Brunnentag Juni 2017

Am 12. Juni 2017 hielten wir unseren letzten Brunnentag vor der Sommerpause zu dem Thema »Gewiss können wir nicht ohne Brot leben, aber es ist ebenso unmöglich, ohne Schönheit zu leben« (Dostojewski): Die heilende Wirkung der Schönheit.

Im Laufe des Tages haben wir uns besonders der Schönheit der biblischen Salbungsgeschichten zugewandt. Die heilende Wirkung der Schönheit hat Rosemarie herausgehoben und unterstrichen mit wunderbaren Beispielen aus der Kunst, der Musik und der Literatur. Wir beschäftigten uns auch intensiv mit der Geschichte des Judas Iskariot als einem Menschen, an dem wir erleben können, was passiert, wenn wir diese Schönheit nicht mehr kennen und wenn »Salbung« durch »Berechnung« ersetzt wird.

In der Mitte des Raumes stand ein Krug mit Öl, erhöht auf einem rotem Tuch und umrahmt von Symbolen und Bildern zu den Beispielen des Tages. Damit auch Ihnen etwas von der Salbung dieses schönen Tages zuteilwerden kann, hier einige Eindrücke.

Alle vier Evangelien kennen die heutige Geschichte von der Salbung der Füße Jesu durch eine Frau. Jeder Evangelist hat seine eigenen Nuancierungen, aber alle vier berichten dieses Ereignis – ein sicheres Zeichen dafür, dass es wichtig ist. Heute möchte ich nicht nur Lukas betrachten, sondern alle vier Berichte der Evangelien nehmen und durch einen Mixer laufen lassen. Dabei käme ungefähr Folgendes dabei heraus:

Eines Abends ist Jesus bei einem reichhaltigen Abendessen zu Gast in einem Haus. Eine Frau mit schlechtem Ruf in der Stadt tritt ein. Sie trägt ein Alabastergefäß mit parfümiertem Salböl bei sich. Sowohl das Gefäß als auch das Parfüm sind sehr kostbar. Sie zerbricht das Gefäß – ein verschwenderischer Akt, aber einer, der zum Ausdruck bringt, wie tief sie Jesus liebt und wie sehr sie wünscht, dass dieses Geben ein einzigartiges Tun ist. Es soll ein Tun sein, in dem nichts zurückgehalten wird und das keinen Rückzieher mehr erlaubt. Dann gießt sie den gesamten Inhalt des Gefäßes über ihn aus und der Geruch durchdringt den ganzen Raum. Schließlich beginnt sie zu weinen. Ihre Tränen waschen Jesu Füße und sie fängt an, seine Füße mit ihren Haaren zu trocknen.

Es ist schwer, eine Szene auszumalen, die in ihrer Darstellung so haarsträubend von unverfälschter Zuneigung ist. Diese reine, rückhaltlose Zuneigung machte auf das ursprüngliche Publikum Eindruck. Den Leuten im Raum wird es unbehaglich, wie wohl auch uns in einer ähnlichen Situation. Einige haben etwas gegen die Tatsache, dass Jesus, der ein heiliger Mann sein soll, sich von dieser Frau mit schlechtem Ruf anrühren lässt. Was den Anwesenden allerdings wirklich unbehaglich ist, ist etwas, das auch uns unruhig macht – das reine Geschenk, die großzügige, grundlose, rückhaltlose Zuneigung. Die Anwesenden äußern ihr Unbehagen, indem sie auf die Verschwendung und das Übermaß hinweisen: Was für eine Vergeudung! Dieses Gefäß und dieses Öl hätte man verkaufen können, und das Geld hätte man den Armen geben können. Jesus aber bekräftigt vollständig, was die Frau getan hat, und sagt seinen unruhigen, protestierenden Gastgebern: »Lasst sie. Sie hat eine gute Tat getan. Die Armen habt ihr immer bei euch. Sie hat mich gerade für meinen bevorstehenden Tod gesalbt«.

Das ist der Schlüsselsatz. Sie hat mich gerade für meinen bevorstehenden Tod gesalbt. Jesus sagt seinen Gastgebern, dass diese Frau gerade geholfen hat, ihn auf seinen Tod vorzubereiten. Was meint er damit? Man könnte es so umschreiben: Wenn ich dahin komme zu sterben, werde ich für den Tod besser vorbereitet sein, weil ich heute Abend den Grund erfahren habe, für den das Universum gemacht wurde: das Geben und Empfangen von Liebe und Zuneigung, ohne Zurückhaltung, als reines Geschenk. Das ist ein Augenblick, für den es sich zu sterben lohnt.

Hierin liegt eine große Ironie. Wäre die Frau mit diesem Ausgießen von Zuneigung und Parfüm zu Jesu Grab gegangen, wäre das akzeptiert, sogar bewundert worden. Man durfte einen toten Körper salben, aber es war nicht akzeptabel, einem lebenden Körper ähnliche Liebe und Zuneigung zu erweisen. Nichts hat sich in zweitausend Jahren geändert. Wir bewahren immer noch unsere besten Komplimente und Blumen für die Beerdigung auf. Jesus fordert uns heraus, einander zu salben, solange wir noch lebendig sind: Überschütte die, die du liebst, mit Zuneigung und Blumen, solange sie am Leben sind, nicht auf ihrer Beerdigung. Zeigt ihnen die Tränen der Berührung, der Sorge und der Reue. Haltet nicht zurück.

Hier sind wir angesprochen. Wie viele Tränen gibt es, die wir zurückhalten anstatt sie fließen zu lassen? Und wenn sie mal fließen, dann verstecken wir sie. Wie viele Gefühle und Emotionen verdrängen wir, anstatt ihnen Raum und Ausdruck zu geben? Wir haben tiefe, mächtige Bedürfnisse in uns, einem anderen Menschen mal rückhaltlos unsere Liebe zu schenken. Das Spontane will manchmal direkt aus uns herausbrechen, aber wir überlegen es uns solange, bis wir weder Lust noch Mut dazu haben. 

Vor zehn Jahren war ich zum Hochzeitstag meiner Eltern zu Hause. Als ich ins Haus kam, wurde ich überwältigt von einer Blumenpracht. Mein Vater hat meiner Mutter das ganze Haus mit Blumen gefüllt. Im Wohnzimmer, Schlafzimmer, und Badezimmer waren Rosen. Sogar in der Badewanne. Und meine Mutter stand in der Küche und strahlte übers ganze Gesicht. Als ich meinen Vater traf, sagte ich zu ihm: »Papa, das ist nicht besonders praktisch. Du hättest Mutti jeden Tag einen Blumenstrauß schenken können und dann hätte sie über viel längere Zeit etwas davon gehabt.« Mein Vater reagierte darauf, indem er anfing zu weinen. Als er aufhörte, sagte er zu mir: »Erik, das ist es, was dir fehlt. Du wirst mit deinem Verstand nie dorthin gelangen, wo mein Herz mich schon hingeführt hat.«

Merken Sie sich dieses Wort. Denn genau das ist es, was Jesus dem Simon sagt: Mit deinem Verstand wirst du nie dorthin gelangen, wo diese Frau über ihr Herz schon angekommen ist.

Ich habe vor kurzem ein hartes Gespräch gehabt mit einem Mann, der nichts Gutes über unseren 11:30- Gottesdienst zu sagen hatte. Als ich bemerkte, dass die Leute hier gern zur Kirche gehen, warf er mir vor, dass sie das taten aus Gründen, die unreif und nicht spirituell sind. Sie gehen gern zur Kirche, einfach um unter Menschen zu kommen, Leute zu treffen, mit ihnen zu plaudern und Kaffee, Saft und Kuchen nach dem Gottesdienst zu genießen. Genau richtig! Gemeinsam mit dem Anbeten Gottes ist das einer der wichtigsten Gründe, hier zu sein. Wir gehen zur Kirche, um Menschen zu sagen, dass wir sie lieben und um hoffentlich von ihnen das Gleiche zu hören. Letztlich gehen wir zur Kirche, um einander zu helfen, besser für den Tod vorbereitet zu sein, weil wir heute, hier und jetzt, den Grund erfahren dürfen, für den das Universum gemacht wurde: das großzügige Geben und Empfangen von Liebe und Zuneigung, ohne Zurückhaltung, sogar unter Tränen, als reines Geschenk. Deswegen wird es einfacher sein, nicht der Verbitterung nachzugeben, es wird einfacher sein, unser Leben einzusetzen. Weil wir wissen, dass wir so geliebt werden, wird es einfacher sein, diese Welt ohne Zorn in unseren Herzen zu verlassen. Das ist ein Augenblick, für den es sich zu sterben lohnt.

Diese Predigt wird in einigen Stunden vergessen sein. Aber über diese Frau spricht Jesus im Markusevangelium das schönste Kompliment der Schrift aus.

»Amen, ich sage euch: Überall auf der Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man sich an sie erinnern und erzählen, was sie getan hat.« (Mk 14, 9)

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