anderen Hof gestattet war.

Jesu Reaktion auf die Geschäfte, die hier getätigt wurden, hat damit zu tun. Der eine Ort im Tempel, der jeden, der eintreten wollte, aufnehmen sollte, wurde zu einem Ort der Geschäfte und der Marktkräfte. Und eine Sache, die wir alle über Märkte wissen, ist, dass sie immer ein Ort der Trennung werden.

Indem sie ihre Stände hier aufstellen, lassen die Händler ein Gift in den Tempel eindringen: Kannst du es dir leisten, hier zu sein? Wenn wir eine beliebige Straße mit Geschäften und Restaurants entlanggehen, praktizieren wir unbewusst diese subtile Form der Trennung und Ausgrenzung. Wir lesen die Speisekarte, die draußen vor dem Restaurant aushängt, schauen uns die Preise an und wissen dann, ob wir uns diesen Ort leisten können. Die Geschäfte, in denen wir einkaufen, wählen wir stillschweigend nach diesem Kriterium aus: Kann ich mir diesen Laden leisten? Wenn wir das Geld nicht haben, gehen wir nicht hinein. So funktionieren Marktplätze.

Die Armen würden also den Vorhof der Nichtjuden betreten und schnell merken, dass sie es sich nicht leisten können, hier zu sein. Sie hatten kein Geld für die Tieropfer, die für die Reinigungsrituale benötigt wurden. Es ist vergleichbar mit Orten in der Welt, wo Menschen ihre Kinder nicht getauft oder ihre Ehen nicht gefeiert haben, weil sie sich das Stipendium oder die Gebühr nicht leisten konnten. Das ist etwas, das Papst Franziskus zutiefst stört und das er immer wieder in Frage stellt.

Es beunruhigt Papst Franziskus, denn das ist es, was Jesus beunruhigt. Wie konnte der Eingang zum Haus seines Vaters der Ort sein, wo die erste und entscheidende Frage war: Kannst du es dir leisten, hier zu sein? Haben Sie schon einmal ein ziemlich teures Geschäft betreten, um einfach nur zu schauen, und gesehen, wie das Personal Sie mustert und Ihnen den deutlichen Eindruck vermittelt, dass sie daran zweifeln, dass Sie sich ihre Produkte leisten können?

Die erste und entscheidende Erfahrung beim Betreten des Hauses Gottes ist ein uneingeschränktes Willkommen. Jesus sagt: der Eingang zum Haus meines Vaters ist ein Ort, an dem alle willkommen sind. Aber diese erste Erfahrung und Begegnung mit Gott ist nicht elitär. Sie findet in der reichen, chaotischen Mischung der Menschen statt, in jeder Schattierung, in der sie kommen. Das Beste und das Schlechteste, was wir zu bieten haben, sind hier willkommen. Wo Männer und Frauen, Junge und Alte, Reiche und Arme, Sünder und Heilige und alles, was dazwischen liegt, zusammenkommen können und sich willkommen wissen, da ist der Ort, an dem die Begegnung mit Gott beginnt.

Und Jesus scheut sich nicht, dies beim Namen zu nennen, es auszusprechen und zu konfrontieren. Er tut dies offen und öffentlich.

Das ist die Herausforderung unseres Lehrmeisters. Wir schauen nur allzu leicht weg, wenn die Dinge unbequem sind. Wir benennen Ungerechtigkeit nicht so leicht. Denn es gibt einen versteckten Trick in dieser Geschichte. In der Tat hätte Jesus leicht schweigen können, denn er konnte es sich leisten, dort zu sein. Seine Umstände schlossen ihn nicht aus, das Haus des Herrn zu betreten. Deshalb wendet er sich gegen eine Ungerechtigkeit, die ihn nicht direkt betrifft. Er erhebt seine Stimme für andere. Er stößt die Tische für die Ausgeschlossenen um.

Die Kirche wird in diesen Tagen von vielen Problemen heimgesucht, von denen sie viele selbst verursacht hat. Aber das schwerwiegendste Problem, dem wir als Volk Gottes heute gegenüberstehen, ist die Frage, wie wir den Ausgangspunkt für die Begegnung mit Gott setzen. Wenn wir nicht mit unterschiedsloser Liebe und Begrüßung beginnen, verwandeln wir den Eingang zu Gottes Haus zu einem Marktplatz. Wenn die erste Frage lautete: Sind sie moralisch genug, religiös genug, rein genug? dann fragen wir: Kannst du dir diesen Ort leisten?

Religiös elitäre Gruppen praktizieren das bis heute. Sie wollen nur die Menschen aufnehmen, die sie für würdig erachten, die in ihr Bild von »angemessen« passen, die ihre Kriterien erfüllen. Wenn andere nicht das haben, was die elitären Menschen suchen, lassen sie sie unmissverständlich wissen, dass sie es sich nicht leisten können, dort zu sein. Manche bauen Schulen, die nur die Kinder der wohlhabenden Elite aufnehmen. Ich habe gesehen, wie religiöse Gemeinschaften ihre Häuser in Zufluchtsorte umbauen, die sich nur die Wohlhabenden leisten können und die Dienstleistungen anbieten, die sich keine gewöhnliche Frau oder kein gewöhnlicher Mann aus der Arbeiterklasse leisten kann. Ich habe spirituelle Angebote gesehen, die ganz auf die Chefetagen von Unternehmen zugeschnitten sind. Sie wurden geschaffen, um die Mächtigen, die Einflussreichen und die Oberschicht der Geschäftswelt zu bedienen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihrer Agenda zu dienen. Es besteht kein Zweifel, dass man die Prüfung der Tempelkaufleute bestehen muss, um in diese Welt einzutreten.

Ich habe auch den großen einladenden Geist Jesu gesehen, in Gemeinschaften, die deutlich machen, dass Geld kein Hindernis ist, um die beste seelsorgerische Betreuung und geistliche Begleitung zu erhalten. Ich kenne großartige Diener des Evangeliums, die dafür sorgen, dass jeder Mensch die seelsorgerische Betreuung erhalten kann, die er braucht, unabhängig von seiner Fähigkeit zu zahlen. Sie gehen die Extrameile, um sicherzustellen, dass sich niemand unwohl, unerwünscht oder »zweiter Klasse« fühlt, nur weil er nicht genug Geld hat.

Der Ausgangspunkt kann nicht sein, was wir zum Haus Gottes bringen können, sondern wonach wir in diesem Haus suchen.

Das ist der Grund, warum Johannes diese Geschichte an den Anfang seines Evangeliums stellt. Das ist der Ort, an dem alles beginnt. Die Kultur des ersten Willkommens, der ersten Begegnung, des ersten Kontakts: sie wird den Rest der Geschichte bestimmen. Wir müssen den Tempel mit der gleichen Leidenschaft reinigen wie Jesus. Es ist schließlich die Art und Weise, wie wir die Türen zum Haus Gottes für eine wartende Welt öffnen.

 

Erik Riechers SAC, 7. März 2021

 

 

Verzweiflung oder Verheißung?

 

Wir Heutigen tun uns schwer mit dem Wort Verheißung, wenn es um unser persönliches Leben geht. Wir sind gewohnt, so viel mehr Möglichkeiten zu haben als die Menschen in biblischen Zeiten, dass wir schon lange auf der Spur marschieren, sehr viel oder sogar alles selbst in der Hand zu haben und auch regeln zu müssen. Ein Beispiel erleben wir gerade weltweit. Eine Pandemie breitet sich seit über einem Jahr aus und gleichzeitig entwickeln Wissenschaftler in noch nie dagewesenem Tempo Impfstoffe dagegen, die nun schon verabreicht werden können. Das ist außergewöhnlich und wunderbar. Doch stärkt es auch in uns das Gefühl, dass wir uns selbst retten können und müssen und das übertragen wir unbewusst auf alle Bereiche unseres Lebens.

Doch was, wenn es nicht funktioniert? Wenn meine Krankheit nicht heilbar ist? Wenn Menschen mich zutiefst enttäuschen und verletzen und ich dem nichts entgegensetzen kann und machtlos bin? Wenn ein treuer Gefährte von mir ging und ich die Leere mit nichts füllen kann? Bleiben dann nur noch Resignation und Verzweiflung? Oder öffnen sich gerade hier ganz andere Möglichkeiten und Wege, meiner Verheißung auf die Spur zu kommen?

Fortschritt und Säkularisation ließen etwas in uns verloren gehen. Der Mensch der Bibel dagegen sah es klar, nämlich dass der quälende Schmerz Raum und Zeit braucht. Und darin konnte er sich an Gott wenden, dem er das, was ihn bedrängte, ungeschönt ans Herz legte. So wurde es ihm möglich, einen neuen Blick auf seine Verheißung zu finden. Psalm 77 ist ein starkes Beispiel dafür. Der Beter nimmt in seiner Not kein Blatt vor den Mund. Er schreit und klagt, sein Geist ist verzweifelt und dreht sich bei Nacht im Kreis - das kennen wir doch. Und dann fragt er: Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist? Oder hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen? (Ps 77, 10) Und im nächsten Vers hält er inne und sagt zu sich selbst: Das ist mein Schmerz, dass die Rechte des Höchsten so anders handelt? Ich denke an die Taten des HERRN, ja, ich will denken an deine früheren Wunder. (Ps 77, 11-12) Er erinnert sich der Heilsgeschichte seines Volkes und der Treue Gottes und kann sich wieder hineinbegeben in die Gemeinschaft aller Träger der Verheißung von Leben und Zukunft.

So schnell und leicht, wie es hier klingen mag, geht dies jedoch nicht und das weiß jeder, der ehrlich durch Schmerzenszeiten seines Lebens geht. Wie oft hat Gott seine Verheißung an Abraham wiederholt! Wie eindringlich und bis zur Erschöpfung haben die Propheten das Volk Israel an die Verheißung erinnert! Denn der Weg ist lang und oft irritierend. Ja, es braucht langen Atem und treue Gefährten und vielleicht auch den Rat, den Henri Nouwen uns für solche Zeiten gibt: »Klammere dich an die Verheißung«. Den Zugang zu ihr finden wir nicht draußen; es hilft uns nicht, allen möglichen Menschen unsere Geschichte zu erzählen. »Du musst dich der Außenwelt verschließen«, rät Nouwen, »so kannst du durch deinen Schmerz dein eigenes Herz und das Herz Gottes betreten. Gott wird dir die Menschen schicken, mit denen du deine Bedrängnis teilen kannst und die dich der wahren Quelle der Liebe näher bringen.«  Dann erinnert er daran, dass Gott seinen Verheißungen treu bleibt und uns in diesem Leben die Liebe, die wir ersehnen, schenken wird. »Es wird nicht so kommen, wie du es erwartest. Deinen Bedürfnissen und Wünschen wird nicht gefolgt werden. Aber dein Herz wird erfüllt und dein tiefstes Verlangen gestillt sein. An nichts anderes als an diese Verheißung halte dich. Alles andere wurde dir genommen. Klammere dich an diese nackte Verheißung im Glauben. Dein Glaube wird dich heilen.« (aus: Henri J.M. Nouwen, Die innere Stimme der Liebe, 51998)

Wir alle leben, weil eine Verheißung auf uns liegt - uralt und ewig jung. Gehen wir mit ihr und halten sie wach in uns, damit wir uns ihrer erinnern, wenn der Zweifel nagt und Verzweiflung droht.

 

Rosemarie Monnerjahn, 5. März 2021

 

 

Frühlingsmenschen

 

Die Fastenzeit sollte für uns ein Heiliger Frühling sein. Während fast jeder den Charme und die Anziehungskraft dieses Bildes spürt, trägt der Frühling auch eine geistliche Herausforderung und eine geistliche Verantwortung in sich. Er ruft uns auf, ein Volk der Hoffnung zu sein.

Meine Mutter war eine Tochter des Frühlings. An jedem 1. März verkündete sie laut und für uns alle, dass der Frühling offiziell begonnen habe. Diese Erklärung war in der Tat kühn, denn auf den kanadischen Prärien herrschte der Winter noch mit ungebrochener Macht über unser Leben. Die Temperaturen waren kalt, der Wind eisig und der Schnee tief. Außerdem wussten wir alle, dass die Herrschaft des Winters bis in den April und gelegentlich sogar bis in den Mai hinein andauern würde.

Deshalb neckte ich meine Mutter sanft mit ihrer Erklärung des offiziellen Frühlingsbeginns, indem ich auf die vorherrschenden Bedingungen hinwies. Mit ungebrochener Entschlossenheit rezitierte sie dann eine Strophe aus einem Gedicht, das sie als Kind gelernt hatte.

 Und dräut der Winter noch so sehr

Mit trotzigen Gebärden,

Und streut er Eis und Schnee umher,

Es muss d o c h Frühling werden.

Dies ist die erste Strophe eines Gedichtes von Emanuel Geibel (1815-1884). Das Gedicht trägt den Titel Hoffnung

In Hebräer 11,1 lesen wir diesen Satz: »Der Glaube aber ist die Gewissheit dessen, was man hofft, und die Überzeugung dessen, was man nicht sieht.« Und das ist es, was meine Mutter jedes Jahr praktiziert hat. Sie glaubte an wärmere, sanftere Tage, die vor ihr lagen, während die Winterwinde um sie peitschten. Sie war sich eines neuen blühenden Lebens sicher, während Eiszapfen von jedem Baumzweig hingen. Sie war von der Herrlichkeit des Frühlings überzeugt, während unerbittliche Kälte ihre Knochen kühlte. Das ist es, was die Menschen des Frühlings tun: Sie trotzen den momentanen Erfahrungen der winterlichen Jahreszeit und beginnen bereits, anders zu leben, weil sie überzeugt sind, dass neues Leben kommt.

Meine Schwester ist eine solche trotzige Tochter des Frühlings. (Durch die Adern der Frauen meines Clans fließt die größte Kraft). Jeden Frühling wirft sie mit atemberaubendem Trotz ihre Socken ab und läuft barfuß in ihren Sandalen, egal wie oft der Winter mit Schnee zurückkehrt, wie oft die Kälte sich wieder durchsetzt und wie bitter die Winde über die Prärien wehen. Auch ich habe sie im Laufe der Jahre sanft geneckt, aber wenn die Socken einmal ausgezogen sind, gibt es kein Zurück mehr. Das ist es, was die Menschen des Frühlings tun: Sie fangen bereits an, anders zu leben, denn sie sind zuversichtlich, dass neue Jahreszeiten kommen.

Als der überraschende Wintereinbruch hier in Deutschland dieses Jahr kam, ging meine Kollegin barfuß durch den aufgetürmten Schnee in ihrem Garten spazieren. Ein kleiner, humorvoller und fröhlicher Akt des Trotzes angesichts der winterlichen Jahreszeit. Das ist es, was die Menschen des Frühlings tun: Sie weigern sich, sich von der vorherrschenden Erfahrung des Augenblicks diktieren zu lassen, wie sie leben werden. Es gibt eine wilde Ader des Widerstands in ihnen.

Das ist es, was die 40 Tage des Heiligen Frühlings in uns wiederherstellen wollen. Ich schenke Ihnen die Worten einer Hymne, die in meiner Heimat und meinem Heimatland so beliebt ist: »Now the Green Blade Riseth«. Es ist ein Lied der Hoffnung für die geliebte Gemeinschaft, die sich durch die vierzig Tage bewegt. Es ist das Lied all derer, die inmitten der winterlichen Jahreszeit frühlingsgläubig bleiben, die Socken abstreifen und barfuß durch den Schnee gehen. Es ist das Lied des Widerstands für die Menschen der Frühlingszeit.

 

Nun erhebt sich der grüne Halm, aus dem vergrabenen Korn,

Weizen, der in dunkler Erde viele Tage gelegen hat;

Die Liebe lebt wieder, die bei den Toten gewesen ist:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.

 

In das Grab legten sie ihn, die Liebe, die erschlagen worden war,

und dachten, dass Er nie mehr erwachen würde,

In die Erde gelegt wie Korn, das ungesehen schläft:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.

 

Wie das auferstandene Korn kam er zu Ostern wieder,

Jesus, der drei Tage im Grab gelegen hatte;

Schnell von den Toten wird der Auferstandene gesehen:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.

 

Wenn unsere Herzen winterlich sind, trauern oder Schmerzen haben,

kann die Berührung Jesu uns wieder ins Leben zurückrufen,

Felder unseres Herzens, die tot und kahl gewesen sind:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.*

 * Eine wunderschöne Version mit der englischen Lyrik könne Sie hier hören:

 https://www.youtube.com/watch?v=En28Je8ehDs

 

Erik Riechers SAC, 3. März 2021

 

 

Der Einsamkeit auf der Spur

 

Eine der zunehmenden Plagen und Klagen unserer modernen Welt ist das Leiden an Vereinsamung. Die Pandemie hat diese Not verstärkt und es lohnt sich, das Phänomen der Einsamkeit tiefer zu betrachten.

Eine junge Frau, damals Anfang 20 und aufgrund ihrer sich entfaltenden Treue zu sich selbst und ihren ganz eigenen Begabungen sehr vertraut mit diesem Gefühl, sagte mir vor vielen Jahren: »Mir wird immer klarer, dass wir Menschen allein auf diese Welt kommen und am Ende allein von ihr gehen.« Sie begann zu akzeptieren, dass das Gefühl des Alleinseins zum Leben dazu gehört.

An sie musste ich unwillkürlich denken, als mir in diesen Tagen ein Text von Henri Nouwen begegnete. Er stammt aus einem Buch, das Nouwen selbst sein »geheimes Tagebuch« nannte und während einer sehr schwierigen Zeit seines Lebens schrieb. In großer Not ging er damals selbst gewählt ins Exil und schrieb alles, was er durchmachte und lernte, Schritt für Schritt auf. Natürlich spielte da das Gefühl der Einsamkeit eine bedeutende Rolle und er appelliert aus seinen eigenen Erfahrungen heraus, sich ihrer Quelle zu nähern:

»Immer wenn du dich einsam fühlst, musst du versuchen, den Ursprung dieses Gefühls ausfindig zu machen. Du neigst dazu, entweder vor deiner Einsamkeit davonzulaufen oder dich in ihr niederzulassen.  Wenn du vor ihr davonläufst, verringert sie sich in Wirklichkeit nicht, du verdrängst sie einfach nur für kurze Zeit aus deinem Bewusstsein. Lässt du dich in ihr nieder, verstärken sich lediglich deine Gefühle, und du gleitest in Depressionen.

               Die geistliche Aufgabe, die sich dabei stellt, besteht nicht darin, deiner Einsamkeit zu entfliehen, und auch nicht, sich in sie hineinziehen zu lassen, sondern ihre Quelle ausfindig zu machen, ihrem Grund nachzugehen. Es ist kein einfaches Unterfangen, doch gelingt es dir, den Ort, von dem diese Gefühle ausgehen, irgendwie zu ermitteln, werden sie an Macht über dich verlieren. Das Ermitteln dieser Quelle ist keine intellektuelle Aufgabe, sondern eine Aufgabe des Herzens. Du musst mit deinem Herzen und ohne Furcht nach diesem Ort suchen.

               Diese Suche ist wichtig, denn sie führt dich dazu, etwas Gutes über dich selbst zu entdecken. Das Erleiden deiner Einsamkeit mag im Tiefsten deiner Berufung verwurzelt sein. Du könntest darauf stoßen, dass deine Einsamkeit mit einer Berufung zusammenhängt, voll und ganz für Gott zu leben. Dadurch könnte sich deine Einsamkeit als die andere Seite deines einzigartigen Geschenks erweisen. Sobald du diese Wahrheit in deinem innersten Sein erfahren kannst, wirst du deine Einsamkeit nicht nur als erträglich, sondern sogar als fruchtbar empfinden. Was zuerst als ein Schmerz erschien, mag sich danach als ein - wenn auch schmerzliches - Gefühl erweisen, das dir den Weg zu einem tieferen Wissen von Gottes Liebe eröffnet.« (aus: Henri J.M. Nouwen, Die innere Stimme der Liebe,5  1998)

    Die junge Frau von damals näherte sich ihrer Einsamkeit an, vorsichtig, mit zunehmend weniger Furcht und wachsender Offenheit. Dabei kam sie sich immer mehr auf die Spur und fand schließlich wunderbare, herzensnahe Gefährten.

Sie wurde immer mutiger und authentischer, um frei und in Verantwortung vor Gott und sich selbst ihr Leben immer wieder neu zu wagen. Und sie hat keine Angst mehr vor der Einsamkeit!

 

Rosemarie Monnerjahn, 1. März 2021

 

 

Die Geschichte zweier Verklärungen

2. Fastensonntag B 2021                                      Mk 9, 2-10

 

Jeden zweiten Sonntag der Fastenzeit hören wir diese Geschichte der Verklärung. Das erste, was geschieht, ist, dass unser Auge auf das verwandelnde Licht gelenkt wird, das Jesus umhüllt. Die Geschichte lenkt unseren Blick auf die Herrlichkeit. Doch unser Ohr wird von der Stimme des Herolds aus dem Himmel angezogen. Die Klänge und der Anblick dieser Geschichte bewegen uns in sehr unterschiedliche Richtungen. Denn in dem Moment, in dem die Stimme aus den Höhen des Himmels unser Ohr erreicht, lenkt ihre Botschaft unseren Blick zurück auf die Person Jesu. Außerdem betont die Stimme, was sie in Jesus sieht und liebt, und das ist weder das Licht noch die Herrlichkeit. Es ist das Geliebtsein.

Deshalb dachte ich, dass ich mich heute auch in das Geschehen einmische und Ihren Blick weg von der Mitte der Bühne lenke. Stattdessen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die andere Seite der Geschichte lenken, wo Petrus, Jakobus und Johannes zusammengekauert sind, fasziniert und verwirrt zugleich. Das ist unsere Seite der Geschichte. Charles Dickens schrieb einst einen Roman mit dem Titel: »Eine Geschichte zweier Städte«. Nun, meine Brüder und Schwestern, dies ist eine Geschichte zweier Verklärungen. Gegenüber dem Trio von Jesus, Mose und Elija gibt es eine Gruppe von drei Personen, die ebenfalls allmählich verklärt werden durch das, was sie sehen und hören. Und aus ihrer Mitte heraus spricht Petrus einen wichtigen Satz aus: »Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind«.

Diese Geschichte erzählt uns recht anschaulich, wie Petrus, Jakobus und Johannes zu diesem verwandelnden Moment kamen:

  1. In jener Zeit nahm Jesus Petrus, Jakobus und Johannes beiseite und führte sie auf einen hohen Berg, aber nur sie allein.

Sie stiegen mit Jesus auf den Berg und bewegten sich aus der alltäglichen Erfahrung heraus zu einem privilegierteren Moment auf dem Berggipfel, wo man einen größeren Überblick über das Leben und die Welt hat und ein wenig isolierter von der Hektik der Täler und Ebenen ist.

  1. Und er wurde vor ihnen verwandelt; seine Kleider wurden strahlend weiß, so weiß, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann. Da erschien ihnen Elija und mit ihm Mose und sie redeten mit Jesus.

Plötzlich erscheint der ihnen so vertraute Jesus in einem ganz anderen Licht. Seine ganze Erscheinung verändert sich, und sie sehen ihn von einer Seite, die sie noch nie erlebt haben. Mose und Elia erscheinen prächtig neben ihm, und zum ersten Mal erkennen sie die weite Welt seiner Beziehungen, eine Welt, die deutlich größer ist als die, in der sie bisher mit ihm gewacht und gesprochen und das Brot gebrochen haben. Wie alle transformativen Erfahrungen lässt auch diese sie alte Dinge mit neuen Augen sehen, alte Beziehungen in einem neuen Licht.

  1. Petrus sagte zu Jesus: Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte; denn sie waren vor Furcht ganz benommen.

Petrus übernimmt hier das Reden, aber er spricht im Namen seiner Gefährten und, wenn wir ehrlich sind, auch für uns. Wer möchte einen solchen Moment hinter sich lassen? Wir sind uns der Bedeutung solcher Stunden tief genug bewusst, dass wir wissen, es gibt hier mehr, als wir auf einmal erfassen und aufnehmen können. Wir brauchen mehr Zeit. Wir müssen ein wenig verweilen.

Petrus will drei Hütten bauen, weil er in dieser Erfahrung verweilen und diesen Moment festhalten will.

Immer wieder wird Petrus von Predigern für diese Haltung heftig kritisiert. Ich werde meine Stimme nicht in diesen Chor der Beschwerden einreihen. Schließlich bin ich genau wie er. Jeder Ort, der mich jemals »in seinen Bann gezogen« hat, hat mich dazu gebracht, drei Hütten bauen zu wollen, zu bleiben, zu genießen und auszukosten. An jedem Ort, bei jeder Gelegenheit und in jedem Moment, der mich in seinen Bann gezogen hat, habe ich nicht ein einziges Mal den Drang verspürt, wegzugehen.

Ich bezweifle ernsthaft, dass es die Aufgabe dieses Moments ist, gehen zu wollen. Die Frage könnte besser umformuliert werden: Was werden wir tun, wenn dieser Moment endet? Ist es nicht möglich, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben, und gehört haben, was wir gehört haben, an andere Orte zu gehen, die weniger aufregend und kaum so überwältigend sind, und dennoch das Geliebtsein Christi zu suchen und zu sehen und zu benennen, so deutlich wie die Stimme, die aus den Wolken dröhnt? Ist es möglich, dass wir anderswohin gehen und trotzdem von den weniger überragenden Momenten und weniger dramatischen Orten des Lebens sagen: »Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind«?

Ich kann nicht anders, als Petrus zu mögen. Er ist uns so ähnlich. Sein Instinkt ist unser Instinkt, und unser Instinkt in diesen Momenten der Herrlichkeit ist es, zu versuchen, die Erfahrung einzufangen. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass wir in diesem Moment nicht wirklich wissen, was wir sagen sollen, denn unsere eigene Erfahrung sagt uns, dass diese Strategie schlecht enden wird, wenn wir sie versuchen. So bringen wir Wein aus dem Urlaub mit, aber er schmeckt zu Hause einfach nicht so gut. Wir bringen das Rezept für das Essen, das uns begeistert hat, mit nach Hause und kochen es in unserer eigenen Küche, aber es ist nie wirklich dasselbe. Warum eigentlich nicht? Weil echte Momente der Verwandlung sich immer unseren Einkerkerungsversuchen entziehen. Wir können sie nicht festhalten. Es funktioniert nicht in den Welten unserer Erinnerungen und nicht in unseren Videoclips, Selfies und Facebook-Posts. Welche Hütten wir auch immer bauen, sie können den reinsten, tiefsten Teil der transformierenden Erfahrung nicht festhalten.

Wir müssen uns also an die verwandelnden Momente unseres Lebens erinnern und etwas genauer darüber nachdenken. Erinnern Sie sich an die Momente, in denen Berge zu Augenblicken des Geheimnisses und nicht nur Steinhaufen waren, in denen Frühlingsblüten zu uns von Gott sprachen, in denen das erste Wort eines Kindes so bewegend und bedeutsam war wie die zehn Worte vom Sinai, und ein Blick über den Frühstückstisch auf den Partner und Gefährten zu einem Fest der Offenbarung wurde?

Verweilen Sie dort, so lange Sie können. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit dem Bau von Hütten, sondern saugen Sie den Moment mit Augen und Ohren in sich ein. Werden Sie still vor Dankbarkeit. Dies sind Momente, die denen nicht unähnlich sind, die Petrus, Jakobus und Johannes erlebten. Und darin liegt die tiefe Wahrheit, der Hinweis, der das Geheimnis lüftet: Verklärungen finden nicht auf Bergen statt. Sie finden auch nicht in Parks oder an Straßenecken statt. Sie geschehen in uns.

Ich denke an weniger dramatische Verklärungen in meinem Leben.

Mit einer Gruppe alter Menschen zu sitzen, die nur noch wenige Erinnerungen haben, und zu erkennen, dass Gott jeden von ihnen so sieht, wie er ihn geschaffen hat, als sein vollkommenes Kind. Dies war ein Ort, der nichts von dem Spektakel von Tabor hatte, aber all seine Pracht. Es war ein Ort, an dem ich sagen musste: Rabbi, es ist gut, dass ich hier bin.

Ich saß einmal am Sterbebett einer Frau, die ein letztes Mal ihre Augen öffnete und sagte: Danke, dass du mich nicht allein gelassen hast! Es war traurig, schmerzhaft und wehmütig. Wenn ich mich an diesen Moment erinnere, spüre ich, wie er mich immer noch verwandelt. Und ich kann immer noch sagen: Rabbi, es ist gut, dass ich hier bin.

Ich habe oft in meinem Sessel gesessen und ein gutes Buch gelesen und meine Augen wurden groß und ich wusste, was ich wissen musste, ohne dass ich Worte brauchte. Das Buch fällt mir aus den Händen und ich bin in Frieden. Ist das nicht der richtige Ort, um zu sagen: Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind?

Wie unsere biblischen Gefährten werden auch wir den Berg hinunterkommen und über eine Frage nachdenken: »was das sei: von den Toten auferstehen?« Transformative Berggipfel-Augenblicke des Lebens tun das für uns und lassen uns mit Fragen zurück, die uns immer wieder aus dem Schlummer aufwecken, der unseren Geist zu erdrücken droht. »Was kann dieses Auferstehen von den Toten bedeuten?« ist eine Frage, die uns aus Passivität, Gleichgültigkeit und Erstarrung gegenüber dem Leben, der Liebe und dem Mysterium aufwecken kann. Was kann diese Auferstehung von den Toten bedeuten, wenn wir wieder auf den gewohnten Wegen des Lebens wandeln und wieder unter so vertrauten Gesichtern und an so bekannten Orten verweilen? Werden wir zulassen, dass diese Momente eine tiefe Leidenschaft, ein verzehrendes Feuer in uns wecken, das uns sie in einem neuen Licht sehen lässt? Werden wir zulassen, dass eine Stimme aus der Wolke uns auf das Geliebtsein in der Welt hinweist, jenseits der Alltäglichkeit, die uns abstumpfen kann, so wie sie uns aufgerufen hat, das Geliebtsein zu sehen, jenseits der Herrlichkeit, die uns blenden kann?

Nikos Kazantzakis hat einmal geschrieben: »Gott ist nicht in Klöstern zu finden, sondern in unseren Häusern! Wo immer man Ehemann und Ehefrau findet, dort findet man Gott; wo Kinder und Kleinkram und Kochen und Streit und Versöhnung sind, dort ist auch Gott. Der Gott, von dem ich erzähle, der häusliche, nicht der klösterliche, das ist der wahre Gott.« (Die letzte Versuchung, Seite 70)

Dieser große Erzähler, der unsere Seite dieser Geschichte so gut verstand, möge uns einen letzten Gefallen tun. Hören wir zum Schluss ein Gleichnis aus seiner Feder:

Ein Mann kam zu Jesus und beklagte sich bei ihm über die Verborgenheit Gottes. »Rabbi«, sagte er, »ich bin ein alter Mann. Während meines ganzen Lebens habe ich immer die Gebote gehalten. Jedes Jahr meines Erwachsenenlebens ging ich nach Jerusalem und brachte die vorgeschriebenen Opfer dar.

Jede Nacht meines Lebens habe ich mich nicht in mein Bett zurückgezogen, ohne vorher meine Gebete zu sprechen. Aber . . . Ich schaue zu den Sternen und manchmal zu den Bergen - und warte, warte darauf, dass Gott kommt, damit ich ihn sehen kann. Ich habe Jahre und Jahre gewartet, aber vergeblich. Warum, warum? Mein ist ein großer Kummer, Rabbi! Warum zeigt sich Gott nicht?«

Jesus antwortete, lächelte sanft und sagte: »Es war einmal ein Marmorthron am Osttor einer großen Stadt. Auf diesem Thron saßen 3.000 Könige. Sie alle riefen Gott an, er möge erscheinen, damit sie ihn sehen könnten, aber sie alle gingen mit unerfüllten Wünschen in ihre Gräber.

Dann, als diese Könige gestorben waren, kam ein Bettler, barfüßig und hungrig, und setzte sich auf diesen Thron. ‚Gott', flüsterte er, 'die Augen eines Menschen können nicht direkt in die Sonne schauen, denn sie würden geblendet werden. Wie können sie dann, Allmächtiger, direkt auf dich blicken?

Erbarme dich, Herr, mäßige deine Kraft, wende deinen Glanz ab, damit ich, der ich arm und geplagt bin, dich sehen kann!‘ Dann - hör zu, alter Mann - wurde Gott zu einem Stück Brot, einem Becher mit kühlem Wasser, einem warmen Gewand, einer Hütte und, vorne in der Hütte, einer Frau, die einen Säugling stillte.

‚Ich danke dir, Herr‘, flüsterte er. ‚Du hast dich um meinetwillen erniedrigt. Du bist Brot, Wasser, ein warmes Gewand und meine Frau und mein Sohn geworden, damit ich dich sehen kann. Und ich habe dich gesehen. Ich verneige mich und bete dein geliebtes, viel-Gesichter Gesicht an!‘ «

 

Erik Riechers SAC, 28. Februar 2021

 

 

Warum wir nicht von der Pandemie als Fastenerlebnis sprechen sollten II

 

Fasten ist mehr als auferlegte Enthaltsamkeit

In meinem letzten Impuls habe ich darauf hingewiesen, dass die Fastenzeit, anders als die Pandemie, freiwillig ist und nicht aufgezwungen wird. Wir entscheiden uns für die Fastenzeit, weil wir sie als einen sinnvollen Weg sehen, das wiederherzustellen, was uns verloren gegangen ist. Die Pandemie ist keine Wahl, sondern eine Tragödie, mit der wir gezwungen sind umzugehen.

Während der Fastenzeit wenden wir uns der Praxis des Fastens zu, aber auch hier müssen wir vermeiden, dies mit der auferlegten und erzwungenen Enthaltsamkeit der Pandemie zu vergleichen.

In Jesaja 58, 1-9 weist der Prophet darauf hin, dass Fasten nicht in bloßer Enthaltsamkeit bestehen kann. Einfach das Essen zu verweigern ist ein Hungerstreik, kein Fasten. Der Prophet ist in dieser Sache brutal klar. Fasten muss uns für neue Horizonte des Dienens, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit öffnen. Sonst ist es gottesunwürdig. Das ist nicht das, was Pandemiemaßnahmen tun.

In der Tat ist es eine einfache Lektion für uns zu lernen. Ich habe es unglaublich leicht gefunden, in meinem Leben an Nahrung zu fasten und die Empfänglichkeit meines Herzens nicht ein bisschen zu erweitern. Zu anderen Zeiten habe ich gefastet, aber meinen Geist weiter Wut, Bitterkeit und sogar Selbstsucht verschlingen lassen. Wieder andere Male habe ich gefastet und mich noch mürrischer gefunden, als ich es vor dem Fasten war. Die Worte des Propheten klingen mit feiner Zurechtweisung in meinen Ohren. »Seht, an euren Fasttagen macht ihr Geschäfte und treibt alle eure Arbeiter zur Arbeit an. Obwohl ihr fastet, gibt es Streit und Zank, und ihr schlagt zu mit roher Gewalt.« (Jes 58, 3-4)

Das ist eine kraftvolle, provokative Sprache. »So wie ihr jetzt fastet, verschafft ihr eurer Stimme droben kein Gehör.« (Jes 58,4) Zwei Dinge sind in dieser Aussage impliziert. Erstens sagt sie uns, dass unangemessenes Fasten uns keine Audienz bei Gott verschafft. Zum anderen erinnert sie uns aber auch daran, dass richtiges Fasten als dasjenige definiert wird, das uns ein neues Gehör bei Gott verschafft. Wenn Sie fasten und es bringt Sie nicht näher zu Gott, ist das Fasten fehlgeschlagen.

Meine Freunde, das Fasten kann uns näher zu Gott bringen, indem es uns die Anliegen seines Herzens tiefer bewusst macht. Während wir essen, trinken und Fröhlichkeit praktizieren, ist unser Leben intensiv auf die Sorgen unseres eigenen Herzens, auf unsere persönlichen Vergnügungen ausgerichtet. Fasten schafft Hunger. Die Frage ist: »Welche Art von Hunger wird in uns geweckt?« Nachdem Sie Ihre Schweinekoteletts, Hähnchenschenkel und Würstchen abgelegt haben, hat Ihr Herz dann das gleiche Verlangen, das im Herzen Gottes zu finden ist? Dies sind keine Fragen, die durch die auferlegte Abstinenz der Pandemiemaßnahmen aufgeworfen werden.

Es ist nicht so schwer, auf diese biblische Anfrage eine Antwort zu geben. Was sind die Sehnsüchte des Herzens von Gott? Einfach dies:

»Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen.«

Was ist der Hunger im Herzen Gottes?

»an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen.«

Wenn wir fasten, dann muss das, was im Herzen Gottes brennt, das Sodbrennen der Menschheit werden. Wenn man vom Brot fastet und nie einen Bissen davon über die Lippen der Hungernden kommen lässt, dann hortet man einfach Brot. Wenn Sie auf jeglichen Konsum verzichten und nichts von dem, was Sie gespart haben, denen geben, die nie den Luxus des Fastens haben, weil sie nichts zum Verzichten haben, dann haben Sie nicht nur sich selbst verschont, sondern auch die anderen verleugnet. Keine erzwungene Enthaltsamkeit der Pandemie hat solche Früchte hervorgebracht.

Erlaubt der Fastenzeit, eure Freude zu entfalten. Jesaja verspricht, dass es so sein wird. Wenn wir es zulassen, dass die Fastenzeit die Gier unseres Herzens mit den Bedürfnissen des Herzens Gottes mildert, dann wird »dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach.« Das nenne ich wahre Freude. Doch die Fülle der Freude, die in der Fülle des Fastens zu finden ist, besteht darin, dass sie uns Gehör vor unserem geliebten Gott verschaffen wird. Das ist die letzte Verheißung des Propheten. »Wenn du dann rufst, wird der Herr dir Antwort geben, und wenn du um Hilfe schreist, wird er sagen: Hier bin ich.« Denken wir lange und liebevoll darüber nach, als geliebte Menschen des Herrn. Welchen Bissen könnten wir essen, der unser Herz und unsere Seele so sehr befriedigen würden, wie das Wissen, dass der Herr in jeder Stunde unser Flehen mit seiner Gegenwart beantworten wird?

 

Erik Riechers SAC, 24. Februar 2021

 

 

Warum wir nicht von der Pandemie als Fastenerlebnis sprechen sollten I

 

Einige Leute haben sich über diese Fastenzeit nach einem Jahr der Pandemie beschwert. Ich habe oft Kommentare gelesen, die sagen: »Warum sollten wir in diesem Jahr die Fastenzeit praktizieren, nachdem die letzten11 Monate nichts anderes waren als eine einzige lange und ununterbrochene Fastenzeit?«

Ich verstehe zwar die Frustration, die das letzte Jahr mit sich gebracht hat, und die Unruhe, die damit einhergeht, aber es bestürzt mich, wenn die Pandemie mit der Fastenzeit verglichen wird. Die Fastenzeit zu benutzen, um das Jahr der Pandemie zu beschreiben, ist das schlimmste aller möglichen Klischees, die wir über die Vierzig Tage haben. Diese Frage ist weniger eine Aussage über die Auswirkungen der Pandemie als vielmehr die Offenbarung eines sehr negativen und falschen Verständnisses der Vierzig Tage. Sie suggeriert, dass der einzige Zweck der Fastenzeit darin besteht, durch auferlegte Sanktionen und Praktiken eine Zeit des Elends, der Not und der Unzufriedenheit zu erzwingen. Sie legt uns nahe, dass Leiden und Schmerz der Zweck und das Ziel der Vierzig Tage sind.

Das ist nicht sonderlich überraschend, wenn man bedenkt, wie die Fastenzeit oft praktiziert wird. Sie soll eine heilige Frühlingszeit sein, aber oft wurde sie auf eine übervereinfachte Frage reduziert: Worauf verzichtest du dieses Jahr? Völlig verloren ging dabei die Frage: Was ist der Zweck von all dem? Was wollen wir in dieser Zeit, in der Enthaltsamkeit und Fasten eine sehr reale Rolle spielen, erreichen? Und was ist die Rolle des Fastens (der Enthaltsamkeit) in all dem?

Wenn wir die Fastenzeit als Beschreibung dieser Zeit der Pandemie benutzen, verwenden wir eine billige Karikatur der Fastenzeit. Die Fastenzeit ist aus mehreren Gründen nicht mit der Pandemie vergleichbar. Und diese Unterschiede zu kennen, wird uns helfen, uns an die tiefste und echte Bedeutung der Fastenzeit zu erinnern.

Zunächst einmal ist die Fastenzeit freiwillig und frei gewählt. Anders als die Pandemie wird sie uns nicht auferlegt. Sie wird uns nicht aufgedrängt, sondern frei und bereitwillig aufgenommen. Wir entscheiden uns für die Fastenzeit, weil wir sie als einen sinnvollen Weg sehen, das wiederherzustellen, was uns verloren gegangen ist. Die Pandemie ist keine Wahl, sondern eine Tragödie, mit der wir zurechtkommen müssen.

Zweitens: Die Fastenzeit ist ein bewusster Akt. Die Maßnahmen, zu denen wir während des Jahres der Pandemie gezwungen sind, erfordern keine bewusste Entscheidung meinerseits. Sie werden von außen verkündet, ohne Rücksicht auf meine innere Zustimmung. Der Staat verordnet sie, verlangt sie von uns und zwingt uns, uns daran zu halten. Die Fastenzeit ist eine Bewegung, die aus innerer Entscheidung, Willen und Wunsch entsteht. Ihre Maßnahmen werden bewusst in Anspruch genommen. Wenn ich sie nicht wähle, gibt es niemanden, der meine Einhaltung fordert oder erzwingt. Es gibt keine Strafen, keine Bußgelder, wenn man am Freitag heimlich einen Bissen Schokolade nascht, am Wein nippt oder Fleisch isst.

Drittens: Der Zweck der Fastenzeit ist Erneuerung und Wiederbelebung. Wie ein heiliger Frühling will sie den Fluss wiederherstellen, wo die Dinge zum Stillstand gekommen sind. Wie der Frühling nach der Kälte des Winters den Saftfluss in den Bäumen wieder in Gang bringt, so will der Heilige Frühling die Liebe wieder zum Fließen bringen, wo die winterliche Jahreszeit sie zum Stillstand gebracht hat. Die Maßnahmen der Pandemie haben einen anderen Zweck. Sie versuchen nicht, neues Leben in Gang zu setzen, sondern sind Übungen zur Vermeidung. Sie wollen den Kontakt mit dem, was schädlich ist, vermeiden und nicht den Kontakt mit dem, was lebensspendend ist, erneuern.

Schließlich ist das ultimative Ziel des Heiligen Frühlings die Wiederherstellung der Fülle des Lebens. Jede Übung der Fastenzeit fragt, was wir tun müssen, um den Weg zurück nach Hause zu finden, zu dem Ort, an dem ein volles und sinnvolles Leben möglich ist. Die Maßnahmen der Pandemie sind ihrem Wesen nach nicht wiederherstellend, sondern präventiv. Sie wollen uns vor einer potenziell schädlichen Infektion schützen, die uns schaden kann, aber das ist auch schon alles. Selbst wenn Sie sich nie mit dem Virus anstecken, bedeutet das nur, dass Sie Ihren jetzigen Gesundheitszustand bewahrt haben, aber Sie sind nicht gesünder geworden. Das ist ein entscheidender Unterschied zum Heiligen Frühling. Er will nicht den Winter vermeiden, sondern uns zum Sommer führen. Er will uns nicht die Hölle ersparen, sondern uns in den Himmel führen.

 (Die Fortsetzung folgt)

Erik Riechers SAC, 24. Februar 2021

 

 

»Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge«

 

»Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob« - ein Teil eines Psalmverses, den viele von uns kennen und lieben, der leicht verständlich scheint, über den wir aber auch leicht hinweggehen.

Schauen wir genauer hin. Was hören wir aus dem Mund der Kleinsten? Sie schreien, wenn ihre Bedürfnisse existentiell sind, sie brabbeln vor sich hin, sie versuchen, Laute nachzuahmen, probieren ihre Stimme aus: werden sie größer, plappern sie oft munter und erzählen, was ihnen in den Sinn kommt; sie stellen Fragen über Fragen oder erzählen, was die Phantasie ihnen eingibt. Kinder äußern pur alles, was sie empfinden: Schmerz und Freude, Angst und Spannung, Heimweh und Lust am Leben. Alle inneren Prozesse von Lebendigkeit strömen durch den Mund nach außen. Sie haben ein untrügliches Gespür für das Echte und Wahre, was wir meist aus Rücksicht auf Konventionen und anerzogenen Verhaltensmustern verlernt haben.  Ist es verwunderlich, dass Gott, der alles Leben liebt, dies als Lob aufnimmt? Alles, was lebt und Leben äußert, lobt den Schöpfer allen Lebens. So »schafft« er sich Lob aus all dem, was die Jüngsten ganz natürlich und frei aus ihrem Mund tönen lassen. Wir nennen dies oft unverständlich oder einfach niedlich oder versuchen es zu erklären oder sogar abzuwerten. Für Gott aber wird es zum Lob des Lebens überhaupt, zu seinem Lob als Schöpfer. Denn was die Kleinen äußern, ist existentiell, pur, ehrlich und wahr.     

Dieser Vers steht am Anfang von Psalm 8, der den Schöpfer und die Schöpfung preist und im weiteren Verlauf die Größe und Würde des Menschen hervorhebt.  

»Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob, / deinen Gegnern zum Trotz; / deine Feinde und Widersacher müssen verstummen.« - unerwartet sind die weiteren Worte dieses Verses. Doch bedenken wir: Wenn aus dem Mund der Kinder ganz natürlich das Lob des Schöpfers fließt, dann haben all jene, die das Leben weder würdigen noch lieben, nichts mehr zu sagen. Sie stehen nicht auf der Seite des Urhebers allen Lebens. Wir kennen doch alle Stimmen von Menschen, die alles besser wissen und bewerten, die nicht mehr staunen können, die verlernt haben, ihre Gefühle auszudrücken und sie lieber verdrängen. Wie viele Menschen haben Teile ihres inneren Lebens abgeschnitten. Sie sprechen über das, was »man« hören will. Sie folgen einer Taktik, aber nicht der Vielfalt des Lebens. Es zählt, was ihnen nützt, aber nicht, was wahrhaft dem Leben dient.

Im Matthäusevangelium hält Jesus genau diesen Satz den Mächtigen entgegen: »Als nun die Hohepriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohn Davids!, da wurden sie ärgerlich und sagten zu ihm: Hörst du, was sie rufen? Jesus antwortete ihnen: Ja. Habt ihr nie gelesen: Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob?« (Mt 21, 15-16)

Jeder, der die Kleinsten und das, was sie äußern, wahrnimmt und ernst nimmt, spürt, wie nah er durch sie am wirklichen Leben ist. Keine Stunde, die wir so verbringen, ist vergeudete Zeit - nicht für die Kinder, aber auch nicht für uns. Es ist eine Stunde der Wahrhaftigkeit. Kehren wir mit ihrer Hilfe zur wahrhaftigen Tiefe des Lebens zurück.

 

Rosemarie Monnerjahn, 22. Februar 2021

 

 

Warum wir Wüsten brauchen

1. Fastensonntag B 2021                                      Mk 1, 12-15

 

In jener Zeit trieb der Geist Jesus in die Wüste.

Dort blieb Jesus vierzig Tage lang und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.

Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes

und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!

Mk 1, 12-15

 

Keiner der Evangelisten erzählt die Wüstenerfahrung Jesu so kurz und prägnant wie Markus. Hier werden keine detaillierten Versuchungen beschrieben. Er spricht kein Wort über Steine, die in Brot verwandelt werden sollen, und niemand muss sich vor dem Versucher niederwerfen, um die Reiche dieser Erde zu besitzen. Markus berichtet nicht von der Versuchung, sich von der Zinne des Tempels herunterzustürzen, um die schnelle Reaktionszeit der Engel zu testen.

Diese Kürze der Worte hat einen großen Vorteil. Markus dringt zum Kern der Sache und einer sehr grundlegenden Entscheidung durch. Wie Jesus hören wir die Worte Gottes, die uns offenbaren, dass wir seine geliebten Söhne und Töchter sind. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Wie im Evangelium selbst ist das, was die Stimme des Vaters am Jordan zu uns spricht, der Punkt, an dem die Geschichte beginnt. Wir sind geliebte Menschen, aber ob wir als solche leben wollen, ist eine andere Frage und eine, die uns bis ins Innerste prüft.

Um herauszufinden, ob wir diese Würde als geliebte Söhne und Töchter ausleben wollen, brauchen wir drei Dinge: 1. eine Wüste, 2. wilde Tiere und 3. dienende Boten Gottes.

  1. Eine Wüste

Wir brauchen Orte, an denen wir nicht abgelenkt werden, an denen wir auf das Wesentliche des Lebens zurückgeworfen werden. T.S. Lawrence beantwortete die Frage, warum er die Wüste liebe, mit dem Satz: »Sie ist sauber«. In Wüsten geht es um Fluch und Segen, um Leben und Tod. In Wüsten erleben wir das Leben auf das wahrhaft Wesentliche reduziert. In Wüsten gibt es keine Ablenkungen, keine kurzweiligen Unterhaltungen und keine oberflächlichen Gespräche über Belanglosigkeiten, die uns vergessen lassen, was wir nicht wahrnehmen, anschauen und anpacken wollen.

Wir brauchen solche Orte und Zeiten der Wüste, um herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist, was unsere wahren Überzeugungen sind, was uns wirklich bewegt. Wir brauchen sie, weil sie uns den Ort geben, an dem wir zum Kern der Sache durchbrechen können. In der Wüste wird dieses Streben nach Tiefe nicht länger durch die angenehmen Ablenkungen, die das Leben zu bieten hat, beiseitegeschoben.

  1. Wilde Tiere

In solchen Wüstensituationen leben wir auch »bei den wilden Tieren«. Wilde Tiere fressen, was sie in der Wüste finden. Sie sind auf der Suche nach Beute, und je verwundbarer die Beute ist, desto besser. Sie nutzen die Hilflosigkeit ihrer Beute aus und machen sie zu ihrem Vorteil. Sie machen aus der Not und Schwäche anderer etwas, von dem sie profitieren.

Diese Erfahrung ist uns nicht gerade fremd. Auch in unseren Krisenzeiten gibt es wilde Tiere, die einen Vorteil für sich wittern und diesen gnadenlos ausnutzen. Sie sehen, wenn andere hilflos und ausgeliefert sind und beuten deren Situation für ihre Zwecke aus. Die Bibel hat dafür auch ein anderes Wort: Menschenopfer. Menschenopfer ist die Bereitschaft, andere Menschen zu opfern, damit ich besser leben kann.

Wir brauchen diese Erfahrung mit den wilden Tieren, um zu prüfen, was wir wirklich sein wollen: Wollen wir uns zu ihnen gesellen? Wollen wir genauso kalt und berechnend unseren Vorteil suchen, egal was es andere kostet? Ist uns das Schicksal anderer gleichgültig, solange wir selbst ungeschoren davonkommen?

Die Verlockung ist groß. In der großen Flüchtlingskrise unserer Zeit gibt es Menschen, die sich mit Leib und Seele für geschundene Menschen einsetzen. Es gibt aber auch andere, die sich als Schleuser betätigen und dieses große menschliche Leid ausnutzen, um sich zu bereichern. In der Pandemie gibt es Menschen, die sich unermüdlich um andere kümmern, aber gleichzeitig auch Menschen, die nur an ihren eigenen Vorteil denken, die verlangen, sich vorzudrängeln und zuerst geimpft zu werden, ohne Rücksicht auf die Menschen um sie herum, die mehr leiden und weitaus mehr gefährdet sind als sie selbst. Es gibt keinen Mangel an Wildtieren in unseren Wüsten.

  1. Dienende Boten Gottes

Es wird erzählt, dass die Engel Jesus in der Wüste dienten. Das ist auch unsere Erfahrung in Zeiten der Wüsten-Not. Menschen werden von Gott gesandt, um dem Leben zu dienen, das mittellos, gefährdet und ausgesetzt ist. Es gibt wilde Tiere, die uns treten, wenn wir schon am Boden sind. Es gibt auch dienende Boten Gottes, die uns aus dem Staub aufrichten, damit wir nicht auf der Strecke bleiben. Es gibt wilde Tiere, die ihre Freude über das Missgeschick anderer kaum zurückhalten können, und es gibt dienende Boten Gottes, die unser Leid und unseren Schmerz teilen. Es gibt wilde Tiere, die das Leid anderer zum Anlass nehmen, um zu triumphieren (denken wir an solche Sätze wie »Ich hab's ja gewusst« oder »Ich hab's dir ja gesagt«). Aber es gibt auch dienende Boten Gottes, die Hilfe leisten und Schmerzen lindern, um einen Menschen wieder ins Leben zu bringen.

Und hier sind wir mit der dritten Möglichkeit einer Wüstenerfahrung konfrontiert: Was für ein Mensch will ich sein? Denn der geliebte Sohn oder die geliebte Tochter Gottes ist kein wildes Tier und sollte sich auch nicht als solches verhalten. Das geliebte Kind ist ein dienender Bote Gottes, ein Heilsbringer, ein Beschützer der Unerfahrenen und ein Tröster der Bedrängten.

Was Markus uns sagt, ist grundlegend: Was für Menschen wollen wir sein? Und nur in der Wüste werden wir wirklich testen, welche Art von Antwort in uns schlummert.

Ich hoffe und bete, dass wir uns diese Anweisung Gottes zu Herzen nehmen werden. Gibt es jemanden unter uns, der nicht die schmerzliche Erfahrung gemacht hat, die sich in einem Sprichwort meines Heimatlandes widerspiegelt: Wenn es hart auf hart kommt, wirst du entdecken, wer deine wahre Freunde sind? Nun, wenn wir in der Wüste sind, werden wir entdecken, wer unsere wahren Freunde sind, aber auch, ob wir selbst aus dem Stoff echter, liebender, dienender Freundschaft geschnitten sind. Es geht nichts über eine Wüste, um uns von unseren Selbsttäuschungen zu befreien.

Erik Riechers SAC, 21. Februar 2021

 

 

»Heiliger Frühling«

 

Gern beobachte ich bei mir und mit anderen jedes Jahr, was die ersten Anzeichen des Frühlings sind und wie sie auf uns wirken. Das Licht nimmt zu, die Tage werden länger und die Schatten schon merklich kürzer. Die Sonne gewinnt an Kraft; manchmal kann man sich schon im Februar in ein geschütztes Sonneneckchen setzen und die Wärme genießen. Ganz allmählich kommt auch mehr Farbe in die Welt – die Zaubernuss ist eine sehr frühe Botin des Gelb und was folgt noch alles. Vogelstimmen erfreuen uns am Morgen, große Züge von Wildgänsen machen sich am Nachmittag laut bemerkbar auf ihrem Zug nach Norden.

Alles Zeichen von Leben, neuem Leben, wieder erstarkendem Leben! Es lockt uns hinaus, wir spüren den Wunsch nach Entschlackung und mehr Leichtigkeit, nach Aufbruch und Neuanfang.

In der Antike gab es den Brauch des »heiligen Frühlings«, »ver sacrum« genannt: in der Frühlingszeit geborene, inzwischen erwachsen gewordene junge Männer wurden bei den antiken Italikern ausgesandt oder auch ausgestoßen, um neues Land zu erobern und dort einen neuen Stamm zu gründen. Auch hier also: mehr Leben, neuer Lebensraum, Zukunftsmöglichkeiten, zugleich Abschiednehmen und mutig neu beginnen.

In der frühen Kirche sprach man von unserer Fastenzeit als dem »heiligen Frühling«. Da ist es von Bedeutung, das Wort »heilig« zu bedenken. Heilig in der Bibel ist nur der Heilige, Gott selbst. Nichts ist heilig aus sich selbst heraus, sondern nur durch die Berührung mit der Heiligkeit Gottes. Wo der Schatten des Allerheiligsten hinfällt, da ist die Schönheit der Heiligkeit zu finden.

Die 7 Wochen vor Ostern sollen alle Zeichen des Frühlings tragen, so wie sie es in unseren Breiten jetzt zunehmend auch draußen tun, und zwar als heilige Zeit des Aufbruchs in neues Leben, wenn und weil wir sie durchschreiten in Berührung mit Gott und in Beziehung zu ihm. Gott liebt das Leben in allen Facetten und wir können diese Vorbereitungszeit zu einer heiligen Zeit machen, indem wir all dem Raum geben, was wir in der Frühlingszeit in der Natur wahrnehmen und lieben. Wir können sie zu einer heiligen Zeit machen, wenn wir uns selbst neu in der Beziehung zu Gott wahrnehmen, in uns selbst eintreten und schauen, was Gott in uns hinein gelegt hat. »Werde das, was du von Gott her bist« könnte einen Frühling aufbrechen lassen: mehr Lichtblicke, wo wir so vieles düster sahen; mehr Wärme, wo wir kalt mit uns und anderen umgingen; mehr Farbe, wo wir uns schon so an Eintönigkeit gewöhnt hatten, dass wir es kaum noch erkannten; mehr Stimmen und Musik, wo wir unsere Ruhe haben wollten; mehr Lebendigkeit in uns und mit anderen, wo wir uns gelangweilt anödeten.

Ja, dazu wird es gut und notwendig sein, auf Gewohnheiten zu verzichten, die uns so lange von all dem abgehalten haben. Doch das ist ja der  Zauber des Frühlings, wo das tote alte Laub durchstoßen wird von den spitzen Trieben der Tulpenzwiebeln und den jungen Trieben der Stauden. Von innen heraus wächst Neues und das Alte darf getrost vergehen. Wie viel Leben steckt in uns - helfen wir ihm behutsam und beharrlich, zu sprießen und irgendwann zu blühen.

Lassen wir es uns neu gesagt sein: Gott ist ein Liebhaber des Lebens – es ist etwas Heiliges, das Leben zu lieben. So lasst uns eintreten in den heiligen Frühling.

 

Rosemarie Monnerjahn, 19. Februar 2021

 

 

Wie komme ich von hier wieder nach Hause?

 

Diese Frage ist das Thema unserer Brunnentage im Jahr 2021 und auch unseres Shea-Kurses. Nur zwei Monate nach Beginn des Jahres hören wir, wie das Thema bei so vielen Menschen tiefe Resonanz gefunden hat. Der Grund dafür ist einfach genug: Wir fühlen uns alle ein wenig verloren.

Die tiefste Auswirkung der Sünde, dieses Leben unter unserem Niveau, ist die Entfremdung. Dies ist ein bemerkenswertes Wort in der deutschen Sprache, denn es enthält in sich die Idee von einem Dasein, wo ich nicht heimisch, nicht zugehörig und unbekannt bin.

Es beschreibt perfekt unsere Erfahrung des Verlorenseins: wie Außenstehende oder Exilanten zu leben, weit weg von dem, was Heimat für uns ist und bedeutet, und wie Fremde uns zu fühlen in dem Leben, das wir uns selbst ausgesucht und geschaffen haben. Wir kennen das schreckliche Gefühl, wie Außenseiter zu leben, die auf das schauen, wonach wir uns sehnen, zu dem wir aber keinen Zugang finden. Wir erleben es in jeder Beziehung, die wir kennen: den Gott unseres Lebens wie einen Fremden behandeln; entfremdet sein von der Welt, die uns umgibt, erhält und trägt; verbannt von unseren Brüdern und Schwestern, nah und fern, leben; und sogar dass wir uns selbst fremd werden.

Für viele, wenn nicht die meisten Menschen, wird die Fastenzeit als die Zeit wahrgenommen, in der wir uns auf diese Entfremdung konzentrieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das wahr. Doch der Heilige Frühling ist präziser und passender beschrieben als unser jährliches Innehalten, um die Frage zu stellen, die aus der Asche der Entfremdung aufsteigt: Wie komme ich von hier wieder nach Hause? Wie kommen wir zurück in die Heimat und an das Herdfeuer unseres Herzens?

Der Aschermittwoch bietet eine erste Antwort auf diese Frage. Sechsmal wird Jesus über einen verborgenen Ort sprechen (krypto oder kruphaoi).

Wenn du Almosen gibst,

soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut,

damit dein Almosen im Verborgenen (krypto) bleibt;

und dein Vater, der auch das Verborgene (krypto)

sieht, wird es dir vergelten.

(Mt 6, 3-4)

 

Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer,

schließ die Tür zu;

dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen (krypto) ist!

Dein Vater, der auch das Verborgene (krypto) sieht,

wird es dir vergelten.

(Mt 6, 6)

 

Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt

und wasche dein Gesicht,

damit die Leute nicht merken, dass du fastest,

sondern nur dein Vater, der im Verborgenen (kruphaoi) ist;

und dein Vater, der das Verborgene (kruphaoi) sieht,

wird es dir vergelten.

(Mt 6, 17-18)

Gehen wir an den geheimen, den verborgenen, Ort. Jesus ist darauf bedacht, dass wir das richtig machen. Ob Almosengeben, Beten oder Fasten, alles lobenswerte Praktiken in der Fastenzeit, keine von ihnen wird uns nach Hause führen, wenn sie nicht aus unserem geheimen Ort geboren werden und aus ihm fließen.

Das ist der erste Ort, an den wir gehen müssen, um unseren Weg nach Hause zu finden. Es hat eine reiche Tradition im Erzählen des Evangeliums. Jesus verwendet es in dem Gleichnis vom Vater und seinen verlorenen Söhnen. Der jüngste Sohn beginnt die Heimreise erst, nachdem diese Zeile gesagt wurde: »Da ging er in sich…« Das ist der geheime Ort. Erst dann kommen seine rettenden Erinnerungen zum Vorschein und er sagt: »Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen und ich komme hier vor Hunger um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.«

Wenn wir in uns gehen, finden wir, was er entdeckt, die Erinnerung an einen Vater, der seine Diener besser behandelt als alles, was er bei seinen jetzigen Arbeitgebern erlebt hat. Er erinnert sich an ein Haus aus Brot, während er in einem Schweinestall hungert. Er erinnert sich, dass es ein Zuhause gibt, in das er zurückkehren kann. Woran er sich erinnert, schenkt ihm den ersten Schritt zur Antwort auf die Frage: Wie komme ich von hier aus wieder nach Hause?

Was auch immer wir in diesem Heiligen Frühling tun wollen, wir sollten hier beginnen, am geheimen Ort unseres Herzens, in dem Raum, in dem wir zu uns selbst kommen, nicht abgelenkt und verstellt durch äußere Erscheinungen und Auftritte, die wir anderen zuliebe aufführen. Das ist der Weg, der zur Entfremdung führt. Wir sollten uns darauf konzentrieren, nach Hause zu kommen, so dass wir sagen können: »Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen.«

Ich erinnere uns alle an eine Wahrheit, die wir in diesem Jahr oft sprechen und die in der Fastenzeit besonders wichtig ist. »Der Weg nach Hause ist lang, hart und kompliziert. Aber man muss ihn nicht alleine gehen.«

So wünsche ich uns allen zusammen einen guten Heimweg.

Erik Riechers SAC, Aschermittwoch, den 17. Februar 2021

 

 

Leben mit Zusage

 

Hier bei uns im Rheinland sind viele Menschen in diesen Tagen traurig, weil Karneval in der Pandemie nicht stattfindet. Sie vermissen die Ausgelassenheit, das Miteinanderfeiern, -tanzen und -singen. Viele trösten sich mit der geliebten Musik dieser Zeit, tauschen Bilder vergangener Karnevalszeiten aus und planen für die Zukunft.

Doch immer hält das Leben eine unglaubliche Palette von Schattierungen bereit und so gibt es in diesen Tagen auch Trauer tieferer Art. Vor mir liegt eine Todesanzeige: aus meinem Bekanntenkreis starb eine fast 94-jährige Frau. Ihre Familie spricht darin von Liebe und Dankbarkeit über ein erfülltes Leben und ein friedliches Sterben.

Über dieser Anzeige steht eine Zusage, die mein Herz berührte, weil ich sogleich spürte, mit welcher Haltung diese Familie auf das Leben ihrer Mutter und Großmutter schaut und wie sie durch diese Trauerzeit geht:

»Fürchte dich nicht,

               denn ich habe dich erlöst;

ich habe dich

               bei deinem Namen gerufen;

du bist mein!«                                        (Jes 43)

 

Über dem Leben der alten Frau steht - über den Tod hinausweisend - dieser Zuspruch. Hier trauert eine Familie angesichts des endgültigen Abschieds von einem geliebten Menschen in dem tiefen Glauben und Vertrauen, dass dieser Frau genau das gesagt wurde, was Jesaja im Exil als Gottes Wort an sein Volk ausspricht.

Sei nicht bang, sorge dich nicht, mach dir keine furchtsamen Gedanken vor dem, was vor dir liegt.

               Denn ich selbst habe dich bereits ausgelöst, du bist frei.

Du bist schon gerufen, von mir.

               Du, bei deinem Namen habe ich dich gerufen, DU bist gemeint.

Vergiss nicht: Du gehörst zu mir.

Welch grenzenloses Angebot von Heimat und Zugehörigkeit! Du musst nicht mehr herumziehen und eine Bleibe suchen: Mein bist du, immer schon. Komm heim!

Was auch immer das Herz eines jeden von uns beschwert, ob unsere Lebensetappe gerade leicht ist oder mächtige Brocken vor uns liegen: Diese Zusage gilt auch uns. Hören wir sie wieder neu, saugen wir sie auf in unser Herz und gestalten unser Leben daraus. Damit wir frohen Sinnes durch diese und alle Tage gehen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. Februar 2021

 

 

Einer für alle, alle für einen

6. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 40-45

 

»Ich stecke meine Nase nie in den Brei anderer Leute. Das ist nicht mein Brot und Butter; jeder für sich, und Gott für uns alle.« Miguel de Cervantes lässt Don Quijote in seinem Meisterwerk diese Worte sprechen. Das Zitat spiegelt eine Haltung wider, die wir in verschiedenen Formen und Verkleidungen in unserem Leben, in unseren Beziehungen und in unserer Gesellschaft kennen lernen.

Alexandre Dumas lässt seine Musketiere Athos, Porthos, Aramis und d'Artagnan dagegen etwas ganz anderes sagen angesichts der Prüfungen, Abenteuer und Herausforderungen, die das Leben zu bieten hat: »Un pour tous, tous pour un.« (Einer für alle, alle für einen)

Auch dieses Wort spiegelt eine Haltung wider, aber diesmal geht es um das Zusammenstehen und nicht um das Auseinanderstehen.

Diese beiden Worte sind nie weit weg von unseren Herzen, wenn wir mit einer Krise konfrontiert sind und eine Wahl treffen müssen. Wenn Wellen von Flüchtlingen an unseren Grenzen frieren, können wir sagen: »Das hat nichts mit uns zu tun«, oder wir können sagen: »Wir können das gemeinsam bewältigen.« Diese beiden Worte spiegeln den Kampf um die Vorherrschaft über das menschliche Herz wider. Jetzt, wo ein Impfstoff zur Verfügung steht, gibt es Menschen, die der Meinung sind, dass sie, sobald sie geimpft sind, frei von den Einschränkungen des Einsperrens sein sollten, unabhängig davon, wie es anderen in der Gesellschaft geht. Der Kampf um genügend Impfstoff führt dazu, dass einige Länder einfach sicherstellen, dass sie genug für ihre Bevölkerung haben, während andere Länder sich Sorgen machen, dass Entwicklungsländer genauso viel Zugang zum Impfstoff haben wie ihre eigenen Bürger.

Im heutigen Evangelium sehen wir, wie die Mentalitäten dieser beiden Worte miteinander ringen. In den Gesetzen, die das Leben der Aussätzigen regeln, sehen wir eher die Denkweise von Don Quijote. Es ist die Denkweise der Trennung und Distanz. Wir trennen uns von dem, was für uns unangenehm, gefährlich oder lästig ist. Solange wir bekommen, was wir brauchen, was kümmert uns das Schicksal der anderen?

Jesu Art zu denken und zu handeln spricht dagegen eher von der Haltung der Musketiere. Diese Begegnung zwischen Jesus und den Aussätzigen ist eine Erzählung gegen die Mentalität des Trennungs- und Distanzdenkens zugunsten von Köpfen und Herzen, die in Begriffen der Solidarität denken und fühlen.

Alle Figuren in dieser Erzählung, sowohl die Aussätzigen als auch die Gesunden, sind zunächst von der Denkweise der Trennung und Distanz geprägt. So kommen sie auf eine vereinfachte Formel: Die Kranken sollten sich von den Gesunden fernhalten.

Viele würden argumentieren, dass diese Formel nicht vereinfachend ist, sondern lediglich gesunder Menschenverstand. Diese Sichtweise ist nur möglich, wenn man zu den Gesunden zählt. Werfen Sie einen genaueren Blick auf Levitikus 13:45-46. Dort steht, dass der Aussätzige zerrissene Kleider tragen soll, um sich von den gepflegten Kleidern der Gesunden abzuheben. Der Aussätzige soll sein Haar locker herabhängen lassen, um sich äußerlich deutlich von der gepflegten Erscheinung der Gesunden zu unterscheiden. Der Aussätzige soll separat leben, nicht unter den Gesunden. Der Aussätzige hat seine Behausung außerhalb des Lagers, damit die Gesunden ihr Leben in Ruhe weiterführen können. Selbst ein Kind würde erkennen, dass der Geist des »Einer für alle, alle für einen« in diesen Vorschriften des »gesunden Menschenverstands« nicht vorherrscht.  All die Verpflichtungen, Einschränkungen und Opfer werden von den Kranken verlangt. Von den Gesunden wird nichts verlangt.

So sollte sich die Geschichte im Evangelium entfalten. Aber Jesus weigert sich, etwas mit einer Denkweise zu tun zu haben, die sich von anderen Menschen trennt und distanziert, denn das zerstört die menschliche Solidarität. Jesus geht den entgegengesetzten Weg.

  1. Jesus hatte Mitleid mit ihm.

Jesus selbst ist nicht krank und nicht betroffen von den Folgen der Entfremdung, des Verlustes und der Isolation, die der Aussatz mit sich bringt. Sein Leben ist unversehrt. Doch obwohl er in einer Welt des Heils lebt, berührt und bewegt das gebrochene Leben des Aussätzigen seine Welt.

  1. »Er streckte die Hand aus«.

Sobald Jesus dies tut, überbrückt er die trennende Distanz, die zwischen seiner Welt und der des Kranken besteht. Jesus durchbricht die Grenzen der Trennung und Distanz, die die Regeln aufgestellt haben. In dem Moment, in dem er seine Hand ausstreckt, macht er seine eigene Regel.

  1. »Er berührte ihn«.

Noch einmal kehren wir zu einem beliebten Thema des Markus zurück: die Berührungen. Durch die Berührung kommen die Welten, Erfahrungen und Menschen, die voneinander getrennt bleiben sollten, miteinander in Kontakt und es entsteht ein Ort der Berührung, wo vorher nur Leere den Raum zwischen uns ausfüllte.

4.»Und er sagte: Ich will – werde rein!«

Hier hören wir ein klares Bekenntnis Jesu: Er offenbart seine Motivation. Er sagt nicht: »Ich kann«, sondern »Ich will«. Er will diesen Menschen wieder gesund machen, ihm ein Zuhause und einen Herd geben, und deshalb nimmt er die mühsame Anstrengung dieser Schritte auf sich, die alle entfallen würden, wenn er sich nur auf die Denkweise der Trennung und Distanz verlassen würde.

Das sind die vier klaren Schritte, um die Denkweise von Trennung und Distanz zu überwinden. Aber es geht Jesus nie allein um die Ablehnung der negativen Denkweise, sondern um die Annahme einer lebensspendenden Denkweise. Für ihn geht es immer um die Vorherrschaft über das menschliche Herz, und darum pflegt und fördert er eine andere Denkweise. Er schaut auf die Menschen, auf die Beziehungen, die sie miteinander und mit Gott haben, und betont, was uns bindet und eint, was wir gemeinsam haben.

Leider ist diese Denkweise nicht einfach zu erreichen. Wir üben immer das, was wir schon können. Wir sind es gewohnt, in den Kategorien der Konkurrenz zu denken und zu handeln. Und wenn diese Konkurrenzdenkweise uns im Griff hat, dann identifizieren wir uns mit den physischen, psychologischen und sozialen Vorteilen, die wir haben und die uns von anderen abheben. Dann gewinnt  der Satz »Ich stecke meine Nase nie in den Brei anderer Leute. Es ist nicht mein Brot und Butter; jeder für sich und Gott für uns alle« die Vorherrschaft über unsere Herzen.

Das wiederum führt uns tief in die Welt des Vergleiches. Wir können dann sagen: »Ich habe eine bessere Gesundheit, bin intelligenter und habe mehr Geld als die anderen«. Aber es funktioniert auch umgekehrt: »Leider habe ich eine schlechtere Gesundheit, bin weniger intelligent und habe weniger Geld als der andere«. Die Welt des Vergleiches lässt uns ständig pendeln wir zwischen »es geht mir besser« und »es geht mir schlechter«. Wir schwanken zwischen Mitleid mit denen, die weniger haben und Neid mit denen, die mehr haben. So oder so, in beiden Fällen ziehen wir uns vom anderen zurück. Die klare Botschaft ist: »Das bin ich nicht.« Am Ende haben wir klare Grenzen gezogen, geboren aus der Denkweise von Trennung und Distanz, eine Denkweise, die Jesus mit größter Anstrengung umkehren möchte.

Wenn wir uns dieser Geschichte nähern, tun wir dies aus der Rolle des Gesunden. Wir gehen also davon aus, dass der Aussätzige einer ist, dem es schlechter geht als uns. Wenn wir mit ihm in Kontakt kommen, könnten seine Umstände, seine Situation, sein Zustand, ansteckend sein, das heißt, wir könnten selbst betroffen sein. Und schon ist die Strategie des Rückzugs, der Abgrenzung und der Distanzierung in vollem Gange. In einem Anflug von Frömmigkeit bitten wir vielleicht sogar den schützenden Gott, uns aus ihrer Notlage zu befreien.

Jesus schaut nicht auf die Krankheit, sondern auf den Menschen, der diese Krankheit zu tragen hat. Die Krankheit verbindet uns nicht miteinander, denn wir sind keine Aussätzigen. Aber die Denkweise Jesu fragt nach dem Menschsein und nicht nach den Krankheiten, die Menschen zufällig haben. Was bindet und eint uns? Was ist der gemeinsame Grund, auf dem jedes Leben ruht? Wir alle haben Wert, Würde und Sinn. Wir sind alle geliebt und gewollt. 

Erst wenn diese Denkweise unser separatistisches Denken ersetzt, wird wahres Mitgefühl geboren werden.

Denn wahres Mitgefühl ist eine tief empfundene Erkenntnis, dass wir das teilen, was allen Menschen gemeinsam ist. Wert, Würde und Sinn zu haben, geliebt und gewollt zu sein, ist die Welt, die wir alle teilen. Wenn wir diese Welt nicht finden können, werden wir nie aufrichtig sagen können »Einer für alle, alle für einen«. 

Dann gehen wir die vier Schritte Jesu:

  1. Wir haben Mitleid und lassen unsere heile Welt berühren und bewegen von den gebrochenen Lebensverhältnisse der Anderen
  2. Wir strecken die Hand aus und überbrücken die trennende Distanz. Wir durchbrechen die Grenzen der Trennung und Distanz, die unsere geerbten Auslegungen und ihre Handlungsweisen aufgebaut haben
  3. Wir berühren das Leben anderer und kommen in Berührung mit den Welten, Erfahrungen und Menschen, die ursprünglich von uns getrennt bleiben sollten.
  4. Und wir sagen »Ich will es«. Auch wir können ein klares Bekenntnis ablegen, dass wir nicht bereit sind, die anderen auf die Strecke zu lassen, um uns selbst zu retten.

Markus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese tiefe Wahrheit. Die Erfahrung des anderen ist auch meine Erfahrung. In seinem Stück »Der Kaufmann von Venedig« lässt William Shakespeare Shylock an diese gemeinsame Menschlichkeit appellieren: »Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?«

Wir sollten nicht übersehen, dass diese biblische Erzählung in Ironie endet. Der Aussätzige, der immer verkünden musste, dass er unrein ist, ist nun der Mann, den Jesus bittet zu schweigen. Er tut dies nicht. Stattdessen nutzt er jede Gelegenheit, um anderen von dem zu erzählen, der ihn sah, seine Hand ausstreckte, ihn berührte und ihm sagte, dass er seine Heilung wünsche. »Der Mann aber ging weg und verkündete bei jeder Gelegenheit, was geschehen war.«

Doch nun, da Jesus den Ruf hat, ein Heiler zu sein, geschehen zwei Dinge.

  1. Er darf sich in keiner Stadt mehr öffentlich zeigen
  2. Er darf sich nur an einsamen Orten aufhalten.

Das ist die Ironie, denn laut Levitikus ist dies normalerweise das Schicksal der Aussätzigen.

  1. Sie dürfen sich in keiner Stadt öffentlich zeigen
  2. Sie können sich nur außerhalb der Stadt an einsamen Orten aufhalten.

Wie kommt es zu dieser ironischen Wendung? Es ist ganz einfach. Wo immer Menschen nur an das denken, was sie brauchen oder wollen, ohne Rücksicht auf die Kosten anderer, da wird das Wohl der anderen geopfert, auch wenn der andere Jesus von Nazareth ist. Roy T. Bennett hat Recht, wenn er in seinem Buch »Das Licht im Herzen« schreibt: »Die meisten von uns müssen lernen, Menschen zu lieben und Dinge zu benutzen, anstatt Dinge zu lieben und Menschen zu benutzen.«

 

Erik Riechers SAC, 14. Februar 2021

 

 

Wie schauen wir auf die Welt?

 

Es gibt Tage, an denen ich die Einschränkungen dieser Zeit besonders stark empfinde - weniger als Erschwernis, sondern mehr noch als Verarmung. Dann bin ich versucht, diese Brille über alle meine Erfahrungen zu legen. Immer wieder jedoch werde ich aufgescheucht durch die Erkenntnis, dass das Leben mehr ist als all das, was die gegenwärtige Situation bedrückend macht. Den Anstoß dazu schickt mir – so empfinde ich es manchmal – der »Himmel«: in Form eines Gesprächs oder durch eine Radiosendung oder eine Geschichte, auf die ich gestoßen werde. So entdeckte ich vor kurzem die Rätseldichterin und Lyrikerin Erika Beltle. Sie hatte im 2. Weltkrieg ihren späteren Mann Theo kennengelernt, der bald eingezogen wurde. Der Briefwechsel der beiden durch die Zeit des Krieges hindurch wurde vor Jahren veröffentlicht. So schreibt sie in einem Brief Anfang 1942:

»Lieber Theo, … Heute wünschte ich mir einmal wieder, dass Empfindungen nicht immer erst in Gedanken gekleidet werden müssen, um vom anderen aufgefasst zu werden, sondern dass sie sich unmittelbar übertragen könnten. Der Weg vom Herzen über den Kopf ist so umständlich, und das Wesentliche geht dabei verloren. Ich bin heute sehr fröhlich gestimmt und möchte am liebsten zwitschern wie die Vögel. Trotz Krieg und tausend Teufel ist das Leben schön! Vielleicht liegt es daran, dass ich so etwas wie eine Ordnung, eine Richtung für mein künftiges Leben geplant habe. Man möchte ja denken, ein fast nach Stunden verplanter Weg habe etwas Zwangartiges und würde beengen oder bedrücken, aber gerade das Gegenteil ist der Fall: er macht mich innerlich frei. Weil ich Freiheit immer mit einem Glücksgefühl verbunden erlebe, habe ich heute ein solches. ...  Erika«

(Erika und Theodor Beltle, Für Dich will ich leben: Ein Briefwechsel aus dem Zweiten Weltkrieg, 2009)

 

»Trotz Krieg und tausend Teufel ist das Leben schön!« - wie ist es ihr möglich, mitten im Krieg so etwas zu schreiben?

Nun, sie steht in einer guten Verbindung zu sich selbst.  Sie nimmt sich selbst wahr und so entdeckt sie den Schatz in sich, lernt ihr eigenes Herz kennen, in dem viel mehr lebt, als Worte ausdrücken können. Weil sie sich ernst nimmt, kann sie aus ihrem Inneren heraus leben und gestalten und das bedeutet in ihrer Situation  - sie ist knapp 21 Jahre alt, als sie dies schreibt – Pläne für ihr Leben zu schmieden – trotz allem Grausamen und Schrecklichen und Ungewissen! Und sie macht eine grandiose Entdeckung: dies befreit sie innerlich. Und sie beobachtet sehr genau: diese eigene innere Freiheit zu fühlen bewirkt ein Glücksgefühl - im Januar 1942!

Für mich ist dies ein außergewöhnliches Zeugnis für das, was wir schon oft besprochen haben: wahres Leben fließt von innen nach außen. Es lässt sich nicht konsumieren. Darum können die Gedanken der jungen Frau von damals für uns heute, besonders in diesen Monaten der Minimierung von vielen Facetten des Konsums,  Hilfe und Anstoß sein, neu uns selbst zu entdecken. Wir sind alle unterschiedlich stark belastet von dem, was diese Pandemie uns aufzwingt. Doch wir sind frei zu wählen, wie wir auf das Leben schauen und was von dem, was in uns steckt und sich sehnt nach Ausdruck, leben darf. Wir könnten es hegen und pflegen wie ein Gärtner, wir könnten es teilen miteinander und langsam vorstoßen zu glücklichen Momenten - trotz einer Verlängerung des Lockdown.

Und für Tage, in denen ich wieder überladen von viel Schwerem bin, lege ich mir ein Gedicht aus Erika Beltles späteren Jahren zur Seite:             

Gärten der Nähe

Abgetrieben bin ich
wie ein Boot
vom Land deiner Seele.

Vollbeladen
schwankt es
in Meeresweiten.

Aber ich werfe
Stück um Stück
Ballast über Bord

und strebe
zum Ufer zurück,
denn nur,

wer leicht wie ein Falter,
findet die Gärten
der Nähe,

darin du weilst.

               (aus: Erika Beltle, Gesammelte Gedichte - Ausgewählte Werke Band II, 2008)

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. Februar 2021

 

 

Schlecht erzählte Geschichten

 

Erst vor ein paar Tagen habe ich begonnen, ein neues Buch von Pádraig Ó Tuama und Glenn Jordan zu lesen. Das Buch befasst sich mit Brexit, Grenzen und Zugehörigkeit und wendet sich dem Buch Ruth zu, um eine Geschichte zu hören und zu beherzigen, die das Potenzial hat, unsere Augen für ganz andere Horizonte der Hoffnung und Heilung zu öffnen. Ich werde sicherlich in späteren Betrachtungen auf dieses Buch zurückkommen.

Was mir aber von Anfang an aufgefallen ist, ist die Betonung dessen, was passiert, wenn wir nur schlecht erzählte Geschichten hören. Das ganze Getöse um die Brexit-Kampagne wird als »stumpfe Geschichten, die schlecht erzählt werden, um Veränderungen voranzutreiben« beschrieben. Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt, sei es durch die AFD in Deutschland oder Donald Trump in den USA. Komplexe Realitäten werden so weit vereinfacht, dass wir eine Karikatur der Realität haben, in der wir leben. Die Helden und Schurken werden mit fundamentalistischem Eifer eingeteilt und jede Nuance oder Tatsache, die die Geschichte verkompliziert, wird sofort ignoriert, abgetan oder verunglimpft.

Das ist kein bloßer Zufall. Es taucht überall in der Geschichte und in der Welt auf, wo Menschen nicht in der Lage sind, mit Komplexität umzugehen. Wenn die vielschichtigen, zutiefst komplexen Realitäten des wirklichen Lebens zu schwer zu ertragen sind, dann verbiegen, verdrehen und verzerren manche Menschen alles, damit es in eine viel schwarz-weißere Version und Vision der Realität passt. Das ist die Atmosphäre, in der schlecht erzählte Geschichten geboren werden.

Was wir brauchen, sind gut erzählte Geschichten, die uns dehnen, auch wenn wir uns nicht gerade dehnen möchten. Hier ist, was Pádraig Ó Tuama schreibt:

»Geschichten haben die Kraft, uns mit uns selbst zu konfrontieren. Wenn eine Geschichte gut erzählt ist, bringt sie einige unserer Gewohnheiten durcheinander und fordert bisher Unbekanntes heraus. Geschichten haben unerwartete Drehungen und Wendungen. Geschichten finden Helden in seltsamen Ecken. Geschichten enthüllen etwas über das Verhalten von Menschen, die bisher als untadelig galten. In Geschichten fühlen wir uns zu mehreren Charakteren hingezogen, verorten uns in diesem und jenem. Geschichten enthalten unsere Projektionen und Vorurteile, und wenn wir Glück haben - hören wir die Geschichte oft genug, so dass einige dieser Projektionen und Vorurteile zu einer neuen Vorstellung überredet werden.« *

In der Tat brauchen wir solche Geschichten, aber wir brauchen auch zwei weitere Komponenten. Wir brauchen Geschichtenerzähler, die diese gut erzählten Geschichten lebendig werden lassen und die hartnäckig genug sind, uns Geschichten zu erzählen, die wir genau dann hören müssen, wenn wir sie nicht hören wollen. Wir brauchen also Geschichtenerzähler mit beträchtlichem Mut, denn gut erzählte Geschichten werden niemals einfach mit dem Strom schwimmen und die vorherrschende Weisheit des Status quo bestätigen.

Außerdem brauchen wir talentierte Geschichten-Hörer. Es erfordert eine beträchtliche Fähigkeit, die Geschichte zu hören, mit der man nicht von vornherein einverstanden ist. Es erfordert auch die Gabe des Mutes, die Bereitschaft, sich auf diese vielfältigen Charaktere einzulassen und mit ihnen zu ringen, die an unseren Vorstellungen rütteln und unsere Sichtweise auf die Welt erweitern.

Ich erinnere mich, dass ich John Shea einmal gefragt habe, was das sichere Zeichen für eine schlecht erzählte Geschichte ist. Seine Antwort hat sich in mein Herz eingebrannt. »Eine schlecht erzählte Geschichte wird dich an jeden Ort führen, an den du schon immer gehen wolltest.« Sie wird uns zu Großgrundbesitzern führen, aber kaum zu der Frau am Brunnen. Sie wird uns zu Supermodels, Berühmtheiten und Machteliten führen, aber kaum zu einer Witwe, die zwei Pfennige in den Opferstock legt. Die schlecht erzählten Geschichten werden uns zu den reichen und mächtigen Männern und Frauen führen, die die Schicksale von Millionen lenken, aber sie werden uns nicht zu Ruth führen.

Lasst uns in diesen Tagen auf der Hut sein. Der lange Weg dieser Pandemie hat uns ermüdet und zermürbt. Das macht uns anfälliger für schlecht erzählte Geschichten. Aber auch jetzt ist die Welt voll von guten Geschichten und großartigen Geschichtenerzählern. Dieses Buch, das ich gerade lese, ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Ich glaube auch, dass die Welt voller großartiger Geschichten-Hörer ist, einschließlich der 7000 von Ihnen, die viermal pro Woche zu »Bleiben Sie behütet« kommen. Pádraig Ó Tuama fragt in der Einleitung: »Können wir durch eine Geschichte, deren Ursprung wir nicht kennen, in einer Art narrativer Kreativität gehalten werden?« *

Ich glaube, wir können.

* Borders and Belonging:

The Book of Ruth: A Story for our Times,

Pádraig Ó Tuama and Glenn Jordan

Erik Riechers SAC, 10. Februar 2021

 

 

Mehr Leben kann herrlich sein - »ganz schön schwer«!

 

In der gestrigen Predigt legte Erik aus, was in den wenigen Versen über die Heilung der Schwiegermutter des Simon an Hilfen und Lebensunterweisungen für uns steckt. Wahrscheinlich ging es Ihnen wie mir: Sie staunten. Und dann begannen Sie daraus zu schöpfen - eigene Erfahrungen erinnernd und auf Kommendes schauend. Das alles setzte aber voraus, dass Sie diese Predigt wirklich in ihrer Fülle gelesen haben, ohne Abkürzungen, ohne »Kenne ich schon«, ohne frühzeitigen Abbruch.

Das ist eine Herausforderung, die uns immer wieder begegnet im Leben: uns wird ein Angebot zum volleren und reicheren Leben gemacht, zu mehr Heil und Freude. Doch wie gehen wir mit diesem Angebot um? Leider geschieht es immer wieder, dass wir uns nicht darauf einlassen. Manchmal hören wir nicht richtig hin, nehmen ein Angebot nur oberflächlich wahr und stoßen gar nicht vor zu dem Schatz, der für uns darin stecken könnte. Oft sind wir ungeduldig: dann ist uns ein Gottesdienst zu lang, ein Artikel zu ausführlich, ein Mensch, der mit uns redet, zu ausufernd und wir steigen aus, noch bevor wir richtig eingestiegen sind. Es gibt aber auch Herausforderungen, auf die wir uns zwar einlassen, die wir aber Stück für Stück zerlegen: Ja, das kann ich hören, aber es ist so schwierig - ja, aber was würde das bringen - ja, aber damit komme ich nicht durch, . . . ja, aber. . . , ja, aber! Dann bleiben wir innerlich stehen, beharren auf dem, was wir schon kennen, sitzen gewissenmaßen fest und versuchen dies zu rechtfertigen. Ich glaube, dies meint Psalm 1, wenn er davor warnt, auf dem Weg der Sünder zu stehen und im Kreis der Spötter zu sitzen. Er lädt den Menschen ein,  sich auf die Lebensunterweisung Gottes einzulassen, beharrlich, geduldig, stetig: Selig wird hier genannt, der »sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.« Die Weisung des Herrn ist das Wort, das der Mensch, der selig genannt wird, an sich heranlässt und an dem er Gefallen findet. Aber das allein reicht nicht. Beständig ist es in seinem Sinn; am Tag wird er manches anders betrachten als in der Nacht, doch er bleibt dran und schöpft daraus für sein Leben: »Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, es wird ihm gelingen.« Herrlich kann dann das Leben werden, und das hebräische Wort kabod für herrlich bedeutet etwa: ganz schön schwer!

Warum also würden wir, wenn sich uns eine Quelle zum Leben auftut, sie leichtfertig übergehen? Wäre es nicht ein Frevel an uns selbst?

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. Februar 2021

 

 

Ein Ort der Berührung

5. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 29-39

 

Als ich vor einigen Tagen aus meinem Fenster schaute, sah ich ein mir bekanntes älteres Ehepaar vorbeigehen. Es ging nur langsam voran, denn seit geraumer Zeit versinkt die Frau allmählich in die Demenz. In diesem Moment ließ sie ihre Handschuhe auf den Boden fallen. Ihr Mann bückte sich und hob sie auf. Sichtlich verärgert warf er sie in den Korb an der Vorderseite ihres Rollators, schrie sie an, sie solle vorsichtiger sein, und ging dann frustriert davon. Diese kleine Szene beunruhigte mich für den Rest des Tages.

Es ist eine Szene, die sich in diesen langwierigen Tagen der Pandemie in vielerlei Hinsicht auf vielen Ebenen wiederholt. Es ist nicht unerwartet. Angesichts ständiger und andauernder Krisen werden wir müde, verlieren unsere Geduld, unsere Perspektive und manchmal auch unsere Nerven. In solchen Momenten zeigen wir uns nicht von unserer besten Seite. Diese nicht enden wollenden Tage können uns so sehr zermürben, dass wir das Gefühl haben, keine Ressourcen mehr zu haben, um mit der nicht enden wollenden Geschichte, die zu unserer Krise geworden ist, umzugehen. Wir leiden unter der Krankheit der erschöpften Seele.

Das heutige Evangelium kann uns eine sanfte Führung durch diese unruhige Zeit bieten. Die Geschichte, die wir heute hören, ist die Fortsetzung einer Geschichte, die letzten Sonntag begann. Es ist eine Geschichte, die sich durch einen kompletten Sabbat-Tag im Leben Jesu schlängelt. Auf der Reise durch diesen Sabbat geht es um eine große Wiederherstellung. Während Jesus durch diesen Tag geht, erzählt uns Markus in drei Episoden, wie der Lehrmeister dem Sabbat seinen tiefsten Sinn und Zweck zurückgibt.  Zuerst hören wir, wie Jesus die Tiefen des authentischen Glaubens und der Anbetung durch die Austreibung des unreinen Geistes in dem Mann in der Synagoge wiederherstellt (Folge 1). Dann hören wir zwei weitere Episoden dieser fortlaufenden Erzählung. Da ist die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, so dass Feiern und Festlichkeit wieder möglich wird (Folge 2). Darauf folgt die Heilung der Menschen vor den Toren der Stadt nach Sonnenuntergang am Sabbat (Folge 3).

Es ist die zweite Episode der Heilung der Schwiegermutter von Petrus, der ich mich zuwenden möchte.

Und sogleich verließen sie die Synagoge und gingen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und des Andreas.

Die Schwiegermutter des Simon aber lag mit hohem Fieber im Bett; und sogleich erzählten sie ihm von ihr.

Und er trat herzu, nahm ihre Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr, und sie bewirtete sie.

 

Es wird Sie sicher nicht überraschen, wenn ich Ihnen gleich zu Beginn sage, dass hinter dieser Geschichte mehr steckt als wir zuerst ahnen. Subtil eingewoben in das Geflecht dieser Geschichte ist ein Weg nach vorne, durch Krise und Erschöpfung hindurch. Dieser Weg gibt Antwort auf die Frage, die in unserem krisengeschüttelten Leben brennt: Was können wir also tun?

Erlauben Sie mir, Ihnen sieben Schritte innerhalb der Geschichte zu enthüllen.

 

1. Erzähle die Geschichte, die nicht offensichtlich ist.

»Sie erzählten ihm von ihr.« Sobald Jesus das Haus der Brüder Simon und Andreas betritt, erzählen sie ihm von den Leiden und der Not der Schwiegermutter des Simon. Das ist ein sehr guter Ansatzpunkt.

Wir müssen die Geschichten von Not und Gnade in unserem allzu konkreten Leben den Menschen erzählen, die sie nicht kennen oder nicht wahrnehmen können, wenn wir nicht davon sprechen. Wir müssen die Geschichten der Menschen in unserem Leben erzählen, die vor Fieber brennen. Wir müssen die Geschichten der Menschen erzählen, die für den Außenstehenden aus den Augen und aus dem Sinn sind. Ohne diese Erzählung kennt Jesus nicht das Drama, das sich in einem anderen Raum desselben Hauses abspielt. Ohne dieses Geschichtenerzählen können wir die Dramen nicht kennen, die sich in den anderen Räumen im Leben und in den Herzen unsere Mitmenschen abspielen. Geschichtenerzählen öffnet die Türen zu verborgenem Leid, das sonst für immer ungesehen bleiben würde. Doch sobald es diese Tür öffnet, führt es zu Solidarität, Kameradschaft und einem unmittelbaren Hilfsangebot.

Öffne einen neuen Horizont in der Stunde der Krise!

 

2. Erzähle die Geschichte ohne unnötige Verzögerung:

Jesus braucht sie auch nicht aus den Lehrlingen herauszuziehen. »Und sogleich erzählten sie ihm von ihr.« Es gibt kein Zögern, kein Warten auf einen besseren, angemesseneren oder günstigeren Moment, kein Herumreden. Soziale Nettigkeiten und Konventionen sind schön und gut, aber wie oft machen sie uns zu schüchtern und zögerlich, um über das zu sprechen, was wirklich vor sich geht, sowohl in unseren Häusern als auch in unseren Herzen? Ich habe das in den Jahrzehnten der geistlichen Begleitung oft erlebt. Manche Menschen sitzen da und reden über alle möglichen Dinge, bevor sie die Geschichte erzählen, die sie überhaupt erst durch meine Tür gebracht hat. Noch schlimmer sind die zurückhaltenden Spielchen, die wir miteinander treiben, indem wir eine Notlage, die unser Herz plagt, andeuten, ohne die Geschichte direkt zu erzählen. Wir lassen genügend Hinweise in unseren Worten, Gesten und unserer Körpersprache fallen, in der Hoffnung, dass andere die Spur aufnehmen und uns fragen werden, was uns wirklich bedrückt.

Nicht so diese Gefährten Jesu. Sie erzählten ihm »sogleich« von ihr. Das gibt Jesus die Möglichkeit, sofort zu handeln, sofort ein Angebot der Hilfe und der Heilung zu machen.

In der Stunde der Krise, zögert die Hoffnung nicht hinaus!

 

3. Wähle die Annäherung an den Anderen.

»Und er trat herzu…«. Diesem einfachen Schritt widmet die Geschichte nicht einmal einen ganzen Satz. Aber es ist dennoch ein Schritt, und von nicht geringer Bedeutung. Eine Geschichte zu hören ist noch längst nicht dasselbe als von einer Geschichte bewegt zu werden. Wir können auch still zuhören, unser Mitgefühl ausdrücken und dann schnell das Thema wechseln. Wir können von Orten des Leidens hören, ohne sie je aufzusuchen. Wir können die Geschichten von leidenden Menschen hören, ohne einen Drang zu verspüren, sie zu besuchen.

Jesus entscheidet sich, auf diese Frau zuzugehen. Das ist eine echte Wahl, eine bewusste und überlegte Entscheidung. Um das zu tun, geht er in einen anderen Raum des Hauses. Das ist die klassische Bewegung, die wir üben müssen, sich von dem Ort, an dem die Geschichte erzählt wird, zu dem Ort zu bewegen, an dem die Geschichte stattfindet. Das erfordert, dass wir uns in andere Räume bewegen als die, in denen wir uns gerade befinden. Wir sind aufgerufen, die Räume zu verlassen, in denen wir uns bereits eingerichtet haben, die ein warmes und bequemes Gefühl vermitteln. Wenn wir das tun, werden die Orte ihres Unbehagens zu den Orten unseres Unbehagens. Wir nähern uns dem anderen in seinem Leiden und seiner Not, indem wir die Räume des Lebens betreten, in denen sich Leiden entfaltet. Das ist authentische Barmherzigkeit, denn echte Barmherzigkeit ist nicht ein Gefühl, sondern die Bereitschaft, in das Chaos des anderen einzutreten.

Machen wir uns auf, um in der Stunde der Krise Präsenz und Hilfe anzubieten!

 

4. Schaffe einen Ort der Berührung.

In dieser Geschichte erzählt uns Markus, dass Jesus, nachdem er sich Simons Schwiegermutter genähert hatte, »ihre Hand nahm«. Wie bei vielen Handlungen in biblischen Geschichten ist das leichter gesagt als getan. Der nächste Schritt zur Heilung ist die Berührung. Besser gesagt, es geht darum, einen Ort der Berührung zu schaffen. Die kalte Berührung heilt nichts und niemanden. Die heilende Berührung erfordert einen Raum, in dem sich eine zweifache Handlung entfalten kann.

Der erste Teil ist das, was Jesus tut. Es ist die Handlung des Gebenden, das Angebot der Verbindung, das zeigt, dass er keine Angst hat, dem zu begegnen und das zu berühren, was einen anderen plagt. Zu berühren, wie Jesus es in dieser Geschichte tut, ist bereits ein Akt des Erzählens, denn es enthüllt der leidenden Person, dass wir bereit sind, mit ihr in Kontakt zu kommen. Außerdem zeigt es die Bereitschaft, sich mit allen Teilen ihres Lebens zu verbinden und nicht nur mit ihren schönsten Momenten. Wir sind berufen, die Begleiter all ihrer Stunden zu sein, nicht nur ihrer schönsten Stunden. Jeder kann die attraktiven, ansprechenden, schönen und charmanten Menschen der Welt umarmen und küssen. Wir freuen uns normalerweise darüber. Aber nur Franz von Assisi kann den Aussätzigen umarmen und küssen. Er tut dies aus demselben tiefen Ort der Seele heraus, aus dem auch Jesus handelt.

In hartnäckig andauernden Krisen müssen wir die hässlichen Stellen, die aussätzigen Stellen, die fiebrigen Stellen im Leben unserer Brüder und Schwestern berühren. Dieser Ort der Berührung zeigt unseren Brüdern und Schwestern, dass wir keine Angst vor all dem haben, was ihre persönliche Geschichte ausmacht, dass wir nicht das herauspicken, was attraktiv ist, und den ganzen Rest vernachlässigen. Einen anderen so zu berühren bedeutet, einander zu zeigen, dass wir keine Schönwetterfreunde sind. Zugleich schenkt es den Betroffenen die Gabe der Ermutigung. Wenn wir nicht gemieden werden wegen dem, was uns schwächt, dann haben wir weniger Angst, zu zeigen, was uns schwächt. 

Der andere Teil des berührenden Erlebnisses ist das, was Simons Schwiegermutter tut. Sie zieht sich nicht zurück. Sie lässt sich berühren. Wann haben Sie sich das letzte Mal in Ihrer Not berühren lassen? Wann haben Sie das letzte Mal zugelassen, dass ein anderer Sie in einer Stunde berührt, in der es Ihnen nicht so gut ging? Ich habe einmal versucht, eine Frau in einem Krankenhaus zu besuchen, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sie weigerte sich jedoch, mich sie besuchen zu lassen. Durch ihren Ehemann drückte sie ihre Dankbarkeit für mein Angebot aus, lehnte es aber jedes Mal ab. Dieses Hin und Her von Angebot und Ablehnung zog sich über Monate hin. Fast ein Jahr später, nachdem sie sich erholt hatte, kamen wir zu einem Gespräch zusammen. Das erste, was sie tat, war sich zu bedanken für meine wiederholten Angebote sie zu besuchen. Doch gleich darauf fügte sie hinzu. »Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.«  Worauf ich traurig bemerkte: »Ich verstehe das, aber jetzt brauchst du kaum noch einen Ort der Berührung.«

Wir müssen einen Ort der Berührung schaffen. Dies wird oft geschehen müssen. Eine Lieblingshymne von mir trägt den Titel: »The Touching Place« (Der Ort der Berührung). Sein Refrain erzählt wunderschön von der Mission, die uns in den Knochen stecken muss:

Dem Verlorenen zeigt Christus sein Angesicht,

den Ungeliebten schenkt er seine Umarmung,

zu denen, die vor Schmerz oder Schande weinen

macht Christus, mit seinen Freunden, einen Ort der Berührung.

Die Strophen dieses Liedes benennen eine Unzahl von Menschen, deren Bedürfnis nach Berührung wir spüren müssen. Wir müssen für die Menschen fühlen, die wir meiden, die uns fremd erscheinen, die einen Verlust erleiden oder nie einen festen Platz hatten. Wir müssen das Bedürfnis nach einem Ort der Berührung spüren in den Frauen und Männern, die fürchten, dass ihr Leben ohne Sinn und Zweck ist, für Eltern, die ihr Kind verloren haben, für Frauen, die von Männern geschändet wurden, und für den Säugling, für den es keine Brust gibt. Wir müssen den Wunsch verspüren, mit Christus einen Ort der Berührung für die Müden zu schaffen, für die, die keine Ruhe finden, für diejenigen, die vom Leben verwirrt, von Zweifeln geplagt, einsam im Herzen und ängstlich vor Neuanfängen sind.

Berühre die Wunden in der Stunde der Krise!

 

5. Leihen wir anderen unsere Kraft.

So wichtig es auch ist, einen Ort der Berührung zu schaffen, das reicht nicht aus. Der nächste Schritt für Jesus wird beschrieben als er »richtete sie auf.« Hier wird uns eine sanfte Warnung gegeben. Die Bereitschaft, eine Person zu berühren, ist nicht dasselbe wie die Bereitschaft, sie aufzurichten.

Was Jesus tut, ist einfach. Er fügt seine Kraft zu der der Frau hinzu. Er lässt einen Teil seiner Kraft durch seine Berührung fließen, so dass sie daraus schöpfen kann und dann beginnen kann, wieder ins Leben hineinzugehen. Die Bereitschaft, einen anderen aufzurichten, spricht Bände über das Herz. Es sagt dem anderen, dass wir ihn auf halbem Weg nicht im Stich lassen werden. Wir sind verlässliche Begleiter auf dieser Reise. Wir richten sie auf, um unsere hartnäckige Weigerung zu demonstrieren, jemand zurückzulassen. Nur weil einer unserer Gefährten gestolpert und gefallen ist, heißt das nicht, dass wir bereit sind, ihn den Kräften der Dunkelheit und des Elends zu überlassen. Wir erwarten von unseren Gefährten nicht, dass sie an irgendeinem Punkt unseres gemeinsamen Abenteuers alleine gehen müssen, dass sie es alleine schaffen sollten.

Jesus berührt nicht einfach diese Frau und geht dann weg. Genau das ist die Lektion. Wie der Lehrmeister müssen wir das, was wir in der Stunde der Krise berühren, auch bereit sein zu stärken.

 

6. Heile an den gewöhnlichen Orten des Lebens.

Wo können wir das alles tun? Gleich im ersten Satz dieser Episode der Sabbatgeschichte werden wir daran erinnert, dass wir nicht mehr in der Synagoge sind, in einem heiligen Raum. Jetzt sind wir in einem gewöhnlichen Haus. Dies ist ein bodenständiger Ort, an dem eine kranke Frau lebt, und leidet und fiebert. »Und sogleich verließen sie die Synagoge und gingen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und des Andreas.«

Alles, was Jesus für und mit dieser Frau tut, geschieht an den gewöhnlichen Orten ihres Lebens. Er erwartet nicht von ihr, dass sie einen exotischeren Ort, einen heiligeren Raum, aufsucht, um Heilung zu finden. Wo sie lebt, wird sie geheilt. Wo sie leidet, wird sie aufgerichtet.

Doch in dem Moment, in dem wir der Führung Jesu folgen, beteiligen wir uns an der Stärkung einer entkräfteten Gnadenerzählung und stellen wir sie wieder her. Anstatt heilige Orte zu suchen, müssen wir lernen, die Orte zu heiligen, an denen wir uns befinden. Sorgen wir dafür, dass wir nicht unser ganzes Leben damit verbringen, nach einem besonderen Ort zu suchen, an dem Gott uns berührt. Sorgen wir stattdessen dafür, dass wir jeden Ort zu etwas Besonderem machen, indem wir ihn für das Potenzial und die Kraft Gottes öffnen. Machen wir das Zuhause, das Herdfeuer und das Krankenbett heilig!

 

7. Stelle das Leben wieder her und somit die Dienstbereitschaft und die Freude.

Die Erzählung endet mit der sanften Zeile: »Da wich das Fieber von ihr, und sie bewirtete sie.«

Deshalb ist diese Episode entscheidend für die Geschichte der großen Wiederherstellung des Sabbats. Die Wiederherstellung des Lebens wird immer zur Wiederherstellung der Dienstbereitschaft führen. Diese Frau war erschöpft von einem Fieber, das ihre Kraft und ihren Lebenswillen verzehrte. Jetzt ist sie in der Lage, wieder ins Leben hineinzugehen. Sie hat wieder die Kraft und den Willen, zum Wohlergehen der Menschen unter ihrem Dach beizutragen. Sie ist wieder in der Lage, aktiv am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen.

Das wiederum führt zur Wiederherstellung der Freude, einem entscheidenden Element des gesamten Sabbatlebens. Die Gastfreundschaft, die sie anbietet, die Tische, die sie deckt, sind nicht die niederen Aufgaben von Bediensteten, sondern die liebevolle Fürsorge von Gastgebern. Sie ist maßgeblich daran beteiligt, einen Ort des Willkommens, des Feierns und der Zugehörigkeit zu schaffen, weil sie von den fiebrigen Ketten befreit wurde, die ihre Kraft fesselten und sie an Passivität banden.

So sollten wir dafür sorgen, dass am Ende alle diese Schritte zu diesem Ziel führen. Es reicht nicht aus, nach der Krise nur erleichtert zu sein. Sobald wir sie überwunden haben, sollten wir die Dienstbereitschaft und die Freude wiederherstellen und neu beleben.

 

John Keats schrieb einmal: »Berührung hat ein Gedächtnis«. Ob wir uns berühren und wie wir uns berühren, schafft bleibende Erinnerungen. Wir werden sie nicht vergessen, wenn diese Tage vorbei sind. Ich möchte Sie mit einer letzten Geschichte verlassen, dem Gegenstück zu der, mit der ich begonnen habe.

Sie wird von Michael Leetch erzählt. Er lebt mit seiner Frau Vickie zusammen, mit der er über vierzig Jahre verheiratet ist. Sie befindet sich jetzt in einem fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer-Krankheit. Hören Sie sich einen kurzen Auszug aus dem an, was er über das Aufstehen am Morgen mit ihr schreibt.

»Wir gehen unsere vertraute Liturgie der Hygiene und des Anziehens durch, Vickie zuerst. Das dauert ungefähr so lange wie eine Frühmesse mit einem Priester und einem Messdiener, die es richtig machen wollen, auch wenn niemand zuschaut. Wir umarmen uns, bevor wir nach unten gehen, und ich sage: ‚Das hast du gut gemacht, Süße‘, und sie sagt: ‚Danke‘, zwei Worte, die sie sich immer gemerkt hat, und ich erinnere mich an den Spruch von Meister Eckhart: ‚Wenn das einzige Gebet, das du in deinem ganzen Leben sagst, ein Dankeschön ist, dann ist es genug.‘ «*

Das ist ein Ort der Berührung, ein Zuhause, das geheiligt wurde. Und, wie wir feststellen dürfen, sogar im Griff der Alzheimer-Krankheit wird an zwei Worte erinnert. In der Tat, »Berührung hat ein Gedächtnis«.

*Michael Leetch,

»Life is all about getting up in the morning« 

Erik Riechers SAC, 7. Februar 2021

 

 

»Und die Leute blieben zu Hause«

 

In den letzten 10 Monaten waren die meisten von uns sicher mehr im Internet unterwegs als je zuvor. Denn Kommunikation ist möglich auf diesen Wegen und immer wieder erfreuen wir uns an Bildern und Texten, die uns weitergeleitet werden. So wurde mir ein Gedicht geschenkt, dessen Ursprung im Internet kontrovers diskutiert wurde und das wohl nicht aus einem Roman des 19. Jahrhunderts stammt, sondern von einer Amerikanerin, die lange Zeit in der Palliativmedizin gearbeitet hat,  Catherine "Kitty" O'Meara. Sie war traurig und beunruhigt im Frühjahr 2020 und hatte Angst um ihre früheren Kollegen. Sie wollte ihren Freunden helfen, und als bei ihr Sorge und Traurigkeit wuchsen, riet ihr Mann ihr zu schreiben. So setzte sie sich einfach hin, schrieb ihre Gedanken nieder und veröffentlichte das Gedicht auf Facebook; das hatte sie auch vorher schon getan. Doch nie hatte sie eine solche Resonanz gehabt. Lesen Sie selbst: 

                                Und die Leute blieben zu Hause

und lasen Bücher

und hörten zu

und ruhten

und übten

und machten Kunst

und spielten

und lernten neue Wege des Seins

und stoppten

und lauschten tiefer

jemand meditierte

jemand betete

jemand tanzte

jemand traf seinen Schatten

und die Leute begannen differenziert zu denken

und die Leute heilten

und in der Abwesenheit von Menschen

die in ignoranten Weisen lebten

gefährlich, bedeutungslos und herzlos,

begann sogar die Erde zu heilen

und als die Gefahr vorüber war,

und die Menschen einander fanden,

trauerten sie um die Toten

und sie trafen neue Entscheidungen

und träumten von neuen Visionen

und schufen neue Lebensweisen

und heilten die Erde ganz,

genauso wie sie selbst geheilt waren.

 

Woran liegt es, dass diese Worte seit Monaten eine solche Wirkung haben?

Zwei Gedanken kommen mir dazu.

Wir sind berührt davon, dass und wie eine Frau hier zum Ausdruck bringt, was in ihr vorgeht. In der Zeit, in der die Pandemie in den USA immer katastrophaler wurde, fand sie Worte und sprach sie in die Welt hinaus.

Zweitens sind ihre Worte durch und durch positiv in ihrer schlichten rhythmischen Folge. Sie spricht von Leben und von Lebensmöglichkeiten, die ergriffen und von innen heraus entfaltet werden. »Die Leute« lassen sich nicht (mehr) unterhalten und von außen bestimmen, sondern indem sie zu Hause bleiben, beginnen sie frei zu handeln, selbst tätig zu werden, kreativ und vielfältig. Weil wir das nicht mehr gut können, klagen seit Monaten so viele darüber, dass die Tage sich nicht mehr unterscheiden und sie mehr oder weniger dahin fließen. Aber das muss nicht so sein. Wir könnten üben . . . und lernen . . . und lauschen . . . und beten.

Dieses Gedicht ist aus Sehnsucht nach Leben und Heil entstanden - und diese Sehnsucht steckt in vielen von uns. Geben wir ihr Raum!

 

Rosemarie Monnerjahn, 5. Februar 2021

 

 

Raum für Gott

 

Neulich in einem ernsten Gespräch über schwierige Lebensthemen fiel der Satz: »Aber wir dürfen nicht vergessen: wir haben bei allem auch den lieben Gott an unserer Seite!«

Das Gegenüber hielt inne und es entstand eine lange Stille. Und dann brach es langsam aus ihm heraus. Wie hatte er sich abgemüht! Was hatte er alles versucht und getan! Doch statt dass es leichter wurde, schienen immer mehr Probleme zu entstehen. Er war ein gläubiger Mann - und ihn erschreckte dieser Gedanke. Nein, es war nicht der Gedanke selbst, sondern wie fern er ihm gewesen war. Er selbst hatte dauernd versucht, alles im Blick zu behalten; er hatte sich gesorgt bis weit in die Zukunft hinein, sich innerlich abgestrampelt. »Wie konnte ich das vergessen?«, fragte er sich, leise murmelnd, »wieso habe ich gedacht und gefühlt und gesorgt, als läge alles allein an mir?«

Dies geht mir seither nicht aus dem Sinn. Warum habt ihr kein Vertrauen? Warum ist euer Glaube so klein? Mit diesen Fragen wurden schon die Jünger Jesu konfrontiert. Sie reagierten mit Erschrecken, Bestürzung, Staunen. Sie mussten es üben, so wie wir es üben müssen. Vieles liegt in unseren Händen, aber nicht alles. Das sollte uns nicht frustrieren, sondern es darf uns ermutigen, das Unsere zu tun und Gott das Seine zu überlassen. Dann mag statt endloser Sorge Dankbarkeit in unseren Herzen wachsen über so vieles, was gelingt im Miteinander von Gott und seinen Menschen.

Der kurze Psalm 67 verleiht unserem vertrauensvollen Bitten mit zugleich dankbarem Herzen Ausdruck:

Gott sei uns gnädig und segne uns.

Er lasse sein Angesicht über uns leuchten,

damit man auf Erden deinen Weg erkenne,

deine Rettung unter allen Völkern.

Die Völker sollen dir danken, Gott,

danken sollen dir die Völker alle.

Die Nationen sollen sich freuen und jubeln,

denn du richtest die Völker nach Recht

und leitest die Nationen auf Erden.

Die Völker sollen dir danken, Gott,

danken sollen dir die Völker alle.

Die Erde gab ihren Ertrag.

Gott, unser Gott, er segne uns!

Es segne uns Gott!

Fürchten sollen ihn alle Enden der Erde.

In der Bibel gilt die Furcht des Herrn als Anfang der Erkenntnis, die Achtung seiner Lebensunterweisung gilt als weise. Denn: Er ist mit uns unterwegs, komme was kommt, bis zum Ende aller Tage.

 

Rosemarie Monnerjahn, 3. Februar 2021

 

 

Die grandiose Niederlage

 

Kürzlich habe ich Frederick Buechners Buch »The Magnificent Defeat« (Die grandiose Niederlage) wieder gelesen. Es ist eine Sammlung von Predigten dieses mittlerweile 94-jährigen amerikanischen Theologen, Romanciers und Pastors. Meine Lieblingspredigt in diesem Werk gibt dem Buch seinen Namen, seine homiletische Reflexion über Jakob, der mit Gott am Jabbok ringt.

In dieser Predigt weist Frederick Buechner darauf hin, wie oft Jakob die Siege und Erfolge seines Lebens durch Betrug und seine Bereitschaft, locker mit den Regeln umzugehen, erreicht hat. Er wird reich, vermehrt seinen Wohlstand ständig, hat zwei Frauen und eine Vielzahl von Kindern. Er gedeiht auf jeder Ebene, die für uns Menschen von Bedeutung ist.

Nach zwanzig Jahren im Exil beschließt er, nach Hause zurückzukehren. Kurz bevor er die Grenze zurück in seine Heimat überquert, erlebt er eine verblüffende Umkehrung seines Glücks und erleidet eine Niederlage gegen einen Fremden. Seine Siegesserie ist zu Ende.

In derselben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Kinder und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihn nicht besiegen konnte, berührte er sein Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. Er sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Er entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Er fragte ihn: Wie ist dein Name? Jakob, antwortete er. Er sagte: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel - Gottesstreiter - ; denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Er entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Jakob gab dem Ort den Namen Peniël - Gottes Angesicht - und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen. Die Sonne schien bereits auf ihn, als er durch Penuël zog; er hinkte an seiner Hüfte.

Genesis 32:22-31

An diesem bezeichnenden Moment in seinem Leben, einem Wendepunkt, erlangt Jakob nicht den größten und überwältigendsten Triumph seines Lebens. Stattdessen erleidet er das, was Frederick Buechner als »Die grandiose Niederlage« beschreibt!

Aber dann fährt Buechner fort und stellt eine faszinierende Frage: Warum klammert sich Jakob, der gerade eine so schwere Niederlage erlitten hat, mit solcher Heftigkeit an den Gegner, der ihm diesen schmachvollen Untergang zugefügt hat? Warum beharrt er darauf: »Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest!« Normalerweise entfernen wir uns gerne und flott von denen, die uns geschlagen haben und versuchen, die ganze Episode so schnell wie möglich zu  vergessen.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich Buechners Antwort vor mehr als 35 Jahren las. Und ich teile seine Worte mit Ihnen, in der Hoffnung, dass sie Sie bewegen werden, wie sie mich bewegt haben, und dass Sie sie lieben lernen, wie ich sie lieben gelernt habe.

»Die Dunkelheit hat sich gerade soweit verzogen, dass er zum ersten Mal das Gesicht seines Gegners schemenhaft erkennen kann. Und was er sieht, ist etwas Schrecklicheres als das Gesicht des Todes - das Gesicht der Liebe. Es ist groß und stark, halb zerschlagen vor Leid und heftig vor Freude, das Gesicht, vor dem ein Mann die ganze Dunkelheit seiner Tage flieht, bis er endlich ausruft: ‚Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.‘ Nicht einen Segen, den er nun durch die Kraft seiner List oder die Macht seines Willens haben kann, sondern einen Segen, den er nur als Geschenk haben kann.

Macht, Erfolg, Glück, wie die Welt sie kennt, bekommt der, der hart genug dafür kämpft; aber Frieden, Liebe, Freude, sind nur von Gott. Und Gott ist natürlich der Feind, den Jakob dort am Fluss bekämpft hat, und den wir alle auf die eine oder andere Weise bekämpfen - Gott, der geliebte Feind. Unser Feind, weil er, bevor er uns alles gibt, alles von uns verlangt; bevor er uns das Leben gibt, verlangt er unser Leben - unser Selbst, unseren Willen, unseren Schatz.

Werden wir sie geben, Sie und ich? Ich weiß es nicht. Erinnern Sie sich nur an den letzten Blick, den wir auf Jakob werfen, der gegen die große Feuersbrunst der Morgendämmerung nach Hause humpelt. Erinnern Sie sich an Jesus von Nazareth, der auf gebrochenen Füßen aus dem Grab in Richtung Auferstehung taumelte und an seinem Körper die stolzen Insignien der Niederlage trug, der Sieg ist, die großartige Niederlage der menschlichen Seele durch die Hand Gottes.«

Bei dieser Pandemie haben wir hart gekämpft, um einen großen und überwältigenden Sieg über das Corona-Virus zu erringen. Zum größten Teil ist uns dieser Triumph entgangen. Trotz unseres Geldes und unserer Technologie, den Dingen, denen wir am meisten vertrauen, haben wir eine lange Reihe von Niederlagen erlitten. Wir haben viele ärgerliche und frustrierende Rückschläge auf dem Weg zur Heilung erlitten, die nun am Horizont erscheint. Selbst wenn wir es endlich geschafft haben, werden wir uns immer noch mit den anhaltenden und bleibenden menschlichen, spirituellen, psychologischen, medizinischen und wirtschaftlichen Problemen auseinandersetzen müssen, die durch die Pandemie entstanden sind, wahrscheinlich über Jahre hinweg. Wir werden von dieser Pandemie wegkommen, aber wir werden humpelnd davongehen.

Vielleicht ist dies unsere »grandiose Niederlage«. Vielleicht ist dies unser Jabbok, wo wir jenes Quäntchen Bescheidenheit lernen können, das uns als Männer und Frauen des Glaubens, die mit Gott unterwegs sind, ausmacht. Wir haben es geschafft, Impfstoffe gegen den Virus herzustellen, aber wir können nicht das herstellen, wonach wir uns in diesen Stunden der Einsamkeit, der Isolation, der Angst, des Leidens und der Ungewissheit am meisten sehnen. »Macht, Erfolg, Glück, wie die Welt sie kennt, bekommt der, der hart genug dafür kämpft; aber Frieden, Liebe, Freude, sind nur von Gott.«

 

Erik Riechers SAC, 1. Februar 2021

 

 

Autorität üben

4. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 21–28

 

Die heutige biblische Erzählung ist ziemlich dramatisch. Unreine Geister schreien lauthals in der Synagoge herum und zerstören, was eher eine ruhige Erfahrung sein sollte. Denn die Menschen haben sich an einem Sabbat in einer Synagoge versammelt, um Gott zu loben und zu beten. Wenn wir sonntags in die Kirche gehen, erwarten auch wir nicht, dass sich hier hohe abenteuerliche Dramen abspielen. Aber es gibt keine Räume, auch diese nicht, die immun sind vor der Gegenwart Jesu und der Wallung, die sie mit sich bringt.

Jesus lehrt gerade in der Synagoge, als ein Mann mit einem unreinen Geist schreit:

Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret?

Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen?

Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes.

Der Raum und die Zeit hindern Jesus nicht. Heilige Zeiten und heilige Räume haben ihre eigenen Regeln, aber wenn es um Menschen und ihr Heil geht, dann sind die Regeln sekundär.

In biblischen Erzählungen sind unreine Geister, wie Dämonen, die Mächte, die wir selbst stark machen. Wir machen sie stärker als sie sind durch die Art, wie wir sie betrachten.

  1. Diese Mächte erscheinen in unserem Leben. Sie werden von alleine nicht weg gehen und sind auch nicht leicht zu beseitigen.
  2. Wir machen sie stärker als sie sind durch die Art, wie wir sie betrachten. Wir sehen sie als unüberwindbar, als unbesiegbar.
  3. Dann machen wir sie stärker als sie sind durch unseren Umgang mit ihnen. Die Sichtweise, die uns diese Mächte als unbesiegbar ansehen lässt, führt dazu, dass wir dann sagen: »Es nutzt es eh nichts.« Wir wählen die Resignation.
  4. Die Resignation führt uns zu drei klassischen Haltungen:
    • Vermeidung (wir gehen dem Problem aus dem Weg)
    • Verleugnung (wir machen so, als ob es kein Problem gäbe)
    • Verdrängung (wir schieben es beiseite mit Arbeit, Unterhaltung und Ablenkung.

Und diese drei Momente sind die Art und Weise, wie wir mit Dämonen verhandeln.

  1. Und schon haben diese Mächte freie Hand zu tun, was sie wollen, weil wir jeden Widerstand als zwecklos bezeichnen. Sie gewinnen nicht, indem sie uns im Kampf besiegen, sondern weil wir nie zum Kampf erschienen sind.

Noch schlimmer, viele Formen der Resignation können wir sogar theologisch stärken und rechtfertigen. Die traditionelle Lehre sagt: Meide alles, was unrein ist, seien es Speisen, Menschen oder Orte. Gehe auf Distanz, komme damit nicht in Berührung. Schütze so deine Reinheit und deine Heiligkeit.

In dieser erstaunlichen Erzählung gibt es jetzt eine unerwartete Wende. Der unreine Geist, der es gewohnt ist, andere zu schockieren, ist selbst schockiert. Da Jesus der Heilige Gottes ist (wie sie ihn selbst benennen), müsste er alles vermeiden, was unrein ist. Das ist die geerbte Auslegung für diese Stunde: Trennung und Distanz. Darum ist der unreine Geist fassungslos, als er in Jesus eine andere Strategie wittert. »Bist du gekommen, um uns zu vernichten?« Unreine Geister und Dämonen haben ihre Erwartungen an uns, genau wie wir unsere Erwartungen an sie haben. Wir haben die Erwartung, dass wir machtlos sind und gegen sie nichts bewirken können. Sie haben die Erwartung, dass wir nach diesen Spielregeln immer weiter machen werden.

Darum hat dieser unreine Geist die Erwartung, dass Jesus ihm sagen wird: »Mit dir werde ich nichts zu tun haben«. Aber die Antwort Jesu erfüllt diese Erwartung nicht:

Er bringt ihn zum Schweigen. Im Urtext steht sogar: Ich lege dir einen Maulkorb um. Jesus verhandelt nicht mit unreinen Geistern und Dämonen. Hier gibt es keine Strategie der Resignation:

  1. Keine Vermeidung (Jesus geht dem unreinen Geist nicht aus dem Weg, sondern geht auf ihn zu)
  2. Keine Verleugnung (Jesus verschließt seine Augen nicht und macht weiter, als ob nichts wäre)
  3. Keine Verdrängung (Jesus schiebt es nicht beiseite, indem er andere Heilungen übernimmt, Predigten hält oder sich mit anderen, angenehmeren Themen ablenkt)

Und er vertreibt ihn. ER ist nicht bereit, irgendetwas, was seinem Vater gehört, was zum Licht und Leben Gottes gehört, den unreinen Geistern zu überlassen. Jesus erkennt den furchtbaren Preis der Vermeidungstaktik von Trennung und Distanz: Dann müsste er diesen Mann den unreinen Geistern überlassen.

Die Leute in der Synagoge rufen aus: »Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht: Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl.«

Die neue Lehre ist Engagement und Eliminierung, nicht Vermeidung.

Die Haltung Jesu ist klar. Er hat die Absicht, Menschen von allem zu befreien, was sie im Griff haben, wovon sie besessen sind. Er will sie befreien von allem, was sie bedrängt, plagt und terrorisiert. Und die Auswirkungen auf die Menschen, die Jesus und seine Art des Umgangs mit Menschen und unreinen Geistern miterleben, sind positiv und befreiend.

Das kann auch für uns befreiend sein. Wir kennen auch Mächte in uns, die uns im Griff haben. Sie nehmen einen Platz in uns ein und wir fühlen uns machtlos sie zu vertreiben. Wir haben Stellen in unserem Denken und Fühlen, wo wir so verknotet sind, dass wir innerlich, und manchmal äußerlich, gelähmt sind. Wir haben Angst vor dem, was uns bedrückt und vor dem, was wir als jenseits unserer Kräfte liegend einschätzen, um es zu lindern. Unsere einzige Strategie ist es auszuweichen.

Aber dann sehen wir jemanden, der nicht zurückschreckt, jemanden, der dem Unheiligen entgegentritt und Autorität über es ausübt, um Menschen zu stärken und Lebenssituationen zu verbessern. Wir erkennen, dass es eine andere Art zu denken und zu handeln gibt, über unsere alten, gewohnten Strategien, über unsere geerbten Auslegungen hinaus. Die inneren Knoten des Denkens und Fühlens werden aufgeschnürt. Was uns bisher in Schach hielt, ist losgelassen. Wir sind frei, anders zu denken und zu handeln. Wir beginnen damit zu experimentieren, Autorität über das auszuüben, was uns als Menschen bedrückt.

Wir können auch Autorität über das auszuüben, was uns und andere bedrückt. Viele Wege stehen uns offen:

 

  • Manchmal bieten wir nur allgemeine Hilfe an.
    • Manchmal stellen wir unsere spezifischen Ressourcen zur Verfügung.
    • Manchmal holen wir uns Unterstützung hinzu.
    • Manchmal gehen wir als Gefährten mit, die geplagten Menschen zur Seite stehen, während sie neue Wege wagen.
    • Manchmal beten wir einfach.
    • Manchmal beten wir zusätzlich zu anderen Möglichkeiten.

Dabei ist wichtig, dass wir nicht eine erlernte Hilflosigkeit und Resignation ewig weiter üben. Wir sollten immer wieder suchen, was wir als nächstes tun können und dabei unseren Mut und unsere Kreativität einbringen.

Wir engagieren uns für die Verbesserung von Menschen und Situationen, die in Not sind. Das ist die Sendung, die uns in den Knochen steckt. Wir haben Autorität. Jesus hat uns den Weg gezeigt. Wir folgen ihm nach, indem wir Autorität üben.

 

Erik Riechers SAC, 31. Januar 2021

 

 

Bette dich ein!

 

Die bei uns nun schon gut 10 Monate andauernde Pandemie mit all ihren Herausforderungen macht inzwischen viele Menschen »mürbe«. Sie fühlen sich zunehmend angeschlagen und erschöpft. Die Vorsicht und extreme Zurückhaltung bei Kontakten quälen. Die Unsicherheit darüber, wie lange es noch dauern mag, macht müde und verzagt - oder leichtsinnig und rücksichtslos. Gerald Hüther, Neurobiologe, schreibt in seinem jüngsten Newsletter: »Viele Menschen, auch manche Politiker, sind verunsichert und ratlos und versuchen nur noch, irgendwie durchzuhalten. Verzweiflung und Resignation machen sich breit. Es ist keine gute Stimmung im Land, die Nerven liegen blank. Toleranz, Umsicht und Weitsicht schwinden dahin, der Humor ist uns auch vergangen, und wer etwas Unpassendes sagt, macht sich verdächtig und wird bekämpft.«

Jeder einzelne kann seine ganz eigene Geschichte der Betroffenheit erzählen. Wer gern unterwegs ist und um diese Zeit normalerweise schon einige Unternehmungen und Reisen geplant und gebucht hat, tut sich schwer, ohne solche Perspektiven in die nächsten Monate zu schauen. Wessen Familie weit verstreut lebt, leidet darunter, immer noch nicht zusammenkommen zu können. Wer seinen Lebensunterhalt verdient in einer Branche, die immer wieder schließen muss, hat existentielle Ängste. Wer in einer Pflegeeinrichtung lebt, fühlt sich zunehmend verloren und vergessen. Überängstliche Menschen trauen sich gar nichts mehr, Ungeduldige können es nicht abwarten, wieder normal zu leben, Unvernünftige tun es sowieso.

Wir laufen Gefahr, immer mehr nur mit uns selbst beschäftigt zu sein. Dabei könnte diese Pandemie uns etwas in besonderer Weise lehren: Deine Geschichte ist eingebettet in die Geschichte der Gemeinschaft, in der du lebst. Dein ICH gehört zu einem größeren WIR. Mehr als sonst wird uns doch bewusst, wie sehr meine Art zu handeln Konsequenzen hat für die Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen. Wann konnten wir dies je so deutlich erkennen wie in diesen langen Monaten? In der kanadischen Provinz Nova Scotia zum Beispiel leben die Menschen so verantwortungsbewusst in dieser langen Krise, dass es immer wieder Tage ohne eine einzige Neuinfektion gibt – das spornt die einzelnen an, weiter gut für sich und die anderen zu sorgen und dankbar das an Gemeinschaft zu leben, was aufgrund der niedrigen Zahlen wieder möglich ist. Jedes Ich ist eingebettet in ein Wir!

Die narrative Theologie lehrt uns eine zweite Einbettung: Die Geschichte eines jeden Wir gehört zu der großen Geschichte. Es gibt eine Geschichte Gottes mit uns Menschen, die alles übersteigt und in die alles eingebettet ist – jedes Wir und jedes Ich. Warum sonst würde Gott seinem Volk sagen:

»Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft« (Dtn 6,4)

Warum würde Jesus auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot antworten:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mt 22, 37-39)

Liebe dich und entfalte deine ureigene Geschichte. So sei unterwegs mit den anderen, liebe sie und schreibe mit ihnen eure Geschichte. Und bedenke: alles ist eingebettet in die große Geschichte des EINEN Gottes.

Für mich bedeutet dies: Meine Geschichte ist wertvoll, einzigartig und wichtig, für mich, für die Gemeinschaft und als Teil der gemeinsamen Geschichte. Sie ist aber auch aufgehoben in dem großen Ganzen der Geschichte Gottes mit seinen Menschen, die nur ER überblickt und in seinen Händen hält. Da bette ich mich gern ein – nimmt es mir doch auch den Druck, alles selbst machen zu müssen. Es nimmt mir den Irrglauben, alles hinge von mir ab. Und es stärkt die Zuversicht, dass alles einen Sinn hat.

Den Blick so zu weiten macht auch diese lange Krise lebbar.

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. Januar 2021

 

 

Ich erhebe meine Stimme

 

Am 11. November 2018 habe ich eine Predigt in der Koblenzer Synagoge zur Reichspogromnacht gehalten. Damals habe ich folgende Worte gesprochen:

Als ich als junger Student aus Kanada nach Deutschland kam, kam ich aus einem Land, das bis vor kurzem überzeugt war, dass es kein Problem mit Antisemitismus hat. Und ich bewunderte ein Land, das sich so intensiv mit seiner Geschichte auseinandersetzte. Heute wächst Antisemitismus weltweit, auch in Deutschland. Vor einigen Wochen hielt Rabbi Jonathan Sacks eine Rede in The House of Lords zum Thema von Antisemitismus. Er schickte mir den Text, aus dem ich wenige Zeilen zitieren möchte:

»Antisemitismus, oder jeglicher Hass, wird gefährlich, wenn drei Dinge passieren. Erstens: wenn er sich von den Rändern der Politik zu einer Mainstream-Partei und ihrer Führung bewegt. Zweitens: wenn die Partei sieht, dass ihre Popularität in der breiten Öffentlichkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird. Und drittens: wenn diejenigen, die aufstehen und protestieren, dafür verunglimpft und beschimpft werden. Alle drei Faktoren existieren jetzt in Großbritannien. Ich hätte nie gedacht, dass ich das in meinem Leben noch erleben würde. Deshalb kann ich nicht still bleiben. Denn es sind nicht nur die Juden, die in Gefahr sind. Es ist auch unsere Menschlichkeit.«

Leider existieren sie nicht nur in Großbritannien, sondern in der ganzen Welt.

An diesem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust bin ich beunruhigt und traurig, dass die Worte von Jonathan Sacks heute noch prophetischer geworden sind. Wir alle haben die Bilder gesehen, als in Washington das Capitol gestürmt wurde von Trump Anhängern. Aber was mir nachgeht ist der Antisemitismus, der dort sich offen und unverhüllt zeigte. Ein Demonstrant trug ein T-Shirt mit der Botschaft »Camp Ausschwitz« und darunter den Satz »Work brings freedom«, eine Anspielung auf »Arbeit macht frei«.

Auch in Deutschland gibt es solche öffentlichen antisemitischen Parolen zu sehen. Eine besonders hinterhältige und verabscheuungswürdige Taktik, die heute angewandt wird, sind T-Shirts mit »6MWE«. Das ist die Abkürzung für »Six million wasn’t enough« (Sechs Millionen waren nicht genug). Sie wurden ein Jahr zuvor in Berlin bei einer Demonstration gesehen.

Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die so denken (wenn man das noch als Denken bezeichnen darf), überrascht mich nicht, aber die Tatsache, dass sie in aller Öffentlichkeit so auftreten und es kaum einen Protest gibt, das schockiert mich. Wie Rosemarie es mir so treffend sagte: »Das ist auch ein Virus«. Leider ist Antisemitismus auch eine Pandemie.

Und wie die Corona-Pandemie, hat sie die besten Chancen sich zu verbreiten, wenn Menschen es gleichgültig ist, wie sie handeln. Maskenverweigerer, Menschen, die trotzdem Partys halten und keine der Abstandsregeln einhalten, sind Menschen, denen es egal ist, was mit ihren Mitmenschen passiert. Und wenn Gleichgültigkeit sich weit genug verbreitet hat, dann kann jeder Virus sich auch verbreiten.

Elie Wiesel, selbst ein Überlebender der Schoah, hat es treffend und warnend formuliert:

»Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist,

sondern Gleichgültigkeit.

Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit,

sondern Gleichgültigkeit.

Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung,

es ist Gleichgültigkeit.

Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses,

es ist das Ende eines Prozesses.«

 

Diese Gleichgültigkeit lässt Antisemitismus in unserer Mitte Platz nehmen. Als Rabbi Sacks 2019 im House of Lords seine Rede gegen Antisemitismus hielt, hat er bildlich gezeigt, wie salonfähig dieser krankhafte und krankmachende Hass werden kann.

»Ich bin gerade von einer Konferenz in Warschau zurückgekehrt. Es ist eine Stadt, die ich nicht gut kenne. Und ich war erschüttert, als ich entdeckte, dass das Warschauer Ghetto, das zwischen November 1940 und Mai 1943 existierte, ziemlich genau im Zentrum der Stadt lag. Mit seinen 9 Fuß hohen Mauern, die von Stacheldraht gekrönt waren und 400.000 Juden beherbergten, muss seine Existenz jedem in Warschau bekannt gewesen sein.

Und dort wurden die Juden systematisch ausgehungert und versklavt. Im Sommer 1942 wurden 254.000 von ihnen per Zug in den Tod durch Gas in das Vernichtungslager Treblinka geschickt. Im April und Mai 1943 begannen die Deutschen mit der Zerstörung des Ghettos und der Ausrottung der Bevölkerung. 300.000 von ihnen wurden durch Kugeln oder Gas getötet. 92.000 starben durch Typhus und Verhungern.

Dies geschah in aller Öffentlichkeit im Zentrum einer der großen Städte Europas und niemand protestierte.«

 

Nehmt dies zur Kenntnis, ihr Hassprediger, Neonazis, Rassisten, Antisemiten, Rechtsextremisten und alle, die sie beherbergen oder unterstützen:

Ich protestiere. Ihr sollt mein Schweigen nicht als Verbündeten haben.

Ihr werdet euer Haus des Hasses nicht mitten in meiner Stadt bauen.

Ich erhebe meine Stimme und nenne das Böse, das in unserer Mitte steht.

Ich erhebe meine Stimme, um im Namen meiner jüdischen Schwestern und Brüdern im Angesicht des geistlosen, bissigen Hasses zu sprechen.

Ich erhebe meine Stimme gegen diejenigen, die meinen, es sei modisch, lustig oder akzeptabel, Symbole zu tragen, die die Folter, den Tod und die Ausrottung unserer Mitbürger feiern.

Ich erhebe meine Stimme gegen all jene, die das Andenken an die Schoah und die Erniedrigung ihrer Opfer verharmlosen und verhöhnen.

Ich erhebe meine Stimme gegen diejenigen, die die Überlebenden der Schoah beleidigen und verunglimpfen, die bereit sind, ihren Schmerz auch heute noch zu vertiefen.

Sie sind meine Brüder und Schwestern.

Ihr Vertreter des Unmenschlichen, ich sehe euch und nenne euch beim Namen, egal ob ihr euch im Schatten herumschleicht oder unverblümt auf dem öffentlichen Platz spazieren geht. Ich werde eure giftige Gegenwart nicht verharmlosen. Eure Grausamkeit, euer Hass und eure Bigotterie können mein Herz nicht in Gleichgültigkeit verwandeln.

Ich erhebe meine Stimme. »Denn es sind nicht nur die Juden, die in Gefahr sind. Es ist auch unsere Menschlichkeit.«

 

Erik Riechers SAC, 27. Januar 2021, Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

 

 

Gehen gegen die Angst

 

Er war jung - und er war ein ängstlicher Typ. Seine Ausbildung hatte er gut abgeschlossen. Jetzt sollte er sich um eine gute Arbeitsstelle kümmern. Aber das ging ihm zu schnell. Er spürte eine andere Herausforderung. Und sie kam tief aus seinem Inneren. Es war da eine Lust in ihm, einfach für einige Wochen aufzubrechen und loszuziehen, pilgern wollte er hier in seinem Heimatland, das er doch so wenig kannte. Der Gedanke wuchs in ihm, nahm Form an; dagegen meldeten sich bald andere Stimmen: Wovon willst du leben? Wie kannst du das finanzieren? Wie wirst du durch einen solchen Sommer kommen mit deinen Allergien?

Er vertraute sich seinem Onkel an und der hörte wirklich zu. Er nahm die Sehnsucht seines Neffen wahr - es war die Sehnsucht eines Pilgers. Immer wieder stärkte er diese Sehnsucht, damit sie nicht unter seiner Ängstlichkeit erstickte. Mehr brauchte er nicht zu tun. Er war im Herzen an seiner Seite.

Und der junge Mann wählte einen äußeren Weg, fuhr ins Herz Deutschlands und brach von dort auf.

Auf seinem Rücken trug er alles Notwendige mit sich, in seiner Tasche ein wenig Geld, in seinem Herzen Angst und Freude und die Worte seines Onkels: »Ich freue mich, wenn ich von dir höre und ich helfe dir, wenn du etwas brauchst.«

Sein Weg hatte begonnen. Es war Sommer und manchmal übernachtete er im Wald. Er wurde mutiger und nach ein paar Tagen, als er gegen Abend durch ein Dorf kam, erwiderte ein freundliches Paar in einem Garten seinen Gruß und fing ein Gespräch mit ihm an. Bereitwillig ließ er sich darauf ein und es endete mit der Einladung, in ihrem Garten sein Nachtlager aufzuschlagen.

Von nun an fragte er immer wieder Menschen am Weg, ob er für eine Nacht ihren Garten nutzen könnte. Und es war meistens möglich.

Freude wuchs in ihm und langsam eine Erkenntnis: Wenn ich es immer wieder neu wage zu gehen, gegen meine Ängste, und einfach weiter gehe, so mache ich jeden Tag gute Erfahrungen. Ich komme voran und die meisten meiner Sorgen treten überhaupt nicht ein.

Vertrauen wuchs in ihm - Vertrauen in sich selbst und in die Menschen, denen er begegnete.

Als sein Onkel mir von dieser Pilgerreise seines Neffen erzählte, war der noch unterwegs. Sein Onkel sprach davon mit Stolz, aber auch mit Rührung. Ab und zu rief sein Neffe kurz an, der junge Mann, der das Wagnis unternommen hatte, gegen seine Angst aufzubrechen. Er hatte kein spektakuläres Ziel gewählt in einem exotischen Land - und doch erkundete er ein zuvor noch eher unbekanntes Terrain: sich selbst.

Können auch wir immer wieder aufstehen gegen unsere Ängste, einen neuen Tag betreten und neue Handlungsweisen wagen? Ich hoffe es sehr.

Möge ihm und uns der altirische Segen gelten:

Gott behüte euch auf dem Weg durch euer Leben.

Gott wärme euch, wenn Angst euch frieren lässt.

Gott stärke euch, wenn Zweifel an euch nagt.

Gott ermutige euch, wenn Sehnsucht euch bewegt.

Gott halte euch, wenn Schlaf euch umhüllt.

Gott durchflute euch, wenn Liebe euch hoffen lässt.

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. Januar 2021

 

 

Hierher! Mir nach!

3. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 14–20

 

Jesus verkündet ein höchst beunruhigendes Geheimnis. »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.«

Das klingt zwar sehr tröstlich, ist aber eigentlich dazu gedacht, uns alle hellhörig zu machen. Denn wenn das Reich Gottes da ist, dann ist die Zeit des Abwartens vorbei. Und wenn die Zeit des Abwartens vorbei ist, dann ist die Zeit der Veränderung gekommen. Und es ist nicht wenig, was sich verändern muss. Wir müssen unsere Art zu denken, zu sehen und zu beurteilen ändern. Wir müssen unser Handeln und unser Verhalten ändern. Die Wege, die wir gehen, werden sich ändern müssen und wir werden auch einige Richtungen nicht mehr wie früher einschlagen können.

Das Reich Gottes bedeutet seinen Einbruch in unsere Welten. Es ist das Eindringen unseres Gottes, der das vollste Potential unseres Lebens und unserer Liebe zur Entfaltung bringen möchte. Das Reich Gottes ist das Eintreten unseres Gottes in unsere Beziehungen zu Gott, zur Schöpfung, zu unseren Nächsten und zu uns selbst, um ihre Fülle aufblühen zu lassen.

Diese Bewegung in das Reich Gottes, in dieses volle, reiche, sich entfaltende Leben, wie Gott es immer für uns vorgesehen hat, wird nicht geschehen ohne eine der Grundregeln, die die Geschichte der Berufung, die wir heute hören, verkündet. In der biblischen Erzählung sagt Jesus zuerst: »Hierher! Mir nach!«. Es ist ein Imperativ, ein Befehl und nicht nur eine bloße Aufforderung. Dieses Wort ist mit einem Gefühl der Dringlichkeit erfüllt. Es gibt eine Not in der Welt und eine Sendung im Herzen Jesu, die nicht auf sich warten lassen. Das erinnert an Jesus im Johannesevangelium. Da sagt er zu Lazarus, der noch im Grabe liegt: »Auf! Raus!«. Es gibt immer eine Dringlichkeit in Gott, uns aus den Orten des Todes herauszurufen, sei es auf dem Friedhof oder an den Orten des alltäglichen Lebens, die zu den Friedhöfen unserer Seelen zu werden drohen.

Sofort nach diesem »Hierher! Mir nach!« aus dem Mund Jesu, folgt eine Handlung seitens der Jünger: das »Zurücklassen« (griechisch = aphetes). Andreas und Simon lassen ihre Netze zurück. Jakobus und Johannes lassen ihren Vater und die Tagelöhner im Boot zurück. Es gibt kein Hingehen in das Reich Gottes, ohne die Bereitschaft etwas zurückzulassen, um sich auf etwas Neues einzulassen, das noch vor uns liegt.

Wie werden wir die Kunst und das Handwerk des Zurücklassens, um voranzukommen, praktizieren?

Ich bezweifle, dass wir Fischernetze, Familienmitglieder und Kollegen zurücklassen werden, auch wenn das für einige von uns vielleicht noch der Ruf ist. Dennoch gibt es innerhalb der wohldefinierten Konturen unseres Lebens mehr als genug Beispiele dafür, wie sich unser Leben und unser Lieben in ungesunde und unerwünschte Muster entwickelt haben. Es gibt Beziehungen die dazu gedacht waren, Zusammengehörigkeit und Gleichheit zu fördern und zu erforschen, die zu Dominanz und Unterordnung verkommen. Manchmal sind wir in Wut gefangen anstatt von der Liebe befreit. Gelegentlich kommt es zu ungesunden Auseinandersetzungen und sogar zu Rachegelüsten. Feindschaften entstehen und Herzen werden vergiftet. Wie sollten sie uns je dorthin führen, wo Leben zu finden ist?

Deshalb darf ein anderer Teil der Geschichte nicht ignoriert werden: »Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«  Wir werden nicht in das Reich hineingehen und auf Gottes Wunsch eingehen, dass wir in seiner vollen, reichen Entfaltung des Lebens leben, wenn wir unsere eingeschlagenen Wege nicht ändern. Das jedoch wird nicht geschehen, wenn wir uns weigern, auf diesen Wegen umzukehren, die uns von dieser Fülle wegführen. Auf dem falschen Weg zu sein, ist nicht tödlich. Auf dem falschen Weg zu bleiben, sobald wir wissen, dass er uns nicht ins Leben führen kann, ist fatal.

All das ist notwendig, weil der Ruf des Herrn, der Ruf des Reiches Gottes, ein Ruf für das Leben der Welt ist. In der ehrwürdigen Welt der Rabbiner heißt dieser Ruf »Tikun olam«, die Reparatur der Welt. Diese Idee der Weltverbesserung war tief verbunden mit der Hoffnung eines Messias, der in die Welt einbrechen würde.

Dieser Ruf Jesu ist der Ruf eines Messias, der in unsere Welt einbricht. Es ist ein Aufruf aus der Passivität heraus, in der wir die Welt und ihre Qualen an uns vorbeiziehen lassen, während wir unsere persönlichen Interessen verfolgen, in der Hoffnung, dass zumindest wir es schaffen, über die Runden zu kommen. Das ist eine Haltung, die wir »zurücklassen« müssen.

Gleichzeitig ist es ein Aufruf, sich zu engagieren, uns von den Zuschauertribünen auf den Spielplatz zu begeben und uns die Hände schmutzig zu machen. Es gibt keine Umkehr, wenn wir nur unsere Meinungen ändern. Umkehr bedeutet, dass wir unsere Handlungen ändern müssen, die Art und Weise, wie wir in der Welt leben, die Art und Weise, wie wir uns durch unsere Welt bewegen. Es ist nicht unsere primäre Aufgabe, diese Welt zu vermeiden oder zu verurteilen, sondern sie ganz zu machen, sie besser zu machen. Wir sollten die Welt reparieren: Tikun Olam.

Möglichkeiten, die Welt zu reparieren und zu verbessern, gibt es reichlich. Wenn wir sie nutzen wollen, müssen wir Menschen zu Wächtern der Liebe werden. Die Wächter halten Ausschau nach den Orten, an denen Liebe nicht nur möglich, sondern gefordert ist: Rassismus, Grausamkeit, Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz, die Vernachlässigung der Armen in unserer Mitte, das Ignorieren der Notlage von Migranten usw. Ohne Wächter der Liebe werden wir diese Orte nicht erkennen als das, was sie in Wahrheit sind: die Orte, die unsere Liebe am dringlichsten bedürfen.

Ein Wächter der Nacht zu sein erfordert einige ziemlich grundlegende Fähigkeiten:

1. Es erfordert Mut:

Die Orte, an denen die neu definierende und lebensverändernde Liebe des Reiches Gottes gebraucht wird, werden wahrscheinlich nicht an den Orten unserer Bequemlichkeit zu finden sein.

2. Es erfordert Kreativität:

Die Orte, an denen die Lebensmehrung des Reiches Gottes notwendig ist, sind Orte, die davon noch nicht berührt  sind. Deshalb wird es keine festen und fertigen Strategien geben. Wir werden sie uns ausdenken müssen, vor Ort, auf der Flucht, aus dem Stegreif.

3. Es erfordert Ausdauer:

Denn das Auftauchen des Gottesreichs und sein unnachgiebiges Verlangen nach der Fülle des Lebens wird nie eine einmalige Erfahrung sein. Hinter jeder Ecke wird ein neuer Ort auftauchen. In jeder Nische des Herzens, in jedem Winkel unserer Beziehungen, sei es in unseren Familien, in der Gesellschaft, in der Kirche, auf dem Markt oder am Arbeitsplatz, werden neue Bedürfnisse entstehen, diese Welten zu reparieren.

Es gibt ein bewegendes Gospel-Lied mit dem Titel: »There is a balm in Gilead«. (Es gibt einen Balsam in Gilead). Die biblische Inspiration dieses Liedes stammt aus zwei Stellen im Buch des Propheten Jeremia:

 

Die Sänger dieses Liedes sehen Jesus und das Reich Gottes als diesen Balsam und verkünden:

There is a balm in Gilead     (Es gibt einen Balsam in Gilead,)

To make the wounded whole.    (um die Verwundeten heil zu machen.)

There is a balm in Gilead     (Es gibt einen Balsam in Gilead,)

To heal the sin-sick soul.      (um die sündenkranke Seele zu heilen.)

 

Jesus verkündet das Reich Gottes als Balsam, aber es bleibt ein höchst beunruhigendes Geheimnis. »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.«

Wenn wir die Welt reparieren, die Verwundeten heil machen und die sündenkranke Seele heilen wollen, dann müssen wir aufstehen und nach Gilead gehen. Wir müssen uns erheben und das Reich Gottes annehmen, diese Lebensart, die Gott immer für diese Welt und seine Menschen vorgesehen hat.

 

Erik Riechers SAC, 24. Januar 2021

 

 

Vinzenz Pallotti: Der Mann der Beharrlichkeit

 

In meinem letzten Impuls sprach ich von Vinzenz Pallotti als dem Mann, der blieb. Allerdings wusste Pallotti auch ganz genau, dass der Kampf eines Lebens sehr lang wird. Darum bittet er uns nie zu vergessen, dass egal wie viele Barrieren uns in den Weg gestellt werden, nichts den Stimmen von Millionen von Gläubigen im Weg stehen kann, die nach Gottesverhältnissen in dieser Welt rufen.

Ich bin immer wieder inspiriert von der ersten Generation von Bürgerrechtskämpfern, die mit Martin Luther King Jr. marschierten, protestierten, gewaltfreien Widerstand übten und dafür physische Gewalt, Gefängnis und manchmal den Tod im Kauf nahmen. Am 17 Juli 2020 starb John Lewis an Krebs. Er war ein Mitstreiter der ersten Stunde in der Bürgerrechtsbewegung. Einige Wochen vor seinem Tod schrieb er: 

»Verliert euch nicht in einem Meer der Verzweiflung. Seid hoffnungsvoll, seid optimistisch. Unser Kampf ist nicht der Kampf eines Tages, einer Woche, eines Monats oder eines Jahres, es ist der Kampf eines ganzen Lebens.«

Er war 80 Jahre alt, er das schrieb. Er war 23 Jahre alt, als er sich Martin Luther King anschloss. Er wusste, wovon er redete. Es wird keine neue Welt geben ohne Frauen und Männer der Beharrlichkeit.

Gelegentlich höre ich, dass die intuitive Vision, die Pallotti hatte, vertrat und mit anderen teilte, eben nur Worte sind. Eben nur Worte! Was sollte das heißen? Wann waren das letzte Mal Worte nicht wichtig? Wann war das letzte Mal, dass große Menschen nicht Worte eingesetzt haben, um Herzen zu bewegen und Richtungen zu weisen? Wann war das letzte Mal, dass ein Mensch keine Worte gebrauchte, um seine tiefsten Gefühle und Überzeugungen zu verkünden? Wann war das letzte Mal, dass Worte nicht ermächtigend sein können?

Diese Propheten des Unheils werden wir immer unter uns haben. Sie setzen Angst als eine Waffe ein. Sie wollen nicht, dass wir es wagen zu hoffen, dass es etwas Besseres geben kann als das, was sie uns auftischen (und natürlich leiten und kontrollieren wollen).

Sie sagen uns:

Ihr seid im Dunkeln.

Ihr habt keine Stimme.

Ihr seid machtlos.

Ihr könnt keine Welt erneuern,

keinen Hunger stillen,

keinen Frieden stiften,

keine Gerechtigkeit erzeugen.

In Vinzenz Pallotti haben wir jemanden, der unseren Wert und unsere Würde vor Gott nicht nur beschreibt, sondern darauf setzt. Hier ist einer, der uns sagt: Seid stolz, Berufene zu sein. Seid stolz, dass Gott euch erwählt hat, euch schickt, euch solches Vertrauen schenkt. Denn er glaubt, dass ihr das könnt.

Darum ist Beharrlichkeit so wichtig. Denn sie zeigt uns, dass Gott auch auf unsere Ausdauer setzt. Auch heute, in dieser Krise, in dieser Pandemie, können wir handeln. Wir könnten unsere Leidenschaft für Gott immer wieder neu entfachen, denn »unser Kampf ist nicht der Kampf eines Tages, einer Woche, eines Monats oder eines Jahres, es ist der Kampf eines ganzen Lebens.«

Wir sind von Gott Berufene. ER schickt uns in alle Städte und Dörfer, wo er selbst hinwollte. Gott hat Vertrauen, dass wir dort das bewirken können, was er bewirken kann.

Erik Riechers SAC, 22. Januar 2021, Gedenktag Vinzenz Pallottis († 1850)

 

 

Präsenz ist das Programm

Vinzenz Pallotti: Der Mann, der blieb

 

Es ist das Jahr 1835. Eine Cholera Epidemie richtet Verwüstung in der Stadt Rom an. Viele verließen die Stadt, ergriffen die Flucht um sich selbst zu retten. Aber nicht Vinzenz Pallotti. Er blieb. Er war präsent in der Stunde des Leidens und des Sterbens seiner Mitmenschen.

Er hatte keine medizinische Lösung für Cholera, aber er blieb, weil er die Macht hatte, seelische, menschliche und auch körperliche Linderung anzubieten. Er hat keinen Impfstoff entdeckt, aber er blieb, weil er kreative Wege finden konnte, Lebensmittel zu organisieren für die verwahrlosten Menschen, die nirgendwo hätten hin fliehen können. Er konnte nicht verhindern, dass viele Kinder zu Waisen wurden, aber blieb, um ihnen Unterkunft und Bildungsmöglichkeiten zu geben, damit sie ein Willkommen in einer brutalen und ungerechten Welt finden konnten. Und lange nachdem die Cholera Epidemie beendet war und die Menschen zur Stadt zurückkehrten, arbeitete er noch mit Kraft, um Menschen beizustehen, die an den Nebenwirkungen und Auswirkungen dieser verheerenden Seuche weiter leiden mussten.

Was können wir aus dieser Geschichte aus dem Leben Vinzenz Pallottis lernen? Präsenz ist das Programm.

 Nicht nur seine Worte, Ideen und Visionen haben uns etwas zu sagen, sondern auch sein Leben. Vinzenz Pallotti erinnert uns, dass es eine Aufgabe gibt für uns als Christen, der wir nicht ausweichen dürfen: Wir sind berufen, Leben zu gestalten. Wir sind berufen, als mündige Christen selbst Lösungen zu suchen und Verantwortung zu tragen. Wir sind berufen, die Begeisterung und die Liebe, die in uns sind, wach und am Leben zu erhalten. Aber das geht nicht, wenn wir nicht an Ort und Stelle erscheinen, wo die Menschen sind. Präsenz ist das Programm. Darum müssen auch wir bleiben.

Vinzenz Pallotti war überzeugt, dass Gott uns die Kraft gegeben hat, die Verhältnisse dieser Welt zu ändern.

Diese Kraft Gottes gibt uns den Mut, nach neuen Ufern aufzubrechen. In der unerbittlichen Wildnis von Brutalität, Gewalt und Unmenschlichkeit haben wir die Möglichkeit sowie die Macht, unseren Mitmenschen Leben anzubieten. Diese Ur-Berufung zur Mitgestaltung gibt uns ungeahnte Kraft, die Verhältnisse der Welt zu ändern und so zu gestalten, dass sie nach Reich Gottes aussehen. Präsenz ist das Programm. Darum müssen auch wir bleiben.

Wir können Armut tilgen. Wir können Frieden und Gerechtigkeit als Neuland entdecken. Wir können Brot backen, brechen und teilen, bis alle genug haben. Wir können unsere Kirche heilen. Wir können das Antlitz der Erde erneuern. Präsenz ist das Programm. Darum müssen auch wir bleiben.

Zu oft sind wir gelähmt, weil wir nicht alles lösen  oder erlösen können. Dann fixieren wir uns auf das, was wir nicht erreichen können. Pallotti dagegen war überzeugt, dass alles, was wir geben können, zählt. Ich habe von ihm gelernt: Du kannst nur gestalten, was gegeben ist. Das aber verlangt mir etwas ab, was alle Überlegungen über optimale Bedingungen nie von mir fordern: Ich muss erscheinen. Präsenz ist das Programm. Darum muss ich bleiben.

 

Erik Riechers SAC, 20. Januar 2021

 

 

Fragen

 

Ich möchte zu den Menschen gehören,

die sich nicht zufrieden geben

mit schnellen Antworten und

pragmatischen Lösungen.

Sie suchen und fragen.

Hören sie gutgemeinte,

ach so vernünftige Ratschläge,

spüren sie tief in sich

eine andere Stimme.

Sie haben den Mut

- und die Sehnsucht -,

ihr zu folgen, um sich selbst

treu zu bleiben.

Sie gehen ihren Weg.

Sie hinterfragen die Oberfläche.

Sie ertragen Durststrecken.

Sie entdecken Heiliges.

 

Ein großer und vielseitiger Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war wohl solch ein Mensch: Hans Arp. Ich liebe seine Skulpturen; doch nachdenklich machen mich seine »Fragen«:

Fragen

Ihr dummen kleinen Tage

kommt euch denn nie

ein Sterbenswörtchen von Erlösung

über eure gemalten Lippen?

Kniet ihr denn nie mehr

vor einem Kreuz?

Ihr dummen kleinen Tage

ihr kennt nur Kommen und Gehen.

Wisst ihr denn nicht

dass euch jeden Augenblick

die heilige Unendlichkeit anblickt?

 

Diese Fragen lassen mich innehalten und führen mich auf eine alte Spur:

Selig der Mensch, der an der Weisung des Herrn Gefallen hat,

über sie nachsinnt bei Tag und bei Nacht.

Und neu bete ich Psalm 1.

 

Rosemarie Monnerjahn, 18. Januar 2021

 

 

Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.

2. Sonntag B 2021                                        1 Sam 3, 3–10.19

 

Ich nahm einmal an einer Fortbildung für Seelsorger teil. Es ging um seelsorgliche Gesprächsführung. Es war einfach nur furchtbar. Hochtrabende Worte ohne Lebensinhalt wurden gepaart mit methodologischen Schritten von entsetzlicher klinischer Kälte. Und nicht einmal sprachen wir von den Menschen, geschweige von ihren Seelen. Nein, sie sprachen zu uns nur über Klienten. 

Ein älterer Kollege, ein evangelischer Pfarrer, gab irgendwann auf zuzuhören, schlug ein Buch auf und war ins Lesen vertieft. In der Mittagspause ging ich zu ihm und fragte ihn nach seiner Lektüre. Er hielt das Buch hoch und ich las den Titel: Gemeinsames Leben. Ein Buch von Dietrich Bonhoeffer. Dann teilte er mit mir eine Passage aus dem Buch:

»Es gibt auch ein Zuhören mit halben Ohren, in dem Bewusstsein, doch schon zu wissen, was der Andere zu sagen hat. Es ist das ungeduldige, unaufmerksame Zuhören, das den Bruder (oder Schwester) verachtet und nur darauf wartet, bis man endlich selbst zu Worte kommt und damit den Andern los wird. Das ist keine Erfüllung unseres Auftrages, und es ist gewiss, dass sich auch hier in unserer Stellung zum Bruder (oder Schwester) nur unser Verhältnis zu Gott widerspiegelt. Es ist kein Wunder, dass wir den größten Dienst des Zuhörens, den Gott uns aufgetragen hat, nämlich das Hören der Beichte des Bruders (oder der Schwester), nicht mehr zu tun vermögen, wenn wir in geringeren Dingen dem Bruder  (oder Schwester) unser Ohr versagen. Die heidnische Welt weiß heute etwas davon, dass einem Menschen oft allein dadurch geholfen werden kann, dass man ihm ernsthaft zuhört, sie hat auf dieser Erkenntnis eine eigene säkulare Seelsorge aufgebaut, die den Zustrom der Menschen, auch der Christen findet. Die Christen aber haben vergessen, dass ihnen das Amt des Hörens von dem aufgetragen ist, der selbst der große Zuhörer ist und an dessen Werk sie teilhaben sollen. Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.« (Dietrich Bonhoeffer: Gemeinsam leben)

Danach sagte er nur noch: »Wahres Zuhören ist ein Abenteuer des christlichen Lebens.«

 

In großen Momenten des Lebens und der Erzählung wird in uns ein einseitiger Wunsch geweckt: Wir wollen jemanden finden, der uns so zuhört. Was seltener geschieht, ist, dass wir uns wünschen, dieses zuhörende Herz für andere zu sein. Die Klage lautet: Keiner hört mir zu. Das ertränkt die Frage: Wem höre ich zu?

In der Lesung aus dem Buch Samuel wird erzählt, wie der junge Prophet von seinem alten Meister Eli lernt, wie er auf Gott hören sollte. Das ist ein wichtiges Thema für das geistliche Leben. Was wir völlig ignorieren, ist der letzte Satz der Erzählung.

Samuel wuchs heran

und der Herr war mit ihm

und ließ keines von all seinen Worten zu Boden fallen.

(1 Samuel 3, 19)

 

Hier will uns Gott beibringen, wie wir auf das Wort der anderen hinhören sollten, damit auch sie heran- wachsen können: Auch wir sollten darauf achten, dass keines von ihren Worten auf den Boden fällt!

Schauen wir das feine Bild etwas genauer an. Wenn wir etwas tragen, sind wir nicht immer vorsichtig, dass es nicht auf den Boden fällt. Das ist auch nicht nötig. Aber bei gewissen Dingen schon! Wo achten wir, dass sie nicht auf den Boden fallen? Bei Dingen, die zerbrechlich, fragil, unersetzlich und unseren Herzen kostbar sind. Sie verdienen und genießen unseren besonderen Schutz und Fürsorge. Wenn das, was wir tragen, grob, unbedeutend, leicht ersetzbar und wegwerfbar ist, dann ist unser Umgang damit oberflächlicher, unvorsichtiger und unachtsamer. Das wahrhaft Kostbare ändert unsere Haltung. Dann sind wir vorsichtig, achtsam, fürsorglich und schützend.

Beobachten wir mal, wie ein Säugling in andere Hände gelegt wird: vorsichtig, achtsam, fürsorglich und schützend. Niemand macht sich diese Mühe und übt diese Vorsicht, wenn wir in einer gruppendynamischen Übung einen Tennisball von Hand zu Hand reichen. Denn wir erkennen sofort, wo das Zerbrechliche, Fragile, Unersetzliche und Kostbare liegt, und es nicht im Tennisball.

Um gut hinzuhören, müssen wir zu einer tieferen Erkenntnis kommen. Das Zerbrechliche, Fragile, Unersetzliche und Kostbare im Herzen der Menschen liegt in ihren Worten. Unsere Worte drücken die innerlichsten Teile unseres Seins aus, sie offenbaren Facetten unseres tiefen Herzens und sind damit delikat und leicht zerbrechlich.

Am leichtesten lernen wir das, wenn wir jemandem etwas Intimes, Privates und Heiliges anvertrauen möchten. Wie lange dauert es, bis wir den Mut haben, jemanden die Worte anzuvertrauen, die über diese Teile unseres Lebens sprechen? Und was passiert, wenn wir es dann doch wagen, aber Spott, Schmähung oder Hohn dafür ernten? Das ist der Augenblick, wo unsere Worte auf den Boden fallen gelassen werden.

Weil unsere Worte ein Teil von dem, wer wir sind und was uns ausmacht, in sich tragen, sind sie dem Herzen Gottes kostbar und des Schutzes würdig. Sie dürfen nicht auf den Boden fallen, denn ihre Zerbrechlichkeit spiegelt die Zerbrechlichkeit des menschlichen Herzens. Deshalb sollten die Worte der Menschen uns kostbar und des Schutzes würdig sein.

Hören verlangt drei Schritte in der Bibel:

-  wahrnehmen (präsent sein)

-  aufnehmen (integrieren)

-  mitnehmen (daraus Leben gestalten)

Damit ist wahres Hören zugleich ein Werk der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit bedeutet, dass wir uns in das Chaos eines anderen Menschen freiwillig und bewusst begeben, gerade dann, wenn wir es leicht vermeiden könnten.

Und das ist immer, was beim wahren Hören geschieht. Es reißt uns aus Welten, die wir bevorzugen würden. Samuel würde lieber sich ausruhen und erholen, als dreimal aus dem Schlaf gerissen zu werden, dreimal von seinem Lager aufstehen zu müssen.

Hören auf den anderen Menschen reißt uns aus sehr angenehmen und wohltuenden Welten, in denen wir Ruhe, Kraft und Geborgenheit spüren und genießen. Wenn ich auf einen anderen höre, gehe ich freiwillig und bewusst in eine Welt des Chaos, das mir den Schlaf rauben kann, mich erschöpfen kann, mich überfordern kann. Hören ist ein Eintreten in eine Welt des Schmerzes, der Sorge, der Verlassenheit, der Angst und der Hoffnungslosigkeit, die meine nicht ist, und meine nicht unbedingt werden muss.

Authentisches Hören wird bedeuten, dass ich mich auf Themen einlasse, die nicht meine sind und die ich leicht vermeiden könnte, wenn ich einfach nicht zuhöre. Wir kennen diese Wahrheit und fürchten uns davor. Warum gehen wir nicht ans Telefon, wenn gewisse Telefonnummern auf dem Display auftauchen? Warum meiden wir die Begegnung und das Gespräch mit manchen Menschen? Und wenn wir uns auf das Chaos des anderen durch das Zuhören eingelassen haben, wie oft stöhnen wir und sagen: »Oh Gott, wenn ich das bloß nicht gehört hätte?« Manchmal halten wir die Hände über die Ohren und sagen: Ich will das nicht hören, voll wissend welches Chaos auf der anderen Seite des Zuhörens auf uns wartet.

Gott ließ keinen der Worte Samuels auf den Boden fallen. Gott ist barmherzig und steigt in unser Chaos ein. Zuhören ist ein Werk, das Gottes würdig ist. Doch fällt es uns meistens recht schwer, an diesem Werk teilzunehmen.

Was passiert, wenn Kinder uns etwas erzählen, was ihnen wichtig ist und wir sie auslachen oder belächeln, weil wir das, was sie gesagt haben, als unbedeutend abtun?

Gott lässt keines dieser Worte auf den Boden fallen.

Was passiert, wenn wir die tiefsten Überzeugungen anderer Menschen verspotten, wenn wir das, was anderen heilig ist, verhöhnen und despektierlich uns darüber äußern?

Gott lässt keines dieser Worte auf den Boden fallen.

Wir sehen, was passiert, wenn Menschen ihre Worte auf Twitter und Facebook teilen und sie nachher schikaniert, wüst beschimpft und sogar bedroht werden.

Bonhoeffer hatte recht: »Die Christen aber haben vergessen, dass ihnen das Amt des Hörens von dem aufgetragen ist, der selbst der große Zuhörer ist und an dessen Werk sie teilhaben sollen.« Hier müssen wir eine grundlegende Entscheidung des Glaubens treffen. Werden wir Schwestern und Brüder in ihrem Schmerz und Leid zurücklassen, weil wir uns vor ihrem Chaos zu sehr fürchten? Oder werden wir bewusst und frei uns dafür entscheiden, dass wir das wahrnehmen, aufnehmen und mitnehmen, was in ihrem Leben passiert? Nur wenn wir diese Fragen stellen und klären, werden wir wirklich wissen, ob Worte auf den Boden fallen oder aufgefangen werden.

 

Erik Riechers SAC, 17. Januar 2021

 

 

Die Kraft, die richtigen Fragen zu stellen

 

Nachdem wir uns nun schon länger in der Corona-Krise befinden, wächst die Tendenz, nach einer Lösung zu suchen und die Konsequenzen zu ignorieren. Je länger die Krise anhält, desto intensiver wird die Suche nach Antworten. Es gibt Stimmen, die fordern, dass Impfstoffe ohne ordnungsgemäße Prüfung zugelassen werden sollen. Es gibt andere, die neue Maßnahmen ergreifen, härter oder weicher, ohne jeglichen Hinweis auf die möglichen Folgen. Auf der Suche nach einer schnellen Lösung ist man bereit, die Suche nach den richtigen Fragen aufzugeben. Das Verlangen nach schnellen Lösungen macht uns immer mehr bereit, brennende Fragen als lästige Unannehmlichkeiten abzutun. So neigen wir, sobald wir eine Lösung gefunden haben, dazu, die richtigen Fragen zu ignorieren, wie: Ist das der richtige Weg? Ist dies die einzige Lösung für unser Problem oder nur die schnellste? Welche Folgen wird dieser Weg haben und wer wird den Preis dafür zahlen?

Wenn wir ausschließlich an Antworten und Lösungen interessiert sind, beginnen wir uns immer mehr vom Geschichtenerzähler Gottes, dem Jesus der Evangelien, zu entfernen. Sein Lehrstil hängt nicht vom Auswendiglernen von Antworten ab, anders als die subtile Suggestion unserer Katechismen. Statt Menschen, die sich bei seinen Vorträgen Notizen machen, ist Jesus daran interessiert, Hörer des Wortes zu finden und zu fördern. Und Hörer des Wortes lernen die Kunst und das Handwerk, echte Zuhörer zu werden. Jesus lädt die Hörer des Wortes ein, die Geschichten Gottes zu erforschen und zu einem Schluss zu kommen. Er wird ihr Denken leiten, ohne ihnen zu sagen, was sie denken sollen.

Die Geschichten Gottes und die Geschichten des Glaubens sind keine guten Lehrmittel für Menschen, die vereinfachende Antworten suchen. Der Geschichtenerzähler Gottes bietet keine schnellen, einfachen und patentierten Lösungen für das Geheimnis des Lebens. Stattdessen ist er gekommen, um uns einzuladen, ihn auf eine Reise mit großen Abenteuern zu begleiten. Aber Abenteuer sind unangenehme Dinge für diejenigen, die sich nur um Lösungen kümmern: Sie bringen uns dazu, mit unseren Annahmen zu ringen, zwingen uns, unsere bequemen einseitigen Bilder von uns selbst zu konfrontieren, treiben uns dazu, mit Gott zu ringen und führen uns zu der demütigen Realität, dass es jemanden gibt, der größer ist als wir selbst, und sogar Dinge, die größer sind als unsere persönlichen Anliegen. Sobald das geschieht, beginnen wir, die richtigen Fragen zu stellen. Wie Abraham Joshua Heschel schreibt: »Wir sind Gott näher, wenn wir Fragen stellen, als wenn wir glauben, die Antworten zu kennen.«

Das ist echter Glaube, und das ist harte Arbeit. Wir leben in einer Welt, in der wir gerne darüber reden, frei zu sein, aber dann wollen, dass uns jemand sagt, was wir denken und tun sollen. Wir lieben es, uns für Freidenker zu halten, die die alten, abgenutzten Geschichten der Vergangenheit durchbrochen und hinter sich gelassen haben. In Wirklichkeit haben wir Geschichten, die reich an Schichten von Sinn und Zweck sind, genommen und durch billige Pseudo-Geschichten ersetzt. Wir nahmen großartige biblische Geschichten, die uns zwangen, über einfache Antworten hinauszugehen, und ersetzten sie durch triviale Geschichten der Bequemlichkeit, immer ordentlich in ihren Schwarz-Weiß-Darstellungen und immer ohne Komplikationen.

Der Geschichtenerzähler Gottes ist in unserer Welt unterwegs und tut auch heute noch das, was er in den Tagen des Evangeliums getan hat: Er stellt alle geerbten Annahmen, Ideen, Auslegungen und Konzepte auf den Kopf, die wir für unantastbar halten. Er hofft, uns zu dem Glauben von Mosche zu bewegen, den Elie Wiesel in seinem Buch Nacht beschrieben und bewundert hat.

»Und warum betest du zu Gott, wenn du weißt, dass man seine Antworten nicht verstehen kann?«

Der Synagogendiener antwortet: »Damit er mir die Kraft gebe, richtige Fragen zu stellen.«

Ich denke, das ist eine sehr gute Idee inmitten unserer Krise. Denn wenn wir zu Gott um die Kraft beten, ihm die richtigen Fragen zu stellen, wer weiß, welche erstaunlichen und unerwarteten Lösungen sich dann ergeben könnten?

 

Erik Riechers SAC, 15. Januar 2021

 

 

Was erschreckt dein Herz?

 

In der Silvesternacht hat eine Freundin von mir ihre Mutter verloren. Als ich einige Tage später die Nachricht davon erhielt, war ich tief betrübt über ihren Verlust. Ich setzte mich hin, um ihr einen Kondolenzbrief zu schreiben, und ich feierte eine Messe der Auferstehung für ihre Mutter.

Im Laufe des Tages vertiefte sich meine Traurigkeit. Meine Freundin war bei der Beerdigung meiner Mutter vor neun Jahren dabei und auch bei der Beerdigung meines Vaters vor etwas mehr als einem Jahr. 8000 km trennen Vallendar von Edmonton, und das macht es für mich unmöglich, daran teilzunehmen. Aber es erschreckt mein Herz, dass ich dieses Zeichen der Herzensnähe nicht erwidern kann, um diese wesentlichste Form der Anwesenheit in der Stunde der Trauer für eine gute und treue Freundin zu praktizieren.

Es ist eine so einfache Handlung, zu einer Beerdigung zu gehen und Freunde in der Zeit der Trauer zu unterstützen. Wie die meisten einfachen Handlungen nehmen wir sie als selbstverständlich hin. Aber während wir das tun, vergessen wir oft diejenigen unter uns, für die es nicht möglich ist, an dem teilzunehmen, was wir als selbstverständlich ansehen. Wie Jesus Sirach sagt: »An einem Tag voll guter Dinge vergisst man Schlechtes, aber an einem Tag voll schlechter Dinge wird man sich nicht an das Gute erinnern.« (Sirach 11, 25) Es ist die Nonchalance dieses Vergessens am Tag voller guter Dinge, die mich mit jedem Jahr mehr beunruhigt.

Diese Erfahrung machen in diesen Tagen viele Tausende von Menschen, die Angehörige und Freunde durch die Verwüstungen des Corona Virus verloren haben. Sie waren oft nicht in der Lage, ihre geliebten Menschen in ihrem Sterben zu besuchen und zu begleiten, und oft durften sie ihren Verlust auf eine tiefe und notwendige Weise nicht betrauern. In Orten wie Bergamo, Italien, durften Hunderte von Menschen nicht einmal an den Beerdigungen ihrer Familienmitglieder teilnehmen.

Und das erschreckt mein Herz. Wenn die Pandemie endet und der Tag voller guter Dinge zurückkehrt, werden wir allmählich wieder zu den normalen Routinen unseres Lebens zurückkehren. Werden wir dann die Tage der Not und das, was sie uns zu lehren versuchten, wieder vergessen? Werden wir dann all jene vergessen, für die die Tage voll schlechter Dinge nicht automatisch enden, wenn solche Tage für uns enden?

Denn Jesus Sirach sagt auch folgendes: »Während er sagt: Ich habe Ruhe gefunden, nun werde ich von meinen Gütern essen, weiß er nicht, wie viel Zeit noch verstreichen wird, und er wird sie anderen hinterlassen und sterben.« (Jesus Sirach 11, 19). Das ist eine alte Geschichte in der biblischen Erzähltradition. Lukas greift sie auf, wenn er uns von einem Mann erzählt, der alles andere vergisst, sobald er gesegnet wird von einer unerwartet großen Ernte. »So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann werde ich zu meiner Seele sagen: Seele, nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freue dich! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann das gehören, was du angehäuft hast?« (Lukas 12, 18-20)

Ich mache mir Sorgen, was mit den Menschen geschehen wird, die die schwersten Verluste erlitten haben. Wenn wir zur unerwarteten Ernte des Segens kommen, werden wir dann alles andere vergessen, um größere Scheunen zu bauen, und keinen Gedanken an diejenigen verschwenden, die das Andenken und das Leben ihrer verstorbenen Lieben würdigen möchten? Werden wir in unserer Zeit der reichlichen Fülle, in der es möglich ist, uns auszuruhen, zu essen, trinken und uns zu freuen, mit ihnen die Zeit und den Raum des Trauerns teilen? Werden wir, während das Leben für so viele weitergeht, zulassen, dass es an denen vorbeifließt, für die es nicht einfach so weitergehen kann wie bisher?

Würde es sich lohnen, eine Pandemie zu überleben, nur um als kälterer, grausamerer und egozentrischerer Mensch herauszukommen als zuvor? »Euer Herz erschrecke nicht!« (Joh 14, 1). Das ist ein direkter und guter Rat von Jesus selbst. Aber es gibt Zeiten, in denen es gut ist, wenn unser Herz erschreckt wird, damit wir in die nächste Zeile übergehen können. »Glaubt an Gott und glaubt an mich!« Ich bezweifle, dass der Scheunenbauer an Gott oder das Leben oder sonst etwas dachte, während er sein unerschrockenes Herz genoss. Und dann geschieht etwas Schreckliches. Wir wachen auf mit der furchterregenden Erkenntnis, dass der Horizont unserer Sorgen genauso breit ist wie unsere Schulterblätter.

 

Erik Riechers SAC, 13. Januar 2021

 

 

Bitte um Segen im Alleinsein

 

Vor einigen Jahren nahm ich in einer wunderschönen neugotischen kleinen Kirche in Irland ein Lesezeichen der dortigen Benediktinerinnen mit. Der Gebetstext und die Gestaltung gefielen mir sehr. Ich entdeckte das schöne kleine Blatt neu, als dieses neue Jahr begann. Und die Worte fingen an, ganz neu zu mir zu sprechen. Einiges an Erfahrungen und Nöten, die Menschen mir in den vergangenen Monaten erzählt und auch beklagt hatten, schwang mit.

Konnte das Gefühl, allein zu sein, vor der Pandemie mit vielerlei Aktivitäten überspielt werden, so sind viele von uns seit Monaten schmerzhaft damit konfrontiert und können oder wollen ihm auch nicht mehr ausweichen.

Ich lade Sie ein, die Situation ehrlich anzuschauen und ins Gebet zu nehmen. Das kann unseren Blick wandeln, weg von der Sicht eines Mangels hin zur Wahrnehmung einer Gnade.

 

Ich lebe allein

Sei an meiner Seite, o Herr,

denn ich bin allein.

Ich brauche deine Gegenwart in mir,

Nacht und Tag, um mein Zuhause zu teilen,

um mich zu leiten auf meinem Weg.

 

Bewahre mich sicher vor Gefahr;

fülle mein Herz mit Freude.

Gib mir deinen Frieden, dein Geschenk,

das du mit denen teilst, deren Herzen

verwirrt oder verzweifelt sind.

 

Und sogar wenn der Schatten

des Kreuzes auf meinen Weg fällt,

sehe ich dein österliches Sonnenlicht

durch die Dunkelheit.

 

Ich lebe allein, lieber Herr,

aber ich bin sicher,

dass dein Blick immer auf mir ruht

wie auf einem einzigen Kind.

 

Verweile in mir, lieber Herr,

damit ich in dir lebe.

 

Amen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 11. Januar 2021

 

 

Ich liebe die Welt zu sehr, um zuzulassen, dass deine Sünde dich definiert und das letzte Wort ist.

Taufe des Herrn B 2021                                        Mk 1, 7-11

 

Kürzlich hatte ich eine höchst unangenehme Begegnung mit zwei Menschen, die an der Vorstellung Anstoß nahmen, dass sie Sünder sein könnten. Wie fast jedes Gespräch dieser Art im Laufe der letzten dreißig Jahre war auch dieses eine völlige Zeitverschwendung. Wo es keine Nuancen gibt, kann es nur Karikaturen geben. Können wir einen Weg finden, über die Realität der Sünde so zu sprechen, dass wir den biblischen Geschichten und unserem Leben gerecht werden?

Ich glaube, dass ein Moment aus der Taufe des Herrn uns helfen kann. Es ist der Moment, als Jesus aus dem Wasser aufsteigt. Unmittelbar geschehen drei Dinge: der Himmel öffnet sich, der Geist kommt auf Jesus herab und eine Liebe spricht zu ihm von Liebe und Zugehörigkeit. Es ist ein entscheidender Moment.

Wenn wir in das Wasser hinabsteigen, wissen wir, dass wir eine Reinigung brauchen. Etwas haftet an uns, klammert sich an uns, von dem wir uns befreien möchten. Es ist ein tiefer Moment in der Erkenntnis der Sünde. Wilhelm Bruners definiert Sünde auf diese Weise: Unter unser Niveau zu rutschen. Das ist einfach und doch dezidiert biblisch. Wenn Menschen sündigen, rutschen sie unter ihr persönliches Niveau, leben nicht mehr so, wie sie gerne leben würden. Es geht darum, dass wir an uns selbst scheitern, dass wir nicht nach einem Maßstab leben, von dem wir wissen, dass er für uns wirklich passend und angemessen ist.

Dennoch ist es fast unmöglich geworden, dieses Gespräch über das Abrutschen unter unser Niveau zu führen, weil wir dazu neigen, in die Extreme zu verfallen. Das eine Extrem ist die völlige Verleugnung der Erfahrung der Sünde. Doch Sünde ist ein Teil unserer Erfahrung. Wir handeln nicht immer aufrichtig, gerecht oder mit Würde. Unsere Liebe ist oft mangelhaft. Das zu leugnen ist zwecklos, denn wir sind oft bestürzt, enttäuscht und entmutigt, wenn solche Momente auftreten. Wir wissen, dass wir nicht immer das sind, was wir sein wollen und wozu wir berufen sind.

Aber das andere Extrem ist zu glauben, dass diese Momente uns definieren. Zu sündigen bedeutet, unter unser Niveau zu rutschen. Aber es ist kein Ausdruck dessen, wer wir sind. Wenn wir sündhaft handeln, sagen wir oft: Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Wir wissen oft nicht, was uns dazu getrieben hat, etwas zu sagen oder zu tun, und wollen uns meist nicht mit diesen Momenten identifizieren. Denn sie definieren uns nicht. Die Sünde ist nicht unsere Norm, sondern der Moment, in dem wir unter diese Norm rutschen. Sie ist meist nicht Ausdruck unserer tiefsten Überzeugung, nicht die Art und Weise, wie wir lieber handeln würden, nicht die Art und Weise, wie wir normalerweise leben würden.

In dem Augenblick wo Jesus aus dem Wasser gestiegen ist, wurde alles weggewaschen, was nicht wirklich zu uns gehört. Und alles, was wirklich von Bedeutung ist, bleibt. Die Sünden werden weggewaschen, nicht das Herz und der Verstand und die Seele eines Menschen. Das Wasser des Jordan trägt die Sünden der sterblichen Männer und Frauen weg, es trägt nicht ihre Würde, Güte, Freundlichkeit und liebevolle Fürsorge weg.

Wenn wir unter unser Niveau rutschen, geben wir es zu, waschen uns rein und kehren zu diesem Niveau zurück. Wenn wir aus dem Wasser aufsteigen, wird die Sünde reingewaschen sein, aber der Himmel wird immer noch offen sein. Alle Kommunikationslinien mit Gott werden offen bleiben, ein Gespräch wird immer noch möglich und sogar erwünscht sein.

Wenn wir unter unser Niveau rutschen und zu ihm zurückkehren, werden die reinigenden Wasser wegtragen, was nur eine Zeit lang an uns klebte, aber sie werden uns nicht den Geist Gottes rauben. Der Geist wird immer noch auf uns herabkommen, der Herr und Geber des Lebens wird immer noch in uns leben und sich bewegen und in uns atmen. Wir werden immer noch seine inspirierende Gegenwart kennen und von ihr bewegt werden.

Wenn wir unter unser Niveau rutschen und nach Erneuerung suchen, wird das Wasser die Gebrochenheit unserer Beziehungen abspülen, aber nicht die Beziehungen forttragen. Die Stimme Gottes wird immer noch von Liebe und Zugehörigkeit zu uns sprechen. Wir werden immer noch als ein Kind unseres Gottes angesehen und genannt werden, und wir werden immer noch Geliebte genannt werden. Unser Gott wird sich an uns erfreuen, an uns Gefallen finden und über uns jubeln.

Das Ignorieren der Sünde wird uns selbstgerecht und arrogant machen. Wir werden anfangen zu denken, dass alles, was Gott uns gibt, auf strenger Gegenseitigkeit beruht und dass Gott es uns schuldet, weil wir nichts Unehrenhaftes an uns haften haben. Es wird uns nicht erlauben, die barmherzige und gnädige Liebe unseres Gottes zu erfahren, der das Wort spricht, die Begegnung sucht, die Verlorenen liebt, auch wenn wir selbst wissen, dass wir auf nichts davon Anspruch haben und dass wir keinen Anspruch darauf erheben können, so großartig oder überzeugend gehandelt zu haben, dass wir würdig wären, dass er unter unser Dach kommt.

Die Übertreibung der Sündenerfahrung führt dazu, dass wir unsere schwächeren Momente mit unserem Niveau gleichsetzen. »Wo aber die Sünde zugenommen hat, ist die Gnade überreich geworden.« (Römer 5, 20). Wenn wir wie Jesus aus dem Wasser kommen, kehren wir zum echten Niveau unseres Lebens zurück. Nadia Bolz-Weber hat einige schöne Worte geschrieben, die nur ein Mensch schreiben kann, der wie Jesus tropfend aus dem Jordan kommt:

»Gottes Gnade wird nicht definiert als Gott, der uns vergibt, obwohl wir sündigen. Gnade ist, wenn Gott eine Quelle der Ganzheit ist, die mein Versagen ausgleicht. Meine Fehler verletzen mich und andere und sogar den Planeten, und Gottes Gnade für mich ist, dass meine Gebrochenheit nicht das letzte Wort ist … es ist, dass Gott sogar aus meiner eigenen Scheiße etwas Schönes macht. Bei der Gnade geht es nicht darum, dass Gott Menschen und fehlerhafte Wesen erschafft und dann ganz verletzt tut, wenn wir unweigerlich versagen, und dann wie ein Held einspringt, um uns Gnade zu gewähren - als würde er sagen: "Oh, es ist okay, ich werde der Gute sein und dir vergeben." Es ist Gott, der sagt: "Ich liebe die Welt zu sehr, um zuzulassen, dass deine Sünde dich definiert und das letzte Wort ist. Ich bin ein Gott, der alle Dinge neu macht.”« *

Auf der anderen Seite eines jeden Ausrutschers unter unser Niveau wartet jemand auf uns. Es gibt immer einen Weg nach Hause. Es gibt immer einen Weg zurück zum Gespräch, zur Inspiration und zur liebevollen Beziehung mit unserem Gott.

*Pastrix: The Cranky, Beautiful Faith of a Sinner & Saint

 

Erik Riechers SAC, 10. Januar 2021

 

 

»Es ist noch genug Zeit.«

 

Eine der Herausforderungen für uns alle in diesen langen Monaten ist die Erprobung der Geduld.

Schon im letzten Frühjahr hörte ich: »Das wird ja hoffentlich bald vorbei sein mit dem Lockdown! Dann können wir wieder normal leben.« Als ich anmerkte, dass uns der Virus auch über den Sommer begleiten werde, erntete ich nur hochgezogene Augenbrauen.

Wie so vieles wird dies durch die Pandemie enthüllt und aufgedeckt, doch es ist nicht neu. Mir scheint schon seit langem, dass Geduld immer seltener eine Tugend von uns Heutigen ist. Das wird genährt nicht nur aus Erfahrungen im Straßenverkehr oder an Kassen und Schaltern, an denen sich Menschenschlangen bilden können und wir immer wieder Austricksen, Drängeln oder wenigstens Meckern erleben. In allen Lebensbereichen können wir dies an uns selbst und an anderen beobachten.

Wir werden krank und Heilung braucht Zeit - wir aber müssen und wollen schnell wieder auf den Beinen sein.

Wir wollen Erfolg im Beruf - aber bitte schnell!

Statt auf ein langfristiges Ziel hin zu sparen, nehmen wir lieber einen schnellen Kredit auf.

Wir konsumieren vermeintliche Lösungen, statt geduldig zu üben, von innen nach außen zu leben.

Geduldig abzuwarten ohne zu resignieren, mit langem Atem auszuschreiten, fällt uns schwer. Wir sorgen uns, wenn wir uns für unsere Kinder oder Freunde eine gute Entwicklung wünschen und sie auszubleiben scheint. Wir helfen und tun, was wir können, aber nichts scheint zu fruchten. Wie ungeduldig können wir dann werden!

Da stieß ich vor Tagen auf einen für unsere Zeit ungewöhnlichen Dialog. Der eine sorgt sich sehr um einen jungen Mann, dessen Herz von Hass und Trauer erfüllt ist, und spricht:

»‚Sein Herz aber ist voll Hass auf den Mörder seines Vaters, und es ist eine verdammte Kette, die niemand sprengen kann. Nicht einmal Du, der Du Dich für diese verfluchten, tollwütigen Hunde hast kreuzigen lassen.‘ ‚Die Welt ist noch nicht zu Ende‘, sagte Christus abgeklärt. ‚Die Welt ist kaum über den Anfang hinaus, und im Himmel wird die Zeit mit Milliarden von Jahrhunderten gemessen. Man braucht nicht den Glauben zu verlieren, Don Camillo. Es ist noch genug Zeit, es ist noch genug Zeit.‘«

Ja, hier sprechen Don Camillo und Jesus miteinander in dem 1957 erschienenen Roman »Don Camillo und Peppone«  von Giovanni Guareschi.

»Es ist noch genug Zeit.« Wann haben wir dies zuletzt gehört? Haben wir es je gehört und ernstgenommen? Dabei ist dieser Satz wie Balsam auf unsere gehetzten Seelen. Er nimmt uns so viel Druck und legt uns ans Herz:

Es wird Wandlung geschehen. Verheißungen werden sich erfüllen. Wege werden gegangen. Reifen und Wachsen dürfen sein.

Wir sind nicht fertig und wir haben genug Zeit.

Und wir sind Teil einer viel größeren Geschichte. Unsere je eigene Geschichte hat Bedeutung, unser Handeln hat Folgen, aber es hängt nicht alles von uns ab und es muss nicht alles sogleich geschehen. »Menschsein braucht Zeit« sagte einst Columban der Ältere.

Sie ist uns gegeben, also atmen wir durch!

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. Januar 2021

 

 

Der Liebling

 

Wanderer, du siehst müde aus. Die Enttäuschungen deines Lebens sind in dein Gesicht geätzt. Entmutigung hat die Farbe und die Freude aus deiner Seele gezogen. Du solltest nicht so weiterreisen. Geh nicht an mir vorbei. Möchtest du dich nicht eine Weile zu mir setzen und dich an meinem Feuer wärmen? Ich bin nur ein einfacher Geschichtenerzähler, aber du bist willkommen, mein Brot und meine Gesellschaft zu teilen. Komm, setz dich! Während du isst, werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen.

Vor vielen Jahren, als die Welt noch viel jünger war, sich aber schon alt fühlte, ging ein junger Mann auf die Felder, um seinen Großvater zu besuchen.

Er fand ihn auf einem fein geschnitzten Holzstuhl sitzend und ein Kamel bestaunend. Alle nannten dieses Kamel einfach »den Liebling«, denn es war bekannt, dass es einen besonderen Platz im Herzen des alten Patriarchen hatte.

Der alte Mann schaute auf, als sein Enkel sich näherte, und lächelte. Selbst jetzt, nach all den Jahren und zum Manne herangewachsen, fühlte der junge Mann, wie eine Welle der Ehrfurcht über ihn hinwegfegte und Ehrfurcht die Orte seines tiefen Herzens berührte. Denn sein Großvater war einer der legendären 3 Pilger des Sterns. Seit er sich erinnern konnte, hatte er die Geschichte gehört, wie sein Großvater und seine beiden Freunde dem Stern folgten und das Kind des Lichts fanden. Nachdem die drei Sternpilger nach Hause zurückgekehrt waren, fuhren sie fort, große und bewundernswerte Beiträge des Lernens für das Land zu leisten, aber nichts, was sie danach taten, war mit der großen Reise, die sie unternommen hatten, zu vergleichen. Sie waren Legenden, und sein Großvater war einer von ihnen.

Der junge Mann lächelte seinen Großvater an und sagte: »Du bist gekommen, um 'den Liebling' wieder zu bewundern? Warum zieht dich dein Herz so oft hierher, Großvater, zu diesem einen Kamel? Du hast doch sicher wertvollere Besitztümer als dieses alte und abgenutzte Kamel?«

Allein dieser Gedanke ließ den alten Mann erschrecken. »Ich habe viele Besitztümer, die teurer sind als dieses Kamel, aber keines, das wertvoller ist. Es war mit mir auf der Sternenreise und hat immer einen Platz in meinem Herzen.«

Sein Enkel lächelte. »Es ist schon gut, Großvater. Ich habe dich nur ein wenig geneckt. Wir alle wissen, warum es dein Liebling ist, denn es erinnert dich an das größte Abenteuer deines Lebens.«

Der alte Freund des Himmels und intime Vertraute der Sterne runzelte die Stirn und rutschte leicht im Stuhl hin und her. »Es ist kein Souvenir meiner Sentimentalität. Es war eine Lehrerin einer großen Lebenslektion für mich und meine Gefährten.«

Sofort, instinktiv, setzte sich der Enkel auf den Boden, schlug die Beine übereinander und beugte sich vor, um begierig eine Geschichte von diesem geliebten Großvater zu hören, wobei er sein Kinn in die Hände stützte. Das ist wirklich die einzige Art, eine Geschichte zu empfangen, Wanderer. Der Enkel hatte dies getan, seit er gehen konnte und er hatte es nicht ein einziges Mal bereut, sich die Zeit genommen zu haben, eine von Großvaters Geschichten zu hören. Und auch hier enttäuschte der Großvater nicht.

»Als wir Bethlehem erreicht und das Kind gefunden hatten, betraten wir das Haus von Miriam und Josef. Ich habe oft davon gesprochen, aber keine Erzählung hat meinem Herzen je gerecht werden können. Wir traten aus dem Haus, aber wir sprachen kein Wort miteinander. Da war Freude, oh ja, aber nur in der Stille. Die Worte kamen erst viel später.

Doch unsere stille Betroffenheit währte nicht lange, denn bald durchbrach eine Frau unsere Stille. Wir hatten sie dafür bezahlt, sich um unsere Kamele zu kümmern, sie zu striegeln und zu füttern. Sie hatte den Auftrag schlecht und halbherzig erledigt, denn sie war viel mehr daran interessiert, uns zu belauschen, als ihrem Lohn gerecht zu werden. Wir waren noch tief in die Erfahrung des Findens, des Sehens und Begegnens eingetaucht, als wir sie sahen. Wir waren so voller Freude, dass wir sie am liebsten umarmt hätten, aber sie begann zu reden. Ihre Worte waren durchsetzt mit dem abscheulichsten und verderblichsten aller Gifte, der Entmutigung. Es wird durch das Ohr gespritzt, aber es erreicht immer das Herz.

‚So viel Aufhebens um dieses Baby? Und Geschenke von solchem Wert in die Hände von Bauern gelegt, die ihren wahren Wert nicht kennen oder schätzen?  Ihr solltet nicht diejenigen sein, die eure Knie beugen. Die beiden sollten euch huldigen. Dieses Kind ist eines von Tausenden wertloser Bauern, und Ihr füllt die Köpfe seiner Eltern mit der dummen Idee, dass er irgendein König sein sollte? Wie sein niedriggeborener Vater wird er über Sägemehl herrschen und froh sein, wenn man ihm überhaupt Münzen für seine Arbeit zuwirft. Was für eine idiotische Verschwendung einer Reise. Ihr werdet als drei törichte Männer in die Geschichte eingehen, die von den Sternen getäuscht wurden, die ihr nicht richtig zu deuten wusstet.’

Bei aller Weisheit, die ich mir in meinen langen Jahren angeeignet habe, habe ich noch nie ein so schmerzhaftes Schweigen erlebt wie dieses. Ich war so betrübt, dass ich keine Worte finden konnte. Die ganze Freude und Ehrfurcht meines Herzens verwelkte unter dem Angriff. Es war das, was ich in einem solchen Moment von knochentiefer Heiligkeit und ergreifender Schönheit am wenigsten erwartet hatte. Meine Begleiter sahen so betroffen und entsetzt aus, wie ich mich fühlte.

Genau in diesem Moment, als die Frau weiterhin ihre giftigen Worte über unsere Freude ausspuckte, wurde mein Kamel meine Lehrerin. Mit seinem linken Hinterbein versetzte es der Frau einen kräftigen Tritt in den Hintern, der sie zehn Meter durch die Luft fliegen ließ. Wir rannten ihr zu Hilfe, weil wir befürchteten, dass sie schwer verletzt worden war. Aber wir fanden sie nur mit blauen Flecken vor, mehr in ihrer Würde als an ihrem Körper verletzt. Und in diesem Moment begannen wir drei zu lachen.

Wir haben gelacht und gelacht. Wir lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen. Wir lachten, bis uns die Seiten wehtaten. Am Ende saßen wir alle auf dem Boden, während eine Welle des Lachens nach der anderen über uns rollte. Wir landeten alle auf dem Rücken und starrten in den Himmel. Und dann sahen wir ihn. Den Stern. Er hat für mich nie heller geleuchtet als in diesem Moment.

Wir hatten ihn schon einmal aus den Augen verloren, als wir in Jerusalem waren, und waren überwältigt vor Freude, als wir sein Licht wiederfanden. Aber dieses Mal war es anders, in vielerlei Hinsicht mächtiger. Wir hatten den Stern, unsere Freude, diese tiefste Erfahrung unseres Herzens durch die nörgelnden, abschätzigen Worte der Frau aus den Augen verloren. Wir ließen unsere Herzen von einer Person vergiften, die nicht hören konnte, was wir gehört hatten, nicht sehen konnte, was wir bereits mit unseren eigenen Augen gesehen hatten, und nicht staunend innehalten konnte vor dem, was wir angeschaut und unsere Hände berührt hatten. Unfähig, die Großartigkeit dieses Ortes und dieser Stunde zu würdigen, versuchte sie, unsere Freude mit Dingen von völliger Bedeutungslosigkeit, mit engstirnigen Vorurteilen und Kleinherzigkeit zu ersticken. Ihre entmutigenden Worte hatten es fast geschafft, uns von einer tiefen Zufriedenheit abzulenken, die wir bereits besaßen.

In diesem Moment hat uns mein Kamel gerettet. Es wurde meine Lehrerin. Was nützt es, vollkommene Freude und Sinn zu finden, wenn man sie nicht vor denen schützen kann, die selbst keine haben und andere an ihrem Elend, ihrer Härte und Kaltherzigkeit teilhaben lassen wollen? Mein Kamel warf sie aus dem Kreis der Heiligkeit und Ehrfurcht und zeigte mir, dass man solchen Menschen nicht erlauben darf, an den heiligen Orten unserer Herzen und unseres Lebens zu bleiben. Seitdem war es immer mein Liebling.«

Nun Wanderer, bleibe noch eine Weile bei mir. Denn die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende.

Fünfundvierzig Jahre später erzählte dieser Enkel seinen eigenen Enkelkindern von diesem Moment mit seinem Großvater. Als sich die Geschichte dem Ende zuneigte, erzählte er seinen großäugigen Enkelkindern zwei Dinge. Komm näher, lehne dich zu mir, Wanderer, denn ich möchte nicht, dass der Nachtwind meine Worte stiehlt, bevor sie dein Ohr erreichen können. Zuerst schwor er, dass er das Licht des Sterns in den Tränen seines Großvaters schimmern sah. Und dann erzählte er ihnen dies: Als er mit neu gewonnenem Respekt zu »dem Liebling« hinüberblickte, zwinkerte ihm das Kamel zu.

Und weißt du, was die Ur-Ur-Enkel des Sternenpilgers taten, als sie das hörten, Wanderer? Sie lachten und lachten und lachten, bis auch sie sich auf den Rücken rollten und den Himmel sahen.

Nun, Wanderer, sag mir ehrlich: Schmeckt das Brot nicht besser, wenn es mit einer Geschichte gebuttert wird? Brennt das Feuer nicht heller und wärmt es nicht tiefer, wenn es von einer guten Geschichte genährt wird? Es war gut von dir, mein Brot, meine Gesellschaft und meine Geschichte mit mir zu teilen, Wanderer. Du siehst schon ein bisschen weniger müde und weniger entmutigt aus. Meine Güte, wenn ich mich nicht täusche, sehe ich ein Funkeln des Sterns in Deinen Augen.

 

Erik Riechers SAC, 6. Januar 2021

 

 

Gehen wir behütet

 

Schwellen

können Hürden sein.

Es hilft, wenn andere

mit mir darüber steigen,

mich an die Hand nehmen,

mich vielleicht sogar tragen.

Und dann?

Ich kann hier nicht verharren.

Von hinten drängt es,

von vorn zieht es mich.

In der Ferne kann ich nichts

erkennen.

Das macht mich

zaghaft.

Doch stehen zu bleiben

oder sogar

liegen zu bleiben

geht nicht -

das macht mich leblos.

Also ein erster Schritt, ein zweiter,

ein dritter . . .

in meinem Tempo.

Der Weg entsteht.

Ich spüre haltenden Grund.

Ich sehe Menschen rechts und links.

Der Himmel wird hell.

Und jemand flüstert mir zu:

»Geh ruhig! Der dich behütet,

schläft nicht!«

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. Januar 2021

 

 

Worte, die Feuer in unseren Herzen entfachen können

2. Sonntag der Weihnachtszeit                                             Joh 1, 1-18

 

Dieser Prolog ist wie ein Handbuch des Johannes-Evangeliums - es steht alles hier in diesem poetischen Juwel. Doch eben weil er ein poetisches Juwel ist, tun wir uns schwer. Die Sprache ist schwer zu verstehen, weil sie nicht klar, deutlich und geradeheraus ist.

Gebrochene Herzen, zerschlagene Beziehungen, von einem Menschen verwundet zu werden, verraten zu werden, belogen zu werden. Selbst alles versuchen, um eine Beziehung zu retten und zu merken, dass es vergeblich war. Versuchen Sie jetzt darüber klar, deutlich und geradeheraus zu erzählen. Als ob alles im Leben mit der Präzision eines Lexikons zu beschreiben wäre!

Johannes erzählt eine Geschichte der wahren Freundschaft ohne Romantisierung. Denn Romantisierung nimmt weder die Liebe noch die Liebenden ernst. Und ich möchte Ihnen helfen, seine Geschichte zu verstehen mit Hilfe einer anderen Erzählung.

In seinem Buch »Das Schicksal ist ein mieser Verräter« erzählt John Green von zwei Jugendlichen, die sich unter schwierigen Umständen kennenlernen. Augustus ist siebzehn und leidet  an einem Knochentumor. Sein Freund ist 16 Jahre alt und hat einen Gehirntumor.

Ich möchte eine Szene herausheben als Hilfe, den Prolog des Johannes besser zu  verstehen. Hier spricht Isaac von seinem Freund Augustus bei seiner Beerdigung. Es geht um einen Besuch seines Freundes bei ihm im Krankenhaus nach einer Operation. Sie rettet ihm das Leben, aber dabei verliert Isaac ein Auge.

»Ich war blind und mein Herz war gebrochen und ich wollte nichts tun und Gus platzte in mein Zimmer und rief: ‚Ich habe wunderbare Neuigkeiten!‘ Und ich sagte: ‚Ich will jetzt eigentlich keine wundervollen Neuigkeiten hören‘, und Gus sagte: ‚Das sind wundervolle Neuigkeiten, die du hören willst‘, und ich fragte ihn: ‚Gut, was ist es?‘, und er sagte: ‚Du wirst ein gutes und langes Leben voller großartiger und schrecklicher Momente leben, die du dir noch gar nicht vorstellen kannst!‘«

So beschreibt John Green auf seine Art, was Johannes im Prolog uns sagen will. Gott ist ein echter Freund, der in unser Leben einbricht und nicht nur auf Einladung hin. Er kommt unerwartet, mit wunderbaren Neuigkeiten, auch dann wenn wir nicht in der Stimmung sind, sie zu empfangen.

Außerdem sagt uns der Prolog nicht nur, dass Gott mit zerbrochenen Beziehungen umgehen kann, sondern zeigt uns auch wie.

 

  1. Das Problem in der Beziehung wird erkannt und eine kostspielige Handlung der Liebe wird unternommen.

Johannes beschreibt diesen Augenblick, wenn er sagt, dass wir Menschen Gott und seine Botschaft genauso wenig aufnehmen wollten wie Isaac seinen Freund Augustus und seine Botschaft aufnehmen wollte.

»Ich war blind und mein Herz war gebrochen und ich wollte nichts tun« ist ein Zustand, den wir alle kennen. Und trotzdem wird in diesen Zustand eingebrochen, immer eine kostspielige Handlung, sei es für Gott oder für die Menschen. Das steckt in den poetischen Worten »Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst« sowie in dem Wort »Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.« Das Problem in der Beziehung zu erkennen ist schon nicht einfach, aber die Handlung über den Widerstand und das Desinteresse hinaus ist die wahre Kunst, und  unser Gott beherrscht sie. Wenn wir zu viel Zeit damit verbringen, den schrecklichen Zustand zu verkünden, in dem Gott sein Volk vorgefunden hat, verbringen wir zu wenig Zeit damit, zu verkünden, dass er mehr als fähig ist, mit uns umzugehen, unabhängig von dem Zustand, in dem wir uns gerade befinden.

 

  1. Die Initiative ist beziehungsorientiert und persönlich.

Als Augustus seinem Freund die guten Neuigkeiten überbringen wollte, platzte er in Isaacs Zimmer. Er hat ihm keinen Brief geschrieben. Er hat auch nicht telefoniert oder, noch schlimmer, eine Nachricht über die sozialen Medien geschickt. Er arbeitet beziehungsorientiert und persönlich. Er erscheint selbst. Johannes erzählt es so: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.« In den Versen 14-18 haben wir also eine Beschreibung des Lebens Jesu, als das Wort »unter uns wohnte«, »sein Zelt unter uns aufschlug« oder »mit uns häuslich wohnte«. Das Zelt der Gegenwart war das Symbol für Gottes Begleitung seines Volkes auf seiner 40-jährigen Wanderung durch die Wüste. Das Leben Jesu, die göttliche Gegenwart in menschlicher Gestalt, offenbart also die beziehungsorientierte und persönliche Art Gottes vollständiger als je zuvor. Johannes ist der Geschichtenerzähler, der uns zeigt, dass Jesus uns zeigen kann, was Gott wirklich im Sinn hat und, was noch wichtiger ist, in seinem Herzen trägt. »Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.« (Joh 1,18)

 

  1. Der Erfolg ist nicht garantiert. Es handelt sich um ein offenes Angebot. Ablehnung ist eine Option.

Die erste Reaktion von Isaac auf die Botschaft seines Freundes war:  »Und ich sagte: ‚Ich will jetzt eigentlich keine wundervollen Neuigkeiten hören‘.« Wenn wir Liebe wagen, gehen wir davon aus, dass sie dann automatisch Erfolg haben muss. Aber Liebe ist ein Angebot, das immer abgelehnt werden kann, sonst müssten wir nicht davon reden, die Liebe zu wagen. Risiko ist immer mit eingeschlossen in Liebesgeschichten. Und Johannes schreibt keine romantisierte Form der Liebesgeschichte zwischen Gott und seinen Menschen. Er schreibt: »Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.« Johannes ist wie ein Romanschriftsteller, der den Schmerz unerwiderter Liebe schildert: Einsamkeit, Isolation und Zurückweisung. Angesichts einer bedürftigen Welt kommt Jesus als Gottes Wort mit einem Geschenk, das alle Sehnsucht stillt, aber das liebevolle Angebot wird auch abgelehnt. Auch göttliche Liebesgeschichten müssen nicht ein glückliches Ende nehmen.

 

  1. Die Handlung der Liebe ist bedingungslos. Gott wartet nicht ab, bis die »Schuldigen« zeigen, dass sie sich geändert haben.

Augustus hört wörtlich von seinem Freund Isaac, dass er gar nicht offen ist für seine Botschaft. »Ich war blind und mein Herz war gebrochen und ich wollte nichts tun.« Der Satz bleibt wahr, auch nachdem sein Freund in seinem Krankenzimmer erscheint. Augustus wartet nicht ab, bis Isaac seine Meinung ändert oder seine Laune besser wird. Es geht ihm nicht um seinen Beliebtheitsgrad, sondern um eine Botschaft, die sein Freund dringend braucht, damit er sich nicht in Trauer und Hoffnungslosigkeit verliert.

Johannes bewundert dieselbe Hartnäckigkeit in Gott: »Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.« Was Gott nicht davon abgehalten hat, im Raum unseres Schmerzes aufzutauchen, genauso wenig wie es Augustus aufgehalten hat.

 

  1. Die Initiative Gottes ist ein liebevolles Angebot, das zeigt, dass die Motivation das Wohlergehen des »Anderen« ist.

Die wunderbaren Neuigkeiten, die Augustus ankündigt, zeigen, dass es ihm um das Wohlergehen seines Freundes geht. Wenn Menschen uns sagen »Ich habe wunderbare Neuigkeiten«, wird nachher herausgestellt, dass sie befördert worden sind, einen begehrten Platz an der Universität bekommen haben, eine hervorragende Note oder die ersehnte Stelle bekommen haben. Aber Augustus zeigt, dass es ihm nicht um sich selbst geht. »Du wirst ein gutes und langes Leben voller großartiger und schrecklicher Momente leben, die du dir noch gar nicht vorstellen kannst!« Was wir nicht aus dem Auge verlieren sollten, ist dass Issac diese Geschichte erzählt über einen Freund, der selbst den Krebs nicht überlebt.

Wenn Johannes uns erzählt »In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, wir haben seine Herrlichkeit geschaut, aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade«, dann hören wir seine Version von »Du wirst ein gutes und langes Leben voller großartiger und schrecklicher Momente leben, die du dir noch gar nicht vorstellen kannst!«

Johannes Freundschaftsgeschichte zeigt nicht nur die Art und Weise, wie Gott uns ein guter und engagierter Freund ist, sondern auch, dass er ein Gott ist, der zum Leben kommt mit einer Perspektive ganz anders als unsere. Gott freut sich für uns, wie Augustus für Isaac, weil wir die Möglichkeit haben, das Leben auf neue Art und Weise zu erfahren. Und Gott wagt es, uns dies zu sagen aus demselben Grund, warum Augustus es seinem Freund Isaac sagt: weil er nicht von dieser Lebensrealität verschont geblieben ist, sondern mitten drin steckt, wie wir auch. Gott schlägt sein Zelt direkt neben unserem auf. Gott selbst leidet an dem Schmerz unerwiderter Liebe: Einsamkeit, Isolation und Zurückweisung. Er zeigt uns, dass die Liebe ihm Wege öffnete, damit umzugehen. Und diese Wege stehen auch uns offen.

 

Erik Riechers SAC, 3. Januar 2021

 

 

Gehen unter seinem Namen

 

Jeder Tag ist ein Anfang, etwas Neues, nie Dagewesenes; doch am ersten Tag eines neuen Jahres empfinden wir dies ganz besonders. Wir nehmen diese Schwelle stärker wahr und - je älter wir werden - auch das, was wir über diese Schwelle tragen an Leid und Freude, an Traurigkeit und Hoffnung, an Ängstlichkeit und Zuversicht, an Dankbarkeit und Enttäuschung. Ganz schön schwer!

Ja, so ist Leben, nicht erst seit der Pandemie. Über genau dieses unser Leben aber sagt Gott Gutes! Er segnet es! Auf dem langen und beschwerlichen Weg durch die Wüste, der oft aussichtslos schien, sprach er diesen Segen in einer Weise aus, die wir bis heute lieben und über das neue Jahr stellen:

Der HERR sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden.

So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen und ich werde sie segnen.

Das Gute, das Gott den Seinen zusagt, hat ein dreifaches Gesicht: Schutz, Gnade und Frieden. Heil wird zugesagt. Das ist ein Segen, der direkt aus Gottes Namen fließt: Ich bin da. Wenn der Weg dunkel wird: Ich bin da. Wenn Krisen dich schütteln: Ich bin da. Wenn du gebrechlich wirst: Ich bin da. Wenn du dich verloren fühlst: Ich bin da. Ich sehe dich, ich behüte dich, ich schaue auf dich. Mein Name liegt auf dir.

So gesegnet können wir weitergehen, auch heute, wenn wir die Schwelle vielleicht wie eine Hürde empfinden und uns nur zögernd vortasten. Diesem Namen können wir unseren Namen anvertrauen.

Dann können wir vielleicht mit Andreas Knapp betrachten:

 

Name

 

Dein Name

nicht Schall und Rauch

sondern Klang und Bild

ein gutes Omen

unverwechselbarer Schriftzug

Buchstaben des Lebens

 

dein Name

von der Liebe erfunden

zärtlich geflüstert

kein einsames Echo

sondern Widerhall des Herzschlags

Passwort zu dir

 

dein Name

Lebenslinie in SEINER Hand

unvergänglicher eingraviert

als in granitesten Grabstein

Lieb-Kose-Name

unaufhörlich

                               Andreas Knapp, Weiter als der Horizont

                             

Ein gesegnetes neues Jahr!

 

Rosemarie Monnerjahn, 1. Januar 2021

 

 

Die Windeln des Willkommens

 

Als Jesus zur Welt kam, erschienen Engel den Hirten und schickten sie auf die Suche nach dem Retter. Damit sie ihn erkennen, gaben sie den Hirten folgende Anweisung:

 

Und das soll euch als Zeichen dienen:

Ihr werdet ein Kind finden,

das, in Windeln gewickelt,

in einer Krippe liegt.

 

Im Buch des Propheten Ezechiel gibt es ein Wort, dass die Bedeutung der Windeln uns näherbringen kann.

 

Bei deiner Geburt, als du geboren wurdest,

hat man deine Nabelschnur nicht abgeschnitten.

Man hat dich nicht mit Wasser abgewaschen,

nicht mit Salz eingerieben,

nicht in Windeln gewickelt.

(Ez 16:4)

 

Ezechiel beschreibt eine Geburt der ganz anderen Art. Hier ist ein Bild des Volkes Israel, das ohne Windeln auf die Welt gebracht wird. Das ist eine Metapher für das Ausgesetztsein, für das Ausgeliefertsein an andere. Und es ist ein furchtbares Bild für ein schutzloses Leben, das sich selbst überlassen ist, von Anfang an im Stich gelassen. Denn die in der Bibel beschriebenen Windeln bestanden aus einem Tuch, das mit Stoffbinden zusammengebunden wurde. Nach der Geburt eines Säuglings wurde die Nabelschnur durchtrennt und abgebunden, dann wurde das Kind gewaschen, mit Salz und Öl eingerieben und anschließend in Windeln gewickelt. Diese Stoffstreifen sollten das neugeborene Kind warm halten und dafür sorgen, dass seine Gliedmaßen gerade wachsen. Windeln stehen für einen warmen Schutz in einer kalten Welt. Sie sprechen von liebevoller Fürsorge und einer wertschätzenden Bereitschaft, dieses Leben zu schützen und ihm zu dienen.

 

John L. Bell schrieb vor Jahren ein wunderschönes Lied über die Suche nach dem Kind.

 

Ich suchte ihn in feinsten Kleidern gehüllt,

wo Geld spricht und Status wächst;

aber Macht und Reichtum wählte er nie:

es schien, dass er in Armut lebte.

 

Ich suchte ihn an dem sichersten Ort,

fern von Verbrechen oder billiger Schande;

aber Sicherheit kannte sein Gesicht nicht:

es schien, er lebte in Gefahr.

 

Ich suchte ihn dort, wo die Scheinwerfer blenden,

wo sich Menschenmassen sammeln und Kritiker starren;

aber niemand kannte seine Anwesenheit dort:

Es schien, er lebte im Verborgenen.

 

Dann, in den Straßen, hörten wir das Wort

das um alles in der Welt absurd erschien:

dass diejenigen, die sich keine Geschenke leisten konnten,

Christus, den Herrn, unterhielten.

 

Und so, anders als wir es geplant hatten,

unter den Ärmsten des Landes,

taten wir, was nur wenige verstehen mögen:

wir berührten Gott in der Hand eines Babys.

 

Und das ist der Grund, warum Lukas dieses Detail der Windeln verwendet. Der Sohn Gottes kommt in eine kalte Welt, ausgesetzt der Gefährdung, der Armut und der Verborgenheit. Aber wir sollten die Welt nie in zu dunklen Tönen malen. Denn es gibt auch in dieser Welt Menschen, die das Kind beschützen, behüten und liebevoll aufnehmen. Das sind die Menschen, die alles neue Leben von Gott in Windeln wickeln. 

 

Und es kann sicher nicht schaden, sich daran zu erinnern, wer die Menschen waren, die die Windeln zur Verfügung gestellt haben. Mögen wir uns zu ihnen zählen lassen.

 

Erik Riechers SAC, 30. Dezember 2020

 

 

Vor Kinderaugen

 

In diesen weihnachtlichen Tagen oder auch, nach alter Tradition, 12 Heiligen Nächten bis Dreikönig, sind mir die Geschichten von Selma Lagerlöf eine feine Begleitung. Zeitlos weiten sie den Blick von der Heiligen Nacht in unser Leben hinein und gehen so mit mir durch diese Zeit. Eine dieser Erzählungen ist »Ein Weihnachtsgast«:

Der kleine, schon in die Jahre gekommene Ruster ist ein armer Notenscheiber und Flötenspieler. Es gab für ihn die guten Kavaliersjahre, wo er und andere musizierten und ein munteres Leben führten, doch das ist lange her. Als Weihnachten naht, taucht er auf dem prächtigen Gutshof eines früheren Kameraden, des Violinspielers Liljekrona auf - mit nichts außer seiner Flöte, Feder und Branntwein. Widerstrebend wird er aufgenommen; die Hausherrin findet ihn zudem eine Zumutung für die Kinder.  Er stört die Festvorbereitungen, die alle hier so lieben und auf den Zauber der Weihnacht hin arbeiten lassen. Schließlich verlässt er am Nachmittag des Heiligabend mit gekränktem Stolz das Anwesen - der Knecht soll ihn im Schlitten zu einem anderen Hof bringen.

Doch bei Liljekrona und seiner Familie stellt sich kein Weihnachtszauber ein. Der Geiger zieht sich von seiner Familie zurück und spielt in seinem Zimmer so wild auf seiner Geige, dass seiner Frau Angst wird. Währenddessen zieht Ruster durchs Schneegestöber von Haus zu Haus - niemand nimmt ihn auf. »Da sah er mit einem Male sich selbst. Er sah, wie jämmerlich und verkommen er war, und er begriff, dass er den Menschen verhasst sein musste. Mit mir ist es aus, dachte er.« Und wie er sein Leben so anschaut, wird er plötzlich sehr demütig und er glaubt an sein Ende in dieser Kälte und Dunkelheit an diesem Weihnachtsabend.

Erst als er auf einmal in Licht und Wärme aufgenommen wird, erkennt er, dass er wieder in Liljekronas Haus ist - dorthin war der Knecht müde zurückgekehrt, ohne dass es Ruster wahrgenommen hatte. Der Hausherr  hier tobt sich weiter mit der Violine aus, seine Frau aber ist verwandelt; Mitleid erfüllt sie und dann vertraut sie Ruster ihre Knaben an, während sie noch letzte Arbeiten in der Küche erledigt. Mit Kindern jedoch ist der Mann völlig unerfahren: »Er scheute sich beinahe vor ihnen und wusste nicht, was er sagen sollte, das fein genug für sie war.« Und dann nimmt er das, was er kennt, seine Flöte. Und über die Töne kommen sie zu den Noten und darüber zum ABC. Doch Ruster ist nicht zufrieden mit sich. »Er wälzte die alten Gedanken, die er im Schneesturm gehabt hatte, in seinem Kopfe. Hier war es gut und behaglich, aber mit ihm war es doch auf jeden Fall aus. Er war verbraucht. Er würde fortgeworfen werden. Und urplötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.« Da tritt Liljekronas Frau vor ihn - voller Verständnis, voller Zuversicht und mit dem Angebot, in Zukunft ihre Kinder zu unterrichten. Sie ermahnt ihn, den Kindern in die Augen zu schauen, doch er traut sich nicht und sagt dies auch. »Da lachte Liljekronas Frau hell und froh auf. ‚dann sollen Sie sich an sie gewöhnen, Ruster. Sie sollen dieses Jahr als Schulmeister bei uns bleiben.‘ «

Dieses Lachen dringt bis zu Liljekrona. Als er aus seinem Zimmer kommt, kann er kaum fassen, was er  sieht und was seine Frau da gerade ausgemacht hat und er versteht ihren Mut nicht und er fragt, was Ruster wohl versprochen hat. »‚Ruster hat nichts versprochen. Aber er wird sich vor mancherlei in acht nehmen müssen, wenn er jeden Tag kleinen Kindern in die Augen sehen soll. Wäre es nicht Weihnachten, hätte ich dies vielleicht nicht gewagt, aber wenn unser Herrgott es wagte, ein kleines Kindlein, das sein eigener Sohn war, unter uns Sünder zu setzen, dann kann ich es wohl auch wagen, meine kleinen Kinder versuchen zu lassen, einen Menschen zu retten. «

Ergriffen zuckt Liljekronas Gesicht - wie immer, wenn er etwas Großes hört. Und er küsst die Hände seiner Frau.

Jetzt wird Weihnachten wahrlich gefeiert!

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. Dezember 2020

 

 

Die Komplexität eines authentischen Lebens

Heilige Familie  B 2020                                 Lk 2, 22-40

 

 

Normalerweise, wenn wir an das Kommen des Kindes denken, erwarten wir eine ziemlich einfache und unkomplizierte Geschichte. Sie sollte uns froh machen, trösten und das Herz erwärmen. Jedoch haben sehr viele Menschen diese Weihnachtszeit mit gemischten Gefühlen gefeiert. Trauer vermischte sich mit Freude. Viele Erwartungen wurden nur minimalistisch erfüllt oder gar nicht. Was sich mischt, ist harte Realität und hartnäckige Hoffnung, die kalten Fakten des Lebens und die nicht zu löschende Sehnsucht des Glaubens. 

Heute hören wir eine biblische Geschichte, die genauso kompliziert und vielschichtig ist. Der Grund dafür ist einfach: Die Realität der menschlichen Erfahrung ist immer komplex. In dieser Geschichte vom Kommen des Kindes sehen wir die Erfüllung einer Verheißung der Erlösung und gleichzeitig eine Vorhersage von Zeiten der Schwierigkeiten und des Schmerzes. Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Hier gibt es keine Flucht vor der Realität. Hier haben wir die lebensnahe Geschichte des Evangeliums. Und wir können daraus drei Lebensunterweisungen für gemischte Erfahrungen mitnehmen.

 

Sprich nicht schlecht von armen und kraftlosen Anfängen

Es ist leicht, die Zeichen der Armut in der Geschichte zu übersehen, aber sie sind da. Weil Maria und Josef arm sind, können sie sich kein Lamm leisten, um es als Opfer in den Tempel zu bringen. Deshalb haben sie keine andere Wahl, als die Option zu wählen, die den Armen offensteht: »ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben«. Allein die Tatsache, dass sie diese Opfergaben bringen, ist bereits ein demütigendes öffentliches Bekenntnis zu ihrem sozialen und wirtschaftlichen Status. Die ständige Frustration und Demütigung, die so viele ihrer Landsleute auch erfahren haben, weckte sicherlich das Verlangen, dass Gottes Verheißung der Erlösung erfüllt werden sollte.

An dieser Stelle treten Simeon und Hanna in die Geschichte ein, zwei Menschen, die die Armut und Einfachheit dieses jungen Paares weder lächerlich machen noch verunglimpfen. Stattdessen sehen sie etwas in ihrer gegenwärtigen Lage, ja, in dem, was sie schon besitzen, das nicht nur realistisch und fokussiert ist, sondern auch großzügig und umfassend. So oft erleben wir in unseren Krisensituationen  Sarkasmus, Ironie, Herablassung, Unheilspropheten und Besserwisserei. Hier aber sind zwei, die warme Worte für arme und kraftlose Anfänge finden. Denn so fangen alle Geschichten Gottes an.

 

Gönne anderen das Leben, das du selbst ersehnst

Lukas sagt uns, dass Simeon ein Mann war, auf dem »der Heilige Geist ruhte«. Das Geist-Gewobene in ihm lässt Simeon eine bemerkenswerte Offenheit zeigen. Intuitiv spürte er den Drang, den Tempel zu besuchen, und er nahm es als Führung des Geistes. Simeon sieht nicht nur das Baby, sondern erkennt die Bedeutung des winzigen Lebens, das er in seinen Armen hält. In einer Flut von Worten, die Simeons Gedanken und Gebete aus unzähligen Jahren zusammenfassen, spricht er die Worte dessen aus, was wir heute das Lied Simeons nennen.

Wenn  wir Menschen lange und hart bedrängt werden, kann der Wunsch unseres Herzens zu klein werden. Dann wollen wir die Befreiung von dem, was uns hier, heute und im Augenblick bedrückt. Dann kann es passieren, dass wir es auch nur für uns wünschen und gönnen. Simeon dagegen sieht Gottes Heil als etwas, das den ganzen Erdkreis umfasst. Nicht nur sein Volk und seine Menschen sollten Gottes Heil sehen und erfahren, sondern alle Völker.

Wie oft geht es in Krisen darum, einen Vorteil gegenüber dem Feind zu erlangen. Aber Simeon sieht, dass Gott inklusiv und nicht parteiisch ist. Gott möchte die Welt nicht in Gewinner und Verlierer aufteilen, sondern jeden an dem Gewinn teilhaben lassen. Seine Erlösung ist für die ganze Welt. Hier steht Simeon in einer Tradition so alt wie Genesis. Denn die Verheißung Gottes an Abraham besagt, dass durch seine Nachkommen alle Völker der Welt gesegnet werden würden. Diese Großzügigkeit ist eine Frucht des Geistes, der in uns wohnt und auf uns ruht. Die Herrlichkeit Israels wird sich in dem Maße verwirklichen, wie Israel ein Mittel zum Segen für die Nationen ist. Das war Simeons Vision von Jesu Leben und Wirken. 

 

Sprich Segen, der die tiefsten Realitäten des Lebens berührt, anstatt sie zu vermeiden

Simeon segnet dann Jesu Eltern. Aber sogar sein Segen ist kompliziert, denn mit dem Segen kommen Worte der Warnung, der Vorhersage, des Konflikts, der Spaltung, der Opposition, (Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.) und für Maria persönlicher Verlust und Leid. (Dir selber aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.)

Simeons Segen ist alles andere als eine Beschönigung der Realität, ein Übertünchen der Risse mit blindem Optimismus und sentimentaler guter Laune. Simeons Segen stellt sich der Realität, dass dort, wo die Liebe Gottes auf die Sündhaftigkeit des Menschen trifft, Leid die unvermeidliche Folge ist. Der Segen kommt aus dem Wissen, dass der Weg, den Gott gewählt hat, darin besteht, mit dem Leiden der Welt umzugehen, indem er diejenigen begleitet, die leiden, als einer, der mit uns leidet.

Eine andere bemerkenswerte Person, Anna, kommt dann hinzu. Eine Frau, die einen enormen Verlust erlebt hatte, sich aber weigerte, der Bitterkeit und dem Groll nachzugeben und Sinn und Erfüllung im Gebet und Fasten Tag und Nacht fand! Sie war ein Mensch des Glaubens und der Hoffnung, der auf eine bessere Zukunft blickte. Auch sie war offen, um die Bedeutung dieses Kindes zu erkennen, und teilte ihre Freude über diese Entdeckung mit all denen, die auf die »Erlösung Jerusalems« warteten. Anna hatte so viel verloren, doch statt verbittert oder nachtragend zu sein, fand sie Erfüllung.

Das sind die komplexen Schritte durch alle Krisenzeiten, die uns befähigen, der Bitterkeit des Geistes nach einem großen Verlust zu widerstehen.

John Shea hat einen langen, liebvollen Blick auf die Realität im Lied des Simeon geworfen. Mögen seine Worte, die auch komplex und gemischt sind, uns helfen, nicht nur Weihnachten zu feiern, sondern die kommenden Tage gut zu bewältigen.

 

Das Lied von Simeon (Lukas 2, 29-32)

 

Wenn ich das Lied des Simeon singe,

beneide ich ihn um seinen Platz in der Heilsgeschichte.

Seine alten Augen sehen das Kind der Verheißung,

seine Ohren hören das Säuglingsgeschrei des Retters.

Dies macht es ihm möglich

in Frieden zu scheiden,

Abschied zu nehmen von seinem Leben.

Simeon hält das Kind der Verheißung in seinen Armen

und singt davon, dass das Leben so voll geworden ist,

dass mehr davon nicht gebraucht wird.

Vollendung ist angekommen.

 

Wie viele wollten schon sagen können:

»Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden«?

 

Ich denke an einen Freund, der starb,

während seine Kinder noch jung waren.

An seinem Krankenbett

war er aufgewühlt und unfähig zu sprechen.

Ich fragte ihn,

ob er besorgt war um seine Frau und Kinder.

Er nickte.

Ich sagte ihm, dass sie ihn vermissen würden, aber es würde ihnen gut gehen.

Er hob seine Hand

und kreuzte den Zeigefinger mit dem Mittelfinger,

das Zeichen für »Hoffentlich!«

Kein Lied des Simeon für ihn.

 

Wir wissen, wie tief das Feilschen in uns liegt –

Eltern beten, dass sie noch am Leben bleiben,

bis das Kind verheiratet oder das Enkelkind geboren wird.

Wir hegen in uns die Hoffnung, dass eine Zeit kommen wird,

wenn wir bereit sein werden.

Wir werden an einem Festmahl teilgenommen haben,

das unseren Hunger so sättigt,

dass mehr nicht gebraucht wird.

Dann wird unsere Faust sich öffnen

und wir werden unseren festen Griff loslassen,

mit dem wir das Leben festhalten.

Wir werden uns ohne Bedauern ergeben

und die Last unserer Tage niederlegen.

Möge es so sein!

 

Aber ich bin mir nicht sicher.

Für viele von uns,

für mich,

gibt es vielleicht keine endgültige Lösung während des Lebens,

keine Kulmination unserer Bemühungen.

Wir könnten unerfüllt sterben, mit unerledigter Arbeit,

mit anderen, die ohne uns weitermachen.

 

Aber wenn es eine Möglichkeit gibt,

die Worte des Simeon zu unserem letzten Lied zu machen,

müssen wir uns als Diener radikalisieren.

Es ist der Diener, der scheidet:

Alle anderen hören lediglich auf.

Wenn wir unser Leben verschenkt haben,

haben wir den Geist vielleicht gut genug kennengelernt,

um seine Entfaltung in uns

und in denen, die wir lieben,

zu umarmen.

Vielleicht haben wir den Geist gut genug kennengelernt,

um dem größeren Geheimnis zu vertrauen,

das uns verbindet über die Trennungen hinaus.

 

Unsere Erbschaft des Dienstes wird uns erhalten,

wissend, dass der Eine, dem wir gedient haben,

treu ist

auf Weisen, die wir uns nicht vorstellen können.

 

Erik Riechers SAC, 27. Dezember 2020

 

 

Im Kind fängt Gott von vorne an

Weihnachtstag 2020

(Für Julia, Lukas und Johannes)

 

»Denn uns ist ein Kind geboren« (Jes 9,5). Wenn wir das hören, dann können wir schon über Gott fragen: ‚Hat er sie noch alle?’ Denn auch nur ein kurzer Blick auf die schmerzhaft gebrochene Welt um uns herum sagt uns, dass das allerletzte, was wir im Augenblick gebrauchen könnten, ein Kind ist.

Wir hören täglich genau das Gegenteil von Politikern und Wirtschaftsexperten. Die sagen uns: Wir brauchen mehr Truppen, um uns vor dem Terror zu schützen, nicht ein Kind. Wir brauchen geniale Menschen, die neuen Technologien entwickeln, damit wir wieder Spitzenreiter in der globalisierten Weltwirtschaft werden, aber nicht ein Kind. Wir brauchen heldenhafte Menschen, die uns neue Welten eröffnen. Wir brauchen Unternehmer, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. In einer solchen Welt warten wir schon lange auf den Engel, der ankündigt: »Fürchtet euch nicht… Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren«. Aber wie wagt es Gott, uns dann zu sagen: »Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt«!

Gott gibt einen ganz eigenen Weg vor. Das überraschend Neue am Evangelium besteht genau darin, dass Gott klein und verletzlich und ausgerechnet auf diese Weise unter uns fruchtbar wurde. Er bevorzugt es, als Kind in die Welt zu kommen. Die drei Grundhaltungen vor dem Kind, die wir in Bethlehem lernen und uns zum Segen und Heil werden, werden in Kana und auf dem Kalvarienberg, in Jerusalem und Jericho wieder von uns verlangt.

Erstens, ein Kind verlangsamt uns. Ein Kind bremst das normale Tempo unseres Lebens ab. Diese Wahrheit ist uns schmerzlich klar. Kinder können mit Erwachsenen nicht Schritt halten. Sie können nicht so schnell gehen wie wir. Geistig können sie sich nicht mit unsere Schnelligkeit messen. Kinder brauchen mehr Zeit zum Lernen. Sie sind langsamer im Verstehen, brauchen viel mehr Zeit sich vorzubereiten, um sich neu einzustellen. Deshalb, wenn wir uns liebend auf ein Kind einlassen wollen, dann müssen wir uns dessen Schritttempo anpassen.  

Und genau darin werden wir gesegnet. Wenn wir uns auf ein Kind einlassen, dann wird unser Leben abgebremst und verlangsamt, bis wir uns auf neue Ebenen der Erfahrung, des Genusses und der Erforschung einlassen können. Nicht Kinder rasen an Wundern vorbei, sondern Erwachsene. Die Kinder braucht man nicht daran zu erinnern, die Schönheit und die Großartigkeit des Lebens zu merken; das brauchen wir als Erwachsene. Wenn ihre Fragen wie Kaskaden auf uns herunterfallen, dann haben wir den Beweis, dass sie die Welt wirklich sehen, bewundern und auf sich wirken lassen können. Ihre Wissbegierde lässt das Staunen hervorbringen, und das Staunen ist der Anfang allen Glaubens.

Darum ist uns ein Kind gegeben. Gott will uns verlangsamen, damit die wichtigsten Begegnungen, die Fülle und das wahrhaft Bedeutsame des Lebens nicht spurlos an uns vorbei gehen. Im Kind bremst er uns aus, damit wir unser Leben überhaupt mal wahrnehmen können, unsere Ausrichtung mal merken, die Bewegung oder Bewegungslosigkeit unseres Lebens in den Blick nehmen können und uns auf die brennenden Fragen einlassen können. Was in Bethlehem seinen Anfang nimmt, wird aber im Leben und Wirken Jesu durchgezogen. In Bethlehem lernen wir eine Grundhaltung des Glaubens. Wie werden wir sonst die Lilien des Feldes, die Vögel am Himmel, die arme Witwe, den verlorenen Sohn, die innerlich verblutende Frau, den verunsicherten Zachäus oder die trauernde Martha wahrnehmen, wenn wir an allen Orten der Gottesbegegnung vorbei rennen? Um voll und ganz zu leben, brauchen wir den Schritt und das Tempo eines Kindes. Wenn wir langsamer treten wollen, dann sollten wir das Kind willkommen heißen. Dafür ist es uns gegeben.

Zweitens, ein Kind entfesselt unsere Großzügigkeit. Kinder sind nicht unsere Partner. Sie können keinen gleichen und effektiven Beitrag zur Familie, zum Staat und zur Gemeinschaft leisten. Sie brauchen viel mehr als sie geben können. Sie brauchen unsere materiellen Ressourcen, denn sie können ihr Leben nicht selbst unterhalten. Sie brauchen mehr Bestätigung, denn sie sind im Selbstbewusstsein und Mut noch nicht stark genug. Sie müssen lange aus dem Becher unserer Liebe, unserer Geduld und unserer Kraft trinken. Sie brauchen mehr Zeit. Schlicht und einfach, wir können Kinder nicht lieben, wenn wir diesen Ansprüchen nicht nachkommen. Und gerade diese Ansprüche schmieden den Kern unserer Großzügigkeit.

In diesem Sinne sind Kinder die ersten Lehrer unserer Großzügigkeit. Für die meisten Eltern fängt ein Leben des selbstlosen Dienstes nicht vor dem Ehe-Altar, sondern vor dem Taufbecken an. In dem Augenblick, wo ihnen ein Kind geboren wird, sind sie sofort in der Schule der Großzügigkeit eingeschrieben. Ohne einen vielseitigen Großmut können Kinder nicht geliebt noch erzogen werden. Sie bringen uns dazu, die Knauserigkeit, mit der wir mit Zeit und Liebe umgehen, zu übersteigen, um mehr und immer wieder mehr davon anzubieten und bereitzustellen. Die Selbstbeschäftigung lässt nach und die Sorge um das Kind wächst.

Deshalb wird uns ein Kind gegeben. Im Kind fängt Gott von vorne an. Er dehnt unsere Herzen, damit Platz wird für eine größere, eine göttliche, Großherzigkeit. So arbeitet er mit uns von der Krippe bis zum Kreuz. Wir brauchen großzügige Herzen, wenn wir die Netze am Ufer liegen lassen wollen und den letzten Euro in den Opferstock werfen wollen. Nur großzügige Herzen können die andere Wange hinhalten, die nächste Meile mitgehen und die Verfolger segnen. Kein Schritt des Weges mit Christus kann ohne ein großzügiges Herz begangen werden. Darum wird uns ein Kind geben, weil im Kind Gott von vorne anfangen will.

Letztlich, ein Kind mildert unseren Zorn. Das heißt nicht, dass Kinder nie die Ursache unseres Zornes sind. Wahrhaftig, Kinder können uns zur Weißglut bringen, und zwar mit unheimlicher Leichtigkeit. Flecken auf den gerade gereinigten Teppich, Innenraumgestaltung mit Farbstiften, nicht erledigte Hausaufgaben, nicht aufgeräumte Zimmer, usw. Sie sorgen schon dafür, dass sich nicht nur unsere Herzen, sondern auch unser Blutdruck erheben.

Und doch auch in der Stunde des Zornes können sie uns retten. In der Begegnung mit ihrer Verwundbarkeit fangen wir an, von den Quellen unseres Mitleids zu schöpfen. Die Verletzlichkeit öffnet uns neue Zugänge zu längst vergessener Zärtlichkeit. Ihre Verwundbarkeit macht sie schutzlos und leicht verletzbar und das durchbricht unsere sonst gepanzerten Herzen. Diese Verletzlichkeit der Kinder macht uns offen für eine Liebe, die unseren Zorn, unsere Rechthaberei und sogar unseren Trieb zur Gewalt übersteigt.  Ihre Wehrlosigkeit lässt uns schützend über ihnen stehen und beruhigt unsere Wut. Die Hilflosigkeit der Kinder lockt Hilfe und Trost aus uns heraus. Wenn wir Kindern, die klein von der Statur, der Stärke und der Lebenskraft sind, gegenüber stehen, dann wandeln sich unsere Herzen in Barmherzigkeit und Milde, wo früher nur Ungeduld und Zorn herrschten.

Gott brachte uns in äußerster Verwundbarkeit ein neues Leben. Er kam als kleines, ganz von der Fürsorge und vom Schutz anderer abhängiges Kind zu uns. Im Kind fängt Gott von vorne an. Wenn Gott wie ein kleines Kind in die Welt kommt, kann Gott nicht gehen und nicht sprechen; erst muss ihm das jemand beibringen. Da fängt die Geschichte von Jesus an, der Menschen braucht, damit er groß werden kann. Gott sagt: »Ich will schwach sein, damit ihr mich lieben könnt. Was für eine bessere Möglichkeit gäbe es, euch zu helfen, meine Liebe zu erwidern, als ganz schwach zu werden, damit ihr für mich sorgen könnt?« Gott wird zum stolpernden Gott, damit er ganz auf unsere Liebe angewiesen ist. Der Gott, der uns liebt, ist ein Gott, der verwundbar wird, von Menschen abhängig in der Krippe, abhängig von ihnen am Kreuz; ein Gott, der grundsätzlich fragt: »Bist du für mich da?«

Wir verbringen so viel Zeit, uns vor Schmerz, Verrat und Verletzung zu schützen, dass wir unsere Herzen hinter Panzerglas gestellt haben. Aber hier ist der Gott, der sein Herz in Windeln wickelt. In Bethlehem wird uns ein Kind gegeben, weil die Verwundbarkeit der Weg zur Liebe und zum Leben ist.

So ist immer der Weg Jesu, von der Krippe seiner Geburt bis zum Zeigen seiner Wunden nach der Auferstehung. In seinem Fleisch lernen wir unablässig, dass Gott in ihm einen ganz eigenen Weg vorgibt, den Weg, wo wir offen und ohne Angst in unserer Verwundbarkeit leben. In Jesus sehen wir einen Menschen, der die Bedürfnisse von den kleinsten Kindern wahrnimmt und der für Lazarus weint. Hier ist ein Mensch, der sich nicht scheut, vor uns Blut zu schwitzen, der seine Angst uns nicht verschweigt und uns offen zugibt, dass sein Herz zu Tode betrübt ist. Hier ist einer, der um der Liebe willen für die Wunden des Lebens empfänglich ist.

Eine neue Mutter sagte mir mal: »Alles, was ich in meinem Leben getan und geleistet habe, hat mich nicht auf diese Begegnung vorbereitet.« Es ist nicht zu spät. Wir können noch ein bisschen kleiner werden, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Das Kind ist geduldig. Wir haben uns wahrscheinlich auf etwas anderes vorbereitet, es ganz anders vorgestellt: das macht nichts.

So schließe ich mit einem Gedicht meines Lehrers John Shea. Auch hier können wir die einzig richtige Antwort auf die gute Botschaft der Menschwerdung von einem Kind lernen.

 

Sharon’s  Weihnachtsgebet

Sie war fünf,

kannte die Tatsachen und sagte sie auf

mit langsamer Feierlichkeit,

überzeugt, jedes Wort sei eine Offenbarung.

Sie sagte

sie waren so arm, sie hatten nur Brote mit Erdnussbutter

und Marmelade zu essen und sie waren weit von zu Hause

weggegangen ohne sich zu verirren.

Die Frau ritt auf einem Esel, der Mann ging zu Fuß,

und das Baby war im Bauch der Frau.

Sie mussten in einem Stall bleiben mit einem Ochsen und

einem Esel (hihi), aber die drei reichen Männer fanden sie,

weil ein Stern das Dach beleuchtete.

Hirten kamen und man konnte die Schafe streicheln,

aber nicht füttern.

Dann wurde das Baby geboren.

Und weißt du, wer er war?

 

Ihre Augen wurden groß.

            Das Baby war Gott.

 

Und sie sprang in die Luft, wirbelte herum, tauchte ins Sofa

und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.

Was die einzig richtige Antwort ist

auf die gute Botschaft der Menschwerdung.

 

Ich wünsche Ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.

 

Erik Riechers SAC, 25. Dezember 2020

 

 

Die überraschende Fülle

 

Egal, wie sehr wir uns bemühen, wir können die Möglichkeiten der Geschichten Gottes und der Geschichten des Glaubens nicht ausschöpfen. Sie werden uns mit ihren reizvollen Einsichten überraschen, die jedem Versuch trotzen, sie auf geerbte Auslegungen zu beschränken. Und sie werden uns zum Nachdenken bringen, wenn wir es am wenigsten erwarten. Sie werden uns zum Nachdenken bringen, wenn wir es am wenigsten wollen.

Denise Levertov bietet uns in ihrem Buch A Door in the Hive einen weiteren Blick auf die Begegnung zwischen Gabriel und Maria. In einer Zeit, in der wir in unserer Freiheit und Fähigkeit, einander so zu begegnen, wie wir es uns wünschten, stark eingeschränkt sind, ist es umso wichtiger, das tiefste Potenzial zu entdecken, das solche Begegnungen bieten. Auf diese Weise werden wir sie nicht als selbstverständlich ansehen, wenn die Tage der ungehinderten Begegnungen zurückkehren. 

 

Verkündigung

‘Sei gegrüßt, Raum für den uneingeschränkten Gott‘

Aus der  Agathistos Hymne, Griechenland

 

Wir kennen die Szene: der Raum, unterschiedlich eingerichtet,

fast immer ein Rednerpult, ein Buch; immer

die große Lilie.

 

Angekommen mit feierlicher Erhabenheit der großen Flügel,

der engelhafte Botschafter, stehend oder schwebend,

den sie anerkennt, ein Gast.

 

Aber uns wird von sanftem Gehorsam erzählt. Keiner erwähnt

Mut.

 

Der zeugende Geist

drang nicht ohne Zustimmung in sie ein.

 

Gott wartete.

 

Sie war frei

zu akzeptieren oder abzulehnen, eine Wahl, die

integraler Bestandteil des Menschseins ist.

____________________

 

Gibt es nicht Verkündigungen

der einen oder anderen Art

in den meisten Leben?

 

Einige nehmen unfreiwillig

große Schicksale auf sich,

führen sie in mürrischem Stolz aus,

verständnislos.

 

Häufiger

wenden wir uns ab

von diesen Momenten,

wenn Straßen aus Licht und Sturm

aus der Dunkelheit in einem Mann oder einer Frau sich öffnen,

 

mit Angst, mit einer Welle der Schwäche, aus Verzweiflung

und mit Erleichterung.

Das gewöhnliche Leben geht weiter.

Gott schlägt sie nicht nieder.

Aber die Pforten schließen sich, der Weg verschwindet.

__________________

 

Sie war ein Kind gewesen, das spielte, aß und schlief

wie jedes andere Kind - aber anders als die anderen,

weinte nur aus Mitleid, lachte

in Freude, nicht im Triumph.

Mitleid und Intelligenz

verschmolzen in ihr, untrennbar.

 

Berufen zu einem Schicksal,  bedeutsamer

als jedes andere in der ganzen Zeit,

hat sie nicht gezögert,

 

sondern nur gefragt

 

ein einfaches, ‘Wie kann das sein?’

und ernsthaft, höflich,

nahm sie die Antwort des Engels zu Herzen,

den erstaunlichen Dienst, der ihr angeboten wurde:

 

Unendliches Gewicht und Leichtigkeit

in ihrem Schoß zu tragen;

neun Monate der Ewigkeit zu tragen

in verborgener, endlicher Innerlichkeit;

in schlankem Gefäß des Seins,

die Summe der Kraft zu halten -

im engen Fleisch,

die Summe des Lichts.

 

Dann zur Geburt bringen,

in die Luft hinausschieben, ein Menschen-Kind

das braucht, wie jedes andere,

Milch und Liebe,

 

das aber Gott war.

 

Das war der Moment, von dem niemand spricht,

als sie noch ablehnen konnte.

 

Ein Atemzug, der nicht geatmet wurde,

Geist,

angehalten,

wartend.

 __________________

 

Sie rief nicht: 'Ich kann nicht. Ich bin nicht würdig.'

noch: "Ich habe nicht die Kraft dazu.“

 Sie fügte sich nicht mit knirschenden Zähnen,

 wütend, genötigt.

 Tapferste aller Menschen,

 die Zustimmung erleuchtete sie.

 Der Raum füllte sich mit dem Licht ihrer Zusage,

 die Lilie glühte darin,

 

und die schillernden Flügel.

 

 Zustimmung,

 unvergleichlicher Mut,

 öffnete sie ganz und gar.

 

Erik Riechers SAC, 23. Dezember 2020

 

 

Vielleicht

 

Gestern, am 4. Adventssonntag,  stand im Mittelpunkt die große Szene der Verkündigung Gabriels an Maria. Sie begleitet uns durch diese letzten hoch-adventlichen Tage. Denn wir kennen es schon: Nicht nur der Funken einer einzigen Auslegung sprüht auf, wenn wir eine biblische Geschichte betrachten.  So wie ein Hammerschlag auf einen Felsen Funken verursacht, ermöglicht nach Rabbinischer Lehre ein Schriftvers viele Auslegungen.

 

Darum schenken wir Ihnen heute einen anderen Blick auf Maria (und auf uns), die die Verheißung des Engels gehört hat - Zusage und Zumutung zugleich!

 

 

Vielleicht

wenn ich ganz still werde

höre ich die Sprache der Sterne

im Blau der Nacht.

Vielleicht

wenn ich ganz ruhig werde

höre ich das Wort der Sehnsucht

im Dämmern des Morgens.

Vielleicht

wenn ich ganz Ohr werde

höre ich die Melodie des Schweigens

am helllichten Tag.

Vielleicht

wenn ich dich einlasse, Engel,

und du mich berührst

mit dem Flügel des Himmels

vielleicht

weckst du mein ja

vielleicht wächst dann das Wunder.

Vielleicht. Jetzt?

Komm!

 

»Für Gott ist nichts unmöglich.«

 

                              Hildegard Nies (Laacher Messbuch 2009)

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Dezember 2020

 

 

Wie ein Ja zu Gott entstehen kann

4. Adventssonntag B 2020          Lukas 1, 26–38

 

Wenn wir diese Geschichte hören, gibt es die Tendenz, uns auf das Ergebnis zu stürzen. Dann betonen wir das »Ja«. Der Eindruck kann entstehen, dass Marias Zustimmung die automatische Antwort auf Gabriels Gruß war. Was will sie denn sonst dem Engel sagen? Aber tatsächlich entsteht dieses »Ja« nach einem komplexen Austausch zwischen den beiden.

Es gibt drei Augenblicke im Gespräch zwischen Gabriel und Maria.

Gabriel grüßt Maria und in ihr werden Fragen geweckt, die zum inneren Ringen und zur Auseinandersetzung führen.

Gabriel verkündet Maria die Botschaft Gottes für sie und Maria stellt Fragen, die zur Nachfrage der äußeren Umstände und Abläufe führen.

Gabriel erklärt Maria im Allgemeinen, wie Gott mit ihr wirken möchte und sie überlegt alles gut, bis es in eine Zusage mündet.

 

Was aus diesem dreifachen Austausch entsteht, ist keine ausgemachte Sache. Während Matthäus über Maria spricht in seinem Evangelium, so ist sie bei Lukas eine Frau, die für sich selbst denkt und für sich selbst spricht. Sie erscheint als eine große Frau und nicht als eine hilflose kleine Magd.

 

Gabriel grüßt Maria und in ihr werden Fragen geweckt, die zum inneren Ringen und zur Auseinandersetzung führen.

Der erste Schritt dieses Gespräches ist Marias Reaktion, nicht auf die Anwesenheit des Engels, sondern auf seine Ansprache (V. 29). Maria wird nicht durch die Tatsache beunruhigt, dass ein Engel in ihrem Haus erschienen ist, sondern durch die Worte, die er zur Begrüßung spricht. Was hier als »erschüttert« gegeben wird, verwässert die Kraft des griechischen diatarassō. Das Wort bedeutet eine gründliche, tiefe und Leben umfassende Beunruhigung. Dieses Gefühl spiegelt sich in der Intensität der inneren Debatte Mariens  wider. Wir wissen nicht, was die Bilder und Worte in Gabriels Gruß in Maria ausgelöst haben. Vielleicht denkt sie darüber nach, wie jung und unerfahren sie ist. Vielleicht weckt Gabriels Gruß Gefühle, unvorbereitet zu sein. Vielleicht spürt sie, wie arm und unbedeutend sie ist in den Augen der Welt. Was wir jedoch bei Lukas wissen, ist, dass sie sich Zeit nimmt, um gründlich selbst nachzudenken. Sie prüft all die verschiedenen Dinge, die hinter dieser merkwürdigen Begegnung stecken könnten und wohin sie möglicherweise führen könnten.

 

Gabriel verkündet Maria die Botschaft Gottes für sie und Maria stellt Fragen, die zur Nachfrage der äußeren Umstände und Abläufe führen.

Wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bevor Gabriel fortfährt. Nur weil wir eine Geschichte schnell lesen können, bedeutet es nicht, dass sie schnell abläuft. Aber irgendwann kommt der Moment, in dem der Engel sieht, dass Maria bereit ist, mehr zu hören. Dann beginnt er seine Ankündigung vorzulegen. Auch diesmal steigt Maria erneut ins Gespräch ein, aber diesmal geht sie zu einer Nachfrage der äußeren Umstände und Abläufe über. Es lohnt sich, hier den Kontrast zu Zacharias‘ Frage aus der vorherigen Geschichte zu beachten. Wie Maria war auch er »beunruhigt«; aber wo er fragt »wie werde ich es wissen?«, ist ihre Frage die viel praktischere »wie wird es geschehen?«  Diese Antwort mit ihrer impliziten Bereitschaft, weiter zu überlegen, deutet darauf hin, dass eine neue und anders fokussierte Phase der Klärung begonnen hat.

Dr. Edith Eva Eger beschreibt diese Phase durch zwei Fragen, die Menschen im KZ gestellt haben. Manche fragten: Warum? Das nennt sie die lähmende Frage, denn sie führt zur Passivität, während wir auf eine Antwort warten, die wir vermutlich nicht bekommen werden. Sie wählt die Frage: Was jetzt? Diese Frage sucht das, was wirklich wesentlich ist, nämlich die Gestaltungsmöglichkeiten, die zu einer Zukunft führen könnten.

 

Gabriel erklärt Maria im Allgemeinen, wie Gott mit ihr wirken möchte und sie überlegt alles gut, bis es in eine Zusage mündet.

Auch jetzt erfolgt nicht sofort ein »Ja«. Gabriels Erklärung als Antwort auf Marias Fragen wirft erneut einige ernste Fragen auf, mit denen sich Maria auseinandersetzen muss - vor allem, wenn man ihren Status als verlobte Frau, die vorgesehene Art der Empfängnis und die im Gesetz festgelegte Strafe für Verletzungen der Verlobung bedenkt. Wie würden ihr Verlobter, ihre Familie und ihre weitere Gemeinschaft reagieren? Welche möglichen Schicksale erwarteten sie? Könnte Gott wirklich in und durch ein so unwahrscheinliches und prekäres Szenario am Werk sein? Kein Wunder, dass sie sich die Zeit nehmen muss, um zu schauen, nachzudenken und abzuwägen, damit sie zu einer wohlüberlegten Entscheidung kommen kann. So schnell wird ein »Ja« zu Gott nicht geboren. In diesem Fall führt ihr Nachdenken sie dazu, die Frage zu bejahen - sie überwindet die Angst vor den wahrscheinlichen Risiken und bietet sich freiwillig als Partnerin in Gottes vorgeschlagenem Plan an. Aber selbst wenn ihre Überlegungen sie zu einer anderen Antwort geführt hätten, wäre es immer noch derselbe tiefe und informierte Akt der Selbstbestimmung gewesen.

Vor Jahren sah ich auf einem Auto einen Aufkleber mit dem Satz: God said it. I believe it. That settles it. (Gott sagte es. Ich glaube es. Damit ist die Sache erledigt.) So wird Glauben oft dargestellt. Und in solch einem Verständnis haben Fragen, Überlegungen, Zweifel und Auseinandersetzungen nichts zu suchen.

Aber der Weg des Glaubens ist der Weg, den Maria in dieser Erzählung geht. Auf dem Weg des Glaubens geht es nicht nur um die Frage »Was muss ich schnell und bedingungslos bejahen?«. Wir müssen erkennen, wann wir innehalten und überlegen müssen, bevor wir zum nächsten Schritt übergehen. Anstatt Fragen als Zweifel zu betrachten, sollten wir erwägen, welche Art von Fragen oder Perspektiven nützlich sind, wenn wir versuchen, eine Situation zu verstehen und eine Entscheidung über eine angemessene Handlung zu treffen. Die absolute Klarheit, mit der wir gelegentlich versuchen, die Glaubensfragen zu beantworten, stellt eher die Frage, ob Glaube nur etwas ist, um mehr Sicherheit zu gewinnen. Vielleicht sind Glaubenserfahrungen auch gegeben, damit wir wachsen und leben können in all den Lebenssituationen, wo es keine definitiven Antworten gibt.

So schnell wird ein »Ja« zu Gott nicht geboren. Und wenn dieses »Ja« zu schnell und gedankenlos über unsere Lippen kommt, dann kann es sein Potential nicht entfalten, dann wird es nicht das sein, was es für uns sein sollte. Denn hier sollten wir eine Verheißung Gottes in uns tragen und unser Leben um die Forderungen dieser Verheißung zentrieren. Wir sollten »Ja« sagen zu dem, was in unserem Herzen ist: der Atem Gottes, der die Menschheit belebt. Wenn ein »Ja« zu Gott so geboren wird, dann ist es ein Aufruf zur tiefsten Berufung, zu glauben, dass wir im Kern der Dinge für und durch die Liebe gemacht sind.

 

Erik Riechers SAC, 20. Dezember 2020

 

 

Ein jeder ist dort geboren

 

In diesem Jahr vermissen viele von uns eine Reise zu einem ihrer Sehnsuchtsorte. Es gibt Orte, die unserer Seele gut tun, an denen wir die Erfahrung machen, dass wir mit uns im Frieden sind und auftanken können. Die Mehrheit der Menschheit hat kaum eine Chance zu solch einer Unternehmung. Doch viele kennen die Sehnsucht nach heiligen Orten - wenigstens einmal im Leben würden sie sie gern besuchen und große Strapazen des Pilgerns auf sich nehmen.

Das ging mir gestern morgen durch den Sinn, als ich Psalm 87 betete. Er nennt zu Beginn die heiligen Berge; sie sind in der Bibel immer wieder Orte der Gotteserfahrung, der Begegnung mit dem Mysterium, dem ganz Anderen, dem HEILIGEN, und die Erfahrungen sind verschieden.

Dann hebt der Sänger des Psalms einen Berg hervor: Zion. Er ist vom Herrn gegründet wie alle anderen, aber ihn liebt er vor allen anderen. Unter uns Menschen könnte dies zu einem Wettstreit führen, zu einer Rangordnung, zum Trennen zwischen Dazugehören und Nicht-Dazugehören. Aber nicht bei Gott! Das Herrliche an dieser Stadt Gottes ist, dass jeder dazugehört - und zwar in einer Weise, die mit den tiefsten Fragen des Menschseins zu tun hat, dem Woher und Wohin: Von Zion wird es heißen: »Ein jeder ist in ihr geboren.«

In diesem kleinen Psalm wird ein großes Sehnsuchtsbild besungen. Woher auch immer wir kommen - einmal werden wir durch Zions Tore treten und erkennen: Hier kommen wir her. Hier gehören wir hin. Hier entspringt alles, was uns leben lässt.

Wahrhaft ein Grund zum Tanzen!

 

Der HERR liebt seine Gründung auf heiligen Bergen, die Tore Zions mehr als alle Stätten Jakobs.

Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes: Ich zähle Rahab und Babel zu denen, die mich

erkennen, auch das Philisterland, Tyrus und Kusch: Diese sind dort geboren.

Ja, über Zion wird man sagen: Ein jeder ist in ihr geboren. Er, der Höchste, gibt ihr Bestand!

Der HERR zählt und verzeichnet die Völker: Diese sind dort geboren.

Und sie werden beim Reigentanz singen: All meine Quellen entspringen in dir.

 

Rosemarie Monnerjahn, 18. Dezember 2020

 

 

Wir tragen die Maske

 

In Deutschland beginnt heute eine neue und harte Abriegelung des Landes. Ähnlich ist es in vielen Teilen der Welt. Es gibt viel zu beklagen und keinen Mangel an Menschen, die bereit sind, sich zu beschweren. Niemand hat auf ein solches Weihnachten gehofft, aber das ist das Weihnachten, das wir haben werden.

Unter den strengeren Einschränkungen, die den Kirchen hier auferlegt wurden, müssen wir uns nun mit zwei Aspekten auseinandersetzen, die sich direkt auf die Art und Weise auswirken, wie wir die Weihnachtsliturgien miteinander feiern. Erstens ist es uns nicht erlaubt, unsere geliebten Weihnachtslieder zu singen, während wir Gottesdienst feiern. Zweitens müssen wir während der gesamten Zeit, in der wir in der Kirche sind, eine Maske tragen.

Von den beiden Einschränkungen bekommt der Gesang die ganze Aufmerksamkeit und es fließen Ströme von Tinte in Kommentaren darüber. Aber für mich ist die zweite, das Tragen der Maske, die beunruhigendere Einschränkung. Das ist für mich kein Problem als Sicherheitsmaßnahme für die öffentliche Gesundheit, auch nicht bei der Feier der Eucharistie. Was mich beunruhigt, ist, dass wir sehr selektiv gegen das Maskentragen vorgehen. Wenn sie aus Stoff sind, beschweren sich die Leute laut und ausgiebig und behaupten sogar, dies sei eine Verletzung ihrer persönlichen Freiheit. Aber wenn die Masken nicht aus Stoff genäht sind, sondern aus dem menschlichen Widerwillen gewebt sind, Leben und Gefühl, Geschichte und Wunde zu teilen, dann sind wir bemerkenswert still über die Auswirkungen des Maskentragens.

Können wir ehrlich behaupten, dass dies das erste Weihnachtsfest ist, an dem wir eine Maske tragen werden? Sitzen wir in unseren Kirchenbänken oder an unseren Weihnachtstischen mit offenen Herzen und durchsichtigen Gesichtern? Hat keiner von uns je das Bedürfnis verspürt, seine wahren Gefühle, das, was wirklich in uns vorgeht, zu verbergen, um die anderen bei Laune zu halten, oder in Schach zu halten? Hat keiner von uns die äußere Maske der Weihnachtsfreude getragen, um die tiefe und quellende Traurigkeit in uns zu verbergen? Hat keiner von uns bei den Zusammenkünften der Verwandtschaft und Sippe Begeisterung vorgetäuscht, um die tiefere Hoffnung zu verbergen, dass alles einfach schnellstens vorbei sein möchte? Macht Weihnachten unsere Gespräche automatisch offener? Das sind die Masken, die wir an fast jedem Weihnachten und darüber hinaus tragen.

Paul Laurence Dunbar schrieb ein brillantes und wunderschönes Gedicht mit dem Titel »Wir tragen die Maske«. Mögen seine Worte uns die Chance geben, über die Masken nachzudenken, die wir tragen und die kein staatlicher Erlass fordern oder erzwingen kann.

Die Maske tragen wir, die lügt,

die Wang' verbirgt, das Auge trübt, -

so zahlen wir für Menschenlist:

das Herz zerbricht, doch Lächeln sprießt

und unser Worte Schwall betrügt.

 

Warum soll denn versteh'n die Welt,

welch' Tränen sie und Seufzer zählt?

Sie soll nur seh'n uns als vergnügt,

und nur maskiert.

 

Wir lächeln, aber, o großer Christus, unser Schrei -

aus tief gequälter Seele fließt;

wir singen, doch wie hart der Steg

auf dem wir gehn, wie lang der Weg!

Mach' nur, dass dies die Welt nicht spürt:

Wir sind maskiert!

 

Wenn die Pandemie endet und die Masken fallen, werden wir dann tatsächlich mehr von uns selbst den anderen zeigen?

 

Erik Riechers SAC, 16. Dezember 2020

 

 

Zeugnis geben für das Licht

 

In unseren Breiten gehen wir in die dunkelste Woche des Jahres. An ihrem Anfang steht jedoch oder ganz bewusst eine Lichtheilige: Santa Lucia (13.12.) aus Syrakus auf Sizilien, als Märtyrerin gestorben zu Beginn des 4. Jahrhunderts.

Wenig wissen wir von ihr, aber wie so oft: in Legenden erzählte das Volk weiter, was es an ihr so liebte und bewunderte, etwa dass sie Mitchristen im Schutz der Dunkelheit Lebensmittel in ihre Verstecke brachte. Sie brauchte beide Hände zum Tragen der Speisen; um also im Finstern den Weg zu finden, soll sie sich einen Lichterkranz auf den Kopf gesetzt haben.

Besondere Liebe erfährt sie seit langem in Schweden. So kam es, dass Selma Lagerlöf 1921 eine eigene Legende schrieb, »Die Legende des Luziatags«. In ihr lernen wir die kalte und gierige Frau Rangela kennen, die ihren Hof an der Mündung einer Bucht hatte, die sie mit einer Zugbrücke sicherte und von allen, die diese Abkürzung nehmen wollten statt eines Tagesmarsches um die ganze Bucht herum, unbarmherzig Wegzoll erhob. Wie es dazu kam, dass eine junge Verwandte den reichen verwitweten Herrn Eskil auf der nahe gelegenen Burg heiratete und sich um die acht Halbwaisen kümmerte, ist lesenswert. Diese junge Frau Luzia war nun in allem das Gegenteil ihrer Tante. Von Kindheit an liebte sie die Geschichten der heiligen Luzia, die sie zu ihrer Schutzpatronin erkoren und als Vorbild in ihrem Herzen trug. So half sie in fast kindlicher Zugewandtheit in ihrem Boot Pilgern über die Bucht und begann damit, den Zorn der Unbarmherzigen zu erregen, die nun intrigant gegen Luzia tätig wurde. Doch diese junge Frau ließ sich nicht von ihrer Güte abbringen. Ja, es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, als im Herbst sich ihre Keller und Scheunen außergewöhnlich füllten, während sie immer wieder hörte, wie viele Menschen im Land hungerten und alles verloren hatten nach Kriegszügen und Plünderungen. Eine lange Abwesenheit ihres Mannes im späten Herbst schließlich nutzte sie, um ihr Herzensanliegen mit Hilfe aller Diener in die Tat umzusetzen. Wo sie noch Überlebende fand, versorgte sie sie mit allem, was sie brauchten, um durch den Winter zu kommen. »Solange sie noch Gaben übrig hatte, fuhr Frau Luzia den Vänerstrand e