Der Mann mit Augen aus Eis

Es lebte einmal, vor nicht allzu langer Zeit und gewiss nicht in weiter Ferne, ein Mann namens Charles. Er hatte Augen aus Eis, und von ihm ging niemals Wärme aus, weder von seiner Person noch von seinen Worten. Sein Herz war eine gefrorene Höhle, aus der nur Vorwürfe und Kritik hervorgingen. Für ihn war jedes andere menschliche Herz nichts weiter als eine Zielscheibe für seine endlosen Vorwürfe. Es war seine tiefste Überzeugung, dass nur er die Welt durch diese kalten und farblosen Augen klar und richtig sah. Er suchte die Welt nach Fehlern ab und fand sie in jeder Falte, jedem Winkel und jeder Ritze. Seine Aussprüche waren größer als Gebote. Im Gegensatz zu Gott würde er sich nie damit zufrieden geben, zehn Worte mit seinem Finger auf Steintafeln zu schreiben. Sein Ehrgeiz war viel größer. Seine Worte sollten in menschliches Fleisch geritzt werden und mit jeder Äußerung sollte dieses Fleisch bluten. Für einen Mann, dem es so sehr an Leidenschaft mangelte, war dies sein einziges Vergnügen.
Wie alle Sterblichen starb auch Charles eines Tages. Als er seine Augen aus dem Schlummer des Todes öffnete, sah er ein weit geöffnetes Himmelstor vor sich, das in kaltes, blassblaues Licht getaucht war. Davor stand eine Frau, die offensichtlich auf ihn wartete. Einen Schritt hinter ihr stand ein Mann, der sanft in seine Richtung lächelte. Nach ein paar kurzen Schritten stand Charles vor ihnen, sein scharfer Blick musterte kritisch seine Umgebung.
»Wer sind Sie und wo bin ich?«, fragte er etwas unhöflich. Die Frau antwortete freundlich: »Mein Name ist Eva und dies ist mein Ehemann Adam. Willkommen an der Pforte zur Fülle des Lebens!«
»Das sollten die Tore des Himmels sein?«, sagte Charles ungläubig. »Ziemlich schäbig, wenn du mich fragst. Ich hatte etwas mehr Farbe und Wärme von dem Ort erwartet. Er wird seinem Ruf wirklich nicht gerecht!«
Die Frau schob ihre Kinnlade nach vorne und erwiderte: »Wie im Leben, so im Tod. Du siehst die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie du bist!«
Charles erwiderte süffisant: »Mit meinen Augen ist alles in Ordnung. Ich gehöre zu den wenigen Menschen, die alles klar sehen. Mein ganzes Leben lang war das ein Grund zum Stolz für mich. Andere waren wahnhaft, unwissend oder töricht. Sie waren nicht in der Lage, die Wahrheit der Dinge zu erkennen, sie waren blind für die Fehler und Schwächen um sie herum. Ich war immer ein Mann von moralischer Rechtschaffenheit.«
Jetzt meldete sich Adam zu Wort. »Du hast Augen aus Eis. Sie haben dich zu einem Mann der moralischen Empörung gemacht, nicht der moralischen Rechtschaffenheit. Deine ständige Empörung war ein billiger Ersatz für Tugend. Sie gab dir die Illusion, auf der Seite des Guten zu stehen, ohne jemals etwas gegen das Böse tun zu müssen. Es hat dich zutiefst befriedigt, über eine Welt zu urteilen, der du weder gedient noch die du gestaltet oder geformt hast. Du hast nie eine Wunde berührt. Du hast nie zugelassen, dass dich der Schmerz der Schwäche und Unzulänglichkeit berührt. Wie es einer von meinen unzähligen Nachkommen so treffend formulierte: Moralische Empörung ist Eifersucht mit einem Heiligenschein.*«
Verblüfft über diese Worte, antwortete Charles energisch: »Nein, nein, nein! Sie irren sich. Ich habe die Dinge wirklich gesehen. Ich habe sie klar und deutlich gesehen. Natürlich habe ich geurteilt. Das war mein Beitrag zu dieser Welt. Es war meine Verantwortung! Es war meine Berufung!«
Aus dem Inneren des Tores flüsterte eine warme, sanft seufzende Stimme diese Worte in Charles' Ohren. »Nein, Adams Sohn, es war immer und ausschließlich meine Verantwortung. Um sie gerecht und richtig auszuüben, hättest du meine Augen gebraucht.«
Die Wärme und Zärtlichkeit dieser Stimme wehte um Charles wie ein Frühlingswind aus den Bergen und brachte das Eis seiner Augen zum Schmelzen. Das Tauwasser floss aus diesen Augen und über seine Wangen. Doch keine einzige Träne durfte auf den Boden fallen. Jede einzelne fiel auf die Fingerspitze Gottes und wurde sanft in sein Fläschchen gelegt.
Charles war von der prächtigen, leuchtenden Farbe des Ortes verblüfft. Und die Wärme! Diese Wärme! Es trieb ihm die Tränen in die Augen, und auch diese Tränen wurden zärtlich aufgefangen und in Gottes Fläschchen gegossen.
Adam und Eva nahmen jeweils einen Arm und begleiteten Charles durch die Tore. Adam sagte zu ihm: »ER sammelt jede Träne, die jemals vergossen wurde, seit er mich aus der Erde geformt hat.«
»Und was macht er mit den Tränen, die er sammelt?«, fragte Charles.
»Am Ende eines jeden Tages benutzt er sie als Augentropfen. Bei Anbruch eines jeden neuen Tages verwendet er die Tränen, die er in den dunkelsten Stunden der Nacht gesammelt hat, und benutzt sie erneut als Augentropfen. So pflegt er seine Augen, damit er seine Welt so sehen kann, wie er sie am sechsten Tag gesehen hat.«
Als Charles Adams Worte hörte, wusste er, dass er zuhause war. Er suchte seine Welt nach Leben und Liebe ab und fand sie in jeder Falte, jedem Winkel und jeder Ritze.
Eva hingegen sagte nur: »Du hast wunderschöne Augen.«
*H.G. Wells
Erik Riechers SAC
Vallendar, den 30. November 2023