Werden, was ich von Gott her bin
In diesen Tagen lassen wir Christen uns ein auf das Leiden und Sterben Jesu. Das ist kein leichter Weg, leben wir doch in einer Welt, in der das Schwere und Dunkle gern ausgeklammert und ungern angeschaut wird. Wir sind über die Medien zwar vielen erschütternden Bildern ausgesetzt, aber aus der Distanz! Im nächsten Umfeld haben wir doch am liebsten »alles gut!«. Viele tun sich schwer, Kranke oder Sterbende zu besuchen, Kinder dürfen damit möglichst nicht konfrontiert werden, weil es ihnen angeblich schaden könnte. Gebrechlichen, leidenden Menschen haut-nah zu kommen, wird als Zumutung empfunden.
Dennoch - das Leben ist voll davon. Einen Kreuzweg mitzugehen mag das Herz fast zerreißen, doch es lässt uns wachsen. Dem Leid nicht auszuweichen, sondern es zu tragen oder mitzutragen, kann uns helfen, zu dem Menschen zu reifen, den Gott in uns schon immer gesehen hat. Ja, neues Leben kann in uns sprießen, von dem wir nicht ahnten, dass es in uns schlummerte. Nur so erfahren wir Ostern, Auferstehung mitten im Leben.
Mir kommt eine Geschichte aus den Christus-Legenden von Selma Lagerlöf in den Sinn. Ein kleiner grauer Vogel steht im Mittelpunkt: »Das Rotkehlchen«.
Einst in den Tagen der Schöpfung hatte der Schöpfer es »Rotkehlchen« genannt. Als damals das erste Rotkehlchen zaghaft fragte, warum es so heiße, wo es doch keine einzige rote Feder trage, hatte der Schöpfer lächelnd geantwortet, dass es schon selber zusehen müsse, wie es sich rote Brustfedern verdiene. Seither, so erzählt es unendlich viele Jahre später ein Rotkehlchen seinen Jungen im Nest, waren alle Bemühungen vergeblich. Weder brennende Liebe noch begeistertes Singen oder mutige Kampfeslust brachten die ersehnte Farbe. So würde es auch seinen Jungen ergehen, denn: »Was könnten sie mehr tun als lieben, singen und kämpfen?«
In einem kleinen Dornbusch auf einem Hügel vor den Toren Jerusalems ist das Vogelnest gebaut - und die Rede des Rotkehlchens wird jäh von Lärm unterbrochen. Selma Lagerlöf erzählt:
Da waren Reiter mit stolzen Rossen, Krieger mit langen Lanzen, Henkersknechte mit Nägeln und Hämmern, Da waren würdig einherschreitende Priester und Richter, weinende Frauen und allen voran eine Menge wilden Volkes,…
Der kleine graue Vogel saß zitternd auf dem Rande seines Nestes. Er fürchtete jeden Augenblick, daß der kleine Dornenbusch niedergetreten und seine kleinen Jungen getötet werden würden. „Nehmt euch in acht“, rief er den kleinen schutzlosen Jungen zu, „kriecht dicht zusammen und verhaltet euch still! Hier kommt ein Pferd, das gerade über uns hingeht! Hier kommt ein Krieger mit eisenbeschlagenen Sandalen! Hier kommt die ganze wilde Schar angestürmt!“
Mit einem Male hörte der Vogel mit seinen Warnungsrufen auf, er wurde still und stumm. Er vergaß beinahe die Gefahr, in der er schwebte.
Plötzlich hüpfte er in das Nest hinunter und breitete die Flügel über seine Jungen.
„Nein, das ist zu entsetzlich“, sagte er. „Ich will nicht, daß ihr diesen Anblick seht – da sind drei Missetäter, die gekreuzigt werden sollen.“
Und er breitete ängstlich die Flügel aus, so daß die Kleinen nichts sehen konnten. Sie vernahmen nur donnernde Hammerschläge, Klagerufe und das wilde Geschrei des Volkes.
Das Rotkehlchen folgte dem ganzen Schauspiel mit Augen, die sich vor Entsetzen weiteten. Es konnte die Blicke nicht von den drei Unglücklichen wenden.
„Wie grausam die Menschen sind!“ sagte der Vogel nach einem Weilchen. „Es ist ihnen nicht genug, daß sie diese armen Wesen ans Kreuz nageln, nein, auf dem Kopfe des einen haben sie noch eine Krone aus stechenden Dornen befestigt.“
„Ich sehe, daß die Dornen seine Stirn verwundet haben und das Blut fließt“, fuhr es fort. „Und dieser Mann ist so schön und sieht mit so milden Blicken um sich, daß jeder ihn lieben müßte. Mir ist, als ginge eine Pfeilspitze durch mein Herz, wenn ich ihn leiden sehe.“
Der kleine Vogel begann ein immer stärkeres Mitleid mit dem Dornengekrönten zu fühlen. „Wenn ich mein Bruder, der Adler, wäre“, dachte er, „würde ich die Nägel aus seinen Händen reißen und mit meinen starken Klauen alle die Leute verscheuchen, die ihn peinigen.“
Er sah, wie das Blut auf die Stirn des Gekreuzigten tropfte, und da vermochte er nicht mehr still in seinem Neste zu bleiben.
„Wenn ich auch nur klein und schwach bin, so muß ich doch etwas für diesen armen Gequälten tun können“, dachte der Vogel, und er verließ sein Nest und flog hinaus in die Luft, weite Kreise um den Gekreuzigten beschreibend.
Er umkreiste ihn mehrere Male, ohne daß er sich näher zu kommen traute, denn er war ein scheuer kleiner Vogel, der es nie gewagt hatte, sich einem Menschen zu nähern. Aber allmählich faßte er Mut, flog ganz nah hinzu und zog mit seinem Schnabel einen Dorn aus, der in die Stirn des Gekreuzigten gedrungen war.
Aber während er dies tat, fiel ein Tropfen von dem Blute des Gekreuzigten auf die Kehle des Vogels. Der verbreitete sich rasch und färbte alle die kleinen zarten Brustfedern.
Wie der Vogel wieder in sein Nest kam, riefen ihm seine kleinen Jungen zu:
„Deine Brust ist rot, deine Brustfedern sind roter als Rosen!“
„Es ist nur ein Blutstropfen von der Stirn des armen Mannes“, sagte der Vogel. „Er verschwindet, sobald ich in einem Bach bade oder in einer klaren Quelle.“
Aber soviel der kleine Vogel auch badete, die rote Farbe verschwand nicht von seiner Kehle, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch von ihren Brustfedern, wie sie auf jedes Rotkehlchens Brust und Kehle leuchtet, bis auf den heutigen Tag.
Ob unsere wahre Schönheit zum Leuchten kommt, wenn wir uns wirklich auf die Fülle des Lebens in seiner ganzen Bandbreite einlassen? Ganz schön schwer – herrlich im biblischen Sinn und der Weg zum Leben!
Rosemarie Monnerjahn
Vallendar, 28. März 2024