Nächster Abschnitt

Für alles gibt es eine Stunde, und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel

 

Am 2. November 2020 schrieben wir diese Worte in unserem Impuls für Sie:

»Die Pilger auf dem Camino riefen sich 'Ultreja' zu. Es heißt so viel wie 'Vorwärts! Weiter!' So haben sich die Pilger aufgemuntert mit einem Mut machenden Wort.«

Seit mehr als zwei Jahren lautet unser Wort des Mutes und der Motivation »Bleiben Sie behütet«. Wir haben es Ihnen viele hundert Mal zurufen lassen. Wir waren entschlossen, die Menschen in der schwierigen und beunruhigenden Zeit der Pandemie nicht ohne Inspiration, Führung, Orientierung und Hoffnungshorizont zu lassen. Erst als die Krise nachließ und der Bedarf nicht mehr bestand, haben wir am 9. Juni 2021 aufgehört.

Doch wie so viele Stürme im Leben kehrte die Krise mit Kraft und Stärke zurück. So nahmen wir diese Arbeit im November mit den 25 Advents-Impulsen »Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen« wieder auf und bringen Ihnen bis heute den Trost, die Weisheit und die Perspektiven der biblischen Geschichten. Wir haben Ihnen die Treue gehalten.

Jetzt sind wieder ruhigere Tage angebrochen. Die Pandemie lässt nach, die Menschen können wieder an den zahlreichen Kursen teilnehmen, und es ist problemlos möglich, in unsere Kirchen zurückzukehren, um die Liturgie zu feiern. Reisen, Feiern und gemeinschaftliche Zusammenkünfte sind wieder möglich, was die Isolation und Einsamkeit vieler Menschen lindert. Wir erkennen, dass die Zeit gekommen ist, die schwere Last dieser Aufgabe abzulegen. Geschichtenerzähler bezeichnen dies oft als Ablegen des Mantels und erinnern uns daran, dass es wichtig ist zu wissen, wann die Stunde gekommen ist, dies zu tun. Wir glauben, dass die Zeit gekommen ist.

In seinem Buch »Nachtzug nach Lissabon« schreibt Pascal Mercier aufschlussreiche Worte: »Wir lassen etwas von uns zurück, wenn wir einen Ort verlassen, wir bleiben dort, auch wenn wir weggehen. Und es gibt Dinge in uns, die wir nur wiederfinden können, wenn wir dorthin zurückkehren.« In diesen langen Monaten haben wir in den unzähligen Impulsen, die wir geschrieben haben, etwas von uns selbst zurückgelassen, etwas von unserem Glauben, etwas von unserer Hoffnung und sicher auch etwas von unserer Sorge um die Menschen, die uns anvertraut sind. Vielleicht werden Sie hin und wieder zu den Impulsen zurückkehren und wie Pascal Mercier einige Dinge wiederentdecken, die man nur finden kann, wenn wir »dorthin zurückkehren«.

Wir wissen auch, dass eine große Unsicherheit darüber besteht, was die nächsten Monate bringen werden. Wird eine weitere Welle des Virus kommen? Werden wieder Lockdowns und Einschränkungen notwendig sein? Es ist schwierig, vorauszuplanen, wenn wir nie sicher sind, was die Zukunft bringen wird. Dennoch gibt es zumindest eine Gewissheit, auf die Sie sich verlassen können: Was auch immer die kommenden Monate bringen mögen, wir werden für Sie da sein. Und wenn wir sehen, dass es notwendig ist, werden wir den Mantel, den wir heute niedergelegt haben, wieder aufheben, und wieder wird das ermutigende Wort aus unseren Herzen, Köpfen und Stimmen ertönen: »Bleiben Sie behütet.«

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

6. Mai 2022

 

Nächster Abschnitt

Grenzen überwinden

 

Meine knapp 6-jährige Enkelin erzählte mir kürzlich von ihrer Freundin und deren Höhenangst. Das kennt sie von ihrer großen Schwester. »Weißt du, Oma, Rosa hat ja auch Höhenangst. Aber trotzdem ist sie mit uns in der Gondel gefahren, obwohl das nicht leicht für sie war. Sie überwindet die Höhenangst. Aber ich glaube, Lena will sie nicht überwinden. Sie versucht es noch nicht einmal.«

Ihre Gedanken und ihre Sprache gehen mir seither nach. Sind wir nicht auch viel zu oft wie Lena? Eine Barriere tut sich auf – innerlich oder von außen kommend – das irritiert uns und führt oft dazu, dass wir ängstlich stehen bleiben. Es kann Angst machen, einen schmalen Höhenweg zu gehen an einem steilen Hang, wenn der Boden unsicher ist. Es kann verunsichern, wenn vertraute Nachbarn wegziehen und nun fremde Menschen mir sehr nahe kommen, die vielleicht noch nicht einmal meine Sprache sprechen. Haben wir nicht schon oft in unserem Leben vor einer Aufgabe gestanden, die uns viel zu schwer schien und vor der wir uns verdrücken wollten – es vielleicht auch taten? Wir haben es möglicherweise noch nicht einmal versucht!

Mich beeindruckte in der Erzählung meiner Enkelin das Wort »überwinden« und wie souverän sie damit umging. Es war ihr klar, dass die Gondelfahrt ihre Schwester Überwindung kostete. Umso bewundernder der Ton, mit dem sie von ihrer Schwester sprach und umso größer das Unverständnis für ihre Freundin.

Ja, wie winden wir uns, bis wir eine Grenze, eine Hürde, überstiegen haben. Beim Hochsprung ist die beste Technik, um möglichst hoch zu springen, der Flopsprung. Schon der Anlauf ist bogenförmig und im Absprung dreht sich der Springer um seine Längsachse. Er windet sich in die Höhe, um die Latte zu »überwinden«. Durch Übung kann dann die Latte sogar erhöht werden.

Es ist eine ständige Übung unseres Lebens, Grenzen zu akzeptieren, Dinge anzunehmen, die nicht zu ändern sind. Aber es gibt so viele Barrieren, die wir mutig und geduldig übersteigen könnten und auch sollten, um zu mehr Leben zu gelangen. Manchmal müssen wir dazu »nur« unsere Bequemlichkeit überwinden, manchmal die Fragen in unseren Ängsten erkennen und eine Antwort suchen. Immer wieder müssen wir unsere tiefen Sehnsüchte entdecken und Prioritäten neu setzen. Oft brauchen wir Gefährten, die uns helfen, mit uns üben und uns auch immer wieder ermutigen, den Sprung zu wagen.

Die österlichen Wochen machen uns Mut dazu. Der Tod ist überwunden, damit wir leben können, auch und gerade über unsere Grenzen hinaus. Vielleicht können wir Psalm 18 dann ganz neu beten: 

»Ja, mit dir überrenne ich Scharen, mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Gott, sein Weg ist lauter, / das Wort des HERRN ist im Feuer geläutert. Ein Schild ist er für alle, die sich bei ihm bergen. Denn wer ist Gott außer dem HERRN, wer ist ein Fels, wenn nicht unser Gott? Gott hat mich mit Kraft umgürtet und vollkommen machte er meinen Weg. Schnell wie Hirschkühe ließ er mich springen, auf Höhen hat er mich hingestellt.« (Ps 18, 30-34)

 

Rosemarie Monnerjahn, 2. Mai 2022

Nächster Abschnitt

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

 

Man führte sie herbei und stellte sie vor den Hohen Rat. Der Hohepriester verhörte sie und sagte: Wir haben euch streng verboten, in diesem Namen zu lehren; und siehe, ihr habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt; ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ans Holz gehängt und ermordet habt. Ihn hat Gott als Anführer und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken. Zeugen dieser Ereignisse sind wir und der Heilige Geist, den Gott allen verliehen hat, die ihm gehorchen

Apg 5, 27-32

 

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen«. Dieser Satz des Petrus im Angesicht des Schweigebefehls des Hohepriesters ist ein Klassiker. Doch wie so oft haben wir ihn nur selektiv auf unser Leben angewendet.

Wir wenden den Satz oft an, wenn es um äußere Angelegenheiten geht. In der Politik, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft sind wir uns zutiefst bewusst, dass wir Gott mehr gehorchen sollten als menschlicher Autorität. In diesen Bereichen erkennen wir deutlich die Gefahr, die von den Hohen Räten unserer Zeit ausgeht. Allzu oft will die menschliche Autorität uns streng verbieten, »in diesem Namen zu lehren«, damit sie tun kann, was sie will. Politische Autoritäten wenden dieses Manöver gerne an, wenn die Lehre des Evangeliums mit den Programmen der politischen Zweckmäßigkeit in Konflikt gerät. Vom Volk Gottes wird oft erwartet, dass es zu Themen wie Armut, Ungerechtigkeit, Migration, Korruption und Diskriminierung den Mund hält und sich auf »religiöse Themen« beschränkt. Aber das ist nicht das, was Gott will: Wenn wir mehr auf menschliche Autorität als auf Gott hören, die Augen verschließen und die Ohren zuhalten, dann wird es mit Sicherheit zu Ungerechtigkeit, Brutalität, Ausbeutung und globalisierter Gleichgültigkeit kommen.

Gilt dieses Wort der Heiligen Schrift aber nur in solchen Situationen? Hat es keine andere Bedeutung für das Leben des Gottesvolkes? Ich glaube schon. Auch in den persönlicheren Fragen und Begegnungen des menschlichen Lebens muss man Gott mehr gehorchen als der menschlichen Autorität. Schließlich gibt es auch einen Hohen Rat, der versucht, auf einer sehr persönlichen und grundlegenden Ebene unseres Lebens Autorität über uns auszuüben. Er besteht aus Menschen, meist selbsternannten, die uns ihre Sicht des Lebens, der Welt und des Glaubens aufzwingen wollen. Sie geben uns ständig einen Strom von Befehlen, sagen uns, was erlaubt ist und wie wir sein sollen, damit sich die Welt so entfalten kann, wie sie es für richtig halten. Der Hohe Rat unseres täglichen Lebens sind die Menschen, die den ständigen Drang verspüren, über uns, unsere Denkweise und unsere Lebensweise zu urteilen.

Menschen sagen uns: du bist nutzlos und nicht zu gebrauchen. Gott sagt: »Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich Menschen für dich und für dein Leben ganze Völker« (Jes 43,4) Angesichts Botschaften, die sich widersprechen, gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns: du bist minderwertig und bedeutungslos. Der Psalmist sagt, dass Gott uns aber folgendermaßen sieht: »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit.« (Ps 8, 5-6) In Gottes Augen haben wir einen großen Wert, und genießen Gottes Wertschätzung. Wenn die Stimmen, die unser Ohr erreichen, sich widersprechen, gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns: dein Leben ist sinnlos und du hast nichts beizutragen. Gott sagt, unser Leben ist so sinnvoll, dass er ein Interesse an uns hat bis ins kleinste Detail. »Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.« (Mt 10, 30) Gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns, dass wir nicht liebenswürdig sind, dass wir es nicht verdienen, geliebt zu werden, dass man uns gar nicht lieben kann oder will. Gott sagt uns: »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir die Treue bewahrt.« (Jer 31,3) Wenn unsere Selbstachtung auf dem Spiel steht, gehorchen wir hier Gott mehr als den Menschen?

Menschen sagen uns, dass wir nicht gewollt sind, dass wir unerwünscht sind, dass wir überflüssig sind und dass es ohne uns auch geht, sogar dass es besser, leichter oder schneller gehen würde, wenn wir nicht im Wege stehen würden, nicht eine Last wären. Der Psalmist merkt, wie Gott auf uns schaut und betet: »Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin.« (Ps 139, 13-14) In den Augen des Gottes, der uns geschaffen hat, haben wir Wert, Würde und Sinn und sind gewollte, erwünschte, geplante Kinder. Wenn die Worte der Menschen in Konflikt stehen zu den Worten Gottes, werden wir dann Gott mehr gehorchen als den Menschen?

 

Erik Riechers SAC

Werl, den 29. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Ein Gebet für jene, die zweifeln und fragen

 

Herr Jesus, Du schmunzelst sanft, wenn Du durch geschlossene Türen gehst, um uns zu finden. Du bist der Herr unserer Sehnsucht nach einem Leben, das noch nicht greifbar ist,

das unser Verstehen und unsere Vorstellungskraft übersteigt.

 

Lehre uns Deinen Respekt für Männer und Frauen wie Thomas,

damit auch wir das fragende Herz ehren können.

 

Eine Frage ist ein Ausdruck der Sehnsucht.

Alles kommt durch eine Frage in Bewegung.

Die Frage ist das, was erregt.

 

Selbst eine quälende Frage ist besser als keine Frage,

denn sie stößt an die Grenzen der stillschweigenden Verschwörung,

wie die Dinge zu sein haben.

 

Sie erzwingt eine Art Versuch, den Dingen einen Sinn zu geben.

Wenn es eine Frage gibt, dann gibt es die Möglichkeit, sich weiter zu entfalten.

 

Das Hinterfragen ist das, was wirklich motiviert

und gibt uns das starke Gefühl, dass wir nicht alles wissen,

dass es hier Dinge gibt, die wir wissen sollten.

 

Aber selbst wenn wir keine unmittelbare oder zufriedenstellende Antwort erhalten,

wissen wir, dass unsere Fragen uns zu einer Begegnung mit Dir führen werden.

 

Wir haben Dich nicht immer in den Antworten gefunden,

         die wir erhalten und gelernt haben.

Aber Du hast uns immer in den Fragen gefunden,

         die wir in unserem Herzen tragen,

auch wenn wir sie zunächst nur hinter verschlossenen Türen zu stellen wagen.

 

Erik Riechers SAC, 25. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Das Geschenk, das wir brauchen, damit der Glaube blühen kann

 

Ich lernte von einem großen Meister des biblischen Geschichtenerzählens. Eine der Lektionen, die ich mir sehr zu Herzen genommen habe, war seine Ermahnung, dass wir lernen müssen, »die Bibel mehr für Bilder als für Gedanken« zu schätzen. (Stories of Faith, S. 10) Diese Überzeugung trage ich seit drei Jahrzehnten in meinem Herzen und würdige sie in meiner Arbeit. Es ist auch eine Überzeugung, für die ich einen hohen Preis gezahlt habe.

Ich hielt eine Gründonnerstagspredigt, in der ich die Bedeutung des Gewandwechsels entfaltete. Wie so oft, wenn ich den tieferen Sinn der biblischen Bilder enthülle, rief dies nur wenige Reaktionen hervor. Das enttäuschte mich, aber es überraschte mich nicht.

Wir befinden uns auf unserer Glaubensreise in einer seltsamen Lage. Einerseits beklagen sich so viele Menschen über trockene und langweilige Lehranweisungen, über eine theologische Sprache, die unverständlich ist und die nicht inspiriert. Andererseits können wir auch mit den Bildern der Heiligen Schrift nicht wirklich umgehen. Die biblischen Bilder öffnen große und weite Räume des menschlichen Herzens, Räume, die nicht schnell durchschritten, kurz erklärt und schnell erschöpft werden können. Diese großen Bilder verlangen von uns eine große Anstrengung, um sie zu hören und dann auf den tiefen Ebenen unserer eigenen menschlichen Erfahrung zu deuten. Und wie alle weiten Räume müssen sie navigiert werden. Angesichts dieser Anstrengung bevorzugen wir dann die kurze, knappe Erklärung. Im Kampf zwischen Tiefe und Bequemlichkeit gewinnt die Bequemlichkeit öfter, als sie sollte.

Wir brauchen nur einen Blick auf die Ostergeschichten der Evangelien zu werfen, um das Problem zu erkennen, mit dem wir konfrontiert sind. Die Geschichten von den Auferstehungserscheinungen zeigen uns immer wieder das gleiche Muster.

  1. Keiner wird jemals beim Beten angetroffen.

Man findet sie beim Besuch des Grabes (Mt 28,1), auf dem Land spazierend (Mk 16,12), auf der Flucht von Jerusalem nach Emmaus (Lk 24,13), zu Hause (Joh 20,2) oder beim Fischen in der Nacht (Joh 21,3). Sie verstecken sich ängstlich hinter verschlossenen Türen (Joh 20,19). Aber in keiner einzigen Auferstehungsgeschichte ist davon Rede, dass sie im Gebet das Gespräch mit Gott suchen.

  1. Keiner von ihnen erkennt ihn.

Sie kennen ihn nicht auf den Wegen, die er so oft mit ihnen gegangen ist (Lk 24, 16). Maria Magdalena meint, er müsse der Gärtner sein (Joh 20,14), und niemand kommt auf die Idee, den Fremden, der am Ufer des Sees Tiberias Brot und Fisch bei sich hat, mit dem Herrn in Verbindung zu bringen, der am selben Ufer Brot und Fisch mit ihnen teilte und die Menschenmengen speiste (Joh 21,4).

  1. Die erste Reaktion ist niemals Freude.

Trotz all unserer triumphalen Osterlieder brach bei den Auferstehungserscheinungen niemand in Halleluja-Chöre aus. Es gibt Zweifel (Mt 28,17, Lk 24,41). Sie sind erschrocken und verängstigt (Lk 24, 37). Petrus, als er hört, dass es der Herr ist, springt lieber ins Wasser, als sich einer Begegnung und einem Gespräch mit Jesus zu stellen (Joh 21,7).

Als Jesus diesen sehr unterschiedlichen Menschen nach seiner Auferstehung begegnet, bietet er ihnen jedoch nie eine schnelle oder klare Erklärung an über das, was geschehen ist, wo er gewesen ist und was sie tun müssen, um Angst und Zweifel zu überwinden und zum Glauben und zur Freude zu kommen.

Stattdessen wählt Jesus einen ganz anderen Ansatz. Er versucht, sich ihnen als der Herr zu zeigen, mit dem sie vertraut sind. Dazu wählt er immer ein reiches Bild, ein tiefes Symbol. Dieses Bild, diese Metapher oder Geste ist die Art und Weise, in der Jesus jedem Menschen das gibt, was er braucht, um tiefer in die Bereiche des Glaubens vorzudringen.

Er ruft Maria von Magdala beim Namen, damit sie ihn an seiner Stimme erkennt. Er isst mit den Jüngern in Emmaus und offenbart sich durch die Geste des Brotbrechens. Petrus erhält die Gabe eines Gesprächs am Kohlenfeuer. Den Jüngern in Jerusalem zeigt er seine Hände und Füße und lädt sie ein, sein Fleisch zu berühren. Dem Thomas hingegen zeigt er seine Wunden, bevor er seinen Glauben bekennt. Dem geliebten Jünger wird ein Fischernetz mit 153 großen Fischen geschenkt, bevor er sagt: »Es ist der Herr«. Als sie »vor lauter Freude noch immer ungläubig waren« (Lk 24, 41), nimmt er sich die Zeit, in ihrer Gegenwart gebratenen Fisch zu essen.

Jesus gibt jedem Menschen das, was er oder sie braucht, um mit der stürmischen inneren Verwirrung umzugehen, mit der er oder sie zu kämpfen hat. Was er nicht anbietet, ist eine schnelle oder kuriose Erklärung, die sofort alle Angst und Verwirrung aus ihren Herzen vertreibt. Seine Gabe ist die des Symbols, der Geste, der Metapher und des Bildes, und das hat sich nicht geändert. Denn hier trifft die weite und große Welt Gottes auf die weite und große Welt des menschlichen Herzens. Das Geheimnis, in das wir eingetaucht sind, ist reich und kompliziert, komplex und vielschichtig. In der Welt des authentischen Glaubens gibt es keine schnellen Lösungen. Doch wenn wir zu bequem sind, diese Gaben Jesu zu interpretieren, versäumen wir es, das Geschenk auszupacken. Und keine Erklärung der Welt wird das wieder gutmachen können, was wir dann verlieren.

 

Erik Riechers SAC, 22. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Emmausgang

 

Ostergeschichten erzählen von allmählichem Verstehen, von langsamem Begreifen des vormals Unvorstellbaren. Sie sind ehrlich, verleugnen weder Angst noch Verwirrung und Hoffnungslosigkeit, aber sie offenbaren uns Ergriffenheit des Herzens.

Solch eine Geschichte steht über dem heutigen Tag. Denn in unseren Nöten und abgrundtiefen Enttäuschungen glauben wir, ganz allein zu sein. Oft reden wir nur mit uns selbst und drehen uns im Kreis.

Wir nehmen oft nicht wahr: Es gibt Menschen an unserer Seite. Sie gehen mit. Sie leiden mit. Sie verstehen uns - ja vielleicht sind sie durch dieselben tiefen Täler gegangen.

Und dann ist da ER, dem nichts Menschliches fremd ist, neben uns und immer auch schon uns voraus:

 

emmaus

ich lief weg

ganz benommen

vernagelt in meinem schmerz

todtraurig in mich selbst vergraben

 

ach du

ich hatte gar nicht mehr bemerkt

dass du ja auch noch da bist

den ganzen weg schon

ob ich ein stück brot will

eigentlich habe ich

keinen appetit aber

danke

 

mir wird ganz heiß

du hast den ganzen weg über

meinen selbstgesprächen zugehört

ach

und nicht nur du

 aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel

 

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes österliches Unterwegssein.

 

Rosemarie Monnerjahn, Ostermontag, 18. April 2022

Nächster Abschnitt

Was wir uns nicht leisten können zu ignorieren

 

Karfreitag ist für uns schwere Kost, ja, schwerverdauliche Kost. Er weigert sich, uns zum leichten Teil übergehen zu lassen. Er zwingt uns, einen Teil des Geheimnisses ernst zu nehmen, nämlich den Tod und das Leiden, den wir lieber übergehen würden, um die Auferstehung zu feiern.

Dieser Tag lehrt uns eine ganz grundlegende Lektion über unseren Glauben. Die Auferstehung ist kein Placebo. Sie ist auch kein Fluchtweg, der Leiden und Tod umgeht. Die Auferstehung ist die Macht Gottes, aber sie entfaltet sich in einem Menschen, der frei genug ist, sich bereitwillig auf die volle Erfahrung von Tod und Sterben einzulassen.

Ostern entfaltet sich in Menschen, die sich weigern, vor dem Karfreitag zurückzuschrecken. Der Priesterdichter Andreas Knapp bietet uns die Möglichkeit, innezuhalten und auf ein Geheimnis zu blicken, das wir lieber ignorieren oder sogar ganz vermeiden würden.

 

karfreitag

er kruzifixiert

damit wir ganz gelöst sind

 

er entblößt

damit wir uns nicht zu schämen brauchen

 

er zur Schau gestellt

damit wir uns sehen lassen können

 

er unser notnagel

damit wir nicht abstürzen

 

er gescheitert gestorben

damit wir unsere zerbrechlichkeit leben können

aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel

 

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten und tiefgründigen Karfreitag.

  

Erik Riechers SAC

Karfreitag, 15. April 2022

Nächster Abschnitt

Verhüllt

 

Vor gut 30 Jahren sang ich in einem Chor in der Pfarrkirche von Niederlana. Sie ist berühmt für ihren wunderschönen Flügelaltar von Hans Schnatterpeck. Doch zu jenem Zeitpunkt war er geschlossen, das Kreuz verhüllt - wir befanden uns in der Karwoche.

Seit dem frühen Mittelalter werden Kreuze in der Passionszeit verhüllt und erst zur Kreuzverehrung an Karfreitag enthüllt. Oft ging es dabei um prachtvolle Triumphkreuze, die eher vom Sieg über den Tod als vom Leiden erzählten. Das Triumphale zu verbergen sollte helfen, den Kreuzweg als Leidensweg in den Blick zu nehmen. Viele von uns kennen den Brauch des Kreuzverhüllens auch heute noch.

Eine Hülle um etwas zu legen geschieht meist, um das zu Verbergende ganz pragmatisch zu schützen: vor Schmutz, vor Sonneneinstrahlung, vor falschem Gebrauch oder vor Diebstahl. Doch ich verhülle auch das, was mir heilig ist, um es den Blicken derer zu entziehen, die es nicht zu schätzen wissen, ja die es entwürdigen könnten. Schließlich war das Allerheiligste der Juden, der innerste Raum des jüdischen Tempels, das ganze Jahr verhüllt, ein Vorhang trennte ihn von der Haupthalle. Nur einmal im Jahr, am Versöhnungsfest, durfte der Hohepriester ihn betreten. Für alle anderen blieb das Allerheiligste immer verhüllt. 

Wenn das Kreuz Jesu vielerorts in diesen Tagen verhüllt ist, erinnert mich dies daran, dass der ganze Leidensweg Jesu ein Weg des zunehmenden Verhüllens wurde. Besonders das älteste Evangelium, das Markusevangelium,  zeigt den Passionsweg Jesu als einen Weg, in dem das Göttliche in seiner Macht immer mehr verborgen wird. In Galiläa zeigte Jesus sich als der Wirkmächtige: er heilte und wirkte Wunder, er predigte, er sammelte Menschen um sich und seine frohe Botschaft vom Reich Gottes. In Jerusalem nun wird mehr und mehr seine Ohnmacht deutlich. Er wird angefeindet, ausgeliefert, gequält und schließlich schmählich hingerichtet. Menschen damals - wie auch heute angesichts grauenvollen Leidens -  fragen: Wo ist Gott? Wer kann hier, in dem Geschundenen, Gequälten und schließlich Sterbenden, noch Gott sehen? Doch dann, im Augenblick seines Todes, zerreißt eine Hülle, nämlich der Vorhang des Tempels, der das Allerheiligste verhüllt. Und Markus lässt einen Zeugen sprechen, der unter der »Hülle« der Katastrophe Jesu das Allerheiligste, nämlich Gott entdeckt: »Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.« (Mk 15, 39)

Was verhüllt war, wird enthüllt auf eine Weise, die radikal anders ist als alles, was Menschen sich vorstellen.

Wir glaubten, Leiden und Kreuz verhüllen Gott. Nun sehen wir: Im Kreuz ist Gott.               

Wir glaubten, Gott nicht zu sehen in den Kreuzen unserer Tage. Doch nun beginnen wir zu ahnen: Er ist in jeder Träne, jedem gebeugten Rücken, jeder hilfreichen Hand, jedem offenen Herzen.

Wir glaubten das Allerheiligste hinter einem Vorhang. Nun wird es sichtbar für den, der durch das Kreuz geht.

Verhüllen und Enthüllen liegen in dieser Woche nah beieinander: Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern gibt den Blick frei auf das Herz Gottes. Wie Jesus durch seine letzten Stunden geht, enthüllt immer wieder seine Größe und die Radikalität, ja Göttlichkeit, seiner Liebe.

So können verhüllte Kreuze unseren Blick schärfen auf das, was im Leid enthüllt wird - auch heute. Wir sehen Göttliches mitten im Krieg in vielen mitleidenden Herzen, einsatzbereiten Händen, kreativen Helfern, gelebt von Alten und Jungen.

Mag das Kreuz in den Augen der Welt eine »Torheit« (1 Kor 1, 23) sein - für uns Christen zeigt sich Gott in dieser Schwachheit.

So wünsche ich uns allen eine enthüllende Karwoche.

 

Rosemarie Monnerjahn, 11. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Barmherzigkeit als die Initiative Gottes

 

Vor ein paar Wochen hörte ich einem jungen Priester zu, der während einer Werktagsmesse für eine Gruppe älterer Ordensfrauen eine Predigt hielt. Als er fertig war, stieg ein ungutes Gefühl in meinem Herzen auf. Der Prediger hatte die ganze Zeit über die Unwürdigkeit, die Sünde und die Undankbarkeit der Menschen betont, und erst dann, mehr im Nachhinein, erwähnte er kurz die Barmherzigkeit Gottes.

Später am selben Tag hielt ich mein Eröffnungsreferat für die Teilnehmer der Exerzitien, die am Morgen die Messe besucht hatten. Danach kamen einige der Teilnehmerinnen zu mir, um sich zu bedanken, und sagten mir, dass sie sich auf seltsame Weise getröstet und gestärkt fühlten. Eine der Frauen sagte mir, sie sei verunsichert und wisse nicht, warum mein Vortrag eine so andere Wirkung auf sie gehabt habe als die Predigt am Morgen. Schließlich, so sagte sie, hatten sowohl die Predigt als auch mein Vortrag mehr oder weniger das gleiche Thema, nämlich Sünde und Barmherzigkeit

Nicht wirklich. In der Morgenpredigt wurde die Sünde als Anlass für die Barmherzigkeit dargestellt. Die Sünde ist der Auslöser, und dann entwickelt Gott die Barmherzigkeit als die Strategie, mit der er auf die Sünde antwortet. In dieser Predigt ist es die Sünde, die die Initiative ergreift. Sie setzt alles in Bewegung, auch Gott.

Weil wir so große Sünder sind, kommt die Barmherzigkeit.

Weil wir so undankbar leben, kommt das Erbarmen.

Weil wir so unwürdig handeln, kommt die Barmherzigkeit.

Es wird sehr deutlich hervorgehoben, dass die Sünde Gott in Bewegung setzt und dass die Barmherzigkeit lediglich Gottes Antwort auf die Initiative der Sünde ist.

Aber Jesus spricht von Barmherzigkeit auf eine ganz andere Weise. Ich hatte über das Gleichnis des barmherzigen Samariters gesprochen. Der Mann, der geschlagen und zum Sterben am Straßenrand zurückgelassen wurde, erfährt Barmherzigkeit. Aber die Barmherzigkeit in Gestalt des Samariters kommt nicht zu ihm, weil er ein so großer Sünder war. Die großen Sünder waren die Räuber, die ihm das angetan haben. Die Barmherzigkeit kommt nicht zu ihm, weil er in Undankbarkeit lebte, und sie kommt auch nicht, weil er unwürdig oder sündhaft gehandelt hat. »Aber ein Samariter, der auf dem Weg war, kam zu ihm; und als er ihn sah, wurde er von Mitleid ergriffen.« (Lk 10,33) Deshalb kam die Barmherzigkeit zu ihm. Deshalb überquerte die Barmherzigkeit die Straße.

Jesus betont, dass die Barmherzigkeit die Initiative Gottes ist und dass sie an erster Stelle steht. Die Barmherzigkeit kommt vor der Sünde. Sie kann mit Sünde umgehen, und sie kommt sicherlich, wenn Sünde im Spiel ist. Aber die Barmherzigkeit ist älter als jede Sünde.

Diese tiefe Offenbarung des Herzens Gottes hat große Konsequenzen für unsere menschlichen Herzen, wie die sehr unterschiedliche Wirkung der Predigt und meines Vortrags auf die Herzen der Zuhörer deutlich machte. In der Predigt hörten wir, dass die Sünde das entscheidende Moment ist. Die Rolle und die Macht der Sünde wurden so vehement und so oft wiederholt, dass der Prediger die Sünde am Ende ernster nahm als die Barmherzigkeit Gottes. Wenn die Barmherzigkeit dann überhaupt erwähnt wird, dann nur im Zusammenhang mit der Sünde.

 Dies ist jedoch eine Absage an den tiefsten Instinkt des Paulus: »Wo aber die Sünde überhand nahm, da nahm die Gnade überreichlich zu«. (Röm 5,20)  Die Formulierung »überreichlich« ist eine Übersetzung des griechischen Wortes huperperisseo. Das Wort vermittelt die Erfahrung von etwas, das alle alten Maßstäbe übersteigt, das sich über die alten Proportionen hinaus ausdehnt und ausbreitet, und es spricht von etwas, das man im Überfluss genießen und auskosten kann. Es ist wie ein riesiger Fluss, der von stromaufwärts mit Wasser geflutet wird.

Und warum ist es wichtig, dies zu wissen? Es ist wichtig, weil wir Menschen auch dann Barmherzigkeit brauchen, wenn wir gar nicht gesündigt haben. Barmherzigkeit ist die göttliche Liebe, die die Initiative ergreift, so wie der Samariter die Initiative ergreift, um die Straße zu überqueren und Hilfe, Beistand und Erleichterung anzubieten. Wenn der andere nicht die Kraft, den Mut oder die Möglichkeit hat, liebevoll zu handeln, schafft die Barmherzigkeit Gottes aus eigenem Antrieb Lebensraum für die Menschen. »Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.« (1 Joh 4, 9)

Wir brauchen diese initiative Liebe Gottes, diese Barmherzigkeit, auch wenn wir nicht gesündigt haben. Wenn wir krank oder ängstlich sind, brauchen wir Barmherzigkeit. In Zeiten, in denen wir ängstlich oder eingeschüchtert, einsam oder deprimiert sind, brauchen wir Barmherzigkeit. Die Stunde der Barmherzigkeit ist gekommen, wenn wir erschöpft und entmutigt, enttäuscht oder einfach lustlos sind. Dies sind ganz gewöhnliche Erfahrungen des täglichen Lebens, und sie alle sind Momente, in denen wir Barmherzigkeit brauchen. Aber nichts von alledem ist eine Sünde. Und doch wecken sie alle die große Sehnsucht unseres Gottes, zu uns zu kommen, uns aufzusuchen, uns Heilung zu bringen.

Das sind die Momente, in denen ich meinem Gott als dem Barmherzigen begegne, als dem Gott, der immer das erste Wort spricht, die erste Geste macht und die Initiative ergreift.

 

Erik Riechers SAC

Dorfen, den 08. April 2022

Nächster Abschnitt

Leben entdecken

 

Der Titel eines Buches für junge Forscher weckte etwas in mir: »Natur - entdecken, verstehen, mitmachen«. Es war das Wort »entdecken«. Der Duden nennt es ein schwaches Verb und wir gebrauchen es sehr oft. Wir kennen Namen von Menschen, die neue Erdteile oder Seewege entdeckten, von Himmelsforschern, die neue Sterne entdeckten, von Biologen, die DNA-Sequenzen entschlüsselten. Kinder entdecken neue Blumen im Garten, ich entdeckte einen neuen Weg im Wald oder meine Liebe zum Meer. Manchmal entdecken wir neue Ecken in einer uns bekannten Stadt oder ganz neue Seiten an einem Menschen, den wir bereits kennen. Ob Marco Polo oder meine Enkelkinder, ob Galileo Galilei oder ich selbst – alles, was entdeckt wird, war vorher schon da. Es ist, als ob der Entdecker eine Decke weggezogen hätte. So kann er zum ersten Mal sehen, was lange schon existiert. Er deckt auf, er entblößt und findet so etwas bis dahin Unbekanntes oder Verborgenes. Es mag sein, dass er es lange schon suchte, vielleicht aber auch ahnte er nichts davon.

Jedes Frühjahr in unseren Breiten kann uns dafür ein Beispiel sein. Wochen und Monate sah die Erde braun und tot aus, bedeckt mit den immer trockener werdenden Herbstblättern. Doch kaum entferne ich sie im Februar oder März, entdecke ich Spitzen von Tulpenblättern, Triebe von Pfingstrosen, die ersten Blättchen der Taglilien. Manchmal wissen wir gar nicht, welche Pflanze da gerade zum Vorschein kommt.

Starren wir nicht oft auf unser Leben wie auf eine Decke? Wir glauben, das, was wir sehen, sei schon das Leben, unser Leben, und wir ahnen nicht oder wollen es gar nicht wissen, was unter dieser Hülle liegt. Die Decke, die da oft schützend über unser Leben ausgebreitet liegt, heißt »Das macht man so.« oder »Die anderen erwarten es von mir.« oder »Das sieht gut aus.« Es mag auch sein, dass wir kein Muster mehr erkennen, dass die Decke grau geworden ist wie eine 08/15-Teerdecke. Darauf lässt sich ja bekanntlich leicht gehen, aber langes Wandern auf ihr tut weder den Füßen noch dem Rücken gut. Der Boden ist zu hart. Ganz anders ist es, auf natürlichem Untergrund zu wandern, wenn unsere Schritte abgefedert werden und wir außerdem sehen, auf welchem Grund wir gehen.

Seien wir achtsam und ehrlich auf unserem Lebensweg: Hin und wieder blitzt etwas auf - eine Erinnerung an eine alte Sehnsucht, ein Gefühl von Wärme und Lust. Liegt da wie unter einer Ascheschicht verborgen doch Lebensglut? Sie gilt es anzufachen, damit wir das Leben in uns neu entdecken: ein wenig Sauerstoff zuführen, die Decke wegziehen, anschauen, was da zum Vorschein kommt. Ja, solch eine Entdeckung kann zur echten Auferstehungserfahrung werden. In mir steckt mehr Leben, viel mehr Leben, das hinaustreibt. Für mich ist es eine Aufgabe und Herausforderung der Fastenzeit, neu das Leben in mir zu entdecken und ihm immer mehr Raum zu geben, es gewissermaßen herauszulassen.

Doch wir sollten weiter denken, über uns selbst hinaus, und schauen, was unter der Decke der anderen an Leben verborgen ist. Wir sitzen einander gegenüber in Großraumbüros oder an Bildschirmen, nebeneinander in Zügen und Bussen, in Schulklassen oder an unseren Esstischen und nehmen doch nur die äußere Hülle voneinander wahr. Trauer in den Augen, ein Lächeln um die Lippen, ein unsicherer Blick, hängende Schultern - all das könnten Einfallschneisen für die Entdeckungen wahren Lebens im anderen sein. Natürlich, manche Menschen ziehen ihre Decke fest um sich und sind erleichtert über den Schutz der Anonymität. Aber andere warten darauf, dass wir entdecken, was wirklich in ihnen los ist und ihnen helfen, es leben zu können und zu dürfen. Wir könnten ihnen zur Seite stehen bei der Erfüllung eines lang gehegten Wunsches, ihnen Raum und Zeit schenken, uns mit ihnen freuen, aber auch das Schwere mit ihnen teilen. All das erfordert Kraft und Mühe, aber hat je ein Entdecker Leben gefunden ohne Anstrengung? 

Etty Hillesum, die junge jüdische Intellektuelle, die 1943 in Auschwitz hingerichtet wurde, betete im Juli 1942: »… vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.«

Überall, wo wir Leben entdecken, können wir ihm »auf die Beine« helfen und dabei in uns und anderen Gott selbst finden, den Liebhaber des Lebens.

     

Rosemarie Monnerjahn, 4. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Vom Eis zum Feuer wechseln

 

Vor einigen Tagen hatte ich das Vergnügen, Navid Kermani Auszüge aus seinem neuesten Buch vorlesen zu hören. Er sprach in einer warmen, reichen Sprache über den Glauben. Er sprach über Poesie und Metaphern, über das Erzählen von Geschichten und das Stellen von Fragen, als tiefe und doch sanfte Erfahrungen der Religion. Im Laufe dieser zwei Stunden habe ich mehrmals geseufzt, sowohl vor Freude als auch vor Erleichterung.

Seit geraumer Zeit beunruhigt mich die zunehmende Neigung, für die aus dem Feuer geborenen menschlichen Erfahrungen die Sprache des Eises zu verwenden, wie ich es nenne. Dies geschieht, wenn eine kalte, analytische, herzlose und blutleere Sprache verwendet wird, um die Dinge in einem menschlichen Leben zu beschreiben, die das Feuer der Leidenschaft, des Engagements, des Mutes und des Abenteuers wecken sollten. Es geschieht, wenn wir den schmerzhaften Tod unschuldiger Kinder in einem Kriegsgebiet als Kollateralschaden bezeichnen. Das Eis dieser Sprache ist absichtlich gewählt, um das Feuer der Empörung und des Widerstands zu dämpfen, das normalerweise aufflammt, wenn Ungerechtigkeit und barbarische Grausamkeit unsere Herzen treffen. Dies geschieht jedoch auch, wenn wir Begriffe wie »Glaubenskommunikation« verwenden, um die leidenschaftliche, vom Geist durchdrungene Sprache des Psalmisten zu ersetzen, der sagt:

»Ich aber will allezeit hoffen, all deinen Lobpreis noch mehren.

Mein Mund soll von deiner Gerechtigkeit künden, den ganzen Tag von deinen rettenden Taten,

denn ich kann sie nicht zählen.

Ich komme wegen der Machttaten GOTTES, des Herrn,

 an deine Gerechtigkeit allein will ich erinnern.

Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf und bis heute verkünde ich deine Wunder.

Auch wenn ich alt und grau bin, Gott, verlass mich nicht, damit ich von deinem

machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke,

 von deiner Gerechtigkeit, Gott, die bis zum Himmel reicht! .«

(Psalm 7, 14-19)

Sicherlich glaubt niemand, dass die Verwendung der Sprache des Eises, um die Erfahrungen des Feuers zu beschreiben, dem menschlichen Herzen keinen ernsthaften Schaden zufügen wird.

Kürzlich hatte ich eine solch unangenehme Begegnung während einer Lehrveranstaltung. Um einen Punkt zu illustrieren, habe ich das Beispiel eines Kusses verwendet. Niemand kann genau erklären, wie ein Kuss funktioniert, aber das hat noch nie jemanden davon abgehalten, die Wirksamkeit des Küssens zu genießen. An dieser Stelle unterbrach mich eine Teilnehmerin, um mir zu widersprechen. Sie wies darauf hin, dass moderne neurophysiologische Studien uns ein tieferes Verständnis der neurochemischen Vorgänge beim Küssen vermittelt haben und erklären können, warum wir so reagieren, wie wir es tun. Ich war, gelinde ausgedrückt, unbeeindruckt.

Ich bestreite nicht, dass die modernen Wissenschaften uns viele Dinge erklären können, aber das war nicht mein Punkt. Ob wir nun verstehen, was die Neurowissenschaften uns über das Küssen sagen können oder nicht, der Kuss funktioniert immer noch. Und wenn ein Kuss nichts weiter als ein chemischer Prozess im Gehirn ist, warum haben Küsse dann so unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Menschen? Warum hängt der Kuss dann davon ab, wer uns küsst? Warum können Küsse ein so breites Spektrum an Gefühlen ausdrücken, von Liebe bis Verzweiflung, von Freude bis Trauer? Wir  kennen eine Grundregel der Chemie. Die gleiche chemische Kombination wird immer die gleiche chemische Reaktion hervorrufen (wenn man ein Streichholz in einen Kanister mit Benzin wirft, wird es jedes Mal explodieren). Wie können wir dann erklären, dass es so viele und so unterschiedliche Reaktionen auf einen Kuss gibt? Dogmatismus ist nicht nur ein Fehler von Religion und Theologie. Er ist ebenso weit verbreitet, wenn Wissenschaft, Philosophie oder Politik versuchen, eine endgültige und definitive Erklärung des Mysteriums zu beanspruchen. Jeder Versuch, das Mysterium zu definieren, ist ein Versuch, es zu kontrollieren und zu begrenzen. Es ist wie der Versuch, die Form und die Bewegung des Feuers festzuhalten und zu kontrollieren. Solche Versuche sind immer arrogant, gefährlich und zum Scheitern verurteilt. 

Lord Rabbi Jonathan Sacks diagnostiziert in dieser Begegnung auf brillante Weise das zugrunde liegende Problem.

»Es war auch ein Zeitalter, in dem wir uns an Wissenschaftler - Genetiker, Neurophysiologen und Soziobiologen - gewandt haben, um den Zustand des Menschen zu erklären. Die Wissenschaft ist ein ungemein mächtiges Werkzeug zum Verständnis der Natur, aber ein sehr schwaches Instrument zum Verständnis der menschlichen Natur. Genauer gesagt, sie missversteht systematisch, wer und was wir sind. Die Wissenschaft spricht von Ursachen, nicht von Zielen. Sie versteht Ereignisse, die durch Dinge in der Vergangenheit verursacht wurden, aber nicht Handlungen und Entscheidungen, die durch eine Vision der Zukunft motiviert sind. Sie ist gut im Umgang mit dem Körper. Sie ist überfordert, wenn es um den Geist geht, oder um das, was ein früheres Zeitalter die Seele nannte. Sie hat wenig über die Ideale zu sagen, die einem Leben einen Sinn geben.« (S. 3, Celebrating Life)

Ich weiß sehr zu schätzen, was die Wissenschaft für unsere Welt getan hat und weiterhin tut. Aber anders als der Kreuzverhörspezialist in meinem Klassenzimmer werde ich mich nicht in die eiskalte Welt begeben, in der die wissenschaftliche Analyse König ist. Das war der Weg von Athen, der Stadt der griechischen Philosophen. Aber es war nie der Weg Jerusalems, der Stadt des biblischen Geschichtenerzählers. Jesus begleitete die Menschen und ihr Leben nicht mit Erklärungen, sondern mit Geschichten: »Dies alles sagte Jesus zu den Leuten in Gleichnissen, und anders als im Gleichnis redete er nicht zu ihnen«. (Mt 13, 34) In den Evangelien finden sich 37 Gleichnisse und mehr als 220 Fragen. Jesus hat die Menschen mit Fragen zurückgelassen, anstatt ihnen nur definitive Antworten zu geben.

Ich kann Ihnen nur den Weg der Geschichte empfehlen, den Weg, der Türen öffnet und einen Weg zum menschlichen Herzen bahnt. Analytische Antworten geben uns Definitionen, aber Geschichten zeigen uns unerprobte Möglichkeiten und unbetretene Wege auf. Definitionen führen zu Schlussfolgerungen. Geschichten laden uns ein, weiterzugehen und zu erforschen. In langen, dunklen Nächten, wenn die Herzen aufgewühlt sind, versammeln sich die Menschen um das Feuer, um die Geschichten zu hören. Es ist Zeit, aus der Kälte zu kommen, vom Eis zum Feuer zu gehen.

 

Erik Riechers SAC, 1. April 2022

 

Nächster Abschnitt

Von der Schwere des Lebens

 

Kennen Sie das? Vieles belastet Sie, manches ist im Augenblick unlösbar und nur auszuhalten und zu tragen, gleichzeitig aber gibt es auch Perlen an jedem Tag. Wir nehmen sie jedoch oft nicht in die Hand, um sie dankbar zu betrachten, sondern schenken unsere ganze Aufmerksamkeit den schweren Brocken, die mehr und mehr ein Übergewicht bekommen. Wir sehen die Probleme wachsen und die Nöte zunehmen, in unserem nächsten Umfeld und weit darüber hinaus. Am Abend grübeln wir lange über so vieles, was noch zu tun wäre und am Morgen überfallen uns die Aufgaben und Sorgen sogleich wieder nach dem Aufwachen. Da ist es kein Wunder: Wenn wir jemandem begegnen, der uns fragt, wie es uns gehe, kommt uns kein »Gut!« über die Lippen. Der Lasten sind einfach zu viele!

Vielleicht lässt uns eine kleine »Perle« heute innehalten. Ich fand sie kürzlich in Form einer kurzen Geschichte aus unbekannter Quelle:

Ein junger Mann kam zu einem alten Weisen.

»Meister«, sprach er mit schleppender Stimme, »das Leben liegt mir wie eine Last auf den Schultern. Es drückt mich zu Boden und ich habe das Gefühl, unter diesem Gewicht zusammenzubrechen.«

»Mein Sohn«, sagte der Alte mit einem liebevollen Lächeln, »das Leben ist leicht wie einer Feder.«

»Meister, bei allem Respekt, aber hier musst Du irren. Denn ich spüre mein Leben Tag für Tag wie eine tonnenschwere Last auf mir lasten. Sag, was kann ich tun?«

»Wir sind es selbst, die uns Last auf unsere Schultern laden«, sagte der Alte, noch immer lächelnd.

»Aber...«, wollte der junge Mann einwenden.

Doch der alte Mann hob die Hand: »Dieses ‚Aber‘, mein Sohn, wiegt allein schon eine Tonne.«

 

Ich will auf die Frage nach meinem Befinden nicht mehr stöhnend stottern: »Es geht - eigentlich gut, aber…!«

Ich nehme mir vor, an meinem »Aber« zu fasten und Gewichte abzulegen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Hören und hoffen

 

Unser Angebot »Bleiben Sie behütet!« entstand in den ersten Tagen des ersten Lockdown im März 2020.

Nun erleben wir seit gut vier Wochen den beängstigenden und menschenverachtenden Krieg in der Ukraine und viele von uns spüren, wie sich die Erschütterung darüber immer mehr über die Ängste der Pandemie schiebt.

Heute wie zu Beginn der Pandemie laufen wir wieder Gefahr, der Überfülle von Nachrichten, Bildern und Spekulationen zu erliegen, uns darin selbst zu verlieren, Maßstäbe und Verhältnismäßigkeiten entgleiten uns. Wieder wird gehortet, diesmal Mehl und Öl, Panik führt zu Hamsterkäufen und innere Leere wird pragmatisch zugedeckt.

Doch es geht auch anders. Das Handeln des barmherzigen Samariters, wie Erik es uns darlegte, ist ein großartiger Ansporn dafür, dass wir nicht egozentrisch nur uns im Blick haben, sondern mit den Augen des Herzens sehen und genau das tun, was wir vermögen und was Not zu lindern hilft.  

Ein weiterer biblischer Begleiter für diese Zeit ist der Beter des Psalms 85, der uns in seinen Worten einen weisen Weg durch schwere Zeiten schenkt:

»Willst du uns nicht wieder beleben, dass dein Volk an dir sich freue? Lass uns schauen, HERR, deine Huld und schenk uns dein Heil! Ich will hören, was Gott redet: Frieden verkündet der HERR seinem Volk und seinen Frommen, sie sollen sich nicht zur Torheit wenden.«

Der Beter lehrt uns, die Grundhaltung des uralten »Sch‘ma Israel« zu üben, des »Höre, Israel«. Er trifft die bewusste Entscheidung dazu, er will hören, was Gott redet, und so hört er: Der Herr verkündet Frieden und warnt vor Torheit. Gehen wir darüber nicht hinweg! Denn über eine sehr lange Zeit hat sich eine gewisse Verwöhntheit unserer bemächtigt. Dies kann zur törichten Lebensweise führen, wenn wir nämlich verlernt haben, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, wenn wir unsere wahre Sehnsucht erstickt haben mit äußerlichen Dingen, wenn wir glauben, alles in der Hand zu haben und nicht mehr in der Lage sind, Durststrecken zu durchstehen. Psalm 85 jedoch weitet und vertieft den Blick auf das wahrhaft Tragende, das wir in der lebendigen Beziehung zu Gott erfahren können:

»Fürwahr, sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten, seine Herrlichkeit wohne in unserm Land. Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Treue sprosst aus der Erde hervor; Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder. Ja, der HERR gibt Gutes und unser Land gibt seinen Ertrag. Gerechtigkeit geht vor ihm her und bahnt den Weg seiner Schritte.«

Weil wir nämlich in einer umfassenderen, größeren Wirklichkeit leben, gilt es, unsere Herzen zu öffnen für die Verbindung zwischen Himmel und Erde, damit die Gnade des Herrn, seine Huld, seine Zugewandtheit und unsere Treue sich begegnen können. Das allein schenkt Frieden und Heil. Können wir uns diese Worte des Psalmisten zu eigen machen, indem wir sie immer wieder lesen und in uns sacken lassen, dann spüren wir, dass sie Hoffnungsworte sind, dass sie Lebensmöglichkeiten aufzeigen, die nicht von uns machbar sind, sondern uns geschenkt werden und empfangen werden wollen – was auch immer uns belastet. Dann können wir täglich Zeichen dieser Realität sehen. 

Genauso ging es einer jungen Frau, die mit ihrem 5-jährigen Sohn durch die »Hölle« seiner Leukämieerkrankung und -behandlung ging. Sie rang immer wieder im Glauben um genau diese Hoffnung. Die Hoffnung »ist vielleicht die stärkste der Tugenden, weil in ihr die Liebe wohnt, die nichts aufgibt und der Glaube, der den Tag schon in der Morgenröte sieht.« (Fulbert Steffensky)* So übte sie das Hoffen wieder und wieder, und zwar indem sie lernte, auch in den schwersten Zeiten und manchmal in kleinsten Schritten zu handeln, als sei Rettung möglich, ja dass es sinnvoll war, was sie tat. Und es gelang ihr nicht nur, ihren Sohn gut zu begleiten, sondern sich selbst ein liebendes, hoffendes Herz zu bewahren, das weder resignativ noch zynisch oder hart wurde. »Der Herr gibt Gutes und unser Land gibt seinen Ertrag« ist ihre Erfahrung aus den schwersten Jahren ihres Lebens. Sie erlebte Lichtstreifen und Glücksmomente, erkannte Wege und Fügungen. Ihre Dankbarkeit wuchs – und blieb, ebenso wie der Friede in ihrem Herzen.

Um ein liebendes, hoffendes Herz zu bewahren wie die junge Mutter in ihrer Krise, wird heute Papst Franziskus in unserer Krise in tiefem Vertrauen und mit großer Hoffnung Russland und die Ukraine Maria ans Herz legen. Diese große Frau ist auch einen langen Weg gegangen, auf dem sie sich ein Herz des Hörens und Hoffens bewahrte.  

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. März 2022

*  zitiert in: Katharina Weck, »Der Chemoritter am Küchentisch«, Neukirchen 2019

 

Nächster Abschnitt

Leben wie ein barmherziger Samariter II

 

3. Hinübergehen, um ein verwundetes Leben zu berühren

In dem Gleichnis ist der Samariter der Einzige, der versteht, was diese Situation, diese Stunde, von ihm verlangt. »Er ging zu ihm«. Ein Samariter muss sich auf die verwundete Seite des Lebens begeben. Nur so können sich zwei so unterschiedliche Welten begegnen. Und wenn wir uns das Gleichnis genau ansehen, ist der Samariter der einzige in der Geschichte, der von einer Straßenseite auf die andere wechselt.

Martin Luther King Jr., der den Weg des barmherzigen Samariters selbst sehr gut kannte, spricht beredt zu diesem Moment. »Wie der barmherzige Samariter sollten wir uns nicht schämen, die Wunden der Leidenden zu berühren, sondern versuchen, sie mit konkreten Taten der Liebe zu heilen. Ein barmherziger Samariter ist nicht einfach jemand, dessen Herz in einem unmittelbaren Akt der Fürsorge und der Nächstenliebe berührt wird, sondern jemand, der ein System nachhaltiger Fürsorge bietet.«

Die gute Nachricht dieser Tage ist für mich die klare und entschieden zu wenig beachtete Tatsache, dass es viele, viele barmherzige Samariter in der Welt gibt, die dieses System der dauerhaften Fürsorge anbieten. Auf so viele Arten und an so vielen Orten haben sich Menschen auf den Weg gemacht, um die Verwundeten des Lebens zu berühren. Sie opfern ihre Zeit und ihr Geld, öffnen ihre Häuser und lassen die vom Krieg Verwundeten bei sich wohnen. Sie sortieren Kleidung, nehmen Flüchtlinge auf, transportieren Lebensmittel und bringen die Verirrten an sichere Orte. Auch die Kirche zeigt sich von ihrer besten Seite: Sie ist nahe bei den Menschen, hilft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und ist nicht bereit, sie zurückzulassen. Gläubige, Laien, Ordensleute und Priester haben sich geweigert, sich in Sicherheit zu bringen, sondern bleiben bei ihren Mitmenschen, teilen ihren Hunger und Durst, ihre Angst und Ungewissheit. Dies ist immer der Weg des barmherzigen Samariters. Man kann ein verwundetes Leben nicht berühren, ohne einen Preis zu zahlen.

In dem Gleichnis gibt sich Jesus große Mühe, den Preis für die Berührung der verwundeten Seite des Lebens zu nennen. Öl, Wein und Geld: Das kostet es den Samariter, und das sind Ressourcen, für die er andere Pläne hatte. Obdach, Fürsorge, Hilfsbereitschaft: So reagiert der Samariter sinnvoll auf die Situation der Gewalt und Grausamkeit. Liebevolles Handeln, Begleitung, gemeinsamer Weg zum Ort der Heilung und der Zuflucht und die Weigerung, den geschlagenen Fremden zu verlassen: All dies war Teil des Preises, den der Samariter zahlte, damit das Opfer leben konnte. Es ist eine Geschichte, die von den Samaritern unserer Tage unzählige Male erzählt wird.

4. Ein Samariter vergisst nie, dass er tief betroffen ist, aber er ist nicht das Opfer.

Das ist vielleicht die größte Gefahr des Krieges für uns. Die Szenen, die wir erlebt haben, haben uns beunruhigt, aufgewühlt und verzweifelt gemacht. Aber wir sind nicht die Opfer. Wir sind tief betroffen, aber wir sind nicht die Opfer der Bomben, des Terrors und der Zerstörung. Es ist klug und notwendig, darüber zu sprechen, was dieser Krieg und diese Verwüstung mit uns machen, aber wir müssen immer darauf achten, dass wir uns nicht selbst zum Opfer machen. Dies ist ein kritischer Moment, in dem wir uns nicht gegen uns selbst wenden dürfen. Der Samariter hält nicht inne, um uns zu erzählen, wie anstrengend und beunruhigend all diese Bemühungen für ihn waren. Er ist nicht das Thema. Es geht um den Mann, der dem Tod überlassen wurde. Wir sind nicht das Thema. Die vom Krieg verwüsteten, verwundeten und angegriffenen Menschen in der Ukraine sind das Problem.

Ein barmherziger Samariter zu sein bedeutet, in der Spannung zwischen Hilfsbereitschaft und Hilflosigkeit zu leben. Denn auch diese so aktive, hilfsbereite und dynamische Figur des Gleichnisses hat ihre Grenzen. Er hat weder die Zeit noch die Mittel, die Räuber ausfindig zu machen, ihnen das Handwerk zu legen und sie vor Gericht zu stellen. Er hat nicht die Macht, die Straße zu sichern und sie für alle zukünftigen Reisenden sicherzumachen. Ebenso wenig kann er der Gewalt und der Habgier auf der Strecke zwischen Jericho und Jerusalem ein Ende setzen. Das sind Dinge, die er nicht zu ändern vermag. Sie liegen außerhalb seiner Macht. Sie liegen außerhalb seiner Reichweite.

Aber die Hilflosigkeit, die er auf einer Ebene empfindet, hindert ihn nicht daran, dort zu helfen, wo es in seiner Macht steht, zu helfen und zu unterstützen. Was er nicht tun kann, hält ihn nicht davon ab, das zu tun, was unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Und es gibt kein größeres Geschenk, das der Samariter zu bieten hat als dieses. Unser wahrer Feind in diesem Krieg ist die Resignation. Jeder Krieg erreicht sein Ziel, wenn er in uns Resignation hervorrufen kann. Dann werden wir von dem Gefühl der Vergeblichkeit erfüllt, dass nichts, was wir sagen oder tun, einen Unterschied machen kann. Diese Vergeblichkeit wiederum zementiert in uns ein Gefühl der Unvermeidlichkeit, das uns glauben lässt, dass es keinen Sinn hat, Widerstand zu leisten. Dann überrollt uns der Krieg und ergreift nicht nur von unseren Ländern und Institutionen Besitz, sondern auch von unseren Seelen. Wenn man den Geist eines Volkes gebrochen hat, ist es ein Kinderspiel, seine Armeen zu schlagen. 

Die Menschen in der Ukraine, die Demonstranten in Russland, leben uns den Weg des barmherzigen Samariters vor. Sie weigern sich, sich ihren Geist brechen zu lassen. Sie leisten auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Ebenen Widerstand. Groß-Erzbischof Sviatoslav Shevchuk von Kiev spricht seinem Volk jeden Tag Trost und Mut zu. Präsident Zelensky hört nicht auf, zu beschwichtigen, zu flehen, zu intervenieren, zu ermutigen und zu verhandeln. Männer und Frauen tun, was unter diesen furchtbaren Bedingungen möglich ist, um einander das Leben zu ermöglichen. Wenn die direkten Opfer dieses ungerechten Krieges sich weigern, der Resignation zu weichen, dann können wir, die wir zwar betroffen, aber keineswegs Opfer dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit sind, nicht weniger tun.

Es ist ein Privileg, in der Lage zu sein, zu helfen und zu heilen. Wir sind nicht hilflos. Wir haben alles, was so vielen unserer Brüder und Schwestern brutal genommen wurde: Möglichkeiten, Ressourcen, Schutz zum Teilen und Zuflucht zum Anbieten. Wenn wir uns ständig ansehen, was wir nicht direkt ändern oder beeinflussen können, werden wir kein einziges Leben retten, keinen Flüchtling beherbergen, kein hungerndes Kind ernähren und keine Bombe oder keinen Schuss abfeuern können. So leben wir nicht wie ein barmherziger Samariter. Dazu gehört es, die Straße zu überqueren.

 

Erik Riechers SAC, 21. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Leben wie ein barmherziger Samariter I

 

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine haben viele Menschen mit den Auswirkungen dieses Krieges auf sie zu kämpfen. Das ist natürlich in Zeiten zu erwarten, die uns zutiefst beunruhigen und mit anhaltenden Unsicherheiten zurücklassen. Aber es gibt auch sehr ungesunde und gefährliche Reaktionen. Zu viele Menschen verbringen viel zu viel Zeit damit, jede noch so kleine Nachricht über die neuesten Entwicklungen zu konsumieren. Interessiert und gut informiert zu sein, ist wertvoll und lobenswert, aber das ist es nicht, was sie tun. Sie werden zu Zuschauern eines Krieges und zu Konsumenten von Nachrichten über diesen Krieg. Das macht sie jedoch nicht zu solidarischen Männern und Frauen. Es hinterlässt bei ihnen lediglich ein immer stärkeres Gefühl der Hilflosigkeit, der Lähmung und der Resignation.

Zum Glück haben wir eine Geschichte für genau dieses Problem. Jesus erzählt sie uns im Lukasevangelium. Es ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Normalerweise beziehen wir uns auf dieses Gleichnis, um zu sagen, dass wir barmherzige Samariter sein sollen, aber wir achten wenig oder gar nicht darauf, was genau diese Art zu leben bedeutet. Diese sehr berühmte Geschichte sagt sehr viel darüber aus, wie wir auf gesunde Weise auf Trauer, Schmerz und Gewalt reagieren können, die uns auf den Straßen des Lebens begegnen.

 1. Wir müssen sehen, was auf der anderen Seite der Straße passiert

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Auf der anderen Seite der Straße ist ein Leben, das sich deutlich von unserem eigenen unterscheidet. Wie der Samariter, der den halb erschlagenen Mann auf der anderen Straßenseite antrifft, dürfen wir nicht vergessen, dass wir am Anfang dieser Geschichte auf der sicheren Seite stehen. Wir werden durch diesen Krieg plötzlich mit Gewalt, Aggression und Tod konfrontiert, aber wir begegnen ihm von der sicheren Seite des Lebens aus, wo wir gut versorgt, sicher und bequem sind. Es ist sehr leicht, uns von unserer Seite des Lebens aus blind für die Realität zu machen, die andere Menschen erleben müssen. Wie in dem Gleichnis kommen wir plötzlich mit einer Welt in Berührung, die uns fremd war, bis die Bilder der Nachrichtensendungen und der sozialen Medien sie in unsere Welt brachten. Jetzt sind wir wie der Samariter mit einer Welt der Gier und Gewalt konfrontiert. Wir sehen deutlich eine Welt, die von Blut, eigennützigen Entscheidungen und schrecklichen Verletzungen geprägt ist. Not und Ungerechtigkeit sind keine vagen Begriffe mehr, sondern harte Realitäten. Und es gibt Menschen, die halb tot auf dem Boden liegen.

Lord Rabbi Jonathan Sacks nennt dies die Gabe der religiösen Vision. Er sagt: »(Religiöse Vision) zeigt dir nicht etwas Neues. Sie zeigt dir die Dinge, die du die ganze Zeit gesehen, aber nie bemerkt hast... Unsere Kultur hat uns eine sehr selektive Sicht gegeben, eine, die vieles um uns herum unsichtbar macht.« (Celebrating Life, S. 3). Das Leben, das wir gelebt haben, hat das, was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, unsichtbar gemacht. Obwohl in der Welt seit Jahren Kriege toben (man denke nur an Syrien), sind sie klar und deutlich von der Welt getrennt, die wir gestalten und formen. Der Samariter sieht sich mit einer Welt konfrontiert, in der ein Mann, bisher ein völlig Fremder, am Boden liegt und sein Leben ausblutet. Auf unserer Seite der Straße sind wir es gewohnt, über Glauben, Liebe, Gerechtigkeit, Fürsorge, Rettung und Heilung zu sprechen. Aber auf der anderen Seite der Straße sind sie für uns zu einer lebendigen, existenziellen Notwendigkeit geworden. Und nun sind der Glaube, die Liebe, die Gerechtigkeit, die Fürsorge, das Heil und die Heilung, von denen wir so leichtfertig sprechen, zu einer existenziellen Herausforderung geworden.

 2. Wir müssen zulassen, dass das, was wir sehen, uns betroffen macht.

Obwohl wir sehen müssen, was auf der anderen Seite der Straße geschieht, reicht das Sehen nicht aus. Lukas macht diesen Punkt mehr als einmal in dem Gleichnis deutlich. Der Erzähler des Evangeliums weist zweimal darauf hin, dass die Menschen zwar sahen, was auf der anderen Seite der Straße geschah, aber das hinderte sie nicht daran, einfach weiterzugehen. »Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber«.

Das Sehen und Vorbeigehen ist eine große Versuchung. Wir können uns die Nachrichten ansehen und dann einfach vorbeigehen und zu unseren bevorzugten Beschäftigungen und Vergnügungen übergehen. Was wir sehen, braucht uns nicht zu berühren, uns nicht zu bremsen oder unseren Kurs zu ändern.

Aus den Quellen des Samariters zu leben, bedeutet, diesen Kreislauf des Sehens und Vorbeigehens zu durchbrechen. »Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid«. Er lässt zu, dass das, was er gesehen hat, ihn bewegt, ihn berührt.

Wir müssen einen Moment innehalten und ein Detail dieser Geschichte zur Kenntnis nehmen, das von großer Bedeutung ist. Niemand in dieser Geschichte geht in die Welt hinaus, um Leid, Ungerechtigkeit, Brutalität und Opfer von Gewalt zu suchen. Keiner geht mit der Absicht hinaus, diese Begegnung zu suchen. Lukas weist darauf hin, dass der Priester nur zufällig dieses Weges entlang kam. Der Samariter ist auf der Reise, sein Ziel und seine Route waren sicherlich von anderen Überlegungen bestimmt. Aber er lässt es zu, dass etwas den reibungslosen Ablauf seines Lebens unterbricht. Das Gleiche gilt für uns in diesem Moment. Keiner von uns hatte vor, einen Krieg zu erleben, geschweige denn, ihn zu suchen. Aber jetzt, da er stattfindet, stehen wir vor der Frage aller Überraschungen im Leben: Lassen wir es zu, dass er den reibungslosen Ablauf unserer Pläne und die Wege, die wir normalerweise nehmen würden, unterbricht, oder ärgern wir uns nur darüber, dass er die sonst unbestrittene Bequemlichkeit unseres Lebens stört?

Die Fortsetzung folgt

 

Erik Riechers SAC, 18. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Mütter

 

In diesen Wochen des Schreckens, der über die Ukraine eingebrochen ist und immer furchtbarer wird, erschüttern uns täglich die Bilder der Mütter und Großmütter. Sie zerreißen uns schon beim Anblick das Herz, wie viel mehr leiden diese Frauen in der existentiellen Not, die über sie und ihre Kinder gekommen ist.

Da fand ich diese Zeichnung von Käthe Kollwitz über »Mütter«, entstanden kurz nach dem 1. Weltkrieg. Schützen, halten, behüten, ja an sich pressen – all das fließt aus den Herzen dieser Mütter. Not und Angst sind groß, es gibt keinen Grund zu lächeln, für niemanden.

 

 

Später verwarf sie dieses Blatt und druckte eine andere Fassung aus:

 

 

Die Mütter bilden nun gewissermaßen eine Festung, ihre Körper vereinen sich zu einer Schutzmauer für ihre Kinder, die leben sollen und nicht geopfert werden dürfen.

In ihrem Tagebuch schrieb sie:

»Ich arbeite die ›Mütter‹. [...] Gestern den Versuch beschlossen, die Kriegsblätter in Steindruck umzuarbeiten. [...] Ich habe die Mutter gezeichnet, die ihre Kinder umschließt, ich bin es mit meinen eigenen leibgeborenen Kindern, meinem Hans und meinem Peterchen. Und ich habe es gut machen können.«  - Käthe Kollwitz, Tagebücher, 6. Februar 1919    (Bilder und Zitat: www.kollwitz.de)

Dieser Tag war Peters Geburtstag; er war 18-jährig freiwillig dem Aufruf des Kaisers zum Kriegsdienst gefolgt, gegen ihren Willen, und schon im Oktober 1914 in Belgien gefallen. Fünf Jahre nach seinem Tod konnte sie es überhaupt angehen, war es in ihrer bleibenden Trauer möglich, es »gut (zu) machen«.

Sie wurde zur Pazifistin, gestaltete 1924 das berühmte Plakat »Nie wieder Krieg!«, verarbeitete über Jahre hinweg ihren Schmerz in den Skulpturen »Trauerndes Elternpaar«. Dieses Paar wurde zum Denkmal auf dem Soldatenfriedhof bei Dixmuiden in Belgien.

Käthe Kollwitz verkörpert für mich die Leidenskraft, aber auch Ausdauer und Ausdruckskraft einer Mutter, die ihr Mutterherz weder leugnet noch stählt, sondern mit diesem Herzen lebt, so schwer es auch ist.  

Der Kreuzweg Jesu ist gesäumt von solchen Frauen. Andreas Knapp hat über diese Begegnungen einfühlsame Gedichte geschrieben. Eines davon lege ich Ihnen ans Herz:

 

Jesus begegnet seiner Mutter

 

schon längst abgenabelt

und bleibt doch für immer

Fleisch von ihrem Fleisch

 

Transfusion des Schmerzes

für die Übertragung genügt

weniger als ein Blick

 

unbegrenzt

die Reichweite

mütterlicher Liebe

 

                        aus: Mit Pauke und Salböl, Gedichte zu Frauen der Bibel

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Die zwei Freunde

 

Heute schenke ich Ihnen eine kurze Geschichte. In einer Zeit, wo so viel Schreckliches und Verletzendes gerade geschieht, ist es wichtig zu fragen, woran wir festhalten werden.

 

Zwei gute Freunde gingen einst gemeinsam am Meer spazieren. Über irgendetwas gerieten sie in Streit, sie wussten bald schon gar nicht mehr weshalb. Doch in diesem Streit kam dem einen eine Bemerkung über die Lippen, die den Freund tief verletzte. Betrübt, aber ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm dieser einen Stock und schrieb damit in den Sand: »Mein bester Freund hat mich heute verletzt.« Eine ganze Weile saßen sie schweigend da und blickten von ihrer Düne auf das Wasser. Es war Wind aufgezogen, der begann über die Sanddünnen zu fegen und die Schrift langsam aber sicher zu verwehen. Als auch die letzte Spur verweht war, zog sich der Schreiber langsam aus, um im Meer schwimmen zu gehen.

Plötzlich wurde er von einer starken Strömung erfasst. Verzweifelt schwamm er gegen den Sog an, doch er schaffte es nicht, sich alleine wieder herauszuretten. Da stürzte sein Freund ohne nachzudenken ins Wasser, kämpfte sich zu ihm durch und konnte ihn mit letzter Kraft retten. Schwer atmend lagen beide am Strand. Nach einiger Zeit erhob sich der Gerettete mit den wenigen Kräften, die ihm schon wieder zur Verfügung standen, und begann in den Felsen zu hauen:

»Heute hat mein bester Freund mir das Leben gerettet.«

Der Freund sah ihm zu und fragte verwundert: »Als ich dich verletzt habe, hast du es in den Sand geschrieben und nun schlägst du es in Stein, weshalb?« »Wenn mir Schmerzhaftes widerfährt«, antwortete sein Freund, »möchte ich dies in den Sand schreiben, damit die Winde der Vergebung und die Wogen des Verstehens eine neue Geschichte entfalten können. Doch wenn ich Liebe und Freundschaft erfahre, möchte ich es in Stein gravieren, damit es über alle Zeiten, vom Winde umweht, vom Wasser umspült, weiterleben möge.«

 

Wenn wir auf diese Wochen und Monate zurückblicken: Was werden wir in den Sand schreiben? Was werden wir in den Stein meißeln?

 

Erik Riechers SAC, 11. März 2022

 

Nächster Abschnitt

»Kraft und Würde sind ihr Gewand, sie spottet der drohenden Zukunft.« (Sprüche 31, 25):

Der Gang der aufrechten Frau – selbstbewusst und schön

 

Wie viele Frauen sind derzeit auf der Flucht vor dem menschenverachtenden Krieg in der Ukraine! Sie müssen ihre Männer zurücklassen und versuchen, ihre Kinder, die Alten und sich selbst in den Westen zu retten. Die Bilder der in Berlin und anderswo Ankommenden treiben mir die Tränen in die Augen und ringen mir gleichzeitig Bewunderung ab. Auch wenn viele gebeugt sind, steckt so viel Stärke in ihnen. Mutig und tapfer ergreifen sie die einzige Möglichkeit, die sie zum Überleben sehen.

Seit über 100 Jahren ist der 8. März der Internationale Frauentag. Im Jahre 1975 machten ihn die Vereinten Nationen zum »Tag für die Rechte der Frau und den Weltfrieden«. Immer schon und überall sind es besonders die Frauen, die in ihrer Sorge für das Leben besonders von Kriegen niedergedrückt werden. Sie tragen mehrfach das Kreuz: in Familien verlieren sie ihre Männer an den Krieg und versuchen, ihren Kindern irgendwo und irgendwie Schutz und Leben zu ermöglichen. Welch eine Last!

Von einer niedergedrückten, ja verkrümmten Frau erzählt uns auch Lukas. Jesus fiel sie am Sabbat in der Synagoge ins Auge und ins Herz. Er sah, dass sie nicht mehr aufrecht gehen konnte. »Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.« (Lk 13, 12 f) Nun kann diese Frau Sabbat feiern. Aufrecht und sich ihrer selbst bewusst kann sie den Gott des Lebens loben und preisen. Wir Menschen sind zum aufrechten Gang berufen. Gott will uns selbstbewusst auf unseren Füßen stehend. Er will, dass wir alle als seine Partner die Erde gestalten. Daraus schöpfen gerade jetzt viele die Kraft, aufzubrechen und auf helfende Herzen und Hände in der Fremde zu vertrauen. Sie zeigen uns ihre Würde in ihrem Aufbruch für das Leben.

Kürzlich sah ich einen Beitrag über die mexikanische Halbinsel Yukatan, der von Frauen erzählte, die in aller Einfachheit versuchen, im Einklang mit der Natur zu leben, gerade auch unter Wahrung der Kultur ihrer Ahnen, der Maya. Eine dieser Frauen ist knapp 30 Jahre alt. Sie entwirft und näht Dessous aus recycelten Stoffen, die sie auf natürliche Weise färbt. Sie präsentiert sie dann in ihrem online-Shop mit einfachen Frauen ihrer Umgebung, nicht mit professionellen Models. Darauf angesprochen, erzählte sie von sich, wie klein und unbedeutend sie sich lange fühlte und wie verwandelnd für sie die Erkenntnis war, dass ihr eigenes Selbstbewusstsein elementar ist für ihre Weise zu leben. Sie musste es üben und nun vermittelt sie es den Frauen, die sie selbst für ihren Shop am Strand fotografiert. Denn, so sagt sie: »Es gibt keine schönere Frau als eine selbstbewusste Frau.«

 

Hilde Domin zitiert einmal den Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola: »Den Kopf hochzuhalten ist das Merkmal des Menschseins.«* Wir müssen ihn nicht krampfhaft hochhalten, mit zusammengebissenen Zähnen und immer im Widerstand. Wir können ihn gewissermaßen leicht und natürlich hochhalten, weil wir uns unseres Geliebtseins und unserer Würde bewusst sind. Angeschaut von Gott können wir einander anschauen und uns in unserer Schönheit wahrnehmen. So können wir würdevoll einander begegnen - im Alltag und an den Grenzen!

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. März 2022

 

* Hilde Domin: Gesammelte Gedichte, S. 225

 

Nächster Abschnitt

»Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht.«

 

HERR, höre mein Bittgebet, vernimm doch mein Flehen, in deiner Treue antworte mir, in deiner Gerechtigkeit! Geh mit deinem Knecht nicht ins Gericht; denn keiner, der lebt, ist gerecht vor dir! Ja, der Feind verfolgte mich, trat mein Leben zu Boden, ließ mich in tiefer Finsternis wohnen wie längst Verstorbene. Daher schwand mir mein Lebensgeist, mein Herz erstarrt in meinem Innern. Ich gedachte der Tage der Vorzeit, erwog all deine Taten, ich sinne nach über das Werk deiner Hände. Ausgebreitet habe ich meine Hände zu dir, wie erschöpftes Land ist vor dir meine Seele. Eile, HERR, gib mir Antwort, denn es erlischt mein Lebensgeist! Verbirg vor mir nicht dein Angesicht, sonst gleiche ich denen, die hinabfahren in die Grube. Lass mich am Morgen deine Huld erfahren, denn auf dich vertraute ich! Lass mich den Weg erkennen, den ich gehen soll, denn zu dir erhob ich meine Seele! Entreiß mich meinen Feinden, HERR zu dir nehme ich meine Zuflucht! Lehre mich tun, was dir gefällt, denn du bist mein Gott! Dein guter Geist leite mich auf ebenem Land. Um deines Namens willen, HERR, wirst du mich am Leben erhalten, wirst du mich herausführen in deiner Gerechtigkeit aus der Drangsal meiner Seele. In deiner Huld wirst du meine Feinde vernichten, du wirst zugrunde gehen lassen alle Bedränger meiner Seele, weil ich dein Knecht bin.

(Ps 143)

Der Krieg ist uns nahe gekommen.

Er tobt in unserer Nachbarschaft und trifft auch viele Familien, die bei uns leben.

Er erschüttert uns alle und verändert uns.

Maßstäbe verschieben sich, Prioritäten werden neu gesetzt. Und etwas Neues ist im Land und in den Herzen der Menschen in Bewegung. Das erinnert mich an die Worte des Propheten Jesaja: »Siehe, nun mache ich etwas Neues. /Schon sprießt es, merkt ihr es nicht.«

So erleben wir, dass Menschen sich im Gottesdienst spontan erheben, wenn ein Gebet für die Menschen in der Ukraine angesagt wird. Niemand muss sie dazu auffordern – sie erheben sich zu Gott und beten für den Frieden in aufrechter Haltung. Sie sind sich der Dringlichkeit bewusst und dessen, was sie selbst vermögen und was nicht.

Wir erleben, dass Papst Franziskus Glaubende und Nichtglaubende dazu aufruft, am Aschermittwoch gemeinsam für den Frieden zu beten: »Nun möchte ich alle ansprechen, Glaubende und Nichtglaubende. Jesus hat uns gelehrt, dass man auf die teuflischen Einflüsterungen und die teuflische Sinnlosigkeit der Gewalt mit den Waffen Gottes antwortet: mit Gebet und Fasten. Ich lade alle dazu ein, am kommenden 2. März, Aschermittwoch, einen Tag des Fastens für den Frieden abzuhalten.« (www.vaticannews.va)

Solidarität und Herzensnähe zeigen sich auf vielfältige Weise in diesen Tagen des Ausgeliefertseins und Schreckens unschuldiger Menschen vor brutaler Gewalt.

Sie zeigen sich auch in der Hinwendung zum wahren Herrn des Lebens, zu dem wir uns so oft selbst erheben wollten. Noch nie habe ich in Kommentaren auf Instagram so oft vom Beten gelesen. Vielleicht ahnen wir nur eine Spur von Gott - doch folgen wir dieser Spur, die aus der Tiefe unserer Herzen aufsteigt. Dann bekommen uralte Gebete neuen Sinn, sie schenken uns eine Sprache, die uns oft fehlt in dieser großen Krise. Die Psalmen Davids, der Bedrohung und Krieg kannte, geben auch unserem Beten und Hoffen eine Stimme.

Beten wir also für die Menschen in der Ukraine und für uns alle mit der großen Hoffnung im Herzen, dass Gott bewirkt, was wir nicht vermögen.

Ich will dir danken mit meinem ganzen Herzen, vor Göttern will ich dir singen und spielen.

Ich will mich niederwerfen zu deinem heiligen Tempel hin, will deinem Namen danken für deine Huld und für deine Treue. Denn du hast dein Wort größer gemacht als deinen ganzen Namen.

Am Tag, da ich rief, gabst du mir Antwort, du weckst Kraft in meiner Seele.

Dir, HERR, sollen alle Könige der Erde danken, wenn sie die Worte deines Munds hören.

Sie sollen singen auf den Wegen des HERRN. Die Herrlichkeit des HERRN ist gewaltig.

Erhaben ist der HERR, doch er schaut auf den Niedrigen, in der Höhe ist er, doch er erkennt von ferne.

Muss ich auch gehen inmitten der Drangsal, du erhältst mich am Leben trotz der Wut meiner Feinde. Du streckst deine Hand aus, deine Rechte hilft mir.

Der HERR wird es für mich vollenden. HERR, deine Huld währt ewig. Lass nicht ab von den Werken deiner Hände!

(Psalm 138)

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. März 2022

 

Nächster Abschnitt

Ein Hügel voller Kreuze

 

Seit dem Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine und dem Leid, dem Schmerz, der Zerstörung und dem Tod, die er mit sich gebracht hat, habe ich zwei Dinge getan. Erstens habe ich mich einem beliebten Abschnitt aus dem Propheten Jesaja zugewandt.

Denn für den Machtlosen warst du eine Festung, eine Festung für den Armen in seiner Not, eine Zuflucht vor dem Unwetter, ein Schatten vor der Hitze, denn das Schnauben der Tyrannen ist wie ein Unwetter an einer Mauer, wie Hitze in trockenem Land. Das Lärmen der Fremden demütigst du; wie die Hitze durch den Schatten der Wolke, dämpft er den Gesang der Tyrannen.

Jes 25, 4-5

Die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja spricht von einem der innigsten Wünsche Gottes für sein Volk. Er möchte uns wiedergeben, was uns genommen oder verloren wurde, sei es Schutz, Sicherheit oder Trost.

Als ich diese Worte las und dann mit ihnen betete, brachten sie eine Geschichte in meinem Herzen wieder zum Vorschein. Viele Jahre lang begleitete ich einen älteren Mann namens Vitus bis zu seinem Tod. Jeden Freitagnachmittag besuchte ich ihn, und er erzählte mir früher oder später die Geschichten aus seiner Heimat.

Vitus war ein Sohn Litauens, eines kleinen baltischen Landes, das im Zweiten Weltkrieg seine Unabhängigkeit verlor. Das Land wurde von der Nazi-Tyrannei und später vom sowjetischen Terror terrorisiert. Am 14. und 15. Juni 1941 verfrachteten die Russen 38.000 litauische Führer, Intellektuelle und Bauern in Viehwaggons und deportierten sie nach Sibirien. In den nächsten zehn Jahren wurde jeder zehnte Litauer nach Sibirien deportiert. Die Kirche wurde in einem Land, das zu 85 % katholisch war, brutal verfolgt. Die Bischöfe wurden alle inhaftiert oder getötet. Die Hälfte der Kirchen wurde zerstört, geschlossen oder geschändet. Die Hälfte des Klerus wurde getötet, inhaftiert oder ins Exil geschickt. Alle religiösen Orden, Veröffentlichungen und Institutionen wurden unterdrückt. Es war eine radikale Unterwerfung eines Volkes, seiner Kultur, seiner Sprache und seines Glaubens.

Dennoch zeigten Vitus und seine Landsleute eine bemerkenswerte Reaktion auf die zehn Jahre dauernde Terrorkampagne. Sie teilten das Herz Gottes und sehnten sich nach Wiederherstellung. Sie hofften, dass die Freiheit zurückkehren würde, dass die Religion befreit und die Nation wiederhergestellt würde. Am eindrucksvollsten war, dass sie diese tiefe Hoffnung auf Wiederherstellung in der Form des Kreuzes zum Ausdruck brachten.

Im Norden des Landes wurde der Berg der Kreuze geboren. Es ist ein fast unvorstellbarer Anblick. 55.000 Kreuze jeder Größe und Art wurden auf diesem Hügel errichtet und bedeckten jeden Quadratzentimeter als Mahnmal für alles, was verloren war, und als Plädoyer für die Wiederherstellung. Im Frühjahr 1961 ließ die sowjetische Regierung alles niederreißen, die Holzkreuze verbrennen, die Eisenkreuze einschmelzen und die Steinkreuze begraben. Über Nacht gab es neue Kreuze. Die Sowjets versuchten alles, fluteten sogar das Feld und sperrten alle Straßen, und trotzdem kamen neue Kreuze. Schließlich gaben sie 1985 auf, und kurz darauf herrschten in Litauen wieder Freiheit und Demokratie.

Wenn ich die Gesichter des ukrainischen Volkes in den Nachrichten sehe, denke ich an Vitus. Ein neues Kapitel des Leidens wurde aufgeschlagen, und eine neue Generation von Gläubigen wird nun darum kämpfen, die Geschichte zu leben, die aus dem Glauben, der Hoffnung, dem Mut und der Beharrlichkeit geboren wurde. Vor allem aber sehe ich in diesen Männern und Frauen den Einfluss eines Herzens, das so geformt wurde, dass es sich nach Wiederherstellung sehnt.

Im Laufe unseres Lebens kennen wir die Sehnsucht nach Wiederherstellung. Wie jeder Mensch haben wir angesichts der Prüfungen und Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, Entscheidungen zu treffen. Wir erleben Enttäuschungen. Wir kennen den ungestillten Hunger des Herzens. Auf den Landschaften unseres Lebens werden wir auch unseren eigenen Kreuzberg errichten müssen. Immer wieder müssen wir ein Zeichen des Glaubens an die Wiederherstellung all dessen setzen, was uns im Moment verloren gegangen ist. Immer wieder müssen wir auf einen Gott setzen, der uns all das wiedergibt, was schön, wahr und gut war, aber auch für kurze Zeit verloren ging.

Der Hügel der Kreuze in Litauen war ein starkes Zeichen für die Behörden, dass der gegenwärtige Augenblick nicht den Sinn der Zukunft ausmacht. Der Glaube dieser Stunde ist ein klares und starkes Zeichen an die Macht des Todes, dass diese gegenwärtige Stunde des Kummers und der Trauer, des Verlustes und der Traurigkeit nicht den Sinn all unserer Zukünfte ausmacht. Jenseits des Hügels der Kreuze gab es Freiheit. Jenseits des Hügels der Kreuze gab es Wiederherstellung. Über diese Tage des Verlustes hinaus wird es Wiederherstellung geben.

Tief im Herzen unseres Glaubens liegt der Wunsch, dass alles, was Leben spendet, aus den Klauen des Todes befreit wird. Noch tiefer im Herzen des Glaubens liegt ein noch größeres Geheimnis. Es ist die wunderbare und ehrfurchtgebietende Offenbarung, dass der Grund, warum Gott uns vom Tod zum Leben zurückführt, der ist, dass er das Leben genauso sehr zurückhaben will wie wir. Die Worte des Propheten Jesaja haben uns in dieser Überlegung hineingeführt. Lassen wir uns von seinen leuchtenden Worten herausführen. »Und an jenem Tag wird man sagen: Seht, das ist unser Gott, auf ihn haben wir gehofft, dass er uns hilft! Das ist der HERR, auf ihn haben wir gehofft. Lasst uns jubeln und froh sein über seine Hilfe!« (Jes 25,9)

Erik Riechers SAC, 28. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

»Wo hältst du dich auf?«

 

Ich wurde von Erzbischof Joseph MacNeil geweiht. Er war für mich ein Vorbild für das, was in den biblischen Geschichten von einem Hirten erwartet wird: gütig, bescheiden, großzügig im Umgang mit seiner Zeit, volksnah und aufrichtig glücklich über die Begegnung mit den Menschen, die ihm anvertraut waren. In den Jahren nach meiner Priesterweihe bin ich ihm oft über den Weg gelaufen. Gelegentlich war es in der Gemeinde, wenn er kam, um die Kinder zu firmen. Aber am häufigsten begegneten wir uns in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Und jedes Mal, wenn wir uns dort trafen, nahm er sich die Zeit, mir zu sagen: »Ich bin immer froh, einen Priester an einem Ort wie diesem zu treffen.«

Leider habe ich nie daran gedacht, dieses Kompliment zu erwidern. Ich wünschte mir aus tiefstem Herzen, ich hätte zu ihm gesagt: »Ich bin immer froh, an einem Ort wie diesem einen Bischof zu treffen!« Ich bin seit fast 33 Jahren Priester, aber er ist der einzige Bischof, den ich je in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Suppenküchen und sogar in einem Gefängnis getroffen habe.

Im Johannesevangelium stellen zwei Jünger von Johannes dem Täufer Jesus die Frage: »Wo hältst du dich auf?« Der Ort, an dem Jesus sich aufhält, ist kein geografischer Ort, sondern ein Ort der Überzeugung. Der Ort, an dem Jesus bleibt, an dem er verweilt und ausharrt, der Ort, den er sich weigert zu verlassen, ist die felsenfeste Überzeugung, dass alles, was für das Leben der von Gott Berufenen notwendig ist, bereits gegeben ist und in uns ist.  Er weiß, was in uns ist, und er benennt es: »Das Reich Gottes ist in euch« (Lk 17,21). Diese Überzeugung ist der Ort, an dem Jesus bleibt, denn es ist der Ort, an dem unser Gott immer bleibt. Unser Gott hält unerschütterlich daran fest, dass wir geliebt und gewollt sind, dass unser Leben Wert, Würde und Sinn hat. Wir Menschen zweifeln oft daran, aber Gott steht dazu. Jesus sieht in den Schwachen, den Armen, den Kranken, den Geknechteten und Zerbrochenen Seligkeit, Salz und Licht (vgl. Mt 5). Deshalb bleibt er bei ihnen, damit sie die Kraft der Seligkeit, des Salzes und des Lichts, die sie in sich tragen, freisetzen, diese Gaben als Beitrag zum Leben der Welt entfalten und es dann wagen, sie um des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung willen auszuleben.

Kürzlich faszinierte mich eine Passage in einem Buch von Marco Garzonio, einem italienischen Journalisten, Psychologen, Essayisten und Akademiker sowie Präsidenten der Ambrosianum Cultural Foundation in Mailand. Er wies darauf hin, dass nach der Tradition der Mailänder Kirche das Oberhaupt der ambrosianischen Kirche immer arm war. Dies wurde als so wichtig erachtet, dass der Erzbischof von Mailand keine Kirche für sich allein hat. Nicht einmal den Duomo, die Kathedrale. Der Dom gehört nämlich der Veneranda Fabbrica (Ehrwürdige Fabrik des Mailänder Doms), einer autonomen Vereinigung, die eifersüchtig auf ihre Statuten und die Unabhängigkeit ist, die sie seit Jahrhunderten genießt. Sie ist sogar unabhängig vom Heiligen Stuhl.

Aber auch wenn der Erzbischof nicht die Pracht der Türme, die Ausstattung, die Werke und die Schätze des Doms besitzt, so genießt er doch ein altes Privileg: Er ist Pfarrer des Ospedale Maggiore, des Allgemeinen Krankenhauses. Das Ospedale Maggiore wird als »Casa Grande« bezeichnet, als das »große Haus«, das die Kranken der Stadt aufnimmt und beherbergt. Dies ist der Ort, an dem die Menschen ihren Erzbischof erwarteten, und somit auch der Ort, an dem sie erwarteten, ihn zu finden. Es war der Ort, an dem sie von ihm erwarteten, dass er wie ein Hirte inmitten des verletzlichsten Teils der Herde lebte, in der Zitadelle des Leidens und des Schmerzes. Oder andersherum ausgedrückt: Wenn man die Orte findet, an denen die Schwachen leben, die Krankenhäuser, die Altenheime, die Behinderteneinrichtungen, die Vorstadtghettos und die Gefängnisse, dann findet man auch den Erzbischof.

Auf diese Weise übersetzten die Mailänder das Evangelium in eine konkrete Lebensweise. Sie verstanden ihren Hirten als jemanden, der zu einem echten und existentiellen Dienst berufen war, und erkannten klar die genaue Natur seiner Verantwortung. Der Hirte war wie Jesus, der gute Hirte, der in einem Bund lebte, in einer großen Beziehung des Dialogs und der Partnerschaft. Er lebte in dieser Beziehung mit den Schwachen und Bedrängten, die aber aufgrund ihres Hirten wissen, dass sie auf die Kraft der Fürsprache und der Gegenwart eines Menschen zählen können, der ihnen Linderung und Trost bringt.

Ich glaube nicht, dass dieser biblische Instinkt des Volkes Gottes auf die guten Bürger von Mailand beschränkt ist. Überall auf der Welt sehnt sich das Volk Gottes nach guten Hirten, und es weiß, wo es diese finden möchte. Sie kennen den Ort, an dem sich ihre Hirten aufhalten sollten. Aber oft, viel zu oft, finden sie sie dort nicht. Das macht sie traurig und lässt sie allein, und später wird daraus Wut und Ablehnung, wenn sie merken, wo sich ihre Hirten aufhalten und wie sie ihre Zeit verbringen.

Und deshalb bedauere ich immer noch, dass ich Erzbischof MacNeil in diesen Krankenhäusern, Pflegeheimen, Suppenküchen und in diesem Gefängnis nie gesagt habe: »Ich bin immer froh, einen Bischof an einem Ort wie diesem zu treffen!«

Erik Riechers SAC, 25. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Leben in Spannungen

 

Vor vielen Jahren erzählte mir eine Frau sehr von sich überzeugt, dass ihr Bruder nie zu den Eltern komme, wenn sie da ist, weil er wisse, was sie ihm über seine Lebensweise vorhalten würde. Sein »Fehler«: Er ist geschieden. In ihrem konservativ-katholischen Weltbild war das schlecht und durfte nicht sein. Sie glaubte genau zu wissen, was gut und böse ist und sie schien sehr zufrieden mit ihrer Weise, damit umzugehen.

Wir kennen ein ähnliches Verhalten, wenn wir nach einem Versäumnis oder einer Fehlentscheidung uns selbst abschreiben und uns einfach als zu dumm oder was auch immer abtun.

Warum fällt es uns so schwer, Spannungen auszuhalten? Diese Frage stellt sich mir immer wieder. Wir neigen dazu, Schwarz-Weiß-Lösungen zu suchen und zu bevorzugen, doch damit werden wir der Wirklichkeit in all ihren Grautönen nicht gerecht. Wir sind schnell erschöpft von den Realitäten des Lebens und neigen zum Jammern. Wir tun uns schwer, die verschiedenen und oft sehr unterschiedlichen Facetten unseres Lebens zu akzeptieren und auszuhalten, dass es belastende, schwierige Bereiche gibt und gleichzeitig schöne und leichte Seiten. Wir mühen uns sehr damit, anzunehmen, dass in unserem je eigenen Leben alles in seiner ganzen Spannbreite enthalten ist.

Ist Spannung nicht ein Lebensprinzip? Ausgespannt sind wir zwischen Geburt und Tod. Eingespannt sind wir in Beziehungsgeflechten, in Aufgaben und Pflichten.

Ohne die Anspannung unserer körperlichen Kräfte und geistigen Fähigkeiten brächten wir nichts zuwege. Wir üben von Anfang an, unsere Muskeln anzuspannen. Wir wenden uns der Welt zu, indem wir gespannt sind darauf, was auf uns zukommt, wie etwas sich entwickelt oder aussieht, ob etwas geschieht.

Ohne die Spannungen des Lebens gäbe es gar keine Geschichten! 

Spannung ist etwas Elastisches, Lebendiges und lebt vom Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Wer nur immer angespannt ist, wird Schmerzen bekommen. Körperlich kennen wir das alle. Muskeln, die zu lange angespannt sind, werden hart und steif. Und wenn unsere Sorgen, unser Ehrgeiz oder unser Perfektionismus uns immer in Anspannung halten – wir sagen ja auch: »im Griff haben« -  werden wir ebenfalls unbeweglich und einseitig. Es ist, als würden uns Scheuklappen wachsen und ganze Dimensionen unseres Lebens ausblenden.

Auf der anderen Seite: Wer am liebsten immer alles schön entspannt haben möchte, leicht und locker, fluffig sozusagen, wird schwerlich reifen, weil er versucht, den Herausforderungen auszuweichen.

Die biblischen Botschaften dagegen halten die vielfältigen Spannungsbögen des Lebens nicht nur aus, vielmehr erzählen sie davon, dass unser Gott genau in ihnen zu erfahren ist. Darum kann Gotthard Fuchs schreiben:

»Authentische Spiritualität halbiert die Wirklichkeit nicht und nimmt auch die Bitterstoffe des Alltäglichen als Einladung zu Wandlung und Wachstum.« Er weist darauf hin, dass es zur Reifung gehört, »auf die Rosinenpickerei zu verzichten und die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen«. (aus: »Mut-Proben«, Patmos 2021, S. 108-109)

Zwischen dem einseitigen, harten (Ver-)Urteilen anderer oder unserer selbst und kindischen Verwöhnvorstellungen liegt die ausgespannte Fülle unseres Lebens. Betreten wir sie weise und mutig. Und werden wir sanft, so wie ich es der Frau damals gegenüber ihrem Bruder gewünscht hätte. Um in Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu wachsen und zu reifen, brauchen wir Sanftmut, jene »höchst kraftvolle, spannungsstarke Haltung«. (a.a.O., S. 81) 

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Ein Weg der Erneuerung

 

Kürzlich erlebte ich eine Liturgie, in der pompöse Grandiosität im Vordergrund stand. Von Anfang an lag der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit nicht auf dem Wort und nicht auf der Gemeinschaft beim Gebet, sondern auf dem Zelebranten. An einer Stelle hob ein Messdiener tatsächlich den Mantel des Zelebranten hoch und trug ihn, während er um den Altar herumging, um ihn zu beweihräuchern.

Sofort kam mir ein biblisches Wort in den Sinn. »Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler. Denn sie lieben es, in den Synagogen und an den Straßenecken zu stehen und zu beten, damit sie von anderen gesehen werden.« (Mt 6, 5) Die selbstbezogene Welt, die Jesus so sehr fürchtete, ist auch unter uns heute zu finden.

Ich fragte mich, wo Jesus jemals so handeln würde. Wo würde er einen anderen Menschen auf Zehenspitzen um ihn herumschwänzeln lassen und so den anderen auf die Rolle eines Dieners, wenn nicht gar eines Sklaven reduzieren und erniedrigen? Der Jesus der Evangelien entledigt sich seiner Kleider, gürtet sich zum Dienst, kniet auf dem Boden und wäscht die Füße.

Im Johannesevangelium weiht uns der Evangelist in das Geheimnis Jesu ein: »Jesus, der wusste, dass der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte, stand vom Abendmahl auf.« (Joh 13, 3)

Jesus wusste, dass er das Vertrauen seines Vaters genoss, weil Gott alles in seine Hände gelegt hatte. Jesus wusste, wer er war, vor Gott und vor den anderen. Er wusste, woher er kam und wohin er ging. Das ist das Geheimnis, denn dann gibt es keinen Grund für Aufgeblasenheit und Selbstverherrlichung. Das sind immer die Instrumente eines Herzens, das seine Oberflächlichkeit und Leere kaschieren will. Solche Herzen, die nicht wirklich wissen, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie gehen, greifen zu Prunk und Pomp, weil sie die Tatsache verschleiern müssen, dass sie hohl sind.

Lippenbekenntnisse zum Evangelium werden uns in der Stunde der Krise nicht retten. Der Weg der Erneuerung wird mehr erfordern als eine bessere Show. Der Ruf dieser Tage ist so alt wie die biblische Geschichte. Wir müssen von einem Christentum der Gewohnheit und des Brauchs zu einem Christentum der Überzeugung, des Nachdenkens, der Wahl und der Entscheidung übergehen.

Überzeugung ist mehr als Gewohnheit. Sie wird aus den inneren Prozessen des tiefen Herzens geboren, das sich durch das wirkliche Leben kämpft, bis es zu einem Ergebnis kommt, mit dem es leben kann. Man kann immer erkennen, wann eine Überzeugung geboren wird. Es ist der Moment, in dem wir von dem, was wir sehen, erleben und erfahren, nicht nur berührt, sondern bewegt werden. Wenn wir nicht zu irgendeiner Handlung bewegt werden, und sei sie noch so klein, ist es keine Überzeugung.

Nachdenken ist der Moment, in dem wir in die Tiefe gehen, in dem wir nach dem Sinn und Zweck unseres Tuns fragen. Im Gegensatz zur Gewohnheit, die durch gedankenlose Wiederholung einfach den Status quo aufrechterhält, stellt die Reflexion Fragen nach der wahren Bedeutung des Geschehens.

Zu wählen ist ein unvermeidlicher Teil des authentischen Glaubens. Wir haben uns daran gewöhnt, einfach den Glauben zu übernehmen, der uns von der Generation vor uns weitergegeben wurde, ohne dass wir wirklich eine Wahl getroffen haben. Wir haben uns auf das Konzept des Erbes verlassen und nicht auf eine persönliche Entscheidung. Dieser Prozess ist zusammengebrochen. Eine authentische Verwendung des Wortes »Tradition« würde bedeuten, dass wir es als Verb und nicht als Substantiv verwenden. Tradition ist der Akt des Weitergebens und einen Grund zu geben, sich für das zu entscheiden, was uns wertvoll und lieb ist. Wir haben sehr darauf bestanden, dass die Menschen glauben sollen, aber welchen Grund geben wir für diese Entscheidung an? Welche Geschichten erzählen wir darüber, wie wir dazu gekommen sind, den Weg Jesu, den Weg des Evangeliums, zu wählen? Unter all den Chancen und Möglichkeiten, die sich den Menschen in der Welt bieten, ist der Weg des Glaubens eine Wahl, die wir treffen können. Er ist nicht unvermeidlich. Die Zeiten, in denen sozialer Druck unsere Kirchen voll hält, sind längst vorbei. Wenn Menschen kommen, dann nur, weil sie sich dafür entscheiden.

Die Entscheidung ist der Moment, in dem wir tatsächlich die Wahl treffen, die unser Leben, unser Handeln und unser Verhalten leiten und lenken wird. Es geht nicht um Stimmungen und Gefühle, sondern darum, eine Haltung einzunehmen. 

Das Ergebnis all dessen findet sich in einer wertvollen Zeile des Johannesevangeliums: »Jesus, der wusste, dass der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehren würde, stand vom Abendmahl auf.« (Joh 13, 3) Für Jesus hatte der Glaube mit der Überzeugung, des Nachdenkens, der Wahl und der Entscheidung zu tun. Das könnte auch der Weg unserer Erneuerung sein.

 

Erik Riechers SAC, 18. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Worte tragen Leben

 

Immer wieder lese ich in diesen Wochen in der Biografie von Hilde Domin. Mir wird dabei bewusst, wie viel Leben sie schon gelebt hatte, bevor die Worte ihrer unvergleichlichen Lyrik begannen, aus ihr herauszuwachsen. Dabei denke ich nicht nur an Lebenszeit; nein, ihr Leben war durch äußere und persönliche Umstände unglaublich dicht in einer großen Spannbreite von Lebensgenuss und Liebe bis zu Flucht, Verlusten, Heimatlosigkeit und tiefem Schmerz.

Sie nahm alles sensibel und intensiv wahr und gab ihm eine Sprache, vor allem in Briefen. Doch als alles ihr wegzubrechen schien, suchten sich neue Worte Bahn, Gedichte brachen förmlich aus ihr heraus. Sie schrieb später ihrem Bruder über diese Zeit: »Da wurden mir die Gedichte gegeben. Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.« (Marion Tauschwitz; Hilde Domin. Biografie, S. 229)

Mir gibt dies zu denken. Leiden wir nicht alle - bewusst oder unbewusst - an allzu vielen leeren Worten? Gejammer darüber, dass wir nicht endlich wieder leben können wie früher, noch mehr Berieselung, Gerede über Nichtssagendes! Was wäre, wenn wir mehr schweigen würden? Vielleicht könnte dies zur Quelle neuer Worte führen und wir würden uns tastend bewegen zu wahrem Austausch über Tiefes aus unserer Seele und echte Schätze unseres Lebens. Wir könnten üben, wahrhaft zu leben und zu lauschen und zu warten, was in uns wächst und reift. Wir könnten entdecken, wie wenig von all dem ach so Wichtigen wirklich notwendig ist. Und vielleicht könnten wir langsam verstehen und irgendwann einstimmen in das, was Hilde Domin, die Exil und Rückkehr und Heimatlosigkeit kannte, so in Worte goss:

 

Mit leichtem Gepäck

 

Gewöhn dich nicht.

Du darfst dich nicht gewöhnen.

Eine Rose ist eine Rose.

Aber ein Heim

ist kein Heim.

 

Sag dem Schoßhund Gegenstand ab

der dich anwedelt

aus den Schaufenstern.

Er irrt. Du

riechst nicht nach Bleiben.

 

Ein Löffel ist besser als zwei.

Häng ihn dir um den Hals,

du darfst einen haben,

denn mit der Hand

schöpft sich das Heiße zu schwer.

 

Es liefe der Zucker dir durch die Finger,

wie der Trost,

wie der Wunsch,

an dem Tag

da er dein wird.

 

Du darfst einen Löffel haben,

eine Rose,

vielleicht ein Herz

und, vielleicht,

ein Grab.

                       (aus: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, 2009)

 

Rosemarie Monnerjahn, 14. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

Dort stehen, wo wir den Horizont sehen können: Wächter des Morgens II

 

 

Im Buch des Propheten Jesaja gibt es eine sehr kurze Geschichte über die Beziehung zwischen einem Wächter des Morgens und dem Volk.

Von Seir ruft man mir zu: Wächter, wie weit ist die Nacht?

Wächter, wie weit ist die Nacht?

Der Wächter hat gesprochen: Es kommt der Morgen und auch die Nacht!

Wollt ihr fragen, so fragt! Kommt wieder!

 Jes 21,11-12

 Wenn man so will, ist das so etwas wie eine Stellenbeschreibung für Wächter des Morgens.

Die Menschen nähern sich mit einer Frage: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Das ist nicht dasselbe wie die Frage nach der Tageszeit. Wenn die Menschen nach der Länge der Nacht fragen, ist das eine Frage der Angst und der Unsicherheit. Sie wollen wissen, wie lange sie die Dunkelheit noch ertragen müssen und wie lange sie warten müssen, bis das Licht in ihre Welt zurückkehrt.

Doch warum fragen sie den Wächter? Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie ein Wächter arbeitet und wo er oder sie diese Arbeit verrichtet. Die Wächter sind auf den Mauern der Stadt zu finden. Sie stehen dort, weil sie von dort aus sehen können, was sich der Stadt, die sie bewachen, nähert. Daher können sie auch den Horizont sehen, was unerlässlich ist, wenn man die Zeit anhand der Bewegung der Sterne und des Mondes bestimmen will. Er ist auch der Ort, auf den der Wächter schaut, um die ersten Anzeichen von Licht am Rande der Dunkelheit zu erkennen. Die ersten Anzeichen des Morgens sind immer am Horizont zu finden.

In diesem ersten Teil der Geschichte sehen wir eine grundlegende Lebenseinstellung, mit der jeder Wächter des Morgens zu kämpfen hat. Es geht um die Mauern und die Vor- und Nachteile, die sie für unser Leben mit sich bringen.

Der offensichtliche Vorteil einer Mauer ist, dass sie uns Schutz bietet. Die Mauern, die wir errichten, schützen uns und halten das, was bedrohlich und beängstigend ist, draußen und von uns fern. Hinter den Mauern, die wir bauen, fühlen wir uns sicher und geborgen.

Doch genau diese Mauern haben ihren Preis. Der Nachteil von Mauern ist, dass sie uns zwar schützen, uns aber auch den Blick auf die Welt um uns herum versperren. Vor allem schränken sie unseren Weitblick stark ein. Wenn wir uns hinter Mauern verstecken, können wir nicht in die Ferne blicken und vor allem den Horizont nicht mehr sehen. Und wie ich bereits erwähnt habe, können wir dann die Anfänge des neuen Tages nicht sehen. Das bedeutet, dass wir nicht in der Lage sind, zu wissen, wie die Nacht verläuft, daher die Frage des Volkes: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Es bedeutet auch, dass die Menschen hinter den Mauern selbst dann, wenn die ersten Anzeichen von Licht und Hoffnung am Horizont auftauchen, keine Ahnung haben werden, dass sie kommen. Sie werden in der Dunkelheit leben, ohne zu wissen, dass es bereits deutliche Anzeichen dafür gibt, dass es zu Ende geht.

Aber die Wächter des Morgens wissen es. Es ist kein Zufall, dass sie die ersten sind, die es wissen. Es ist das direkte Ergebnis einer Entscheidung, die sie getroffen haben. Sie haben sich entschieden, die Sicherheit der Mauern hinter sich zu lassen, um den Vorteil zu nutzen, einen weiten und umfassenden Blick auf die Welt jenseits der Mauern zu werfen. Das ist eine riskante Angelegenheit. Denn die ersten, die angegriffen werden können, sind die, die man sehen kann, die exponiert sind. Das sind die Wächter des Morgens. Doch sie sind bereit, dieses Risiko einzugehen, um zu sehen, was auf sie zukommt, sei es ein herannahender Feind oder die ersten Strahlen der Morgendämmerung. Sie weigern sich, sich hinter Mauern zu verstecken. Stattdessen wollen sie den Horizont sehen. Ihr Lohn ist, dass sie immer die ersten sein werden, die wissen, dass das Licht aufgeht und die Nacht zu sterben beginnt. Sie sind natürlich die ersten Boten der Hoffnung für die Menschen, die hinter den Mauern kauern. Doch in Psalm 30,6 können wir den Geist kennenlernen, der die Wächter des Morgens erfüllt: »Am Abend ist Weinen, doch mit dem Morgen kommt Jubel.« Sie sind die ersten Augenzeugen des anbrechenden Lichts, und deshalb wird der Jubel, der mit dem Morgen kommt, sie zuerst berühren. 

Ein Wächter des Morgens zu sein bedeutet, eine grundlegende Entscheidung darüber zu treffen, wo wir in der Welt stehen wollen, über den Ort, von dem aus wir unser Leben schmieden und gestalten wollen. Wir sehen es überall um uns herum: Menschen verbarrikadieren sich hinter Mauern des Zorns, in der Hoffnung, dass ihre Empörung über die Korruption und den Missbrauch der Welt ihre Herzen irgendwie vor noch mehr Schmerz schützen wird. Die Menschen bauen hohe Mauern mit Verschwörungstheorien, in der Hoffnung, dass sie vor der Angst der Ungewissheit und der Verwirrung der Welt um sie herum geschützt sind, wenn sie die Welt so erklären können, wie sie sie zu verstehen wünschen. Mauern können mit den Steinen der Gleichgültigkeit errichtet werden, die uns glauben machen, dass wir nicht verletzt werden können, wenn wir uns nicht kümmern. Bei dieser kaltherzigen Berechnung wird jedoch nie der schreckliche Preis der Isolation und Einsamkeit berücksichtigt, den sie nicht nur anderen aufbürden, sondern unter dem sie selbst leiden.

Ganz gleich, wie wir diese Mauern errichten, sie werden uns nicht erlauben, die Zeichen einer neuen Helligkeit, Wärme und eines neuen Lebens zu sehen, die in der Welt entstehen. Früher oder später werden wir spüren, dass die Frage in unseren Herzen brennt: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Doch wenn alle hinter den Mauern sind, wird niemand mehr da sein, der diese Frage beantworten kann.

Deshalb ziehe ich es vor, wie ein Wächter des Morgens zu leben. Ich mag es oben auf den Mauern. Es ist mein Ort, mein auserwählter Platz, von dem aus ich die Welt betrachten möchte. Ich will nicht in Unkenntnis der Ankunft des Morgens leben. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, mich mehr zu exponieren und weniger zu schützen, intensiver zu leben und die mühsame und anstrengende Aufgabe auf mich zu nehmen, den Horizont abzusuchen, weil ich immer zu den Ersten gehören möchte, die von dem Jubel berührt werden, der am Morgen kommt.

Und ich bin bereit, ein Wächter des Morgens zu sein, weil ich spüre, dass es immer jemanden geben muss, der in der Lage ist, die Frage zu beantworten, die aus der Dunkelheit kommt und schwer auf den eingemauerten Herzen lastet: »Wächter, wie weit ist die Nacht?« Sie brauchen Wächter des Morgens, denn ohne sie wird die biblische Geschichte der Hoffnung nicht gehört werden: »Es kommt der Morgen und auch die Nacht! Wollt ihr fragen, so fragt! Kommt wieder!«

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, 11. Februar 2022

 

Nächster Abschnitt

»Ermutigung in Sorge und Leid«

Unter dem segnenden Wunsch »Bleiben Sie behütet!« begegnen wir uns hier seit langem. Wir wussten im März 2020 nicht, wie sich unser Leben unter Covid19 entwickelt und verändert, mit welchen Folgen wir es zu tun haben würden, was diese »Geschichte« mit uns allen macht.

Wir waren uns aber sicher: dass wir in all den Unsicherheiten und Gefahren behütet bleiben mögen, dass über uns Gottes liebender Blick wacht, dass Er größer ist als all unsere Sorgen und Mühen und größer als alles, was auch immer geschehen mag.

Auch ohne die Bedrohung durch einen Virus kennen wir alle die Sorge um Menschen, die uns am Herzen liegen und uns anvertraut sind.

Vor knapp 30 Jahren beeindruckte mich eine Großmutter, die von ihren langjährigen Sorgen um ihren Enkel erzählte, der in die Drogenszene abgeglitten war und immer wieder verloren zu gehen schien in seiner Sucht. Es war erschütternd zu hören, was diese Frau in ihrer Liebe zu diesem Jungen ausgehalten hatte, wie tief und auch begründet ihre Sorge war und wie kaum auszuhalten ihre Hilflosigkeit. Aber ihr Herzblut ließ sie nicht aufgeben. Sie benutzte damals andere Worte, aber ihm, dem Enkel, wünschte sie immer Rettung, Segen und Behütetsein. Alles, was sie in diesen schweren Jahren erfahren und gelernt hatte, gab sie später weiter, damit andere davon profitieren, ja leben konnten. Sie schrieb Bücher und hielt Vorträge.

Wenn wir uns um konkrete Menschen sorgen, dann können wir meist das Denken an sie gar nicht abstellen. Wir hoffen, dass ihnen nichts Böses geschieht und lassen vielleicht - wie meine Mutter es für ihre Kinder und später ihre Enkel tat - immer wieder eine Kerze brennen zum Zeichen der Verbundenheit und als Ausdruck der Bitte um Schutz für die geliebten Menschen.

Aber manchmal machen wir auch Zeiten geradezu sorgenvoller Angst durch. Unsere Hilfsmöglichkeiten sind begrenzt, möglicherweise können wir gar nichts für unsere Geliebten tun. Dann kann die Sorge uns regelrecht »auffressen«. Manch einer ist in solchen Zeiten angstmachender Sorge krank geworden.

Dann brauchen wir Hilfe. Jemand muss uns helfen, wieder in die rechte Balance zu kommen zwischen mir selbst und dem, um den ich mich sorge, zwischen meinem Leben und seinem Leben, und schließlich zwischen meinen Möglichkeiten, die immer begrenzt sind und Gottes Möglichkeiten, die unerschöpflich sind.

Wir brauchen Menschen, die in dem, was wir erzählen, mehr erkennen als wir selbst es in unserem verdüsterten Blick vermögen. Wenn sie die Zeichen Gottes darin sehen, können sie uns helfen, die, um die wir Angst haben, loszulassen und Gottes Herz und Händen anzuvertrauen. Dann lernen wir zu sagen: »Bleib behütet!« und erfahren, dass dies auch für uns zum Segen gereicht. Dann wird das genug sein, was wir selbst tun können und die Zuversicht wird wachsen, dass Gott das Seine tut. Wir lernen, unsere Lieben Ihm anzuvertrauen und auch uns selbst. Wir steigen ja nicht aus, aber wir ändern den Blick.

Wir brauchen Menschen an unserer Seite mit einem weisen Herzen.

Nicht umsonst ist in der Bibel ein ganzes Buch der Weisheit gewidmet, diesem »Hauch der Kraft Gottes« (Weish. 7, 25) Von ihr heißt es, dass sie uns zu den Tugenden führt. »Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Nützlicheres als diese gibt es nicht im Leben der Menschen. Wenn jemand nach reicher Erfahrung strebt: Sie kennt das Vergangene und errät das Kommende, sie versteht, die Worte schön zu formen und Rätsel zu lösen; sie weiß im Voraus Zeichen und Wunder und kennt den Ausgang von Perioden und Zeiten. So beschloss ich, sie als Lebensgefährtin heimzuführen; denn ich wusste, dass sie mir guten Rat gibt und Ermutigung in Sorge und Leid.« (Weih. 8, 7-9)

Ein weises Herz gewinnen wir allmählich, durch Begleitung und durch Übung. Üben wir, Gott als den Hüter all unserer Lieben anzunehmen. So können wir leidvolle, sorgenvolle Zeiten miteinander durchschreiten.

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Februar 2022

Nächster Abschnitt

Wächter des Morgens

In Psalm 130 gibt es ein Bild, das uns leicht entgleitet, wenn wir nicht innehalten und nachdenken. »Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, mehr als die Wächter auf den Morgen.« Hier betont das Gebet, dass die Seele eine Sehnsucht nach dem Kommen des Herrn in ihr Leben hat, die noch größer ist als die Sehnsucht eines Wächters nach dem Kommen des Morgens. Das Bild ist stark, aber nur, wenn wir eine Frage beantworten können: Wie stark ist die Sehnsucht eines Wächters nach der Ankunft des Morgens? Wie wichtig ist die Ankunft eines neuen Lichts in der Welt für einen Menschen, der die ganze Nacht hindurch Wache hält?

Die Last des Wartens in langen Nächten ist für uns nichts Neues. Im Moment überschlagen sich die Nachrichten mit dieser Geschichte. Die Menschen sehnen sich nach einem Ende der langen Nacht von Corona und sind zermürbt und verzweifelt, wenn noch immer kein klares Ende in Sicht ist. Die Schlagzeilen sind voll von Meldungen über weitere Entdeckungen von Missbrauch in der Kirche, zusammen mit dem Chor des Entsetzens, der Wut und der Empörung, der immer auf solche Berichte folgt. Diese lange Nacht der Scham, der Hilflosigkeit und der Wut dauert schon so lange an, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Die politischen Probleme des Landes gehen unvermindert weiter, auch wenn die Regierungen wechseln. Die Extreme nehmen zu, der Antisemitismus taucht überall wieder auf, der zivile Diskurs ist Tiraden und Hassparolen gewichen, und die Sorge um das Gemeinwohl wird angesichts eines unerbittlichen und ungebremsten Individualismus zunichte gemacht. Die dunklen Stunden der Nacht sind lang und zermürbend.

Aber der biblische Erzähler von Psalm 130 stimmt nicht in den Chor derer ein, die die Länge der Nacht beklagen. Stattdessen versetzt er sich in die Rolle eines Wächters, eines Menschen, der stets auf das Kommen des Morgens achtet. Es ist die Rolle eines Menschen, der sich weigert, in die Rolle des Verzweifelten zu schlüpfen, der nur beklagt, was die menschliche Seele kränkt. Stattdessen hält dieser Mensch Ausschau nach Hoffnung, nach einer neuen Perspektive am Horizont, nach Zeichen des Lichts, das sich danach sehnt, in die Welt zurückzukehren.

Diese Begegnung mit der biblischen Geschichte wirft in mir eine Frage auf. Welche Rolle möchte ich in dem großen Heilsdrama Gottes spielen, das sich in der Welt abspielt? Die Versuchung ist groß, in die Litanei und den Chor der Verzweiflung einzustimmen, von den Liedblättern der Nacht zu singen. Es ist eine Versuchung, die uns überall begegnet. Jeden Tag begegne ich ihr in den Menschen, denen ich begegne. Sie sind zerbrechlich, müde und aufgrund zahlreicher und unterschiedlicher Erfahrungen unmotiviert. Allzu oft sind sie von Menschen umgeben, die mit ihnen den traurigen Zustand der Welt und ihren persönlichen Anteil daran beklagen.

Aber das ist kein Trost. Auf diese Weise kann keine Hoffnung geboren werden. Das ist nur Elend, das sich in Gesellschaft befindet. In diesem Szenario gibt es keine Perspektive. Von diesem Ort der Verzweiflung und Resignation gibt es keinen Ausweg.

Der Wächter des Morgens wählt einen anderen Weg und damit einen radikal anderen Zugang zum Leben und seinen langen Nächten. Der Wächter des Morgens ist bewusst auf der Suche nach Zeichen der Hoffnung. Der Wächter des Morgens versucht, Gottes Plan für die Zukunft zu erkennen, die Prioritäten für die Zukunft des Volkes Gottes zu verstehen, neue Wege zu gehen und unbetretene Pfade zu beschreiten.

Das kann nur geschehen, wenn tief im Herzen des Wächters die Überzeugung verbleibt, dass es mehr gibt als das, was wir erlebt haben. Es ist ein alter biblischer Ruf unseres Gottes, der uns daran erinnert, wachsam zu bleiben, denn es wird noch mehr kommen, und es wird uns göttliche Güte und Licht bringen. Das ist die Erfahrung, die wir Glauben nennen. Der Erzähler des Hebräerbriefs sagt es so: »Der Glaube aber ist die Grundlegung dessen, was man erhofft, der Beweis für Dinge, die man nicht sieht.« (Heb 11,1). Paulus erinnert uns daran, dass ein Wächter des Morgens Gottes Verheißung in den dunklen Nächten glaubt, bevor wir sie erfüllt sehen. »Im Zeichen der Hoffnung wurden wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung. Wer hofft schon auf das, was er sieht?« (Röm 8, 24)

Ich für meinen Teil weigere mich, in die Litanei der Verzweiflung einzustimmen, auch wenn ich den Stachel der Verzweiflung in meinen Knochen spüre. Ich bin nicht immun gegen das, was lange Nächte dem menschlichen Herzen antun, wie jeder andere auch. Ich spüre die Müdigkeit und die Traurigkeit genauso stark wie jeder andere. Die Enttäuschung und der Vertrauensbruch sind für mich genauso entmutigend wie für alle meine Brüder und Schwestern. Aber ich weigere mich, dieses Gespräch ohne Gott zu führen. Ich weigere mich, meine ganze Zeit damit zu verbringen, über die Nacht oder, noch schlimmer, mit der Nacht zu reden. Also steige ich auf die Mauern und halte Ausschau nach dem Anbruch des Tages. Ich tue es jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um ein weiteres ermutigendes Wort zu schreiben. Ich tue es jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um einen Menschen durch die unruhigen Gewässer seines Lebens zu begleiten. Ich halte in jeder Predigt, die ich schreibe und verkünde, Ausschau nach dem Morgen. »Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, mehr als die Wächter auf den Morgen.«

Wenn ich bete, greife ich das Bild des Jesaja auf: »Auf deinen Mauern, Jerusalem, habe ich Wächter eingesetzt, den ganzen Tag und die ganze Nacht, niemals schweigen sie! Die ihr den HERRN erinnert, gönnt euch keine Ruhe.« (Jesaja 62, 6)

Ich bete für mehr Wächter des Morgens. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich werde sie Ihnen gerne nächste Woche in meinem nächsten Impuls erzählen.

 

 Erik Riechers SAC, Vallendar, den 04. Februar 2022

Nächster Abschnitt

Was so leicht daher kommt . . .

Vor fast 30 Jahren hatte ein Vater seiner 10-jährigen Tochter ins Poesiealbum geschrieben: »Das Beste, was wir auf der Welt tun können, ist Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen.« Das Mädchen liebte diesen Satz und es schrieb ihn gern selbst in andere Alben. Wahrscheinlich kennt ihn jeder von uns und weil er so leicht daher kommt, neigen wir dazu, ihn als kindisch abzutun, als frommen Postkartenspruch oder einfach als abgedroschen.

Der Verfasser dieses Wortes wird heute im Kloster Benediktbeuern und überall, wo die Salesianer Don Boscos leben und wirken, gefeiert und geehrt, nämlich Johannes Bosco. Heute ist der 144. Todestag dieses norditalienischen Priesters, begabten Pädagogen, Jugendseelsorgers und Ordensgründers und ich halte heute inne bei diesem Satz und schaue nach seinem tragenden Grund.

Don Bosco hatte die Klarheit und den Mut, etwas als das »Beste«, was wir tun können, zu bezeichnen. Das kommt uns nicht mehr oft über die Lippen in unserer Welt der Indifferenz, der Gleichmacherei und des »Alles darf sein - alles ist gut«. Wir trauen uns oft nicht mehr, die qualitativen Unterschiede dessen, was wir tun können, zu benennen mitsamt den möglichen Folgen, segnend und förderlich oder abstumpfend und schädlich sein können.

Als solch ein »Bestes« empfiehlt Don Bosco als erstes, Gutes zu tun. Dies ist eine Aufforderung zum Handeln und das wiederum führt uns mitten hinein in die Botschaft der Bibel und in die Lebensunterweisungen Jesu. »Handle danach und du wirst leben« sagt Jesus zu dem Gesetzeslehrer, der ewiges Leben erben will und die Worte der Weisung kennt: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.« (Lk 10,27-28) Leben, so sagt ihm Jesus, erwirbst du dir durchs Tun!  Zu Nikodemus, der ihn in der Nacht aufsucht, sagt er am Ende des Gesprächs: »Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht«. (Joh 3, 21) Wie wir handelnd leben zeigt, wes Geistes Kind wir sind. Als Abbilder und Partner Gottes sind wir geschaffen mit der Fähigkeit und dem Auftrag, gut zu handeln und so Leben für uns, für andere, für die uns anvertraute Schöpfung zu erhalten und zu gestalten. Wenn es von Gott in der Schöpfungsgeschichte immer wieder heißt, dass er »sah, dass es gut war«, so kann und soll auch unser Schaffen kreativ sein, aufbauend, neue Welten schaffend und liebevoll sorgend.

Zu dem Besten, was wir tun können, zählt Don Bosco dann das Fröhlichsein. Natürlich hat das nichts zu tun mit Witzigkeit oder gar Albernheit. Es geht vielmehr um eine Grundhaltung, die schon das kleine Buch Nehemia dem Volk Gottes, das aus der babylonischen Verbannung in die zerstörte Stadt Jerusalem zurückgekehrt ist, ans Herz legt. Unter großen Mühen richten sie Mauern wieder auf und lauschen zu Tränen ergriffen der Weisung des Herrn, der Tora, die Esra ihnen vorträgt. Als er ihre Tränen sieht, sagt er ihnen: » Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.« (Neh 8, 10) - und dann feiern sie wie in alten Zeiten das Laubhüttenfest. Fröhlich zu sein hat mit dieser Freude am Herrn zu tun. Denn das ist die Botschaft, die sich von Anfang bis Ende durch die Bibel zieht: Gott ist bei seinen Menschen, er ist treu, er zeigt Wege und schenkt Kraft, er ist in uns und um uns. Sich an IHM zu freuen hat also Substanz und darf immer wieder in unserem Leben die Oberhand gewinnen.

Und schließlich rät Giovanni Bosco, die Spatzen pfeifen zu lassen. Lass sie - so höre ich hier -, verscheuche sie nicht oder störe dich an ihnen. Vielmehr können sie dir eine Erinnerung sein: »Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.« (Mt 10, 29-31) Mit diesen Worten ermutigt Jesus seine Jünger bei ihrer Aussendung und malt damit ein so einprägsames wie auch ausdrucksstarkes Bild für Gottes unerschöpfliche Fürsorge für uns.

          Je mehr ich also nachdenke über den Gedanken aus dem Poesiealbum, desto klarer wird mir: was so leicht daher kommt, hat die Leichtigkeit nur, weil es tief gegründet ist.

Was aber ist aus der Zehnjährigen geworden, die mit diesem Satz groß wurde? Sie hat ihn nie auf den Lippen. Aber seit langem fällt mir auf, wie sie anpacken kann statt zu räsonieren, wie sie sich einbringt, wenn es darauf ankommt. Wie oft staunten Familie, Freunde oder Kollegen, wie kreativ sie nach Lösungen suchte und ihr im »Ernstfall« nichts zu viel war. Dabei ist sie getragen von einer zutiefst hoffnungsvollen und positiven Grundhaltung. Sie hat eine gewisse Fröhlichkeit, die ihr selbst und den Menschen um sie herum gut tut. Vermutlich ist sie sich dessen gar nicht bewusst, wie viel sie lebt von den Worten, die ihr Vater ihr einst aufschrieb. Sie füllt sie einfach mit ihrem Leben.

So grüße ich Sie in diesen instabilen Zeiten heute mit Don Boscos Rat: »Steht mit den Füßen auf der Erde und wohnt mit dem Herzen im Himmel.«

Rosemarie Monnerjahn, 31. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Was geschieht, wenn Gott uns frei macht?

In den Turbulenzen und Konflikten der Corona-Krise ist viel über die Freiheit des Einzelnen gesprochen worden. Eine oft gehörte Aussage ist: Freiheit bedeutet, dass mir niemand sagen kann, was ich zu tun habe. In vielen Fällen wird dafür plädiert, sich von allen Verpflichtungen zu befreien, die uns nicht passen. Aber von einer Freiheit für etwas, sei es für eine gerechte Sache, für das Gemeinwohl oder für den Dienst an den Schwächsten und Bedrängten in unseren Reihen, ist kein Wort zu hören. Das ist eine beunruhigende und gefährliche Entwicklung.

Die Geschichten von Gott bieten uns eine Alternative, denn sobald er uns befreit hat, sagt er uns genau, was wir mit dieser neu gefundenen Freiheit tun sollen.

Da erhoben sich voll Eifersucht der Hohepriester und alle, die auf seiner Seite standen, nämlich die Partei der Sadduzäer. Und sie legten Hand an die Apostel und nahmen sie in öffentlichen Gewahrsam. Ein Engel des Herrn aber öffnete nachts die Gefängnistore, führte sie hinaus und sagte: Geht, tretet im Tempel auf und verkündet dem Volk alle Worte dieses Lebens!

In dieser kraftvollen und dramatischen Geschichte aus der Apostelgeschichte (Apg. 5, 17-21) erleben wir eine Geschichte der Befreiung. Die Gefängnistüren werden von einem Engel geöffnet. Eingekerkerte Menschen werden durch den Boten Gottes aus dem Gefängnis geführt. Wer träumt nicht davon, befreit zu werden, wenn er die engen Mauern seines eigenen Gefängnisses erlebt? Manche dieser Gefängnisse sind von außen gebaut, aus Stein und Stahl. Andere werden im Innern errichtet, geschmiedet aus Angst, Selbstzweifeln und dem anhaltenden Gefühl der Minderwertigkeit. Beziehungen können zu Gefängnissen werden, ebenso wie Familien und Gemeinschaften. In jedem Fall sind es Orte, die die Hoffnung ersticken und Resignation und Verzweiflung hervorrufen.

Gefängnisse spielen immer zwei Rollen. Einerseits sperren sie Menschen ein, um sie zu bestrafen, indem sie sie ihrer Freiheit berauben. Andererseits schützen sie die Menschen, die draußen in der freien Welt sind, vor denen, die drinnen sind. Für die Menschen draußen ist ein Gefängnis ein Ort, an dem Menschen, die unsere Ordnung und unseren Frieden stören oder bedrohen, sicher weggesperrt werden. Gefängnisse sind auch deshalb so kompliziert, weil sie von gerechten Gesellschaften zur Bestrafung von Kriminellen und zum Schutz der Gesellschaft genutzt werden, aber auch von Tyrannen und Diktatoren, um ihre Opposition zum Schweigen zu bringen und die Andersdenkenden in ihren Ländern einzuschüchtern.

Wenn eine Person aus der Haft entlassen wird, ist die Gesellschaft in der Regel davon überzeugt, dass sie keine Gefahr mehr für andere darstellt. In der Überzeugung, dass sie den Frieden und die Ruhe der Menschen nicht mehr stören werden, dürfen sie endlich wieder in Freiheit leben.

Das macht diese Geschichte umso interessanter und herausfordernder, weil sie dieses Muster durchbricht. »Geht, tretet im Tempel auf und verkündet dem Volk alle Worte dieses Lebens!« Die Geschichte macht deutlich, dass Gott den Boten gesandt hat, um die Tore zu öffnen, seine gefangenen Freunde herauszuführen und sie wieder in das pralle Leben zu entlassen, damit sie genau das Gegenteil tun. Gott befreit sie aus dem Gefängnis, damit sie auffallen und nicht in der gesichts- und namenlosen Masse untergehen. Er befreit sie, damit sie aktive Verkünder von verstörenden Geschichten werden. Die Menschen, die Gott befreit, sollen nicht unauffällig in der Menge verschwinden und sich verstecken, sondern in den Tempel (den öffentlichsten Ort Jerusalems) gehen und »dem Volk alle Worte dieses Lebens!« verkünden.

Es geht nicht um die Freiheit, sich zu verstecken, sondern um eine Freiheit, sich zu zeigen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat einmal gesagt: »Frei zu sein ist nichts, frei zu werden ist alles!« Hier werden die Gefängnistore geöffnet, damit wir in das Herz des Lebens gehen können. Wir sollten für das einstehen, was in uns ist, was uns geformt und geprägt hat und was uns leben lässt. Denn wenn wir das nicht tun können, sind wir dann nicht in einem Gefängnis?

Diese Erfahrung ist uns nicht fremd. Irgendwann, und wahrscheinlich mehr als einmal, sind wir aus Gefängnissen befreit worden. Boten Gottes haben uns die Pforten zum Leben geöffnet, die wir selbst nicht öffnen konnten. Sie haben uns die Wege zur Freiheit gezeigt und uns an die Schwelle des Lebens begleitet.

Aber als befreite Menschen müssen wir in den Tempel gehen. Wir müssen in die Mitte des Lebens gehen und »alle Worte dieses Lebens« verkünden. Alle Worte dieses Lebens bedeutet, dass wir den Namen des Gottes verkünden müssen, der uns die Gefängnistore öffnet, der uns durch die Knechtschaft getragen hat und der uns durch das Labyrinth der Gefängnisgänge zurück ins Leben geführt hat. Und alle Worte dieses Lebens zu verkünden bedeutet, dass wir auch das Ziel verkünden, für das wir befreit wurden. Unser Leben wurde nicht freigesetzt, damit wir in unser privates kleines Lehen zurückkehren, sondern damit wir im Tempel erscheinen und für andere zu Boten Gottes werden. Und so fängt es wieder an, denn wenn wir auf diese Weise in der Welt erscheinen, werden wir diejenigen sein, die beginnen, eine weitere Gruppe von Gefangenen zu befreien.

 

Erik Riechers SAC

Paderborn, 28. Januar 2022

 

Nächster Abschnitt

»Gesegnet von jeglichem Ding«

 

Unser Verständnis und unsere Wahrnehmung der Welt, die uns umgibt, sind nüchtern und vom Verstand betont. Im Gegensatz zu den Menschen früherer Zeiten wissen wir, woher der Donner kommt und wie ein Vulkanausbruch im südlichen Pazifik einen Tsunami in Peru auslösen kann. Schneepisten können wir selbst herstellen. Wir alle benutzen hochkomplexe Dinge, die Menschen sich ausgedacht, entwickelt und hergestellt haben. Wir gehen damit ganz pragmatisch um und verwerfen sie, wenn neue Entwicklungen Besseres hervorbringen.

Das ist in Ordnung, doch solch ein Umgang kann uns so prägen und bestimmen, dass er Auswirkung hat auf die Art und Weise, wie wir alles im Leben wahrnehmen: technisch, utilitaristisch und mechanistisch.

Alles muss nützlich sein, einem Zweck dienen, wir wollen es verstehen und es soll funktionieren. Aber daneben, dahinter, manchmal darin gibt es Erfahrungen des Lebens, die sich dem entziehen.

Was ist im Spiel, wenn unser Atem stockt? Oder wenn er schneller geht? Ist es nicht überhaupt ein Wunder - das Atmen?

Staunen wir nicht manchmal über etwas, das uns zugeflüstert wird - vielleicht staunen wir über das Vertrauen, das uns da gerade entgegengebracht wird? Oder unsere eigene Stimme wird ein Flüstern angesichts einer überwältigenden Erfahrung.

Warum kommen uns manchmal Tränen beim Anblick einer Landschaft, eines Bildes oder eines Gesichts? Oder wir jauchzen über das, was sich gerade vor unseren Augen abspielt.

Kann nicht die Berührung und Nähe eines Menschen einen tristen Tag zu einem Freudentag verwandeln?

Wie empfinden wir es, wenn ein leidgeprüfter Mensch sein Herz vor uns öffnet und uns seine inneren Schätze anvertraut? Da bekommen wir auf einmal eine Ahnung von der Tiefe und Ewigkeit der Seele.

Kennen wir nicht das Drängen der Gedanken, wenn wir nach Lösungen und Hilfe für geliebte Menschen suchen? Es kann staunenswert sein, zu was unser Denken fähig ist.

Halten wir hin und wieder rückblickend inne, weil uns bewusst wird, dass nicht wir selbst es waren, die uns durch eine schwere Zeit getragen haben? Es wohnte eine Kraft in uns, die über uns hinausweist.

Ein jegliches Ding, das uns begegnet, kann ein Segen sein. Alles, was wir erfahren und aufnehmen, kann eine segnende Kraft entfalten.

Darum liebe ich das Morgengebet von John O’Donohue, in dem er sich selbst aufrichtend sagt:

»Ich erhebe mich heute

Gesegnet von jeglichem Ding:

Schwingen von Atem,

Entzücken von Augen,

Staunen von Geflüster,

Nähe der Berührung,

Ewigkeit der Seele,

Dringlichkeit des Denkens,

Wunder der Gesundheit,

Umfangensein von Gott.«

Wir können uns dafür sensibilisieren, eine tiefere Dimension des Lebens wahrzunehmen und aufzunehmen. Und wir können im Rückblick von ihnen erzählen.

Auch wenn wir es gar nicht merken, dürfen wir vertrauen: in jeder Sekunde webt mehr Segen in uns und um uns, als wir es uns vorstellen können. Ist dieser »Teppich« nicht ein fester Grund, auf dem wir stehen und gehen können?

Ich wünsche es uns allen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 24. Januar 2022

 

Nächster Abschnitt

Einander segnen

 

Heute stelle ich eine kleine Frage, die in meinem Herzen gewachsen ist - gerade auch im Nachklang von Eriks Impuls zur Corona-Müdigkeit: Können wir nicht einfach und ganz bewusst immer wieder einander segnen? Im Lateinischen heißt segnen benedicere und das bedeutet gut zu sprechen. Ohne zu leugnen, was uns belastet, ohne so zu tun, als gäbe es die Pandemie mit all ihren Einschränkungen und Risiken nicht, möchte ich meinen Blick ändern.  Ich möchte dem anderen Gutes sagen. Dazu muss ich (wieder) wahrnehmen. Ich muss ihn sehen und hören und dann darüber nachdenken, was ihm gut tut und welche Lebensmehrung ich ihm ganz konkret wünsche. Ich suche nach Worten und Bildern, die dies zum Ausdruck bringen, bewege sie in meinem Herzen und segne einen Menschen damit.

Als mein Enkel geboren wurde, schenkte mir eine Freundin einen Liedtext von Reinhard Mey.

Das ganze Lied ist der Segen eines Großvaters an der Wiege seines Enkels. In einer Strophe heißt es:

»Immer einen Glückspfennig in einer Deiner Taschen,
Immer einen ruh'gen Atemzug im Ziel,
Immer voll Vertrau'n, doch mit allen Wassern gewaschen,
Immer eine Handbreit davon unterm Kiel.
Dass durch alle Fährnis dich ein Schutzengel begleite,
Dass ein Leuchtfeuer dich führ' mit sich'rem Schein!
Immer sei ein bester Freund an deiner Seite -
Ich will gern der älteste von ihnen sein.« *

Ist das nicht schön? Atem und Vertrauen, Schutz des Himmels, leitender Lichtschein, Freundschaft und Glück sind die Gaben, die er dem Menschenkind wünscht, und er ist bereit, daran mitzuwirken. 

Wem könnten wir ein paar Verse dieses Liedes singen? Wenn wir Gelegenheiten suchen, einander zu segnen, verändern wir unsere Gedanken und weiten unsere Herzen.

Und der Segen wird über uns allen sein.

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Januar 2022

* aus R. Mey, »Fahr dein Schiffchen durch ein Meer von Kerzen«

 

Nächster Abschnitt

Corona-Müdigkeit

Im Moment sind wir alle sehr müde von den langen Tagen der Pandemie und den vielen, oft verwirrenden Regeln und Vorschriften, die sie mit sich bringt. Diese allgegenwärtige Erschöpfung wird oft als »Corona-Müdigkeit« bezeichnet.

Es ist nicht das erste Mal in der langen Heilsgeschichte, dass das Volk Gottes unter solchen Momenten leidet. Als sie aufstanden, sprachen die Propheten zu ihnen von Hoffnung und erinnerten sie daran, dass solche Tage vorübergehen werden und das Volk Gottes neue und erfreulichere Momente erleben wird. Der Prophet Jeremia tut genau dies, wenn er diese Worte zu Gottes Volk in der Krise spricht:

So spricht der HERR: Gnade gefunden hat in der Wüste ein Volk: dem Schwert Entkommene. Ich ging, um Israel Ruhe zu schaffen. Aus der Ferne ist mir der HERR erschienen: Mit unendlicher Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus Güte. Ich werde dich wieder aufbauen, und du wirst aufgebaut sein, Jungfrau Israel! Du wirst dich noch mit deinen Pauken schmücken und wirst ausziehen im Reigentanz der Lachenden. Du wirst noch Weingärten pflanzen auf den Bergen Samarias; Pflanzer pflanzen sie, und man wird sie in Gebrauch nehmen. Denn es gibt einen Tag, da rufen die Wächter auf dem Gebirge Efraim: Auf, und lasst uns hinaufziehen nach Zion, zum HERRN, unserem Gott! (Jeremia 31,2-5)

 

Die ersten Zeilen der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute beginnen mit einer eindringlichen Mahnung. »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.« Sie erinnert uns daran, dass wir als Volk Gottes nicht von der Trauer und Angst des Lebens ausgenommen sind. Aber wir werden auch nicht von der Geschichte der Freude und der Hoffnung ausgeschlossen.

Um es wie Jeremia zu formulieren: Wir sind ein Volk, das dem Schwert dieses Virus und seinen vielen Auswirkungen entkommen wird. Wir werden die Gegenwart Gottes (Gnade) inmitten dieser wilden und ungezähmten Erfahrung finden. Wir werden wieder zur Ruhe kommen und auch Zeit für unsere Vergnügungen und Beschäftigungen finden. Wir werden wieder aufgebaut werden und das, was zerbrochen war, wiederherstellen. Wir werden in den Tagen nach der Krise die Zeit und die Gelegenheit haben, Neues zu schaffen. In vielerlei Hinsicht kehren wir bereits an die Orte und zu den Zeiten zurück, an denen wir uns vergnügt haben und die Lachenden waren. Ganz sicher werden wir pflanzen und ernten. Wir werden die Fruchtbarkeit des Lebens auf unseren Tischen und in unseren Bechern genießen.

Aber im Moment sind wir noch tief in die langen Tage der Pandemie und die vielen, oft verwirrenden Regeln und Vorschriften eingetaucht, die sie mit sich bringt. Und während wir noch die Corona-Müdigkeit verspüren, könnten wir uns bereits eine Frage für die Zukunft stellen. Werden wir uns daran erinnern, was diese Müdigkeit mit uns gemacht hat, wie wir uns dabei gefühlt haben und wie sie sich aus der langen, harten Reise durch eine trockene und karge Lebenserfahrung entwickelt hat?

Ich stelle die Frage nicht als eine Übung des historischen Gedächtnisses, sondern als eine Übung des Gedächtnisses des Herzens. Das ist eine sehr alte Übung. Fragen Sie einfach Mose und das Haus Israel. Was ist eine der häufigsten Übungen, die Mose ihnen aufs Herz legt? Er fordert sie auf, nicht zu vergessen, wie es war, in den Tagen der längsten Krise, der Zeit der Sklaverei in Ägypten, zu leben und sich zu bewegen.

Du sollst das Recht des Fremden und der Waise nicht beugen und das Kleid der Witwe nicht als Pfand nehmen, sondern du sollst daran denken, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich von dort befreit hat. Darum gebiete ich dir, dass du so handelst. Wenn du auf deinem Feld deine Ernte schneidest und eine Garbe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Dem Fremden, der Waise und der Witwe soll sie gehören, damit der HERR, dein Gott, dich segnet bei aller Arbeit deiner Hände. Wenn du deinen Ölbaum abklopfst, sollst du danach nicht die Zweige absuchen; dem Fremden, der Waise und der Witwe soll es gehören. Wenn du in deinem Weinberg Lese hältst, sollst du keine Nachlese halten. Dem Fremden, der Waise und der Witwe soll es gehören. Und du sollst daran denken, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten; darum gebiet ich dir, dass du so handelst.  (Deuteronomium 24,17-22)

Die Aufgabe besteht darin, uns daran zu erinnern, was wir durchgemacht haben, und dann dafür zu sorgen, dass wir nicht vergessen, dass es viele gibt, die weiterhin dasselbe erleiden. Wir sind in einer privilegierten Lage, denn wir kennen ihren Schmerz und ihren Verlust von innen, weil wir ihn selbst durchlebt haben. In der großen Geschichte Gottes erinnert uns der Herr daran, was wir für den Fremden, den Vaterlosen und die Witwen zurücklassen müssen, denn die Erfahrung, dass unser Hunger und unsere Not vergessen werden, ist uns nicht fremd. Gott ist nicht nur nicht geneigt, uns selektiv werden zu lassen, woran wir uns erinnern, er lässt uns auch nicht wählen, an wen wir uns erinnern.

Die Tage der Wiederherstellung werden kommen. Ich werde genauso erleichtert sein wie alle anderen, wenn das Schlimmste hinter uns liegt. Aber ich bete nicht dafür, dass ich dann alles vergesse und es in der Vergangenheit belasse. Das wäre eine Verschwendung einer guten Krise. Es ist gefährlich, das gute Leben als Beruhigungsmittel zu benutzen. Diese Corona-Müdigkeit kann ein Ansporn sein, etwas, das uns zu größerer Sensibilität und Mitgefühl antreibt, um eine größere Gerechtigkeit zu suchen. Denn unsere Müdigkeit wird vergehen und verblassen, aber das wird nicht für alle gelten. Die Flüchtlinge müssen noch immer an höllischen Orten der Flüchtlingslager Moria auf Lesbos schmachten. Die Obdachlosen zittern immer noch auf unseren Straßen, die Armen haben immer noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und die Ausländer sind immer noch in Quarantänen der Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung eingesperrt.  Der Rassismus infiziert noch immer zahlreiche Menschen, und seine Ausbreitung kann so ansteckend sein wie das Virus. Jeden Tag tauchen neue Brennpunkte des Antisemitismus auf und machen es für unsere jüdischen Schwestern und Brüder unsicher, einen Gottesdienst zu besuchen, ohne dass bewaffnete Polizisten sie bewachen und schützen.

Es wäre so einfach, unsere Corona-Müdigkeit zu vergessen und zu sagen: »Das ist nicht unser Problem«. Aber während wir von dieser Müdigkeit eingehüllt sind, während wir das Gefühl hassen so leben zu müssen, sowie die erstickende Isolation, die sie schafft, und die Ketten der Begrenzung, die sie uns auferlegt, sollten wir eine lebendige Erinnerung des Herzens bewahren. Dies war einst unser Problem, und wir sollten uns an die ständig wiederholte Erinnerung unseres Gottes erinnern: Erinnert euch an die Schwachen, denn wir waren einst genau wie sie.

 

Erik Riechers SAC, 17. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Die Legende der Immergrünen

Ich möchte Ihnen eine Geschichte aus der Tradition der Cherokee erzählen, die den Titel trägt: Warum manche Bäume immer grün sind.

 

Als die Pflanzen und Bäume erschaffen wurden, gab das Große Mysterium jeder Art ein Geschenk. Aber zuerst veranstaltete es einen Wettbewerb, um zu sehen, welches Geschenk für wen am nützlichsten sein würde.

»Ich möchte, dass ihr wach bleibt und sieben Nächte lang über die Erde wacht«, sagte das Große Mysterium zu ihnen.

Die jungen Bäume und Pflanzen waren so aufgeregt, dass es ihnen in der ersten Nacht schwer gefallen wäre, nicht wach zu bleiben. In der zweiten Nacht war es jedoch nicht so einfach, und kurz vor der Morgendämmerung schliefen einige von ihnen ein. In der dritten Nacht flüsterten die Bäume und Pflanzen untereinander im Wind und versuchten, nicht einzuschlafen, aber das war für einige von ihnen zu viel Arbeit. In der vierten Nacht schliefen noch mehr ein.

Als die siebte Nacht kam, waren nur noch die Zeder, die Kiefer, die Fichte, die Tanne, die Stechpalme und der Lorbeer wach.

»Welch wunderbare Ausdauer habt ihr!«, rief das Große Mysterium aus. »Euch soll die Gabe gegeben werden, für immer grün zu bleiben. Ihr werdet die Wächter des Waldes sein. Selbst in der scheinbaren Winterstarre werden unsere Brüder und Schwestern in euren Zweigen Schutz finden.«

Seitdem verlieren alle anderen Bäume und Pflanzen ihre Blätter und schlafen den ganzen Winter über, während die Immergrünen wach bleiben.

 

Die Geschichte spricht etwas an, das in unserer Lebenshaltung verloren gegangen ist, das aber in den biblischen Geschichten sehr lebendig ist. Wenn alle anderen ihre Wachsamkeit und Vitalität verlieren, müssen wir den Widerstand der Immergrünen üben. Wie diese Bäume müssen wir der Kälte und der Dunkelheit trotzen, die uns zu entblößen drohen oder uns in den Tiefschlaf locken. 

Wir haben unsere eigene Version dieser Legende der Cherokee. Im ersten Johannesbrief erzählt uns der Autor eine Geschichte, die von Wachsamkeit und Fruchtbarkeit geprägt ist. »Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens - das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist -, was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Dies schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen ist.« (1. Johannes 1, 1-4)

Aber wie konnte die Gemeinschaft des geliebten Jüngers diese Worte über das Wort des Lebens schreiben? Sie mussten praktizieren, was die immergrünen Bäume taten. Wenn wir darüber sprechen wollen, was mit dem Wort des Lebens von Anfang an geschehen ist, dann müssen wir von Anfang an aufmerksam sein. Wir können nicht zu einem späteren Zeitpunkt einsteigen und hoffen, etwas über die Ursprünge und Quellen unserer Erfahrungen mit diesem Wort zu erfahren. Wir können keine Nachzügler in den Tiefen des geistlichen Lebens sein. Wenn wir erzählen wollen, was unsere Ohren gehört haben, dann müssen wir dem Drang widerstehen, einzuschlafen, denn nur wer wach bleibt, hört die ganze Geschichte, die dieses Wort des Lebens zu erzählen hat. Wenn wir erzählen wollen, was unsere Augen gesehen haben, dann müssen wir all den Dingen trotzen, die unsere Aufmerksamkeit auslöschen und uns blind machen für das Wesentliche, das Reale und das Echte. Es ist unmöglich zu erzählen, was unsere Hände berührt haben, wenn wir nicht an den berührenden Stellen erschienen und anwesend waren. Denn das Wort des Lebens nahm Fleisch und Knochen an, hatte einen Namen und ein Gesicht und konnte in Jesus Christus berührt werden. Das Wort des Lebens kann berührt werden, wenn wir an den Orten erscheinen, wo Fleisch und Knochen Pflege und Heilung, Führung und Trost brauchen. Die biblischen Geschichten wurden in einer Generation erzählt, aber sie werden in jeder Generation mit den Namen und Gesichtern gelebt, denen wir täglich begegnen und gegenüberstehen.

Die Legende der Cherokee endet mit diesen Worten: »Seitdem verlieren alle anderen Bäume und Pflanzen ihre Blätter und schlafen den ganzen Winter über, während die Immergrünen wach bleiben.«

Während wir den langen Winter der Krise durchstehen, ziehe ich es vor, wach zu bleiben, denn in dieser winterlichen Zeit gibt es Wunder zu erleben. Ich möchte sie nicht missen.

 

Erik Riechers SAC, 14. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Vertrauen des Herzens

Ein Telefonat zum Jahreswechsel mit einer Freundin, mit der ich seit Jahrzehnten über alle äußeren Distanzen hinweg verbunden bin, hat Spuren in mir hinterlassen, in meinem Denken und in meinem Herzen. Über viele Jahre hinweg ist ihr großes Thema das menschliche Herz geworden, und zwar nicht bloß das Organ. Sie ist eine Erzählerin des Herzens, dem wir die Führung überlassen sollten, des Herzens, in dem Gott wohnt und das viel weiter und größer ist als wir uns das vorstellen können. Wir betonen doch gern, was wir alles in der Hand haben, mit unserem Verstand durchdringen und zu meistern glauben. Meine Freundin übt täglich, auf ihr Herz zu hören und ihm zu vertrauen. Ihre Stimme klang gelassen, liebevoll und froh - ein Vertrauensklang, dachte ich bei mir. Wir vermieden in dieser Stunde nicht unsere schweren und belastenden Themen und kehrten immer wieder zum Vertrauen in unser Herz, in das Göttliche in uns zurück.

Ein Mensch dieser Art sprach seine Gedanken dazu einmal so aus:

»Wäre das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang …, ginge es jedem kleinen oder großen Unterfangen voraus …, du kämst weit, sehr weit.  . . .

Wäre das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang – wer würde noch sagen: Wozu bin ich überhaupt auf der Erde?

Manchmal wird das Vertrauen tief in uns durch erschütternde Ereignisse wie weggefegt. Jeder Mensch erfährt die Angst am eigenen Leib. Höre, wo du auch bist, auf das Flüstern Christi in dir: ´Vertrauen des Herzens … ruh dich aus in Frieden bei Gott allein. Hast du Angst? Ich bin da.‘ «

Es war Frère Roger und ich fand sie in meinen Unterlagen. Dem Herzen als dem Ort des Göttlichen in uns zu vertrauen verbindet sich mit dem Vertrauen, das im Herzen wächst. Wir könnten uns dann trauen, etwas zutrauen, zuversichtlich unsere Vorhaben anschauen und beginnen.

Roger Schutz kannte aber auch - wie wir - unser Zögern und unsere Barrieren. Er verschweigt sie nicht und hält unseren aufkommenden inneren Widerständen entgegen:

»Aber – wirst du sagen – das Umfeld, in dem ich arbeite, der in meiner ganzen Umgebung herrschende Zweifel, eine ganze Vergangenheit ziehen mich unendlich weit weg vom Glauben an Gott.

Der Glaube ist keine Theorie. Selbst wenn Gott der Unbegreifliche bleibt – es kommt darauf an, ihm dein Vertrauen zu schenken.

Dich in jedem Augenblick dem Heiligen Geist anvertrauen und, hast du es vergessen, dich ihm von neuem überlassen. In der Stille des Herzens und selbst noch in deinen Wüsten spricht der Heilige Geist zu dir, manchmal mit einem einzigen Wort.

Solltest du dich von Entmutigung und Zweifel überrollen lassen, wenn du in deiner Erwartung enttäuscht wirst? Der Auferstandene ist da. Erkannt oder unerkannt entzündet er in deiner Dunkelheit ein Feuer, das nie erlischt. …

Könnte man ein Herz ergründen, würde man voll Staunen in seinem tiefsten Grund die stille Erwartung einer Liebe entdecken.«  (aus »Vertrauen wie Feuer«, 1984)

Meine Freundin sprach am Ende unseres Gesprächs von dieser tiefen, unendlich weiten Liebe, die den anderen begleitet und seinen Weg gehen lässt, unter deren »Himmel« wir zurückschauen und liebevoll stehen lassen können, was war und die es möglich macht, einen solchen Austausch von Herz zu Herz zu führen.

Ich habe in der Abendstunde des 30. Dezember eine Perle gefunden, die ich ins neue Jahr trage.

 

Danke vielmals, liebe Freundin!

 

Rosemarie Monnerjahn, 10. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Die Weisen aus dem Morgenland sind immer noch unterwegs II

 

  1. Unterscheide die Wahrheit. Die Weisen finden die Wahrheit bei den Schriftgelehrten, aber sie werden auch von König Herodes mit Lügen gefüttert. Wir sollten lernen zuzuhören und zu unterscheiden. Nicht alles, was wir hören, ist Wahrheit, aber auch nicht alles ist Lüge. Sie werden oft miteinander vermischt, und es ist die Aufgabe echter und reifer Gottsucher, ständig daran zu arbeiten, sie zu unterscheiden, anstatt zu erwarten, dass die Welt um uns herum das für uns tut.
  2. Verbinde dich wieder mit dem Leitstern. »Und siehe da: Der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her, bis er über dem Ort stehen blieb, wo das Kind war.« Wenn die Dinge ein wenig klarer werden und wir sehen, dass sich ein Weg vor uns auftut, ein Weg nach vorne, sollten wir nicht zögern, uns wieder mit unserer ursprünglichen Inspiration zu verbinden. Die Weisheit, Richtung und Führung der Schriftgelehrten ersetzt den Stern nicht. Sie bereichern unsere Reise. Aber unsere ursprüngliche Inspiration, der Stern, führt uns zum Ziel.
  3. Lass dich von der Freude über das Geschenk des Fortschritts überwältigen. »Als sie den Stern sahen, überkam sie große Freude.« Wir sollten die gut zurückgelegte Reise, die bestandenen Abenteuer, die überwundenen Mühen und die harte Arbeit, um sicher ans Ziel zu kommen, feiern. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, aber wir müssen die Meilensteine feiern und nicht nur die letzten Erfolge. Feiern wir die kleinen Siege, die kleinen Verbesserungen und die einfachen Schritte, die wir erreicht haben. Sonst verpassen wir die größte Freude an dieser Reise.
  4. Betrete das Haus. Die Gefahr in so vielen Bereichen unseres Lebens besteht darin, dass wir gerne die neutrale Rolle des Beobachters einnehmen. Die Weisen gingen nicht zu den Fenstern hinüber und sahen sich an, was im Haus geschah. Denken wir nicht einen Moment lang, dass wir uns aus der tiefen Erfahrung heraushalten können. Seien wir ein Teil des Geschehens, lassen wir uns auf den Strudel der Gespräche und Begegnungen ein. Wir lernen nicht schwimmen, wenn wir am Beckenrand stehen. Wir müssen ins Wasser waten.
  5. Ehrerbietung erweisen. »Und sie gingen ins Haus hinein und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter; sie fielen vor ihm nieder und huldigten ihm.« Wenn wir vor dem Geheimnis stehen, das wir gesucht und ersehnt haben, werden wir mit einer grundlegenden Herausforderung konfrontiert. Habe ich den Einen in meinem Leben gefunden, der so kostbar und wertvoll ist, dass ich vor ihm mein Knie beugen würde? Es ist ein aufschlussreicher Moment, denn er ist erfüllt von der Erkenntnis, dass wir vor jemandem stehen, der größer ist als wir selbst, und gleichzeitig wissen wir, dass diese Beziehung uns nicht schmälern wird. Wenn wir das Knie beugen und dem Kind unsere Ehrerbietung erweisen, erniedrigen wir uns damit nicht. Wir zeigen damit, dass es eine Beziehung zu Gott gibt, in der wir keine Angst davor haben, kleiner zu sein als jemand anderes. Hier ist eine Beziehung, in der wir uns ganz sicher und wohlfühlen können, auch wenn wir uns überwältigt, tief berührt und authentisch bewegt fühlen.
  6. Öffnet eure Schatztruhen und lasst etwas von euch zurück. »Dann öffneten sie ihre Schatztruhen und brachten ihm Geschenke dar: Gold, Weihrauch und Myrrhe.« Großzügigkeit ist eine grundlegende und fundamentale Antwort auf die Entdeckung des Geheimnisses Gottes. In einer Welt, in der wir häufig fragen:»Was habe ich davon?«, wird die Begegnung mit dem lebendigen Gott auch in dem Moment erkannt, in dem die Frage auftaucht: »Wie kann ich einen Beitrag leisten?« Auch die Religion ist von dieser Versuchung nicht ausgenommen. Schlecht gelebte und falsch verstandene Religion bringt oft Menschen hervor, die nur kommen, um Gott um Gefallen, Heilung, Orientierung, Erleichterung oder Segen zu bitten. Ein tiefes und beständiges geistliches Leben wird immer auch beinhalten, dass wir unsere Schätze öffnen und Gott etwas von uns anbieten.
  7. Kehren wir auf einem anderen Weg nach Hause zurück. Vermeiden wir die alten Fallstricke. Kehren wir nicht einfach zur Tagesordnung über. Wir sollten uns davor in Acht nehmen, über Jerusalem nach Hause zurückkehren. Es wird immer einen König Herodes geben, der bereit ist, unsere neu gefundene Hoffnung in Asche zu verwandeln. Solche Herodes-Menschen werden versuchen, das niederzureißen, was noch vor kurzem die Liebe in unserem Leben entfacht hat, und das zu töten, was Großzügigkeit und Ehrfurcht in unseren Herzen geboren hat. Neue Gotteserfahrungen sollten uns zu neuen Wegen im Leben führen.

Viele Jahre später schrieb mir eine junge Frau, die an jenem Abend teilgenommen hatte, um mir mitzuteilen, dass sie geheiratet hatte und gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Sie schrieb mir, weil sie mir unbedingt sagen wollte, dass sie diesen Abend nie vergessen hatte. Sie nannte ihre erstgeborene Tochter Stella. Das ist das lateinische Wort für Stern.

 

Erik Riechers SAC, 7. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Die Weisen aus dem Morgenland sind immer noch unterwegs I

Vor fast 25 Jahren wurde ich von einer Gruppe junger Menschen gefragt, ob ich bereit wäre, einen Abend mit ihnen zu verbringen, um ihre Fragen über den Glauben, Gott und die Kirche zu beantworten. So trafen wir uns am Abend des 6. Januar in einem ihrer Häuser. An einem Punkt wurde ich gefragt, wie biblische Geschichten unser Leben berühren, informieren und leiten können. Mit Blick auf das Dreikönigsfest, das auf diesen Tag fällt, nannten sie als Beispiel die Geschichte von der Ankunft der Heiligen Drei Könige. Die jungen Leute in der Gruppe fragten mich, ob ich irgendeine Relevanz der Geschichte der Weisen für das, was sie als »das gewöhnliche und reale Leben der Menschen« bezeichneten, sehe. Es waren aufrichtige Menschen, und ihre Frage war ernst gemeint. Und doch klang diese Geschichte in ihren Ohren eher wie ein Märchen für Kinder als eine Hilfe für das christliche Leben.

Ich konnte ihre Verwirrung und sogar Unsicherheit darüber, was sie von dieser Geschichte halten sollten, gut verstehen. Wenn wir sie ernst nehmen, werden wir eine Fundgrube geistlicher Weisheit entdecken, die unser tägliches, praktisches geistliches Leben auf vielfältige Weise bereichern wird. Aber ich muss Sie warnen, wie ich sie gewarnt habe: Die Geschichte ernst zu nehmen, ist nicht dasselbe wie sie wörtlich zu nehmen. Es ist eine Geschichte voller Metaphern und Bilder, die zu uns von Gott sprechen wollen. Doch sie müssen interpretiert werden, nicht nur gelesen. Das ist die ernste und harte Arbeit, die die Begegnung mit einer biblischen Geschichte mit sich bringt. Der Text wird immer stumm bleiben, bis ein ernsthafter Leser auftaucht, und die Ernsthaftigkeit liegt immer in der Bereitschaft, den Text zu interpretieren.

Deshalb möchte ich mit Ihnen teilen, was ich in jener kalten Winternacht vor so vielen Jahren mit diesen jungen Menschen geteilt habe. Hier ist eine Reihe von einfachen Lektionen für das Leben, die ich durch jahrelanges Eintauchen in die Geschichte der Weisen gelernt habe. Vielleicht werden sie für Sie genauso hilfreich sein wie für mich.

  1. Nach oben schauen, nicht nur herum. Die Weisen sind bereit, ein Auge auf die Dinge des Himmels zu werfen und nicht nur zu beobachten, was um sie herum geschieht. Wir neigen dazu, uns umzusehen, durch Menschen hindurch und an anderen vorbeizuschauen. Schau nach oben und staune über die Sterne. Achten Sie auf Worte, Gesten und Zeichen, die vom Himmel kommen, und nicht auf die vorherrschenden Strömungen der Weisheit, die um Sie herumschwirren. Achten Sie auf die Zeichen, die von oben kommen, und nicht auf die, die wir uns einfach selbst geben.
  2. Folge dem Stern. Wenn wir etwas finden, das von oben kommt, das uns von einem Ort inspiriert, der größer ist als wir selbst und die Welt, in der wir uns bewegen, dann sollten wir ihm folgen. Lassen wir uns davon in Bewegung setzen. Schauen wir, wohin es uns führt. Die größte Gefahr im spirituellen Leben besteht darin, zu glauben, dass die Sternstunden der Offenbarung nur zum persönlichen Vergnügen dienen und zu nichts anderem. Wenn es uns nicht von der Couch auf die Straße bringt, dann hat es uns nur berührt. Aber Gott bewegt sich durch unsere Welt, um uns in Bewegung zu setzen.
  3. Gehen Sie über Ihr Zuhause hinaus. Gehen wir über die vertrauten Orte, Begegnungen, Gespräche und Gesichter hinaus, die uns normalerweise umgeben und unsere Erfahrungen prägen. Lassen wir uns auf ungewohnte Erfahrungen ein. Wagen wir mal die Reise in ein unentdecktes Land. Die Erfahrung von zu Hause kann nur bestätigen, was wir bereits wissen. Die Länder jenseits des Vertrauten können uns Horizonte der Hoffnung zeigen, die uns herausfordern können, tiefer zu wachsen.
  4. Verliere im Leben, wie bei dem Stern, nicht die Hoffnung, nur weil du kurz aus den Augen verlierst, was du verfolgst. Die Weisen verirren sich kurz und fragen in Jerusalem nach dem Weg. Aber kaum haben sie sich in die Richtung begeben, die ihnen die Schriftgelehrten gezeigt haben, sehen sie den Stern wieder und vertrauen sich seiner Führung an. Das passiert im Leben. Wir lassen uns ablenken, werden von anderen Dingen überwältigt oder werden von unvorhergesehenen Entwicklungen überrascht, die dann unsere ganze Zeit, unsere Kraft und unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber den Stern verlieren wir nie. Gelegentlich verlieren wir den Stern lediglich aus den Augen.
  5. Habt keine Angst, um Führung zu bitten. Die Weisen fragen zuerst König Herodes, wie sie das Kind finden können, und werden dann an die Schriftgelehrten in Jerusalem weitergereicht. Es ist keine Schande, sich zu verirren oder nach dem Weg zu fragen. Es ist eine furchtbare Schande, in einem Moment der Verlorenheit und Orientierungslosigkeit festzustecken, nur weil wir zu stur oder arrogant sind, um ein wenig Hilfe zu bitten, den Weg zu finden.
  6. Höre auf die Weisheit, auch wenn sie nicht von bekannten Quellen stammt. Die Antwort der Schriftgelehrten ist aus der großen Offenbarung der Geschichten des Ersten Testaments geboren. Diese Geschichten waren den Weisen fremd, ungewohnt für ihre Ohren und unbekannt für ihren Verstand und ihr Herz. Aber sie sind voller Weisheit und Orientierung für Freunde und Fremde gleichermaßen. Wie die Weisen sind auch die meisten der großen biblischen Geschichten für uns nicht besonders familiär und bekannt. Aber sie werden zu uns genauso direkt sprechen wie zu den Weisen, wenn wir ihnen eine Chance geben.

 

Fortsetzung folgt.

Erik Riechers SAC, 5. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Wenn Bilder in die Tiefe führen - was die Bildersuche mich lehrte

Echte Bilder will ich suchen.

Keine Hochglanzfotos.

Keine Werbefotos.

Nichts Gestelltes.

Nichts Perfektes.

Echt sollen sie sein,

mich stutzig machen,

mich verweilen lassen,

mich zum Nachdenken bringen,

mich berühren - bewegen vielleicht.

Echt sollen sie sein.

Blendet uns nicht so viel Schein,

der draußen bleibt,

an der Oberfläche,

uns nicht nährt?

Solche Bilder halten nicht,

was sie versprechen.

Echte Bilder will ich sehen.

  

Diesen Wunsch, diese Sehnsucht hat der Advent mir offenbart.

Tag für Tag suchte ich nach einem Bild für die jeweilige biblische Metapher in unserer adventlichen Reihe »Und der Mandelbaum blühte«. Erst ließ ich mich von dem Bildwort des Tages leiten und fand meist schnell eine große Zahl von Bildern dazu. Doch nur wenige waren aussagekräftig, die meisten nichtssagend, ja sie spiegelten bloß die Oberfläche des Gesuchten. Dann vertiefte ich mich in die ganze Bibelstelle und betrachtete die Metapher in ihrem Zusammenhang. Das veränderte meine Suche und ich fand Bilder mit einer tieferen Bedeutung. Die stärksten unter ihnen speicherte ich - doch fertig war ich noch nicht. Denn nun kam Eriks Text zu mir. Ich las ihn aufmerksam, betrachtete ihn und ließ danach meine Vorauswahl an Bildern auf mich wirken. Erst dann kristallisierte sich das wahrhaft Passende und Treffende heraus. Manchmal war es sogleich eindeutig klar, andere Male schwankte ich zwischen dem einen oder anderen Bild. Und hin und wieder musste ich noch tiefer »bohren« und alles mit einbringen, was sich bereits entfaltet hatte, um ein Bild zu finden, das des biblischen Bildes würdig war.

Wie viele Tore sah ich, Fenster, Kleider, Bilder von Festmählern, Zelten und Lampen. Doch sie erzählten nichts von Gott. Sie wollten bloß zum Kauf locken oder demonstrieren, was jemand sich geleistet hatte. Sie wirkten leer, wie eine Hülle.

Doch wenn Bilder etwas von der Dunkelheit zeigen, die durch eine Lampe erträglich wird, von Kleidern, die von Trauer und Jubel erzählen, von Zelten, die jederzeit erweitert werden können, dann schulen sie unser Auge für die tiefere Wahrheit der Wirklichkeit. Dann sprechen sie von authentischem, echten Leben, das sich anzuschauen lohnt - lange, liebevoll betrachtend.

Das biblische Bild machte es mir unmöglich, mich mit oberflächlichen Bildern zufrieden zu geben.

Echte Bilder will ich suchen!

 

Rosemarie Monnerjahn, 3. Januar 2022

Nächster Abschnitt

Neue Zeit

 

Nimm die neue Zeit

ins Gebet

sie hat es nötig

 

Keineswegs sind

die herrschenden Götzen

menschlicher als der

alte Gott vom Sinai

 

Immerhin sagte ER

-  in nur 10 Worten –

wo‘s lang geht. Und

wenn ER Unrecht sieht

schaut ER nicht weg

 

Denk‘ ich an Frau WEISHEIT

hasse ich

meine Gleichgültigkeit

und das Gerede

von den Zwängen

der Märkte

 

Vor den medialen Lügen

lese ich SEIN

oft ungehörtes WORT

von der Solidarität

mit den Hungrigen

Und bitte um Einsicht

und die Brotration

 

die für diesen Tag

 

Wilhelm Bruners

Nächster Abschnitt

Offene Einladung

 

Die neapolitanische Kinderkrippe aus dem achtzehnten Jahrhundert,

die im Art Institute of Chicago ausgestellt ist,

fängt Weihnachten ein.

Sie besteht aus über 200 Figuren,

darunter 41 Gegenstände zum Essen und Trinken.

Die üblichen Krippenverdächtigen

sind in das geschäftige Treiben der Stadt eingeflochten.

Das Jesuskind gestikuliert vor dem König von Neapel.

Die Weisen stehen neben den Barkeepern,

die Hirten mischen sich unter die Kaufleute,

und die Schafe teilen sich die Weide

mit Pferden, Rindern, Hühnern, Hunden und Katzen.

Jesus wird unter Menschen geboren,

beschäftigt mit den Pflichten und Vergnügungen der Erde.

 

Lernen wir davon.

Lade Gesellschaft

in deine Kinderkrippe ein.

Stelle ein Bild von Onkel Fred auf.

(Ich weiß, er hat es nicht verdient!)

Finde den Kristalltruthahn, den du bekommen hast,

weil du immer Erntedank ausrichtest

und schmiege ihn an Marys Seite.

Lege ein Foto des kleinen Jack und des kleinen Peter in die Krippe -

ein Selfie mit Jesus.

Der heilige Josef sieht besser aus

durch das Familienpicknickfoto,

das im Hintergrund steht -

das Foto, auf dem die kleine Isabel in der Nase bohrt.

Das Schaf, der Ochse und der Esel

werden eure Haustiere willkommen heißen.

 

Füge sie alle ein.

Menschwerdung bedeutet,

das Heilige kann uns überraschen

durch die Menschen und Ereignisse

unseres gewöhnlichen Lebens,

ein Leben, das immer mehr ist, als wir wissen.

 

John Shea

Nächster Abschnitt
Nächster Abschnitt

Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen

 

 

24. Dezember 2021

 

Die Dunkelheit: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsre Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.

Lk 1, 78-79

 

Das Bild der Dunkelheit mag Ihnen als Abschluss unserer Adventsreihe seltsam vorkommen. Doch auch es spricht zu uns von Gott. Das Problem ist nicht das Bild, sondern die einseitige Beziehung, die wir zu ihm haben. Beginnen wir mit der negativen Erfahrung der Finsternis. Es gibt zwei grundlegende Erfahrungen, die wir mit der Dunkelheit machen.

Erstens hat der Mensch Angst vor der Dunkelheit, weil die Dunkelheit unsere grundlegenden Ängste vergrößert. Wenn wir uns in ihrem Griff befinden, haben wir oft das Gefühl, dass sie niemals enden wird. Wenn eine Krise in Form von Krankheit, Unfall, Einsamkeit oder Trennung von geliebten Menschen kommt, dann sitzen wir in Finsternis und im Schatten des Todes. Das Schwierige ist nicht die Dunkelheit selbst, sondern ihre scheinbar endlose Dauer. Jeder, der schon einmal eine Nacht im Krankenhaus oder am Telefon ausharren musste, weiß, dass die Dunkelheit die Zeit zum Kriechen bringen kann.

Das liegt daran, dass die Dunkelheit die Dinge in Ungewissheit hüllt. Und wenn wir uns nicht sicher sind, tendieren wir, uns das Schlimmste vorzustellen. Ein ansonsten harmloser Schmerz, der uns tagsüber plagt, weckt in den schlaflosen Stunden der Nacht die Angst vor Krebs. Je nach Alter werden es entweder Monster oder Einbrecher, die in den frühen Morgenstunden vor unseren Häusern herumschleichen und an den Fenstern kratzen. Doch im Morgengrauen werden wir daran erinnert, die Katze nicht die ganze Nacht draußen zu lassen oder endlich den Baum zu stutzen, dessen Äste gegen das Haus schlagen, wenn der Wind sich regt. Die Dunkelheit vergrößert die Angst.

Zweitens verschleiert die Dunkelheit die wahren Gefahren und lässt sie harmlos erscheinen. In dem Moment, in dem es dunkel wird, können wir nicht mehr so leicht einschätzen, wie gefährlich die Dinge sind. Der Weg sieht klar und sicher aus, aber das liegt daran, dass die Dunkelheit die Kurven und Löcher auf der Straße verdeckt. In der Dunkelheit blickt man auf die weiten Felder, aber man sieht die Stacheldrahtzäune und Gräben nicht. Wenn die Dunkelheit im ersten Fall die Angst vergrößert, dann lässt sie im zweiten Fall die wahren Gefahren harmlos erscheinen.

Doch die biblische Sicht auf die Dunkelheit ist differenzierter, als wir denken. In den biblischen Geschichten wird die Dunkelheit nicht dämonisiert. Natürlich ist diese Dunkelheit gefährlich, aber sie ist ebenso sicher ein Zeichen der Gegenwart Gottes wie das Licht. Oder ist Gott nicht auch in den gefährlichen Stunden des Lebens gegenwärtig?

Die Dunkelheit holt die Dämonen aus ihren Verstecken. Wenn die leuchtenden Ablenkungen des Tages vorbei sind, sehen wir plötzlich, was wir verdrängen. Mit dem Einbruch der Nacht kommen langsamere, leisere und beunruhigender Prozesse ans Licht. In der Dunkelheit werden Türen geöffnet, die tagsüber verschlossen bleiben. Hinter diesen Türen befinden sich sicherlich sehr beängstigende Dinge, aber auch sehr erstaunliche Dinge. Mit der Zeit lernen wir, dass diese Türen alle in denselben Raum der Begegnung mit Gott führen. »Der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft, ich, der HERR, bin es, der all dies vollbringt.« (Jes 45,7)  

Wenn wir von Licht und Dunkelheit sprechen, könnte man meinen, dass zwei verschiedene Götter sie erschaffen haben. Ein authentisches menschliches Wesen zu sein bedeutet, dass wir im Sonnenschein und im Mondlicht, mit Trauer und mit Freude leben. Ein Leben mit nur der Hälfte dieser Dinge zu wollen, bedeutet, ein halbes Leben zu wollen. Zur Fülle des Lebens gehört auch die Erfahrung der Dunkelheit.

Wenn wir uns aus Prinzip von der Dunkelheit abwenden und alles tun, um sie zu vermeiden, weil wir nie wissen, was in ihr stecken könnte, besteht die Gefahr, dass wir vor Gott davonlaufen. Abraham macht eine kritische Erfahrung mit Gott in der Finsternis. Abraham ist im Unklaren über seine eigene Zukunft. Er sagt Gott, dass er eine wichtige Verheißung nicht erfüllt hat: Du hast mir keine Nachkommenschaft geschenkt. Gott streitet nicht mit ihm, sondern führt ihn hinaus in die Nacht und lässt ihn den Nachthimmel betrachten. (Gen 15,1-5) Dann fordert er ihn auf, die Sterne zu zählen. Dies könnte er jedoch niemals am helllichten Tag tun. Die Dunkelheit spielt eine wichtige Rolle bei Abrahams Entscheidung, sich auf Gott zu verlassen.

Später kommt Gott mitten in der Nacht zu Abrahams Enkel Jakob, nachdem dieser vor seiner Familie, die er verraten hatte, geflohen war. Als er nicht mehr weitergehen konnte, legte er sich mitten im Land auf die Erde und schlief ein und träumte einen Traum, der wie eine Vision kam (Gen 28,10-22). Die nächtliche Vision spielt eine Schlüsselrolle bei Jakobs Entscheidung, an Gott zu glauben.

Die Liste der wichtigen Ereignisse, die in der Bibel nachts stattfinden, wird immer länger. Jakob ringt in der Nacht mit einem Engel und kommt zu einem Hinken, einem Segen und einem neuen Namen. Sein Sohn Josef träumt in der Nacht solche Träume, dass er die Aufmerksamkeit des Pharaos auf sich zieht und aus dem Kerker in den Palast einzieht. Der Auszug aus Ägypten findet bei Nacht statt. Gott teilt das Rote Meer bei Nacht. Das Manna fällt in der Nacht vom Himmel in die Wüste.

Vor allem aber ist die Geschichte von der Geburt Jesu Christi, die wir so sehr lieben, eine Geschichte der Nacht. Der Prophet Jesaja sagt uns, dass »das Volk, das in der Finsternis geht, hat ein großes Licht gesehen, die im Land tiefsten Dunkels leben, über ihnen ist ein Licht aufgestrahlt.« (Jes 9,1) Was wird uns alles entgehen, wenn wir nie in der Finsternis wandeln und in Ländern tiefer Finsternis wohnen? Die Hirten auf dem Feld wachten nachts über ihre Herde, als der Engel des Herrn ihnen einen Besuch abstattete und sie in die Herrlichkeit des Herrn einhüllte. Das Gloria der Engel ist eine nächtliche Serenade. Die erste Entscheidung, das Kind zu besuchen, fällt in der Nacht. Vielleicht können wir jetzt hören, was der Prophet Jesaja über Gott und die Dunkelheit sagt: »Und ich werde dir Schätze aus der Finsternis geben und versteckte Reichtümer, damit du erkennst, dass ich es bin, der HERR, der dich bei deinem Namen ruft, der Gott Israels.« (Jes 45,3)

Die Dunkelheit der biblischen Erzählungen ist sowohl gefährlich als auch göttlich, aber sie enthält die Gegenwart Gottes. Im Hebräischen gibt es sogar ein eigenes Wort für diese Dunkelheit, ein Wort, das ausschließlich für Gott verwendet wird: araphel. Diese schwere Finsternis offenbart die lebendige Gegenwart Gottes und verhüllt sie zugleich, so wie es die leuchtende Herrlichkeit Gottes auch tut. Beides sind Zeichen seiner Barmherzigkeit: Dunkelheit und Licht sind Partner im Werk der Offenbarung. So erkennt es der Beter von Psalm 139: »Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis.«

Dunkelheit, wohin führst du mich?

Am letzten Adventstag beten wir mit Gertrud v. Le Fort:

»Nicht nur der lichte Tag, auch die Nacht hat ihre Wunder. Es gibt Blumen, die nur in

der Wildnis gedeihen, Sterne die nur am Horizont der Wüste erscheinen. Es gibt

Erfahrungen der göttlichen Liebe, die uns nur in der äußersten Verlassenheit, ja am

Rande der Verzweiflung geschenkt werden.«

 

 

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 24. Dezember 2021

 

Nächster Abschnitt

Das Herz: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss.

Mal 4, 6

 

 

In der Bildsprache der biblischen Erzählung ist das Herz der Ort, wo die göttliche Liebe und die menschliche Gebrechlichkeit sich begegnen. Das Herz ist der Beziehungspunkt, der Berührungspunkt und der Begegnungspunkt zwischen dem Gott der Liebe und dem Menschen mit seinen Wunden. Das Herz ist der Ort, wo der Mensch (»so wie ich von Gott her bin«) und Gott (wie er wirklich ist und nicht wie ich ihn mir vorstelle) sich begegnen.

Deshalb sind auch Begegnung, Berührung und Beziehung die drei Schritte, die das Herz bilden.

Anatomisch betrachtet liegt das Herz verborgen in dem Käfig der Rippen und dieser Käfig ist nochmals überzogen von Muskel und Haut. Das Herz kann man nicht sehen; aber es pumpt Blut (das Lebensprinzip in der Bibel) und ist die Quelle des Lebens. Wenn das Herz auf irgendeine Art verletzt ist, dann ist die ganze Person betroffen.

Das Herz ist die Metapher für die Beziehung zu Gott, und diese Beziehung ist die unsichtbare Mitte der Person. Diese Beziehung kann man nicht sehen;  aber sie pumpt Blut (Lebensprinzip in der Bibel)und ist die Quelle des Lebens. Wenn diese Beziehung auf irgendeine Art verletzt ist, dann ist die ganze Person betroffen. Wenn diese Beziehung passend geordnet und gestaltet wird, dann fließt ein geistliches Leben. Wenn sie dagegen nicht gut geordnet ist, dann ist das Ergebnis der Tod (der Verlust von dem, was Leben ausmacht).

Diese Beziehung (das Herz) ist die ultimative Beziehung und der durchdringende Kontext jeder anderen Beziehung (zur Schöpfung, zum Nächsten und zu mir selbst). Darum ist die ganze Person in Mitleidenschaft gezogen, wenn sie nicht stimmt.

Wenn ich nicht am Ort der Begegnung, Berührung und Beziehung erscheine, dann bediene ich mich selbst.

Deshalb ist es in den biblischen Geschichten so wichtig, dass wir uns um das Herz kümmern. Wenn ich nicht an diesem Ort der Begegnung, der Berührung und der Beziehung zwischen menschlicher Zerbrechlichkeit und göttlicher Liebe auftauche, dann bin ich auf mich selbst zurückgeworfen. Maleachi spricht davon, dass die Herzen der Väter sich ihren Kindern zuwenden und die Herzen der Kinder sich ihren Vätern zuwenden werden. Aber das geschieht nicht, wenn Väter und Kinder nicht mehr an den Orten der Beziehung auftauchen. Ich bin Vätern begegnet, die so besessen von den Vorzügen und Privilegien ihres Lebens waren, dass sie nicht mehr in der Lage waren, das, was stimmig und authentisch ist, von dem zu unterscheiden, was in ihren Beziehungen zu ihren Kindern unbedeutend und vielleicht sogar bedeutungslos ist. Oder denken Sie an die arme Eva. Vor ihrem unglücklichen Gespräch mit der Schlange ist sie nicht einmal hungrig und hat kein Bedürfnis, von dem Baum zu essen. Sie lässt sich überreden und überreden, etwas zu essen, was sie eigentlich weder will noch braucht. Aber weil sie nicht an dem Ort auftaucht, an dem ihre menschliche Schwäche auf die göttliche Liebe ihres Schöpfers trifft, hat sie in Gott keinen Gesprächspartner, der das, was ihr gesagt wurde, auch hinterfragen, erforschen und prüfen kann.

Weil weder Adam noch Eva zum Ort der Begegnung, der Berührung und der Beziehung zu Gott erscheinen, können sie nichts klären. Das führt dazu, dass sie sich verkleiden und verstecken, denn sie glauben, sie dürfen nicht mehr so sein, wie sie von Gott her sind, und sie vermeiden die Begegnung. Und das führt dazu, dass sie wieder nicht erscheinen, wenn Gott kommt.

Gott hat große Sorge um das Herz (die Beziehung), denn seine erste Frage nach der Episode mit dem Baum ist: Wo bist du? Diese Frage trägt die Sehnsucht nach Begegnung, Berührung und Beziehung in sich.

Nach der Adam-und-Eva-Erzählung macht die Bibel uns klar, dass das Herz (die Beziehung) die besondere Sorge und das Anliegen Gottes ist. Das Herz ist aber auch das, wofür Gott bereit ist zu kämpfen und zu ringen.

Wenn wir das Herz als Ort der Begegnung, Berührung und  Beziehung vermeiden, dann wird das Herz hart oder steinig; dann wird das Herz der Väter sich niemals den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern auch nicht. Wenn wir aber am Ort des Herzens erscheinen, dann wird das Herz aus Fleisch sein, weich und empfänglich.

Und da gibt es eine eiserne Regel: Die einzige tödliche Sünde gegen das Herz, diesen Ort, wo die göttliche Liebe und die menschliche Gebrechlichkeit sich begegnen, ist, nicht zu erscheinen.

Herz, wohin führst du mich?

Das Herz ist der Ort, wo die göttliche Liebe und die menschliche Gebrechlichkeit sich begegnen.

»Er wird auch die von der Finsternis verborgenen Dinge ans Licht und die Wünsche der Herzen zum Vorschein bringen.“ (1 Kor 4,5) Gott kennt das verborgene Herz. Werden wir dort erscheinen, wo unsichtbare, aber vorhandene Themen mit Gott besprochen werden?

»Der Erforscher der Herzen aber weiß, was das Sinnen des Geistes ist…« (Rom 8,27) Werden wir erschienen, um das Herz (die Beziehung) zu erforschen? Wollen wir wissen, wie es um die Beziehung wirklich steht? 

»Gott - der die Herzen prüft«, so nennt ihn Paulus in 1 Thes 2,4. Gott prüft das Herz, denn es ist ihm nicht egal, was mit der Beziehung passiert. Kann ich das auch von mir behaupten?

»Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, doch hält sein Herz sich fern von mir.« (Mk 7, 6) Möchte ich eine authentische Beziehung zu Gott oder reicht mir eine oberflächliche Bekenntnis?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 23. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Ein Zurückgeforderter: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Darum lasse ich ihn auch vom Herrn zurückfordern.

Er soll für sein ganzes Leben ein vom Herrn Zurückgeforderter sein.

 

Und sie beteten dort den Herrn an.

1 Sam 1, 28

 

 

 

 

 

Es wird heute viel über die Gemeinschaft gesprochen. Alle möglichen Leute erzählen uns von den Bedürfnissen der Familie, den Problemen der Gesellschaft und den Kämpfen um das Gemeinwohl. Allen gemeinsam ist die feste Überzeugung, dass die Gemeinschaft wichtig ist und dass wir etwas tun müssen, um den stetigen Verfall zu stoppen, unter dem unser Gemeinwesen zu leiden scheint.

Aber wenn die Gemeinschaft so wichtig ist, wie wir sagen, warum fällt es uns dann so schwer, eine einfache Frage zu beantworten: Warum? Warum ist die Gemeinschaft so wichtig? Warum sollten wir sie um jeden Preis bewahren? Warum sollten wir uns gegen die Kräfte wehren, die sie zu zerstören drohen?

Das heutige Bild enthält eine grundlegende Lehre über die Mitglieder der Gemeinschaft. Was Gott betrifft, so sind wir nicht der Besitz der anderen. Wir sind es, die zurückgefordert werden. Wir sind einander ausgeliehen, und Gott hat uns einander zur sicheren Aufbewahrung anvertraut. Die Menschen und die Beziehungen, die wir zu ihnen haben, sind nicht unser Besitz, mit dem wir machen können, was wir wollen.

Diese sichere Aufbewahrung ist Gottes Heilmittel für zwei Formen von Nachlässigkeit und Schlamperei in unseren Beziehungen. Stellen Sie sich vor, die Eltern vertrauen Ihnen ihr Kind eine Zeit lang an. Das Wissen, dass sie zurückkehren werden, um das Kind zurückzuholen, macht Sie vorsichtiger und ehrfürchtiger in Ihrem Verhalten, weil Sie wissen, dass das Ihnen anvertraute Leben in ihren Augen kostbar ist.

Vor allem werden Sie darauf achten, das Kind nicht zu ignorieren oder zu vernachlässigen. In diesem Moment werden Sie dafür sorgen, dass dieses Leben nicht zur Einsamkeit verdammt ist: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei« (Genesis 2,18). Die Einsamkeit ist schlecht für das menschliche Herz. Abgeschnitten von anderen können wir unsere einzigartigen Talente und Gaben nicht erkennen, wir können keine Bestätigung für das finden, was gut und stark in uns ist, und wir können keine Korrektur und Heilung für die Dinge finden, die in unserer Seele schwären.

In der Einsamkeit kommen wir an einen Punkt, an dem wir davon überzeugt sind, dass wir es selbst tun müssen, dass wir es selbst schaffen müssen, dass wir aus unseren eigenen Tiefen jeden Mut und jede Kraft aufbringen müssen, die wir brauchen.

Die Einsamkeit ist also ein Ort der Verzweiflung, denn sie ist auch der Ort, an dem wir erkennen, dass wir es nicht aus eigener Kraft tun können, dass wir es nicht aus eigener Kraft schaffen können, dass wir nicht den Mut und die Kraft aufbringen können, die wir in unserer Müdigkeit und Verzweiflung brauchen.

Die Gemeinschaft, die weiß, dass wir einander zur sicheren Aufbewahrung anvertraut sind, dass wir einander von einem gnädigen Gott ausgeliehen sind, zerbricht den Fluch der Einsamkeit, indem sie der Ort ist, an dem wir nicht allein sind, an dem wir teilen können, an dem wir zusammen sein können, an dem wir uns aufeinander stützen und voneinander lernen können.

Zu wissen, dass das Kind in meiner Obhut von seinen Eltern zurückgefordert wird, ist wie das Wissen, dass alle Beziehungen meines Lebens von Gott zurückgefordert werden. Das bringt uns dazu, mit einem größeren Verantwortungsbewusstsein zu leben. Was geliehen ist, was mir nicht gehört, behandle ich immer mit einer gewissen Vorsicht und Sorgfalt, weil ich weiß, dass ich an dem Tag, an dem es zurückverlangt wird, zur Rechenschaft gezogen werde.

Zweitens gehen wir nicht einfach getrennte Wege, wenn uns jemand anvertraut wird. Das Kind, das uns anvertraut ist, wird nicht im Keller allein gelassen, während wir auf eine Party gehen. Heute verehren wir die Idee, dass jeder seinen eigenen Weg gehen sollte. Aber wenn jeder seinen eigenen Weg geht, dann bleibt keiner mehr übrig, um ihn gemeinsam zu gehen. Es ist schön und gut, seinen eigenen Weg in der Welt zu finden: Das Kind muss sich seinen Platz in der Gesellschaft suchen, der Ehepartner muss immer noch einen persönlichen und einzigartigen Weg finden, den anderen in der Ehe zu lieben, und die Eltern müssen ihren Platz und ihre Rolle in der Welt finden, wenn die Kinder das Haus verlassen. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass wir diese Dinge allein, getrennt und weit weg voneinander tun müssen.

Wenn wir in dem Bewusstsein leben, dass jeder Mensch in unserem Leben von Gott zurückfordert wird, dann ist die Gemeinschaft der Ort, an dem wir gemeinsam suchen, an dem die vielen Suchenden einander helfen, den Weg zu finden, an dem die einzigartigen Bedürfnisse eines jeden Menschen Teil einer gemeinsamen Sache sind. Wenn Gott kommt, um das uns anvertraute Leben zurückzufordern, dann wollen wir es ihm in bestmöglichem Zustand zurückgeben. Es wurde uns für eine gewisse Zeit geliehen, aber wir konnten es nie behalten. Und es sollte ein tiefer Wunsch unseres Herzens sein, es Gott in einem ebenso guten Zustand zurückzugeben, wenn nicht sogar besser, als in dem Moment, in dem er es in unsere Obhut gab.

Deshalb sollte Gottes Wunsch, sein geliebtes Volk anderen anzuvertrauen und es zurückzufordern, uns in vielerlei Hinsicht und auf vielen Ebenen zu einer Gemeinschaft machen. Diese gemeinsame Erfahrung, Menschen zu sein, die vom Herrn zurückgefordert werden, sollte ein Segen für alle unsere Häuser sein. Deshalb müssen wir mit dem Leben, das uns anvertraut ist, behutsam umgehen. Wenn der Herr kommt, um sein Eigentum zurückzufordern, wollen wir nicht als die Architekten der Einsamkeit, der Ausgrenzung und der getrennten Entwicklung der anderen bekannt sein. Wir dürfen nie versäumen, uns an den wesentlichen Segen zu erinnern, der der Gemeinschaft zugrunde liegt: Gott hat uns einander zur Aufbewahrung gegeben.

Zurückgeforderter, wohin führst du mich?

Wie sehr bin ich mir des Privilegs meiner Beziehungen bewusst, der Tatsache, dass sie alle eine Leihgabe an mich sind und von dem Gott allen Lebens zurückgefordert werden?

Wie sehr bin ich mir meiner Verantwortung für die Menschen bewusst, die mir von dem Gott anvertraut sind, der sie an dem Tag, an dem er sie zurückfordert, unversehrt und geliebt zurückhaben will?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 22. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Das Fenster: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Der Gazelle gleicht mein Geliebter, dem jungen Hirsch.

Ja, draußen steht er an der Wand unsres Hauses;

er blickt durch die Fenster, späht durch die Gitter.

Hld 2,9

 

 

 

 

 

 

 

 

Vor vielen Jahren, als ich noch an der Universität studierte, waren die Nachrichten voll von Berichten über eine brandneue Schule, die gerade eröffnet worden war. Aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, hatte der Architekt eine Schule, einen Ort des Lernens, ohne Fenster entworfen. Die Schulleitung gab viele Pressekonferenzen, um das Konzept des Gebäudes zu erläutern, wobei sie vor allem die Idee hervorhob, dass das Fehlen von Fenstern Ablenkungen von außen verhindern und so das Lernen der Schüler verbessern würde. Die Schüler gaben ihre eigene Antwort auf ihr neues Schulgebäude. Sie sprühten Fensterrahmen an die Wände und machten Fotos von sich selbst, auf denen sie so posierten, als würden sie in das Gebäude hineinschauen.

Diese Schule ohne Fenster erinnert uns an eine grundlegende Erkenntnis. Fenster sind untrennbar mit Wänden verbunden. Um zu verstehen, was sie uns sagen wollen, müssen wir zunächst darüber nachdenken, was unsere Wände bedeuten.

Mauern werden gebaut, wenn wir Räume unseres Lebens haben, die wir schützen wollen. Die Wände unserer Häuser schützen unseren Lebensraum vor Wind und Wetter sowie vor Raubtieren, sowohl vor vier- als auch vor zweibeinigen. Die Wände schützen uns auch vor neugierigen Blicken und bewahren unsere Privatsphäre.

Fenster sind Öffnungen in der Wand. In dem Moment, in dem wir ein Fenster in die Wand einsetzen, geschehen zwei Dinge.

  1. Sie öffnen die geschlossenen Räume unseres Lebens für die Außenwelt und geben uns mehr Zugang zu der Welt, die wir normalerweise durch unsere Mauern ausschließen.
  2. Die völlige Sicherheit, die die Mauer bietet, wird vermindert, weil die Welt jenseits unserer Mauern nun leichter Zugang zu unseren geschlossenen Lebensräumen hat und leichter in die Welt hineinschauen kann, die wir normalerweise mit unseren Mauern abschirmen. Es ist wesentlich einfacher, ein Fenster einzuschlagen und in ein Haus einzudringen, als eine Wand zu durchbrechen.

Fenster sind ein privilegierter Ort der Begegnung. Sie sind ein Ort des Austauschs zwischen den beiden Welten des Außen und des Innen. In dem Moment, in dem wir ein Fenster in eine Wand einbauen, geschehen drei Dinge.

Erstens lassen sie Licht herein. Schon das Bild eines fensterlosen Zimmers lässt uns an einen Ort ohne Sonnenlicht denken. Zweitens lassen sie frische Luft herein. Sie ermöglichen uns einen besseren Blick auf die Welt, mehr Zugang zu den Bewegungen, Geräuschen und Farben der Welt. Drittens lassen sie Dinge nach draußen. Wir öffnen die Fenster, um die heiße, stickige und abgestandene Luft hinauszulassen, damit wir besser durchatmen können. Unangenehme Gerüche werden zerstreut, wodurch der Raum, in dem wir leben, viel angenehmer wird.

Im Hohelied unterstreicht das Bild des Fensters in besonderer Weise diesen privilegierten Ort der Begegnung. Das Fenster erlaubt dem Liebenden einen Blick auf das, was im Haus des Geliebten vor sich geht.

Es wird zum Symbol des zugänglichen Herzens, des Herzens, das bereit ist, einem anderen Menschen einen Blick auf das zu gewähren, was in ihm vorgeht. So wie wir ein fensterloses Zimmer bauen können, können wir auch ein fensterloses Herz bauen. Die meisten von uns haben diese Erfahrung des fensterlosen Herzens bei Menschen gemacht, die ihr Herz, aus welchen Gründen auch immer, völlig von der Außenwelt abgeschottet haben. Niemand weiß, was in ihnen vorgeht, und sie gewähren nie einen Hinweis oder einen Blick auf ihr Innenleben.

Fenster sind Orte der Spannung. Es gibt sowohl den Menschen, der von außen durch das Fenster hineinschaut, als auch den Menschen, der von innen auf die Welt hinausschaut. Das ist das Bild vom Fenster des Herzens, das im Hohelied so schön verwendet wird. Für den Menschen im Innern nehmen die Fenster ein Stück Sicherheit weg, denn sie durchbrechen die feste, unzerbrechliche Mauer. Sobald wir einem Menschen einen Einblick in unser Innenleben gewähren, sind wir verletzlicher. Er sieht mehr als das, was wir nach außen hin zur Schau stellen und was wir kontrollieren. Ein Fenster ins Herz ist immer mit einem Verlust dieser perfekten Kontrolle verbunden. Aber es ist auch ein Ort der Überraschung, etwas, das wir nicht so leicht übersehen oder vergessen sollten. Wenn der Außenstehende ein Fenster in unser Herz erhält, kann er auch von der ungeahnten Tiefe und Schönheit in uns überrascht werden. Sie können eine Zärtlichkeit sehen, die in unserer äußeren Schroffheit nicht angedeutet wird. Sie können unsere Leidenschaft entdecken, die nach außen hin nicht sichtbar ist, und eine liebevolle Freundlichkeit, die sonst verborgen bleibt. Ebenso überraschend ist es für diejenigen, die durch das Fenster des Geliebten blicken, zu entdecken, wie viel Schmerz wir ertragen, wie viel Traurigkeit und Kummer hinter unseren Mauern zu finden sind. Ein Blick durch das Fenster des Herzens kann die Person, die draußen steht, verständnisvoller, mitfühlender, fürsorglicher und weniger verurteilend machen.

Die andere Seite dieser Spannung liegt in der Tatsache, dass Fenster uns einen Blick auf eine Welt ermöglichen, die größer ist als der Raum, den wir schützen, und dass dieser Raum durch das, was von außen kommt, gesegnet und bereichert werden kann. Wenn die Fenster des Herzens geöffnet werden, lässt der Mensch ins Innere Dinge eintreten, die neue und weitere Perspektiven eröffnen. Wenn die Person im Inneren ein Fenster in der Wand öffnet, kann sie auch überrascht sein zu entdecken, dass die Augen, die sie nun sehen, wie sie wirklich sind, nicht mit Herablassung, Ablehnung oder Verachtung gefüllt sind. Die Person, die das Fenster für den Liebhaber, der draußen steht, öffnet, kann die atemberaubende Erfahrung machen, dass sie geliebt und verstanden wird. In den Augen des Geliebten, der endlich einen Blick auf das wirft, was im Inneren des Hauses geschieht, leuchtet Mitgefühl und Fürsorge. Das Fenster ist ein privilegierter Ort der Begegnung zwischen uns.

Fenster, wohin führst du mich?

Das Bild des Fensters in diesem winzigen Ausschnitt aus dem Hohelied der Liebe versucht, zu uns über Gott zu sprechen. Er ist der Liebende, der darauf wartet, in unsere Herzen zu schauen.

Wo werden wir Fenster einbauen, wo bisher nur eine Mauer zwischen uns war?

Unser Gott ist aber auch der Geliebte, der sein Herz öffnet, um uns einen Blick auf das zu geben, was in seinem Herzen pocht.

Wo werden wir die Liebenden unseres Gottes sein und einen Blick durch das Fenster werfen, um zu sehen, was in seinem großen Herzen geschieht?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 21. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Im Herzen bewahren: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Maria aber – alles bewahrte sie,

diese Botschaften zusammenfügend

in ihrem Herzen.

 Lk 2, 19

 

 

 

 

 

 

 

 

Manchmal erzählen mir Menschen von kraftvolle, Erfahrungen in ihrem Leben, Eindrücken, die sie tief beeindruckt haben, innerer Erleuchtung, die sie überrascht hat. Wenn sie allerdings diese Erfahrungen nicht im Herzen bewahren, dann verlieren sie sehr schnell ihre Kraft, werden so zu sagen »herzlos«.

Das Bild der Bibel, das dagegen wirkt, finden wir in der Art, wie Maria lebt: »Maria aber – alles bewahrte sie, diese Botschaften zusammenfügend in ihrem Herzen.«

Botschaften des Lebens zusammenfügend im Herzen zu  bewahren besteht aus drei Schritten:

  1. Wir müssen Lebenserfahrungen in uns aufnehmen und hineinnehmen, anstatt sie spurlos an uns vorbeiziehen zu lassen. Wenn wir das tun, verhindern wir, dass wir zu bloßen Konsumenten des Lebens werden, die versuchen von allem zu kosten, ohne wirklich irgendetwas davon zu genießen.
  2. Wir müssen diese vielfältigen Erfahrungen in Spannung halten und diese Spannungen (manchmal auch qualvolle Spannungen) aushalten.
  3. Letztlich müssen wir unsere Lebenserfahrungen so lange in uns tragen, bis sie verwandelt werden können zu etwas, was nicht herzlos ist. Wie Maria zu leben heißt, diese Erfahrungen des Lebens in uns aufzunehmen und sie durch Mitgefühl zu formen.

Wenn wir unsere Lebenserfahrungen im Herzen bewahren, entdecken wir, dass der Traum, den wir für uns selbst haben, oft nicht gelebt wird. Jeder von uns trägt einen Traum der Fülle in sich. Vielleicht ist er uns bewusst, vielleicht auch nicht, aber dieser Traum gehört zu uns.

Immer wieder müssen wir innehalten und den Stand dieses Lebenstraumes der Fülle überprüfen. Wie leben wir tatsächlich im Angesicht unseres Traumes? Was sind wir in Tat bereit zu tun, um diese Sehnsucht nach Fülle in Wirklichkeit umzusetzen? Und dann müssen wir die nötigen Änderungen vornehmen. Unvermeidlich führt dies dazu, dass wir einiges loslassen und anderes umarmen.

Das ist genau das, was Maria tut. Sie schaut zurück auf die Erfahrung ihres letzten Jahres, bewahrt alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und denkt darüber nach. Fast immer gehen wir davon aus, dass sie mit leichtem, frohem Herzen rückblickt auf diese letzten Monate ihres Lebens. Meinerseits kann ich nur sagen, dass ich das nicht glauben kann. Denn welche Erfahrungen musste Maria zusammenfügend in ihrem Herzen bewahren?  Eine unerwartete Schwangerschaft; eine Beziehungskrise mit Joseph; der Verdacht und das Misstrauen von Familien und Freunden; der Mann ihrer Lieblingscousine Elisabeth, der monatelang stumm geschlagen wurde; eine Zwangsreise nach Bethlehem, fern von Heimat und Verwandtschaft; die Erfahrung ausgeschlossen, ausgestoßen zu werden von Wärme und Würde, während sie entbindet; die Tatsache, dass Fremde anstatt Freunde zu Besuch kommen; und die schmerzhafte Realität, dass sie nichts anderes als Dreck, Kälte und Armut ihrem Kind anzubieten hat, als es zur Welt kommt.

Maria bewahrte all das in ihrem Herzen. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie sich nach mehr Fülle sehnte. Denn dieses menschliche Drama der Erneuerung des Lebens und der Träume (sei es bei Maria oder bei uns) ist Gott gewoben und Geist durchtränkt. Unsere Herzensverbindung zu dem Gott, der unser Leben mehren will, erzeugt diesen Traum. Die Sehnsucht nach der Fülle, die uns führt und leitet, wird genährt von Gottes Liebe zu uns, denn er kann es nicht gut haben, wenn seine Menschen ohne Fülle dahinsiechen.

Im Herzen bewahren und erwägen bedeutet, dass unser Adventsprojekt immer darin bestehen muss, diese Sehnsucht nach Fülle zu verwirklichen. Die Sehnsucht in uns, die uns unruhig, hungrig, durstig und sehnsüchtig macht, muss Fleisch werden. Wir dürfen sie nicht mit Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit abtöten. Wir dürfen sie nicht mit Konsum und ständiger Unterhaltung ersticken. Wir dürfen sie nicht abstumpfen oder uns mit gedanken- und sinnlosen Beschäftigungen dagegen betäuben. Wann immer wir Momente erleben, die uns aufschrecken, unser selbstsicheres Leben erschüttern, unseren Seelenfrieden stören, unsere Phantasie kitzeln oder unsere Seele beunruhigen, müssen wir sie in unserem Herzen bewahren und darüber nachdenken.

Im Herzen bewahren, wohin führst du mich?

Wenn wir unsere Lebenserfahrungen zusammenfügend im Herzen bewahren, dann können ganze neue Fragen in uns wach werden:

Ist das, womit ich mich sättige, auch wirklich das, wonach ich mich sehne?

Wo stehe ich wirklich in dem Drama des Glaubens, das sich in den biblischen Geschichten entfaltet?

Was darf eine biblische Geschichte in mir freisetzen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 20. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Gebärende: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Darum gibt der Herr sie preis,

bis zu der Zeit, da die Gebärende geboren hat.

Micha 5, 2

 

 

Kürzlich hörte ich von einem liebevollen Gespräch zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. Ihre Tochter dachte darüber nach, ein zweites Kind zu bekommen. Fast ein Jahr war seit der Geburt ihres Erstgeborenen vergangen, und jede Erfahrung als die Mutter ihres Sohnes war voller Wärme, Freude und Segen. Was sie eine Zeit lang zögern ließ, war die Erinnerung an die Geburt des Kindes.

Die Erfahrung der Gebärenden spielt schon in den ersten Momenten der großen biblischen Erzählung eine Rolle. In Genesis wird Eva von Gott gewarnt, dass zu dem neuen und anderen Leben jenseits des Gartens Eden auch die schmerzhafte Erfahrung der Geburt eines Kindes gehören würde. »Viel Mühsal bereite ich dir und häufig wirst du schwanger werden. Unter Schmerzen gebierst du Kinder«. (Gen 3, 16). Wir sind daran gewöhnt, diese Verbannung aus dem Garten als Strafe zu betrachten, und deshalb sehen wir diese Verschärfung der Geburtswehen als Teil der Vergeltung für die Missgeschicke der ersten Erdenbewohner mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Aber in der Geschichte geht es nicht um Rache oder Bestrafung. Es geht um eine Erziehungsmaßnahme. Es geht darum, dass Gott seinen Kindern hilft, zur Reife zu gelangen.

Das Problem für Adam und Eva im Garten ist, dass sie das Leben nur von einer Seite kennengelernt haben, nämlich als Geschenk. Alles in diesem Garten wurde von Gott vorbereitet und ihnen gnädig, großzügig und ohne Widerwillen gegeben. Das bringt damals wie heute ein Problem mit sich. Da sie nie direkt an der Aufgabe beteiligt waren, Leben in die Welt zu bringen, kommen sie nicht zu einer tiefen Wertschätzung des Geschenks dieses Lebens. Adam und Eva sind wie Kinder, die ihre Eltern um Geld bitten, um sich etwas zu kaufen. Lange Zeit zahlen die Eltern die Rechnungen. Doch irgendwann werden diese Eltern ihren Kindern sagen, dass sie das Geld, das sie haben wollen, selbst verdienen sollen. Das ist keine Bestrafung ihrer Kinder. Es liegt nicht daran, dass sie ihre Kinder nicht mehr lieben oder ihren Reichtum nicht mehr mit ihnen teilen wollen. Eltern tun dies, um ihren Kindern den wahren Wert des Geldes zu vermitteln. Sobald sie hinausgehen und Geld verdienen, lernen sie, was Adam gelernt hat: »Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen«. (Gen 3, 19) Bis jetzt wurde das Brot, das sie essen, das Leben, das sie genießen, im Schweiße des Angesichts ihrer Eltern verdient. Aber wenn sie einmal dafür gearbeitet haben, ändert sich ihre Wertschätzung für die Bedeutung von Geld.

In der Tiefe dieser Geschichte spricht das Bild einer Gebärenden zu uns von Gott. Es geht um den Schmerz, die Kosten und den Wert, Leben in die Welt zu bringen. Es ist wunderbar, aber recht einfach, das Leben, das ein anderer für uns in die Welt gebracht hat, zu halten und zu wiegen. Aber welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um Leben in die Welt zu bringen? Biologisch gesehen ist dies ein Preis, den nur Frauen zahlen müssen. Aber geistlich gesehen ist es eine Frage, die an das Herz eines jeden Menschen gerichtet ist. Sind wir bereit, neues Leben zu gebären, auch wenn es schmerzhaft und mühsam ist?

Micha sagt, dass wir preisgegeben sind, bis die Gebärende ihr Kind geboren hat. Es ist eine poetische Art, uns zu sagen, dass wir verlorene Seelen sein werden, verloren für den tiefsten Sinn und Zweck des Lebens, bis zu dem Tag, an dem wir selbst bereit sind, die wahren Kosten und den Wert der Teilnahme an der Arbeit, Leben in die Welt zu bringen, zu lernen. Die Poesie des Bildes sollte uns nicht taub machen für die harte Wahrheit, die es spricht. Es geht um eine grundlegende Haltung gegenüber dem Leben.

Zu oft ist diese Haltung in Menschen verschroben. Viel zu viele Menschen haben nur ein Gefühl der persönlichen Berechtigung. Sie glauben, dass das Leben ihnen geschuldet ist, sei es von Gott, dem Staat, ihrer Familie, ihren Nachbarn oder ihren Freunden. Gleichzeitig leisten sie keinen eigenen Beitrag zum Leben der Welt. Während sie von allen anderen erwarten, dass sie ihr Leben leichter, reicher und freier gestalten, machen sie keinen Finger krumm, um das Leben der anderen zu bereichern, zu erleichtern oder zu befreien.

 In der geistlichen Begleitung begegnet mir dies häufig. Menschen erzählen mir, dass sie Gott um etwas gebeten haben und sich nun ärgern, dass er ihre Bitte nicht erfüllt hat. Hier hat eine Verwechslung der Rollen stattgefunden. Sie sprechen von Gott, beschreiben aber den Weihnachtsmann. Der Weihnachtsmann ist die Person, der man einen Wunschzettel übergibt und dann erwartet, dass er erfüllt wird. Gott ist keine Wunscherfüllungsphantasie. Gott bietet uns Partnerschaft an und möchte, dass wir mit ihm am kühnsten und schönsten seiner Werke teilnehmen, nämlich neues Leben in die Welt zu bringen. Die Menschen, die sich bitterlich darüber beklagen, dass ihnen das Leben, das sie sich wünschen, nicht auf dem Silbertablett serviert wird, sind dieselben, die nicht bereit sind, schmerzhafte Entscheidungen zu treffen, sich schmerzhaften Herausforderungen zu stellen und schmerzhafte Mühen auf sich zu nehmen, um dieses Leben in die Welt zu bringen. Ein Mitbruder mit reicher pastoraler Erfahrung und großem Witz warnte mich einmal vor solchen Menschen, als er mir das Handwerk der geistlichen Begleitung beibrachte. »Sie werden immer ihre Hände ausstrecken, aber du wirst nie Schwangerschaftsstreifen auf den Herzen dieser Menschen finden.«

Jesus selbst greift dieses Bild auf: »Wenn die Frau gebären soll, hat sie Trauer, weil ihre Stunde gekommen ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist..« (Joh 16, 21) Jesus kennt diese Erfahrung, denn er weiß um den Preis und den Wert, Leben in die Welt zu bringen. Auch er war im Garten Gethsemane von Trauer erfüllt, als seine Stunde kam. Aber nach seiner Auferstehung war er von Freude und Frieden erfüllt und überflutete die Welt mit dem, was sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung in die Welt gebracht hatten.

Die junge Mutter, die ein zweites Kind erwartet, ist an diesen Ort der Ehrfurcht und des Staunens gelangt. Sie schwelgt in dem Geschenk ihres geliebten Sohnes und ist voller Ehrfurcht vor dem Segen, den er in das Herz seiner Eltern und ihrer ganzen Sippe bringt. Aber diese Ehrfurcht ist aus dem Schmerz geboren, neues Leben in die Welt zu bringen, einem Schmerz, den man nicht so leicht vergisst. Deshalb kennt sie den tiefsten und wahrhaftigsten Wert des Lebens ihres Sohnes. Sie hat Schwangerschaftsstreifen in ihrem Herzen.

Gebärende, wohin führst du mich?

Welches Leben werde ich an diesem Adventstag in die Welt bringen?

Welche schmerzhaften Formen des Wachstums vermeide ich?

Welche schmerzhaften Wachstumserfahrungen bin ich bereit, anzunehmen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 19. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Namensgebung: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Man wird ihm den Namen geben:

Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.

Jer 23, 8

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn ich eine Taufe feiere, muss ich immer wieder innehalten beim Anfang. Sie beginnt mit der Frage: Welchen Namen haben Sie Ihrem Kind gegeben? Bevor wir uns erkundigen über Glaube, Gott und die Bereitschaft zur Taufe, erkundigen wir uns über die Namensgebung. Namenlos tritt keiner in die Kirche ein, weil niemand namenlos in die Beziehung zu Gott oder zu seinen Menschen treten kann. Jeder hat vor Gott einen Namen. Anonymität im Haus Gottes ist ausgeschlossen.

Dieses Bild der Namensgebung spielt eine große Rolle in biblischen Erzählungen. Es ist ein Teil der großen Unternehmung Gottes und gehört einfach dazu, wenn wir wahre Menschen werden wollen. Denn sobald wir jemanden einen Namen geben, legen wir die Grundlagen für den Aufbau einer Beziehung. Diese Macht der Namensgebung kennen wir, wenn Kinder einen streunenden Hund finden und nach Hause bringen. Wenn die Eltern den Hund nicht behalten wollen, dann verssuchen sie alles zu tun, um zu vermeiden, dass die Kinder dem Hund einen Namen geben. Denn sobald der Hund einen Namen hat, haben die Kinder schon eine Beziehung zu dem Tier aufgebaut.

Als Erwachsene kennen wir diese Verbindung zwischen Beziehung und Namensgebung auch. Wenn wir lange in der Firma arbeiten, aber niemand auf der Chefetage unseren Namen kennt, dann wissen wir, wo wir stehen. Der Mensch, der sich weigert, je mich bei meinem Namen zu nennen, macht mir doch deutlich genug, dass hier keine Beziehung erwünscht wird.

Diese große Lust, eine Beziehung aufzubauen, ist ein Herzensanliegen unseres Gottes. Wenn wir die großen Schöpfungsgeschichten in den ersten zwei Kapiteln von Genesis lesen, sehen wir einen ständig wiederkehrenden Rhythmus: Sobald Gott etwas Neues schafft, folgt die Namensgebung. Nachdem Gott das Licht von der Finsternis scheidet, heißt es: »Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht.« (Gen 1,5) Nachdem Gott das Trockene vom Wasser hervorruft, heißt es: »Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Ansammlung des Wassers nannte er Meer.« (Gen 1,10). Durch die Namensgebung baut Gott eine Beziehung auf zu seiner Schöpfung.

Diese Lust, die Beziehung aufzubauen, teilt Gott mit seinen Menschen. Denn kaum hat er Adam geschaffen und schon führt er ihn in die Kunst der Namensgebung ein. »Da bildete der HERR, Gott, aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde, und ganz wie der Mensch als lebendiges Wesen sie nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab allem Vieh und den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes Namen.« (Gen 2, 19-20)

Später wird es viele Geschichten geben, in denen die Namen von Menschen geändert werden. Abram wird Abraham heißen, Sarai wird zu Sarah umgewandelt und Saulus wird später Paulus benannt. Das geschieht immer, wenn die Sendung eines Menschen sich ändert. Wenn die Sendung sich ändert, dann weil Gott seinen Menschen mehr Verantwortung anvertraut. Die größere Verantwortung ist immer ein Zeichen des vertieften und erweiterten Vertrauens, das Gott in seinen Menschen setzt, und das wiederum ist ein Zeichen dafür, dass die Beziehung sich verändert hat. Und das verlangt nach einem neuen Namen.

Dieses Bild der Namensgebung spricht zu uns von Gott, denn die Namensgebung gehört dazu, wenn wir etwas ins Leben rufen wollen. Sobald ein Namen gegeben wird, wissen wir, dass diese Person eine größere Rolle spielen sollte und mehr teilnehmen sollte in unserm Leben.

Die Namensgebung ist ein großes Thema der Adventszeit. Wen Gott etwas einen Namen gibt, dann sollten wir es nicht ohne weiteres umbenennen.

Die Nachbarn und Verwandten des Zacharias wollen genau das tun: sie wollen das neugeborene Leben in ihrer Mitte so benennen, wie sie Leben kennen und verstehen, wie es in die gewohnten und erwarteten Bahnen passt. »Es gibt niemand in der Verwandtschaft, der so heißt!« Damit sagen sie: So benennen wir keine Kinder in unserer Familie. So war es nie! Das hat keine Tradition bei uns. Mit anderen Worten, alles sollte so bleiben wie wir es vor langer Zeit benannt haben. An unserer Namengebung lassen wir nicht leicht rütteln.

Zacharias sorgt dann (endlich) für Klarheit: Sein Name ist Johannes. Er, der selbst für alles einen festen Namen und Platz hatte und sogar Boten Gottes nicht einmischen lassen wollte, macht seiner Verwandtschaft klar, dass Gott hier etwas Neues bewirkt, und das Neue braucht einen neuen Namen.

Gott gibt auch uns neue Namen für das Leben, das wir in uns zur Welt tragen. Aber sobald wir spüren, dass er etwas Neues in uns bewirkt, tief in unserem Inneren webt und formt, dann wollen wir es in alten Bildern, mit alter Sprache und mit alten Namen benennen.

Denn wir haben Angst vor der Verwandtschaft und ihrem Urteil. Wir merken, dass in uns etwas Neues ist, aber wir wagen es nicht auszusprechen. Wir haben Angst aus der Reihe zu tanzen. Wenn wir aber dem Neuen in uns keinen Namen geben, dann wagen wir keine neue Beziehung zu dem, was in uns ist.

Namensgebung, wohin führst Du mich?

Wo gibt es Menschen und Beziehungen in meinem Leben, denen ich noch keinen Namen gegeben habe?

Wo werde ich dem Neuen, das in mir wächst (Gefühle, Impulse, Ideen, Lust), einen Namen geben, damit es leben kann?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 18. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Lampe: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Johannes war die Lampe, die brennt und leuchtet, doch ihr wolltet euch nur eine Zeit lang an ihrem Licht erfreuen.

Joh 5,35

 

 

 

Eines späten Abends erschien ein Geschichtenerzähler in der örtlichen Kneipe. Nachdem er dem Publikum eine fesselnde Geschichte erzählt hatte, führte ihn der Wirt an den Tisch in der Nähe des Feuers und servierte ihm ein feines Essen und ein Glas, das großzügig mit einem edlen Tropfen aus der Gerstenfrucht gefüllt war.

Während der Geschichtenerzähler aß, begann ein recht hitziges Gespräch zwischen einem jungen Mann und seiner Mutter. Der junge Mann, der gerade von der Universität und seinem Medizinstudium zurückgekehrt war, teilte seiner Mutter mit, dass er mit der Kirche gebrochen und den Glauben aufgegeben habe und nicht mehr mit ihr zur Messe gehen würde. Die Mutter beharrte darauf und sagte ihrem Sohn immer wieder, dass sie ihre Lampe anzünden und für ihn beten würde. Jedes Mal, wenn sie ihm das sagte, wurde sein Ton aggressiver und seine Worte herablassender. Er begann, den Glauben seiner Mutter ins Lächerliche zu ziehen, indem er ihr in hochmütigem Ton mitteilte, er habe diesen Glauben gründlich studiert und sei zu dem Schluss gekommen, dass er nur etwas für Bauern sei, etwas für Menschen ohne intellektuellen Scharfsinn. Jedes Wort traf seine Mutter, und oft schreckte sie vor dem Schmerz seiner harschen und verletzenden Aussagen zurück. Aber jedes Mal beugte sie sich vor und sagte: »Ich werde meine Lampe anzünden und für dich beten.« Ihr intellektuell überlegener Sohn machte sich über diese Worte lustig und sagte: »Du und diese idiotische Lampe. Als ob das Anzünden dieser Lampe oder einer deiner Kerzen etwas damit zu tun hätte. Ich bin ein Mann der Wissenschaft und nicht des dummen Aberglaubens.«

Der Geschichtenerzähler erhob sich von seinem wärmenden Platz am Kamin und ging zum Tisch hinüber, wo er einen Stuhl hervorzog und sich setzte. Die traurigen Augen der Mutter begrüßten ihn, während die wütenden Augen des Sohnes ihn herausforderten. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete der Geschichtenerzähler, »aber ich kann dir helfen. Es war einmal ein Mann, der war eine Lampe. Sein Name war Johannes. Und er war so herrlich stur wie deine süße Mutter.«

Der junge Mann stöhnte auf. »Das geht Sie nichts an, alter Mann. Und niemand hat Sie eingeladen, Platz zu nehmen. Also halten Sie Ihr Maul und verziehen Sie sich!«

Der Kneipenbesitzer hörte diese Worte und war in Windeseile am Tisch. »Bezahlen Sie Ihre Rechnung und verschwinden Sie. Dieser Mann ist ein Seanchaí, einer unserer Geschichtenerzähler. So werden Sie in meiner Kneipe nicht mit ihm sprechen. Sie sind hier nicht mehr willkommen.«

Doch der Geschichtenerzähler legte seine Hand auf den Arm des wütenden Kneipenbesitzers und sagte: »Verzeihen Sie ihm um meinetwillen. Es ist anstrengend, allen anderen auf der Welt überlegen zu sein, und es hat seine Nerven strapaziert und seinen Verstand ein wenig verwirrt. Es ist nichts Schlimmes passiert.«

Die anderen Gäste der Kneipe begannen zu lachen, denn alle Augen des Lokals waren nun auf diesen Tisch gerichtet. Der Geschichtenerzähler lächelte verschmitzt und drehte sich dann in seinem Stuhl um, um wieder in die Kneipe zu schauen.

»Meine Freunde, lasst mich euch eine Geschichte über Lampen erzählen, die mir ein Freund erzählt hat, der sie von einem Freund gehört hat, der ihm sagte, dass der Engel Gabriel sie ihm höchst persönlich erzählt hat.

Eines Tages, als Gott die Schönheit seines Volkes bewunderte, kehrten die Engel von einer ihrer regelmäßigen Touren über die Erde zurück. Ach ja, ER liebt es, ein Auge auf uns zu haben. Sie sprachen von all dem Leid, das sie gesehen hatten, von den Tränen des Verlustes und der Trauer, von dem Schmerz so vieler gebrochener Leben, Seelen und Herzen. Es schien den guten Engeln, als läge große Dunkelheit auf den Herzen von Gottes Volk.

Gott sah seine ernsten Boten an, und seine Augen leuchteten mit dem Licht, das die Sterne hervorbringt. ‚Bringt ihnen Lampen. Sorgt dafür, dass jeder von ihnen eine Lampe zum Anzünden hat, eine Lampe, die sie durch die Dunkelheit, die sie durchqueren, mit sich tragen.‘

Einer der Engel sagte: ‚Herr, wäre es nicht hilfreicher, wenn du einfach die Sonne immer brennen lassen würdest?  Lass die Sonne niemals über ihnen untergehen. Verbanne die Dunkelheit für immer und lass sie immerwährendes Licht haben.‘

‚Herold, tu, was Er sagt!‘ Die Stimme des Sprechers war laut und dröhnend, eine Stimme, die man sogar in der Wüste hören konnte. Der Sprecher war in ein wunderschönes, wallendes Kamelhaargewand gekleidet, das im Licht des Himmels wie Gold glänzte.

Die Augen Gottes runzelten sich vor Vergnügen und Freude, als er den Mann sah, den sein Namensvetter, der das Evangelium schrieb, einst eine brennende, leuchtende Lampe nannte. ‚Willst du meinen Boten erklären, warum sie unserem Volk Lampen bringen sollen, mein alter Freund?‘

Und die Stimme, die in der Wüste lebte und leise zu den Verlorenen sprach, während sie die Mauern großer Städte und die Herzen arroganter Könige erschütterte, hallte in der Stille ihrer Zuhörer wider.

‚Hört auf den Herrn. Er hat jedem Menschen, der sich durch die dunklen Orte kämpft, immer Lampen gegeben. Lampen sind eine besondere Art von Licht, wertvoller als das Licht der Sonne. Denn das Licht der Lampe kann an Orte getragen werden, die das Licht der Sonne niemals erreichen wird. Selbst wenn die Sonne scheint, kann ihr Licht die fensterlosen Orte nicht erreichen. Es kann nicht in die Höhlen, die unterirdischen Kavernen, die Kerkerzellen tief im Innern der Erde eindringen. Aber Lampen können das Licht an all diese Orte tragen. Die Dunkelheit fürchtet Lampen, denn sie bringen Licht an Orte, die sie normalerweise nur für sich selbst beansprucht.

Lampen können die Dunkelheit nicht vertreiben. Aber sie bringen genug Licht, um die Schatten zurückzudrängen. Dann kann man sich in der Nacht zurechtfinden, kann Wege finden und ihnen folgen. Die Menschen können in der Dunkelheit leben, wenn sie sich in ihr bewegen können, und deshalb brauchen sie die Lampen. Das ist der Moment, in dem die Hoffnung wiederhergestellt wird, lange bevor die Lösung gefunden und das Ziel erreicht ist. Man kann in jeder Dunkelheit in Hoffnung leben, wenn man weiß, dass man einen Weg hindurch finden kann. Und du kannst es, wenn du eine Lampe anzündest.

Ich kenne diese Wahrheit, denn ich habe sie gelebt. Ich habe sie in der Wüste gelebt. Ich habe sie in den Kerkern des Herodes gelebt, wohin das Licht der Sonne nie kommt und die Gefangenen vergessen, wie das Gesicht der Sonne aussieht. Und weil ich das Geheimnis der Lampe kannte, wurde ich eins.‘«

Zurück in der Kneipe hielt der Geschichtenerzähler inne. »Es war einmal ein Mann, der eine Lampe war. Sein Name war Johannes. Und weil er eine Lampe war, kannte er das Geheimnis des Lichts, das sie bringt.«

Dann wandte er sich an den jungen Universitätsstudenten und sagte: »Johannes war eine helle und leuchtende Lampe. Das ist deine Mutter auch. Sie hat sich deine scharfen, ätzenden Töne angehört, und dennoch möchte sie Licht an dunkle Orte bringen, die dein Wissen nie erhellt hat. Wenn sie ihre Lampe für dich anzündet, will sie dir damit nur sagen, dass sie dich genug liebt, um dich nicht der Dunkelheit zu überlassen.«

Er erhob sich und kehrte an seinen Tisch zurück. Dann wandte er sich noch einmal an den jungen Mann und sagte. »Es war einmal ein Mann, der eine Lampe war. Was für ein Mann bist du?«

Lampe, wohin führst du mich?

Wo werde ich an diesem Adventstag eine Lampe sein und Licht dorthin bringen, wo es sonst nicht hinkommt?

Wo werde ich eine Lampe sein, ein Licht, das anderen hilft, sich in ihrer Dunkelheit zurechtzufinden?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 17. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Ein weites Zelt: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen. Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest!

Jes 54, 2

 

Ich hatte das Glück, einen Mann zu kennen, der den Raum seines Zeltes weit machte. Er begann damit, auf seinem Bauernhof ein Zelt für große Familientreffen und Veranstaltungen aufzustellen. Es war der Ort, an dem seine Sippe ihre Picknicks, Geburtstagsfeiern und Familientreffen abhielt. Zu allen anderen Zeiten stand es seinen Kindern als Spielplatz zur Verfügung.

Dieses Zelt war ein unvollendetes Werk, weil es ständig im Werden war. Im Laufe der Jahre wuchs es ständig. Als ich Daniel danach fragte, erzählte er mir: »Als wir mehr Kinder bekamen, habe ich mehr Platz geschaffen. Mit all den Eheschließungen und Geburten wurden unsere Familientreffen immer größer. Wir hatten also mehr Ehepartner, mehr Nichten und Neffen, die zu unseren Feiern kamen, also habe ich mehr Platz geschaffen. Dann gingen meine Kinder in die Schule und traten in Sportmannschaften ein, und sie schlossen viele neue Freundschaften, also schuf ich mehr Platz. Und meine Frau und ich haben viele Leute kennengelernt und noch mehr Freunde gefunden, also habe ich noch mehr Platz geschaffen.«

Er blickte auf das große Zelt und lächelte. »Wenn ich dieses Zelt ansehe, erinnert es mich daran, dass ich gesegnet bin. Mir wurde die Ehre zuteil, genügend Menschen in meinem Leben zu haben, die genauso gerne mit mir zusammen sein wollen, wie ich mit ihnen zusammen sein will. Ich habe das Privileg, eine Versammlung abhalten zu können. Aber sobald ich wusste, dass ich gesegnet bin, Padre, musste ich flexibel bleiben und den Raum dafür schaffen.«

Seine Frau Annie erzählte mir später, was sie sah, wenn sie das Zelt ansah. »Ich sehe das Herz meines Mannes.« Als ich sie nach dieser schönen Assoziation fragte, antwortete sie einfach: »Wie das Zelt, es wächst immer weiter, Padre, es wächst immer weiter.«

Ich hoffe aufrichtig, dass Sie beim Erzählen dieser Geschichte bereits zu dem Schluss gekommen sind, dass dies ein außergewöhnlicher Mann ist. Wäre er es nicht, hätte er den Platz seines Zeltes nicht so weit ausgedehnt.

Das ist keine alltägliche Erfahrung. Wir kaufen Zelte von der Stange. Wenn wir ein größeres Zelt wollen oder brauchen, dann kaufen wir ein größeres. Aber das Nomadenvolk, das die Seiten der großen biblischen Erzählung bevölkert, wusste immer, dass Zelte nicht von der Stange kommen, sondern maßgeschneidert sind. Sie waren provisorisch und passten sich den ständig wechselnden Lebensumständen der Menschen an, die in ihnen lebten.

Ich treffe oft auf Menschen, die beschließen, ihre Wohnung zu renovieren. In der Regel tun sie das, um mehr Platz für ihr Hab und Gut zu schaffen. Sie schaffen mehr Stauraum, bauen mehr Schränke und größere Garderoben und erweitern die Garage, damit dort zwei Autos parken können.

Aber bei diesem Bild vom Ausbreiten des Zeltplatzes geht es darum, mehr Raum für Menschen zu schaffen, einen Platz für Gäste zu eröffnen, die Möglichkeiten für eine größere Gastfreundschaft und eine breitere Begegnung zu schaffen. Wenn das Bild zu uns von Gott spricht, fragt es uns: Werden wir Raum für mehr Leben schaffen?

Um das Zelt zu vergrößern, müssen wir vier Dinge tun.

  1. Wir müssen darüber nachdenken, welche Art von Raum wir zu schaffen bereit sind. Schaffen wir Platz für einen mehr oder für zehn mehr? Und wenn wir wissen, wer noch in unser Zelt kommen wird, wie viel Platz wollen wir dann jeder Person darin einräumen? Wenn wir alle in einer Ecke zusammenpferchen, brauchen wir weniger Platz als bei einem großzügigen und freundlichen Empfang.
  2. Wir müssen investieren, um den Raum in unserem Zelt zu erweitern. Wir müssen mehr Geld ausgeben, weil wir wissen, dass unsere Stricke länger sein müssen und wir erheblich mehr Zeltstoff benötigen. Ohne diese Investition können wir nicht den Raum haben, den wir wollen und brauchen. Raum schaffen ist immer eine Investition, vor allem in meine Zeit und meine Kraft, die letzten Ressourcen eines menschlichen Lebens.
  3. Wir müssen die Zelttücher unserer Behausungen ausspannen. Es muss von uns gesagt werden: »Wie das Zelt, so wächst auch ihr Herz immer weiter.« Bevor wir bereit sind, größere Zelte zu errichten, müssen wir unser Herz ausdehnen und weiten und strecken. Die Arbeit innerhalb der alten Parameter ist nicht das, wovon dieses Bild spricht. Es verlangt von uns mehr, als den bisher vorhandenen Raum effizienter zu verwalten. Es geht darum, Raum zu schaffen, damit mehr Leben geschehen, blühen und gedeihen kann. Und die Warnung Gottes lautet: »Ohne zu sparen!«
  4. Wir müssen unsere Pflöcke fest machen. Der Raum, den wir für andere schaffen, muss fest verankert werden, damit er hält. Eine Gartenparty zu veranstalten bedeutet einfach, eine vorübergehende Einrichtung zu schaffen. Wir verschieben ein paar Möbel, um es zu ermöglichen, und stellen dann alles wieder in den ursprünglichen Zustand zurück, wenn die Party vorbei ist. Aber dieses Bild fordert uns auf, etwas Dauerhaftes, Zuverlässiges und Verlässliches zu schaffen. Das ist mehr als nur vorübergehend. Dies ist der Raum, in den wir immer wieder zurückkehren können müssen.

Du weites Zelt, wohin führst du mich?

Wo werde ich in meinem Leben ein wenig mehr Raum für Leben und Liebe schaffen?

Wie werde ich die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit eines Zeltes bewahren, damit in meinem Leben Platz ist für die überraschenden, wachsenden und sich ständig verändernden Möglichkeiten und Geschenke Gottes?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 16. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Taut, ihr Himmel: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Taut, ihr Himmel, von oben,

ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen!

Jes 45,8

 

Die Himmel sind unerreichbar und entziehen sich unserer unmittelbaren Kontrolle. Wir können ihnen nicht befehlen, formen oder gestalten, wie wir es mit dem Boden der Erde tun. Bei den Dingen der Erde sind wir gewohnt, eine aktive und wichtige Rolle der Partnerschaft zu spielen: pflügen, säen, ernten. Wenn wir aber zum Himmel schauen, dann schauen wir auf einen Ort, an dem andere Regeln gelten. Denn in der himmlischen Erfahrung gibt es Dinge, die nicht ergriffen, kontrolliert und festgehalten werden können. Sie können nur gegeben werden, und wir können sie nur empfangen.

Das Bild der Himmel, die gebeten werden, Gerechtigkeit herabregnen zu lassen, ist von einem großen Spannungsbogen geprägt. Wir sind nicht nur Geschöpfe der Erde, die zum Himmel aufschauen. Das ist eine grobe Vereinfachung. Die Geschichte von Genesis 1-3 sagt uns, dass wir von der Erde geboren sind, aber dass wir zwischen Himmel und Erde stehen. Es gibt Dinge, die ganz in unsere Hände gelegt sind (alle Bäume des Gartens, einschließlich des Baumes des Lebens), und es gibt Dinge, auf die wir warten müssen, bis sie uns gegeben werden (die Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse).

In dieser Spannung leben wir bis heute. Wir neigen dazu, alles über unsere Leistung und die Anhäufung von Dingen zu definieren. Das wiederum führt zu einer Mentalität, die uns dazu einlädt, unsere Rechte einzufordern, und uns suggeriert, dass »Gott denen hilft, die sich selbst helfen«. Das Problem ist offensichtlich. Was geschieht in dem Moment, in dem wir uns nicht selbst helfen können? Das Bild der Himmel, die Gerechtigkeit regnen lassen, ist daher radikal contra-kulturell. Es erinnert uns daran, dass es Zeiten gibt, in denen wir geduldig darauf warten müssen, dass uns das Leben geschenkt wird, auch wenn wir ausgedörrt sind. Es erinnert uns daran, dass wir für Geschenke empfänglich sein müssen, anstatt davon besessen zu sein, alles an uns zu reißen, was wir wollen. Was die Himmel uns geben, ist gut, aber es ist ein Geschenk, und wir müssen lernen, es als solches zu respektieren.

Das Bild der Himmel, die uns von oben mit Leben überschütten, führt uns zurück zu dieser gesunden und notwendigen Spannung zwischen aktiver Teilnahme und wartender Empfänglichkeit. Die Menschen, die darum bitten, dass sich die Himmel öffnen, stehen zwischen dem Himmel und der Erde. Die Himmel sind voll von Verheißung und Leben. Wir bitten die Himmel, sich zu öffnen und mit uns zu teilen. Es ist ein Bild der Gabe und ein Bild der Befreiung. Wir bitten darum, weil wir auf der Erde sind und diese nicht immer vor Verheißung und Leben strotzt. Wir bitten die Himmel, sich zu öffnen, wenn wir uns an Orten befinden, die ausgetrocknet und unfruchtbar sind und nur einen Hauch von Verheißung haben.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir seit den frühesten Tagen unseres christlichen Glaubens und Erzählens in diesem Bild das sehen und lieben, was wir in der Geburt Jesu sehen und lieben. Als gläubige Menschen erleben wir das Kommen Christi als eine Öffnung des Himmels. Diese Erfahrung zieht sich durch alle Erzählungen des Evangeliums. Die Menschen wenden sich an Jesus und bitten, dass die Himmel Heilung, Hilfe, Trost und Nahrung herabregnen lässt. Um den Evangelisten Johannes zu paraphrasieren: Wenn wir Jesus gesehen haben, haben wir gesehen, wie die offene Himmel aussehen. Und seit Jesus wissen wir, dass unser Vater und seine Liebe die Himmel für uns öffnen.

In der Person Jesu regneten die Himmel Gerechtigkeit herab. In ihm haben wir eine Ahnung davon bekommen, wer dieser Gott ist, was er mehr als alles andere liebt (nämlich uns) und was ihn antreibt (unendliche Liebe und Barmherzigkeit).

Aber diese Öffnung der Himmel vermittelt uns auch den ersten und prägenden Eindruck, den Gott von uns hat. Wenn sich die Himmel öffnen und Geschenke herabregnen, offenbart dieser Gott, dass wir durch Geburt und Schöpfung seine Geliebten sind, nicht durch Leistung und moralische Vollkommenheit. All unsere Arbeit, unsere Erfolge und Errungenschaften können uns das nicht lehren. Sie haben uns gelehrt, dass wir nur liebenswert sind, wenn wir den Beweis erbringen können, dass wir es wert sind, geliebt zu werden. Liebe, weil ich schön bin. Liebt mich, weil ich erfolgreich bin. Liebt mich, weil ich aufrecht bin.

Aber wenn sich die Himmel öffnen und Gerechtigkeit herabregnen, dann nicht, weil wir schön, erfolgreich oder aufrecht sind, sondern weil wir geliebt werden. Wenn sich die Himmel öffnen, werden wir der Illusion beraubt, dass wir für alles selbst sorgen können, aber gleichzeitig werden wir mit der Offenbarung gesegnet, dass unser Leben in den Augen Gottes Wert und Würde hat. Das ist der Grund, warum sich die Himmel öffnen.

Das ist die Gerechtigkeit, die herabregnet. Das ist die Gerechtigkeit, die wir brauchen, denn das ist die Beziehung, die unserer Beziehung zu Gott und Gottes Liebe zu uns innerhalb dieser Beziehung gerecht wird. Gerecht zu sein bedeutet, allen unseren Beziehungen gerecht zu werden. Das heißt, wir müssen unserer Beziehung zu Gott, zu unserem Nächsten, zur Schöpfung und zu uns selbst gerecht werden. Gerade weil wir keine Gaben erhalten, werden unsere Leben schwer, wir dominieren uns gegenseitig und können keine guten Beziehungen eingehen. Und um all diese Beziehungen gerecht zu werden, müssen wir vertrauensvoll warten, bis uns das Leben geschenkt wird.

Ihr Himmel, die taut, wohin führt ihr mich?

Werde ich an diesem Adventstag die erste und wichtigste aller religiösen Tugenden üben, nämlich den Sinn dafür, dass alles Geschenk ist, dass nichts uns von Rechts wegen zusteht?

Wie werde ich mich in der Empfänglichkeit, die wartet, üben und meine Ungeduld, die immer wieder versucht, alles an sich zu reißen, bändigen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 15. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Reine Lippen: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Dann werde ich die Lippen der Völker verwandeln in reine Lippen, damit alle den Namen des Herrn anrufen und ihm einmütig dienen.

Zef 3, 9

 

 

 

 

 

Ich nehme an, dass Sie, wie ich, sehr wenig Zeit damit verbringen, über Lippen nachzudenken. Wie viele wichtige Elemente des Lebens sind sie einfach da und erfüllen ihren Zweck, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie unbedeutend sind, sondern lediglich als selbstverständlich angesehen werden.

In der biblischen Erzählung stehen die Lippen für das Sprechen oder die Sprache. Zusammen mit den Bildern von »Mund« und »Zunge« sind sie Teil einer Reihe von Bildern, die uns von unserer Fähigkeit zu sprechen erzählen. Aber nicht alle Sprache ist verbal. Nicht alles, was wir sagen, wird in Worten ausgedrückt. Es gibt auch unsere Körpersprache, und die spricht Bände.

Die Lippen sind ein Tor zur Offenbarung. Stellen Sie sich eine Person vor, die ein dünnlippiges Lächeln zeigt. Wenn man die Lippen spitzt, drückt man eine andere Emotion aus als wenn man auf den Lippen kaut oder beißt. Bebende Lippen zeugen von überwältigenden Gefühlen, während fest zusammengepresste Lippen zeigen, dass man nicht bereit ist, etwas von dem preiszugeben, was in einem Menschen vorgeht. Die Art und Weise, wie sich die Lippen bewegen oder formen, kann verraten, ob wir wirklich glücklich, wütend, traurig, angewidert, überrascht, verängstigt oder voller Verachtung sind. Versuchen Sie, eine Reihe von Emotionen auszudrücken, ohne Ihre Lippen zu bewegen. Versuchen Sie zu lächeln, ohne Ihre Lippen zu bewegen.

Wenn es um das gesprochene Wort geht, sind unsere Lippen das wichtigste Instrument der Sprache. Die Lippen helfen uns, unsere Worte zu formulieren, die Klarheit und Schärfe des Klangs auszusprechen. Versuchen Sie einmal zu sprechen, ohne Ihre Lippen zu bewegen. Noch aufschlussreicher ist es, eine Person, die nicht hören kann, zu beobachten, wenn sie von den Lippen eines anderen liest, und zu erkennen, dass gut eingesetzte Lippen eine Welt der Kommunikation eröffnen können.

In der biblischen Vorstellungswelt werden die Lippen auch als besonderer Ort dieses Kommunikations- und Offenbarungsprozesses gesehen. Sie sind wie eine Tür, ein Tor. Alles gesunde menschliche Leben fließt von innen nach außen. Das gilt auch für unsere Sprache. Bevor ein Wort überhaupt gesprochen wird, wird es in den tiefen und verborgenen Orten des Herzens geschmiedet. Aber um auch nur ein menschliches Ohr zu erreichen, müssen diese Worte unsere Lippen passieren. Die Lippen sind also ein kritischer letzter Kontrollpunkt, bevor die Offenbarung des Herzens in die Welt kommt, der letzte Ort, bevor das innere Leben eines Menschen in die Welt kommt. Die Lippen sind also der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden müssen.

Nicht umsonst betet der Psalmist: »Setze, HERR, meinem Mund eine Wache, hüte die Tür meiner Lippen« (Ps 141,3). Wir brauchen einen Wächter, der darüber wacht, was in die Welt geschickt wird. An der Pforte unserer Lippen werden sehr schwerwiegende Entscheidungen getroffen, denn hier entscheiden wir, welche Worte hinausgesandt werden und welche nicht. Doch Worte schaffen Welten. Wenn der Psalmist in Ps. 16,4 schreibt: »Zahlreich sind die Schmerzen derer, die einem anderen Gott nacheilen. Ich will ihre Trankopfer von Blut nicht spenden, ich nehme ihre Namen nicht auf meine Lippen«, dann trifft er die Entscheidung, Lebensweisen nicht zu unterstützen, die nicht zum Leben führen können, weil sie von Gott wegführen.

Die Bitte »Vernimm mein Bittgebet von Lippen ohne Falsch!« (Ps 17,1) macht deutlich, dass das, was über meine Lippen kommen darf, vertrauenswürdig, offen und echt ist und damit verlässlich. Das eröffnet die Möglichkeit zu echten Beziehungen.

In Psalm 40,10 wird die Geschichte erzählt: »Gerechtigkeit habe ich in großer Versammlung verkündet, meine Lippen verschließe ich nicht; HERR, du weißt es.« Hier werden die Lippen zum Tor, an dem wir uns entscheiden, die Wahrheit, die wir kennen, das Leben, das wir in uns haben und das wir mit der Welt teilen müssen, nicht zurückzuhalten.

Aber wenn wir unsere Lippen nicht bewachen, können Worte fallen, die wir später zutiefst bereuen. »Sie erzürnten Gott an den Wassern von Meriba, ihretwegen erging es Mose übel. Denn sie waren widerspenstig gegen seinen Geist und er redete unbedacht mit seinen Lippen.« (Ps 106, 32-33) Hier lässt Mose die Bitterkeit, die sich in seinem Herzen (Innenleben) gebildet hat, über seine Lippen in die Welt fließen, wo ihre Unbesonnenheit ihm noch mehr Kummer bereitet. In der Tat, Worte schaffen Welten.

Saubere Lippen haben eine reinigende, läuternde Wirkung. Jesaja erzählt eine Geschichte über Gott, in der diese Worte vorkommen. »Ich erschaffe Frucht der Lippen. Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen, spricht der HERR, / ich werde ihn heilen.« (Jes 57, 19) Reine Lippen sind der Ort, an dem Gott die Frucht hervorbringt, die einem Volk in der Nähe und in der Ferne Frieden bringen und seinem Leben Heilung schenken kann. Die Worte, die über unsere Lippen kommen, schaffen Welten, aber nicht nur für andere. Auch wir leben in diesen Welten. Saubere Lippen werden eine Welt schaffen, in der wir ohne all das Durcheinander und den Müll leben können, mit dem wir oft den Raum zwischen uns füllen. In den Tagen dieser Pandemie haben wir mehr als genug unter den Folgen dieses gefährlichen Corona-Virus gelitten. Aber so vieles von dem, was über die Lippen der Menschen gekommen ist, hat unser Leid verstärkt, die Bande des Gemeinwohls zerrissen, unsere Angst und Unsicherheit vertieft, Panik ausgelöst und die Menschen zu Torheit und sogar Gewalt angestachelt. Weil dies die Früchte unreiner Lippen sind, sind es nicht die Früchte des Geistes des lebendigen Gottes. Lasst unsere Lippen rein sein, und dann werden Ermutigung, Trost, Hilfe, Unterstützung, Hoffnung, Freundlichkeit und Heilung durch ihre Tore in eine wartende Welt dringen.

Reine Lippen, wohin führt ihr mich?

An diesem Adventstag wollen wir uns die Worte des heiligen Paulus an die Epheser zu Herzen nehmen:

»Kein hässliches Wort komme über eure Lippen, sondern wenn ein Wort, dann ein gutes, das der Erbauung dient, wo es nottut, und denen, die es hören, Freude bereitet!« (Eph 4, 29)

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 14. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Pflugschar: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

 

Er wird Recht schaffen zwischen den Nationen

und viele Völker zurechtweisen.

Dann werden sie ihre Schwerter

zu Pflugscharen umschmieden

und ihre Lanzen zu Winzermessern.

Jes 2,4

 

 

 

 

 

 

Vor den Vereinten Nationen in New York befindet sich eine Bronzestatue des russischen Bildhauers Evgeniy Vuchetich. Die durch jahrelange Oxidation grünlich-blau gefärbte Statue stellt einen großen Mann mit einem Hammer in der rechten Hand dar. Er schwingt den Hammer über seinem Kopf und ist im Begriff, ihn auf ein Schwert niederzuschlagen, das er in seiner linken Hand hält. Die bereits gebogene Klinge des Schwertes macht deutlich, dass er das Schwert in eine Pflugschar umwandelt. Es dient als Bild für den Wunsch der Vereinten Nationen, Kriegsanstrengungen in Friedensarbeit zu verwandeln.

Vielen Betrachtern der Statue wird nicht bewusst sein, dass die Statue auf einem Wort des Propheten Jesaja beruht. »Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden«. Ein Instrument, das dazu bestimmt ist, Krieg zu führen, wird in ein Instrument verwandelt, das für die Landwirtschaft bestimmt ist. Ein Instrument, das dazu diente, Leben zu beenden, wird zu einem Instrument, das dazu dient, Leben zu ernähren. Ein Werkzeug der Gewalt wird in ein Werkzeug des Dienstes umgewandelt.

Es ist ein Bild der Verwandlung und nicht des Ersatzes. Das Eisen des Schwertes, das hart und unbeugsam ist, wird immer noch für die Pflugschar benötigt, sonst kann sie keine Furchen in die harte Erde ziehen. Die Schärfe der Klinge des Schwertes wird nicht abgestumpft, sondern neu eingesetzt und einem neuen Zweck zugeführt. Eine stumpfe Klinge an einer Pflugschar macht das Instrument völlig unbrauchbar.

Das Bild der Pflugschar spricht zu uns von Gott. Wenn Gott auf das schaut, was seinem Volk zur Verfügung steht, sieht er lebensspendende Möglichkeiten, wo wir oft todbringende Möglichkeiten sehen. Eine Pflugschar öffnet die Erde, macht sie aufnahmefähig für den Samen und bereitet sie für die Aussaat vor. Eine Pflugschar macht die reiche Erde zugänglich, die gute Erde, die unter der verhärteten und verkrusteten Oberfläche, die sie bedeckt, ein lebensspendendes und lebenserhaltendes Potenzial trägt. Sie gibt dem Regen eine größere Chance, sanft in die reiche Tiefe einzudringen, anstatt über die undurchdringliche Härte der Oberfläche hinwegzuströmen. Im Gegensatz zu einem Schwert, das beschädigen, zerstören und Schmerzen zufügen will, will die Pflugschar den Boden nicht beschädigen, sondern seine Möglichkeiten entfalten. Sie versucht nicht, den Acker zu zerstören, sondern ihn für einen Zweck vorzubereiten, der Leben hervorbringen wird. Sie will dem Boden keinen Schmerz zufügen, sondern die harten Stellen durchbrechen, um seinen wahren Sinn und Zweck freizulegen.

Wenn wir einen vorsichtigen Blick auf das Schwert werfen, sehen wir das gleiche Material und die gleiche Schärfe, aus denen die Pflugschar geschmiedet ist. Aber wann greifen wir zu einem Schwert? Wenn die todbringenden Möglichkeiten praktikabler erscheinen als die lebensspendenden. Wir greifen zu Schwertern, wenn wir uns gegen die Außenwelt abhärten. Wir benutzen sie, um Lösungen zu erzwingen, die wir Menschen, deren Herzen wir für verschlossen, unzugänglich und unempfänglich für eine andere Logik als Gewalt und rohe Kraft halten, sonst nicht entlocken können.

Das Bild des Schwertes, das zu einer Pflugschar umgeschlagen wird, ist ein Bild der Verwandlung. Es symbolisiert den Wunsch, dem Krieg ein Ende zu setzen und die Mittel der Zerstörung in schöpferische Werkzeuge zu verwandeln, die der ganzen Menschheitsfamilie zugutekommen. Aber wie Jesaja uns sehr behutsam daran erinnert, ist es nicht Gott, der Schwerter zu Pflugscharen umschmiedet, sondern die Menschen. Wenn Sie sich die Statue außerhalb der Vereinten Nationen ansehen, werden Sie kein Zeichen von Gott sehen. Und doch betont Jesaja, dass dies nicht nur ein menschliches Unterfangen ist. Es ist das Ergebnis einer Partnerschaft mit Gott.

Der Prophet beginnt damit, dass er uns etwas sagt, was Gott tun wird, bevor dieser Wandel stattfindet: Er wird zwischen den Völkern richten und den Streit vieler Völker entscheiden. Zuerst wird Gott kommen und Recht sprechen, Urteile fällen und Streitigkeiten schlichten. Und wenn dies geschieht, wird es in den Herzen der Menschen ein mächtiges Verlangen nach Verwandlung wecken.

Dies wäre nicht unsere instinktive Reaktion auf das Gericht. Das liegt daran, dass wir das Gericht ausschließlich als den Moment sehen, in dem Gott Vergeltung für unsere Verfehlungen und Untaten sucht. Beim Gericht geht es für uns darum, andere zu beschämen, ihnen ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen.

Aber Gott urteilt nicht auf diese Weise. In seinem Urteil geht es nicht darum, uns zu demütigen, uns zu beschämen, sondern um unsere unerprobten Möglichkeiten und unser unerprobtes Potenzial. Ein Volk, das den Einfallsreichtum und die Kraft hat, Metall zu verbiegen, bis es den Tod schafft, trägt auch den Einfallsreichtum und die Kraft in sich, Metall zu verbiegen, bis es Wege zum Leben freigibt.

Das Bild der Pflugschar spricht zu uns von Gott. Es sagt uns, dass immer dann, wenn wir den Drang verspüren, ein Schwert in eine Pflugschar umzuschmieden, Gott bereits in uns am Werk ist. Die Statue vor den Vereinten Nationen zeigt den Mann, den Hammer, das Schwert, das umgeformt wird. Was für das Auge unsichtbar ist, ist das Herz des Mannes. Das ist der Ort, an dem Gott wirkt. Das Herz ist letztlich der Ort, an dem alles entschieden wird.

Im Hochgebet für Versöhnung beten wir mit unserer Schwester, der Pflugschar: »Dein Geist bewegt die Herzen, wenn Feinde wieder miteinander sprechen, Gegner sich die Hände reichen und Völker einen Weg zueinander suchen. Dein Werk ist es wenn der Wille zum Frieden den Streit beendet, Verzeihung den Hass überwindet und Rache der Vergebung weicht.«

Pflugschar, wohin führst du mich?

Gott sieht mehr Potenzial in uns, als unsere Wut, Gewalt, Grausamkeit und Härte vermuten lassen. Werden wir uns dazu bewegen lassen, die Instrumente des Zorns, der Gewalt, der Grausamkeit und der Härte in Instrumente der Vergebung, der Heilung, der Freundlichkeit und der Sanftmut zu verwandeln?

Wenn meine Zunge wie ein geschärftes Schwert war, werde ich sie dann zu einer Pflugschar umschmieden, die Herzen und Köpfe mit nachdenklichen, verständnisvollen und unterstützenden Worten öffnet?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 13. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

In unserer Mitte sein: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Der König Israels, der Herr, ist in deiner Mitte; du hast kein Unheil mehr zu fürchten. An jenem Tag wird man zu Jerusalem sagen: Fürchte dich nicht, Zion! Lass die Hände nicht sinken! Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der Rettung bringt.   

Zef 3, 15–17

 

 

Zweimal in diesem kurzen Abschnitt verwendet der Prophet Zefania ein einfaches, aber wirkungsvolles Bild: Gott möchte in unserer Mitte sein. Das ist eine relativ einfache Sprache, die aber oft und leicht abgeändert wird, um etwas anderes zu sagen als das, was das Bild uns über Gott sagen will.

Gott zieht es vor, in unserer Mitte zu sein. Das Bild sagt nicht, dass er die Mitte sein möchte, dass er im Mittelpunkt stehen möchte. Es ist nicht Gottes Wunsch, die Mitte zu sein, um die herum alles aufgebaut ist. Er wünscht sich, in unserer Mitte zu sein. Das Bild spricht zu uns von Gott und es ist ein überraschendes Gespräch. Denn wir als Volk, als Gemeinschaft der Gläubigen, sind der Bezugspunkt. Der Ort, an dem Gott wohnen möchte, kann erst gefunden werden, wenn man sein Volk findet und dann in die Mitte seines Gemeinschaftslebens vordringt.

In unserer Mitte zu sein bedeutet, mitten im Geschehen zu sein, in der zentralen, pulsierenden, pochenden Mitte unseres gemeinsamen Lebens. Wenn Gott in unserer Mitte lebt, kommt er an den Ort, an dem sich alles in unserem täglichen Leben abspielt. In unserer Mitte gibt es Turbulenzen, Panik, Verhandlungen, Tauschhandel, Liebe, Engagement, Hektik, Chaos und Hingabe. In unserer Mitte finden Sie das Beste, was wir sind, das Schlechteste, was wir sind, und alles, was dazwischen liegt. Wer in unserer Mitte ist, taucht ein in die bunte Mischung dessen, was uns als Volk Gottes ausmacht.

Was nicht in unserer Mitte zu finden ist, sind die Orte der Privilegien. Diese sind immer sauber getrennt von dem Ort, an dem die Mehrheit der einfachen Leute lebt und arbeitet. In unserer Mitte zu sein bedeutet, den Ort zu entdecken, an dem es keine saubere Trennung gibt. In unserer Mitte sind wir alle zusammengewürfelt. Dies ist der Ort des Volkes, nicht nur der Eliten.

Auch die Mitte unseres Volkes ist kein fester und stabiler Ort. Sie ist ständig in Bewegung, ständig im Fluss und daher auch ständig im Wandel. Das liegt daran, dass die Dinge, die uns beschäftigen und mit denen wir uns beschäftigen wollen, ständig im Fluss sind. Ein Gott, der in unserer Mitte sein will, muss beweglich, flexibel und anpassungsfähig sein.

Das ist ein uralter Wunsch unseres Gottes. Anders als die Götter der antiken Welt wollte er nicht auf einem Berggipfel oder in einem besonderen Tempel wohnen. Während der langen, beschwerlichen Reise des Exodus entschied er sich, in unserer Mitte zu wohnen, und da wir mitten in der Wüste waren, ging er dorthin. Und er schlug sein Zelt in der Mitte des Lagers auf.

Doch der Wunsch Gottes, in unserer Mitte zu wohnen, wurde von seinem Volk nicht immer geteilt. Könige wollten Gott ein Haus bauen, einen Tempel hoch oben auf einem Berg errichten. Obwohl sie ein prächtiges Haus bauen und ihm einen Ehrenplatz in der Stadt geben wollten, war es doch ein Ort der Isolation. Ein Käfig bleibt ein Käfig, auch wenn er vergoldet ist. Der Gott des Alltags, der einst im Herzen seines Volkes lebte, sollte jetzt auf einen Hügel verbannt werden, weit weg von der täglichen Betriebsamkeit des gewöhnlichen Lebens. An einen außergewöhnlichen Ort kamen Menschen, um ungewöhnliche und spezielle Dinge zu tun. Aber der Gott, der es liebte, in unserer Mitte zu sein, wollte Gerechtigkeit, Güte, Dienst, Liebe, Barmherzigkeit und Versöhnung zu den Dingen und Taten des täglichen Lebens machen. So oft wir auch von diesen Dingen in einem Tempel sprechen, sie finden nie dort statt. Gerechtigkeit, Güte, Dienst, Liebe, Barmherzigkeit und Versöhnung finden in der Mitte seines Volkes statt. Dort werden sie gebraucht, dort werden sie in Fleisch und Blut ausgelebt.

Im Prolog des Johannes finden wir dieses Bild wieder. Die Übersetzung lautet: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt«. Wörtlich übersetzt heißt es: »Und das Wort wurde Fleisch und zeltete in unserer Mitte«. Obwohl es oft einfacher ist, Gott am Rande unseres Lebens zu halten, spricht das Bild zu uns von einem Gott, der nie zufrieden ist, bis er in der Mitte unseres Lebens ist. Die Entfernung, die Distanz, eröffnet uns immer eine einfache Ausrede. Aber Nähe verändert uns. Ein Gott, der weit weg, entfernt und unnahbar ist, ist ein Gott, der auch in den Wirren des Alltags leicht zu ignorieren ist. Aber ein Gott, der in unserer Mitte wohnt, ist eine Gegenwart, die uns herausfordert und uns dort begleitet, wo wir den größten Teil unseres Lebens verbringen, nämlich im Alltäglichen.

In der Mitte sein, wohin führst du mich?

Wo versuche ich, Gott am Rande meines Lebens zu halten, anstatt ihn in der Mitte des Lebens willkommen zu heißen, das ich mit anderen Menschen teile?

Werde ich die Gerechtigkeit, die Güte, den Dienst, die Liebe, die Barmherzigkeit und die Versöhnung Gottes in unserer Mitte willkommen heißen und zulassen, dass sie eine größere Rolle und einen größeren Raum in meinem täglichen Leben einnehmen?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 12. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Taube Ohren: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.   

Jes 35, 5

 

Die Ohren der Tauben sind ein Bild, das uns sehr vertraut ist. Menschen, die schwerhörig sind, sind alltäglich, und wir haben viele Formen der Interaktion mit ihnen.

Dieses Bild spricht zu uns von Gott in einer diagnostischen Weise. Gott hat ein Herzensanliegen. Er möchte die Ohren der Tauben heilen. Taube Ohren zu haben bedeutet, unempfänglich zu sein. Doch in der biblischen Erzählung hat es eine noch tiefere Bedeutung. Sie spricht von der Tatsache, dass wir nicht empfänglich sind für das, was uns noch nicht gehört, was fremd, ungewohnt oder unbekannt ist.

Wir haben unsere eigenen Erfahrungen damit, taube Ohren zu haben. Wenn jemand über unser Lieblingsthema, unsere Herzenswünsche oder unsere Lieblingsbeschäftigungen spricht, werden unsere Ohren hellhörig. Noch leichter fällt es uns, das Gesagte zu hören, wenn der Redner das sagt, was wir hören wollen, wenn die Botschaft uns passt. Dann sind wir bereitwillig empfänglich für das, was bereits in uns steckt, was unsere Meinung bestätigt, unsere Position stärkt und unsere Vorurteile unterstützt.

Der Widerstand der tauben Ohren tritt auf, wenn wir uns öffnen und eine Botschaft, einen Gedanken oder eine Meinung empfangen sollen, die uns fremd, ungewohnt und unbekannt erscheint. Im Gegensatz zur rein körperlichen Erkrankung der Taubheit, die auftritt, ob wir es wollen oder nicht, ist dies eine Form, über die wir eine echte Kontrolle ausüben. Wir wählen aus, für wen und was wir empfänglich sein und ein offenes Ohr haben wollen. Als mein Vater recht alt war, brauchte er ein Hörgerät. Er kaufte sich schließlich eines, das ziemlich fortschrittlich war. Es verfügte sogar über eine kleine Fernbedienung, mit der er die Lautstärke erhöhen oder die Einstellungen des Hörgeräts für spezielle Dienste wie das Fernsehen oder das Telefonieren ändern konnte. Dieses Hörgerät half meinem Vater, sein körperliches Leiden der Taubheit zu überwinden. Aber sein Gebrauch des Hörgeräts bekam auch die biblische Bedeutung von tauben Ohren, denn immer, wenn die Hand meines Vaters in seine Jacke glitt, wussten wir, dass er die Fernbedienung benutzte, um das auszuschalten oder abzustellen, was oder wen er nicht hören wollte. Wir alle haben eine solche Fernbedienung. Man nennt sie das menschliche Herz. Es ist der Ort, an dem sich die Empfänglichkeit letztlich entscheidet.

Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen in den biblischen Geschichten wie auch in den menschlichen Erzählungen taub sind. Manchmal sind unsere Ohren verstopft. Etwas hindert uns daran, offen zu sein, hindert uns daran, empfänglich zu sein. Vielleicht gibt es alte Geschichten von Wunden und Narben, die es uns nicht erlauben, über alte Schmerzen hinaus zu hören. Traumatische Erfahrungen, ungelöste Konflikte und Leiden, die unter der Oberfläche schwelen, sind Wege, wie unsere Ohren verstopft werden. Dieses Bild spricht zu uns von Gott, denn Gott will die Ohren der Tauben öffnen. Er will nicht, dass sein Volk ein solches Leben führt.

Manchmal entwickeln oder fördern wir die Ohren der Tauben durch Ablenkung. Es gibt so viele Dinge, die vor sich gehen, so viele Stimmen, die alle gleichzeitig sprechen, so viele Hintergrundgeräusche, dass wir nichts mehr deutlich hören können. Wir können übertönen, was wir nicht hören wollen. Kleine Kinder tun das manchmal, wenn sie eine Nachricht ihrer Eltern wie »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen« nicht hören wollen. Sie fangen an, laut zu summen oder zu singen oder zu plappern, einfach um die Stimme zu übertönen, die sie nicht hören wollen. Erwachsene sind nur wenig raffinierter. Sie stellen den Fernseher oder das Radio lauter, drehen die Lautstärke der Kopfhörer hoch oder besuchen laute Partys und Versammlungen. Ich begleitete einmal eine Frau bei privaten Exerzitien. Nach jeder Sitzung verließ sie das Haus, ging zu ihrem Auto und drehte das Radio so laut wie möglich auf. Als ich merkte, was sie da tat, sprach ich sie an und fragte sie sanft, warum sie das tat. Ihre Antwort habe ich nie vergessen: »Lärm hält die Dämonen fern!« Sie lenkte sich damit von den schmerzhaften, aber notwendigen Impulsen ab, die sich aus den biblischen Geschichten ergaben. Es waren nie Dämonen, aber sie hatte solche Angst vor der Stimme Gottes, die ihr sagte, dass sie sich dem stellen sollte, was sie vermeiden wollte, dass sie Lärm als Betäubungsmittel benutzte. Gott will nicht, dass sein Volk so lebt, denn in diesem Fall sind die Ohren der Tauben ein Zeichen für ein Volk auf der Flucht, für ein verängstigtes Herz auf der Flucht.

Zu anderen Zeiten tauchen die Ohren der Tauben auf, wenn wir widerständig sind. Manchmal wollen wir etwas einfach nicht hören, und dann schalten wir unsere Aufnahmefähigkeit ab. Vielleicht sind wir zu erschöpft oder ausgelaugt, um uns damit zu befassen. Vielleicht sind wir überlastet und können den Gedanken nicht ertragen, dass noch ein weiteres Problem oder eine andere Frage unsere Aufmerksamkeit fordert. Gott öffnet die Ohren der Tauben, weil er ein solches Leben für sein Volk nicht will. Wenn wir Taubheit als Widerstand ausüben, arbeiten wir mit Annahmen. Wir widersetzen uns, weil wir annehmen, dass Offenheit und Empfänglichkeit uns nichts Gutes bringen, dass sie uns schlechte Nachrichten und neue Lasten bescheren. Aber wie oft haben wir uns schon geirrt. Wie oft mussten wir überrascht feststellen, dass die Botschaft auch Licht, Erleichterung, eine tiefere Perspektive und sogar Heilung brachte.

Die Ohren der Tauben werden von unserem Gott geöffnet, denn er will nicht, dass sein Volk unempfänglich lebt. Taube Ohren bedeuten, dass wir nicht in der Lage sind, an einem Gespräch teilzunehmen. Das schafft eine Welt des Ausschlusses und des Verlusts der Verbindung. Dann sind wir außen vor und von anderen isoliert. Das ist eine häufige Erfahrung mit unseren älteren Mitbrüdern, die schwerhörig sind. Es ist harte Arbeit, sie am Gespräch teilhaben zu lassen, das Gesagte zu wiederholen, in unangenehm lauten Tönen zu sprechen und sie daran zu erinnern, ihre Hörgeräte zu tragen. Aber wir tun es, denn sonst können sie nicht an unseren Gesprächen und Beratungen teilnehmen, und dann sind sie nicht mehr Teil unseres lebendigen Gemeinschaftslebens. In diesen Momenten teilen wir den Wunsch Gottes. Wir tun, was notwendig ist, um ihnen die Ohren zu öffnen, weil wir unseren geliebten Brüdern ein solches Leben nicht zumuten wollen.

Ohren der Tauben, wohin führt ihr mich?

Wo werde ich an diesem Adventstag bewusst eine neue Empfänglichkeit üben, indem ich ein neues Buch eines unbekannten Autors lese, einem Gespräch über Dinge zuhöre, die ich normalerweise verdränge, oder mich für ein Thema öffne, das ich lieber ignorieren würde?

Wo werde ich dazu beitragen, die Ohren der Tauben in anderen zu öffnen, damit sie nicht vom Fluss und Leben unseres Gesprächs ausgeschlossen werden?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 11. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Der Strom: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Hättest du doch auf meine Gebote geachtet!

Dein Glück wäre wie ein Strom und

dein Heil wie die Wogen des Meeres.   

Jes 48, 18

 

 

 

 

Die Sprache der Bilder, Symbole und Metaphern der biblischen Geschichten fällt uns nicht leicht, denn wir sind eine Gesellschaft der technischen und therapeutischen Sprache. Wir sind so sehr in die Welt der erklärenden und deklarativen Sprache eingetaucht, dass wir zu symbolischen Analphabeten geworden sind. Da aber Bilder, Symbole und Metaphern die Sprache der Seele sind, werden wir auch schnell zu religiösen Analphabeten.

Im Kampf um die Rettung und Wiederbelebung der Sprache der Seele haben wir natürliche Verbündete, und das sind die Dichter. Sie leiden ebenso sehr wie die biblischen Erzähler, denn die Poesie ist durchdrungen von Bildern, die versuchen, zur Seele zu sprechen.

Mein Freund John O'Donohue war diese höchst bemerkenswerte Mischung aus Dichter, Philosoph und Theologe. Wenn Sie verstehen wollen, was das Bild des Flusses bedeutet, brauchen Sie nur diese Zeile von ihm zu lesen.

»Gern würde ich leben wie ein Fluss fließt, getragen von der Überraschung seiner eigenen Entfaltung.«

Jesaja würde in Anerkennung eines Dichterkollegen lächeln, wenn er diese Worte lesen würde. Das Bild des Flusses spricht zu uns von Gott, indem es uns daran erinnert, dass, wenn wir nach den reichen Lebensunterweisungen Gottes leben, sich unser Leben zu überraschenden Erfahrungen entfalten wird.

Flüsse entfalten sich. Sie fangen klein an und wachsen zu ihrer Pracht, Stärke, Breite, Tiefe und Länge heran. Wenn wir uns den Lebensunterweisungen Gottes öffnen, ist das der Beginn unserer persönlichen Entfaltung. Ein Fluss kann sich nicht entfalten, wenn er nicht offen für Nebenflüsse ist. Er muss die Beiträge der kleinen Ströme und unscheinbaren Bäche willkommen heißen. Ein Leben kann sich nicht entfalten, wenn es sich nicht für alle Zuflüsse öffnet, die lebendiges Wasser tragen. Wir müssen die tiefe religiöse Weisheit von Mentoren, Meistern, Lehrern und Freunden aufnehmen. Wir müssen uns für die Erfahrungen öffnen, die uns zum Wachstum strecken und uns zur liebenden Güte vertiefen. Wir müssen die Geschichten von Gott und die Geschichten des Glaubens aufnehmen, und natürlich müssen wir die Geschichtenerzähler willkommen heißen, die sie uns überbringen. Auf die Lebensunterweisung Gottes zu achten bedeutet, auf all diese Menschen, Orte und Möglichkeiten zu achten. Und dann wird unser Leben in seiner Pracht, Stärke, Breite, Tiefe und Länge wachsen.

Wenn ein Fluss durch seine Offenheit, mehr lebensspendendes Wasser aus vielen Quellen zu empfangen, wächst, führt dies zu einer neuen Überraschung der Entfaltung. Denn ein Fluss entdeckt dann, dass er nicht nur ein Empfänger neuen Lebens ist, sondern auch der Träger neuen Lebens. Er nimmt dieses Leben in sich auf und trägt es weiter zu neuen Orten und Menschen, die nach diesem Leben dürsten. Wenn wir heute auf seine Stimme hören, werden wir ebenso überrascht feststellen, dass wir die Träger von mehr Leben sind. Die Weisheit, die wir gnädig empfangen, die Liebe, die wir in unser Blut und unsere Knochen einweben, die Gerechtigkeit, die wir in unser Leben integrieren, und die Barmherzigkeit, die wir in unser eigenes Wesen aufnehmen, tragen das Leben zu anderen. Wo immer wir hingehen, wo immer wir uns bewegen, werden die Menschen mit dem Leben, das wir in uns tragen, in Berührung kommen. Wir tragen in uns das Gute, das von Schmerz verhärtete Herzen berühren kann, die Wahrheit, die von Illusionen und Selbsttäuschungen befreit, die Hoffnung, die längst vergessene oder nie gekannte Horizonte öffnet.

Ein Fluss ist nicht stagnierend. Er bewegt sich und gelangt an Orte, die weit über seine Ursprünge hinausgehen, während er nie von der Quelle getrennt wird, aus der er entspringt. Wenn wir wie ein Fluss leben, wird auch dies zu einer Überraschung, zu einer Entfaltung, die uns in Erstaunen versetzt. Denn wenn wir unser Leben nach der Weisheit unseres liebenden Schöpfers leben, wird unser Leben nicht nur wachsen, sondern es wird uns an Orte führen, die weit von unserem Ausgangspunkt entfernt sind, aber niemals die Verbindung zu unseren Ursprüngen trennen. Wir werden die Geschichten Gottes an die nächste Generation weitergeben, ohne die Generation zu vergessen, die sie uns erzählt hat. Wir werden neuen Menschen begegnen, ohne die Menschen zu vergessen, die uns bis hierher in Sicherheit gebracht haben. Wir werden neue Orte, Begegnungen und Erfahrungen machen, ohne den Kontakt zu unseren Wurzeln zu verlieren, zu den Orten, die unser Herz geformt haben, zu den Begegnungen, die uns zu größerer Fülle begleitet haben, und zu den Erfahrungen, die uns authentisch gemacht haben.

Schließlich formen Flüsse Landschaften. Sie fließen nicht einfach vorbei, sondern sie formen die Landschaft, durch die sie fließen. Ein Leben, das tief aus Gott gelebt wird, wird uns auch auf diese Weise überraschen. Wir ziehen nicht einfach vorbei. Wir formen die Welten, durch die wir uns bewegen. Wir haben einen Einfluss auf die menschlichen Landschaften, die wir berühren. Ein Leben, das sich wirklich nach dem Plan Gottes entfaltet, entfaltet eine überraschende, lebensverändernde Wirksamkeit. 

So war es auch bei John O'Donohue. Nach jeder Begegnung fühlten sich die Menschen einfach besser und sicherer in ihrer eigenen Haut. So ist es auch bei John Shea. Nach einer Begegnung mit ihm fühlen sich die Menschen stärker, besser gerüstet, um mit dem beängstigenden Teil ihres Lebens fertig zu werden. So war es auch bei meiner Mutter. Ich verließ ihre Gegenwart nie, ohne mich mehr geliebt zu fühlen. Und so kann es auch bei uns sein. Unterschätzen Sie sich nicht, meine Freunde.

 

Strom, wohin führst Du mich?

An diesem Adventstag werde ich beten: »Gern würde ich leben wie ein Fluss fließt, getragen von der Überraschung seiner eigenen Entfaltung.«

Wie ein Fluss will ich lauschen und die Geschichten Gottes in allen Dingen aufnehmen, in mir selbst, in den anderen, in der ganzen Schöpfung und in der ganzen Heiligen Schrift, damit ich jede Geschichte achte und ehre, die Gott mir erzählen will.

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 10. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

 

Zu einem Dreschschlitten mache ich dich, zu einem neuen Schlitten mit vielen Schneiden. Berge wirst du dreschen und sie zermalmen, und Hügel machst du zu Spreu. Du worfelst sie, und es verweht sie der Wind, es zerstreut sie der Sturm. Du aber jubelst über den Herrn, du rühmst dich des Heiligen Israels.       Jes 41,15-16

 

Heute kommen wir zu einem Bild, das nicht mehr zu unserem täglichen Leben gehört. Aber als Jesaja diese Worte sprach, wurde das Bild in den Herzen der Zuhörer sofort lebendig, denn ein Dreschschlitten gehörte zu ihrer alltäglichen Erfahrung. Es handelte sich um eine Reihe großer Holzbretter, die aneinander befestigt wurden. An der Unterseite wurden Löcher gebohrt, in die dann scharfe Steine geklemmt wurden. Der geerntete Weizen wurde auf die Tenne gebracht, und die Bretter wurden über den Weizen geschleift. Die scharfen Steine ritzten und drehten den Halm und trennten die Körner vom Rest des Halms.

Das Bild spricht zu uns über einen Prozess der Trennung. Der Dreschschlitten trennt das, was wirklich lebensspendend ist, von der Spreu. Das Bild spricht zu uns von der Fähigkeit, das zu unterscheiden, was Nahrung und wahren Halt gibt, von den nutzlosen und überflüssigen Dingen, die keinen Beitrag zur Befriedigung unseres hungrigen Herzens leisten. Und dieses Bild spricht zu uns von Gott, denn es sagt uns, was Gott aus uns machen möchte. Er will uns zu Menschen machen, die unterscheiden können zwischen dem, was wirklich wesentlich ist, und dem, was kein Leben in sich trägt. Das ist keine unbedeutende Fähigkeit. Einfach ausgedrückt: Ohne Dreschschlitten würden wir verhungern. Wenn wir nicht in der Lage sind, den Weizen vom Halm zu trennen, dann können wir ihn nicht zu Mehl mahlen und unser Brot backen. Und wenn wir nicht in der Lage sind, die Spreu vom Weizen zu trennen, dann werden wir immer wieder am Falschen hängen, am Element, das uns nicht nähren und stärken kann. Die Gabe, ein Dreschschlitten zu sein, ist die Gabe, das zu gewinnen, was Leben gibt, inmitten von allem anderen, was es nicht gibt.

Jesaja macht deutlich, dass dies eine Aufgabe von beträchtlichem Gewicht und Umfang ist. Berge und Hügel von Erfahrungen müssen gemäht werden. Diese Fähigkeit, das Lebensspendende vom Überflüssigen zu trennen, wird immer wieder nötig sein, denn die Menge der verwirrenden und vermischten Erfahrungen ist so hoch wie die Berge und so zahlreich wie die Hügel. Das ist nichts, was wir einmal tun und dann hinter uns lassen können. Es ist eine folgenschwere Aufgabe.

Wenn Gott uns zu einem Dreschschlitten macht, dann macht er uns zu einem Volk der Unterscheidungskraft. Wir würden am liebsten alles für bare Münze nehmen. Aber wir müssen ständig das Wahre, Schöne und Gute von den Bergen seichter Angebote, Werbung und Lebensstilen trennen, die uns nicht dorthin führen können. Das ist keine leichte Aufgabe. Wie ein Dreschschlitten müssen wir die Dinge, die uns vorgelegt werden, immer wieder durchgehen, um den Kern des Lebens zu entdecken, den wir brauchen.

In den Tagen der Pandemie ist diese Praxis des Dreschschlittens umso dringlicher geworden. Wenn wir ernsthafte Entscheidungen über das Gemeinwohl und die Gesundheit der Nation und ihrer Bürger treffen, sind wir gezwungen, uns die Frage zu stellen: Wenn wir nicht alles haben können (woran wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir meinen, es sei unser Geburtsrecht), was ist dann das Wesentliche? Es gibt ein großes Verlangen nach Weihnachtsmärkten, Sportereignissen und großen gesellschaftlichen Zusammenkünften in unseren Lieblingslokalen. Der Drang zu reisen und exotische Urlaube zu machen ist nach wie vor ungewöhnlich stark. Aber sind diese Dinge das Wesentliche? Sind das die Dinge, die den Kern des Lebens in sich tragen? Noch wichtiger ist die Frage, warum der Schutz unserer Mitmenschen nicht das zentrale Thema in unserer Gesellschaft ist. Warum ist die Sorge um das Wohlergehen der anderen nicht das zentrale Thema? Individuelle Rechte und persönliche Freiheiten werden von den Dächern gepredigt, aber von persönlicher Verantwortung und der Verpflichtung, für das Gemeinwohl zu sorgen, ist kaum die Rede.

So angenehm unsere Unterhaltungen und Ablenkungen auch sein mögen, sie sind nicht wesentlich. Wenn wir von einem Kinobesuch oder einer Reise in den sonnigen Süden sprechen, als wären sie so wichtig wie die lebenserhaltenden Maßnahmen für sterbende Patienten, dann haben wir die Gabe verloren, ein Dreschschlitten zu sein, eine Gabe, die Gott für lebenswichtig hält. Wenn wir das nicht erkennen, dann werden wir wütend über den Verlust unserer Spielzeuge und Spiele, während andere ohne Brot, Unterkunft und Würde dastehen.

Es kann nicht schaden, an den reichen Ratschlag des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnert zu werden. »Der tiefe und rasche Wandel der Verhältnisse stellt mit besonderer Dringlichkeit die Forderung, dass niemand … einer rein individualistischen Ethik verhaftet bleibe. Die Pflicht der Gerechtigkeit und der Liebe wird immer mehr gerade dadurch erfüllt, dass jeder gemäß seinen eigenen Fähigkeiten und den Bedürfnissen der Mitmenschen zum Gemeinwohl beiträgt und auch die öffentlichen oder privaten Institutionen, die der Hebung der menschlichen Lebensverhältnisse dienen, fördert und unterstützt.« (Gaudium et Spes, Art. 30) Wenn wir die Söhne und Töchter des Zweiten Vatikanischen Konzils sein wollen, dann müssen wir Dreschschlitten sein. Andernfalls werden wir zu der Art von Menschen, über die Oscar Wilde in seinem Roman »Das Bildnis des Dorian Gray« schrieb:  »Heutzutage kennen die Menschen den Preis von allem und den Wert von nichts.«

 

Dreschschlitten, wohin führt ihr mich?

Werde ich mir die Zeit nehmen, die vielen Vorschläge zu durchforsten und das, was wirklich wichtig für mein Leben ist, vom Rest zu trennen?

Wie werde ich das wirklich Wesentliche im Auge behalten?

Wie werde ich ein konzentriertes Herz in mir bilden, das sich nicht gedankenlos von Nebensächlichkeiten ablenken lässt?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 9. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Adlers Flügel: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.          Jes 40, 31

 

 

 

 

Die biblischen Geschichten haben eine große Vorliebe für das Bild des Adlers. Wenn Jesaja das Bild der Flügel des Adlers verwendet, lässt er es in zweierlei Hinsicht zu uns zu Gott sprechen. Erstens spricht es zu uns von Gottes Stärke. Zweitens spricht es zu uns über das, wofür Gott diese Stärke einsetzt.

Natürlich ist dies ein Bild der Stärke. Wenn Jesaja das Symbol der Adlerflügel sieht, sieht er die Stärke Gottes, die denen gegeben wird, die ihre eigene verloren haben. »Die aber auf den Herrn harren, werden neue Kraft schöpfen; sie werden auffahren mit Flügeln wie Adler; sie werden laufen und nicht müde werden; sie werden gehen und nicht matt werden.« (Jesaja 40,31)

Jesaja ist Teil eines großen Gesprächs, in dem das Bild der Adlerschwingen zu uns von Gott spricht. Der bei weitem größte Teil des Bildes ist die Erfahrung des Getragenwerdens. Es ist ein Zeichen von Stärke und der Fähigkeit, viel Gewicht zu tragen, wie Mose schrieb: »Ihr habt selbst gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, und wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht habe« (Ex 19,4). Dies wird noch weiter symbolisiert, wenn Mose von Gott sagt: »Wie ein Adler, der sein Nest aufrichtet, der über seine Jungen flattert, der seine Flügel ausbreitet, sie auffängt und sie auf seinen Flügeln trägt« (Dt 32,11). Der Adler kann die jungen Adler auf seinen Flügeln, den äußeren Flügeln, tragen. Das ist im Grunde das, was Gott tat, als er Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft herausführte und es auch während seiner Wanderschaft in der Wüste trug.

Da der Adler höher fliegen konnte als jeder andere Vogel, konnte er außer Reichweite der Pfeile des Jägers fliegen. Aber das Bild ist noch viel tiefgründiger. Wenn du auf den Fittichen, dem Rücken der Adlerflügel, sitzt, dann sitzt du an einem Ort, den der Jäger nicht sehen kann, außerhalb der Reichweite des Pfeils, der dich verletzen könnte. Sollte ein Jäger einen Arm haben, der stark genug ist, um so hoch zu schießen, könnte der Pfeil dich nicht treffen, ohne das Herz des Adlers zu durchschlagen.

Wenn du auf den Flügeln des Adlers sitzt, dann stellt sich der Adler zwischen dich und das, was dir schaden kann.

Das wirft eine tiefe Frage in uns auf. Wir sind so sehr daran gewöhnt, an unsere gewonnene Stärke zu denken und daran, wozu wir sie brauchen, dass wir selten darüber nachdenken, was passieren würde, wenn unsere Stärke uns versagt. Was würde passieren, wenn unsere Kraft uns nicht dorthin tragen kann, wo wir hinmüssen? Was passiert, wenn unsere Kraft nicht in der Lage ist, die vor uns liegenden Hindernisse zu überwinden, nicht über die Barrieren zu rasen, die sich uns in den Weg stellen, und uns nicht vom Boden aufheben kann, wenn wir gefallen sind?  Besonders schwer zu ertragen ist die Frage: Wer wird mich vor Schaden bewahren, wenn ich es nicht selbst tun kann?

Vor kurzem bin ich gefallen. Um genauer zu sein, wurde ich von einem Radfahrer zu Fall gebracht. Er schnitt mit hoher Geschwindigkeit eine Kurve und traf mich so hart, dass ich mit geprellten Knien, einem blauen Auge, zerkratzten Händen und einer zerkratzten Brille auf dem Boden lag. Der junge Mann auf dem Fahrrad hatte mehr Glück, denn er landete in der Hecke und wurde zerkratzt, blieb aber ansonsten unverletzt.

Als ich auf dem Boden lag, konnte ich mich nicht mehr aufrappeln. Meine Handflächen waren geprellt und bluteten, so dass ich sie nicht belasten konnte. Meine Hose war zerrissen und meine Knie waren aufgeschürft, so dass ich mich nicht auf sie knien konnte, um mir auf die Beine zu helfen. Der junge Mann stöhnte über sein zerstörtes Fahrrad. Eine Gruppe von Menschen, die an der nahe gelegenen Kapelle beteten, schaute kurz um die Ecke, fuhr dann aber mit ihren Gebeten fort. Aber eine Gruppe junger Leute, die in unserem Haus einen Kurs besuchten, kam mir sofort zu Hilfe. Sie waren am weitesten vom Unfallort entfernt, aber die ersten, die mir zu Hilfe eilten.

In diesem Moment erfuhr ich die tiefe Bedeutung des Bildes der Adlers Flügel. Denn zwei von ihnen legten ihre Schultern unter meine Arme und hoben mich vom Boden auf. Ich war überrascht von ihrer Kraft und wie leicht sie mich hochhoben. Ich erinnere mich auch an das Gefühl der Erleichterung, das mich überkam, und wie das Gefühl der Hilflosigkeit verschwand.

Diese Erfahrung und das Gefühl, hochgehoben zu werden, haben mich noch Wochen danach begleitet. Die Erinnerung hat mich seit diesem Tag nicht mehr losgelassen. Aber noch wichtiger war für mich, dass es eine alte Geschichte in mir auslöste. Ich hatte für eine große Gruppe ukrainischer Katholiken in Kanada Exerzitien abgehalten. Ich hatte ein kleines Haus auf dem Gelände, in dem ich wohnte, und führte zwischen den geistlichen Betrachtungen Privatgespräche mit denen, die es wollten. Es war ein sehr heißer Sommer, und die Leute warteten draußen auf mich, sitzend auf dem Gras der sanften Hügel rund um das kleine Häuschen. Es war spät am Nachmittag und ich kam heraus, um die letzte Person vor dem Abendgebet hereinzurufen. Sie saß unbeholfen auf dem untersten Teil des Hügels, also streckte ich meinen Arm nach ihr aus und zog sie dann auf die Beine. Dann hatten wir unser Gespräch.

Einige Wochen später erhielt ich einen Brief von dieser Person. Sie wollte mir für die Einkehrtage danken, weil sie eine Erfahrung gemacht hatte, die ihr Herz tief berührte. Aber es ging nicht um meine Vorträge, die Liturgien oder gar die Gespräche, die wir geführt hatten. Es ging darum, dass ich ihr geholfen hatte, vom Boden abzuheben. Sie schrieb mir, dass sie die jüngste von drei Schwestern sei. Ihre beiden anderen Schwestern waren immer die hübschen, attraktiven Mädchen, die von den Jungen umschwärmt und von ihnen aggressiv umworben wurden. Sie öffneten ihnen die Autotüren, zogen Stühle heran, auf die sie sich setzen konnten und waren immer aufmerksam und höflich und hielten sich in ihrer Nähe auf. Das alles hat sie nie erlebt. Als ich also meinen Arm ausstreckte und sie auf die Füße hob, war sie begeistert, überrascht, gerührt und verwirrt zugleich. Um ehrlich zu sein, konnte ich mich nicht einmal an den Vorfall erinnern, bis sie ihn in ihrem Brief erzählte.

Aber ich habe den Brief noch. In einer Zeile schrieb sie: »Pater, du hast mich emporgehoben. Und tagelang habe ich das Lied gesummt oder gesungen: ‚And I will raise you up on eagle’s wings‘ (Und ich werde dich auf Adlerflügeln emporheben'. Ich verstehe nicht wirklich, was du in diesem Moment für mich getan hast, aber ich weiß eines: Du hast mich aufgerichtet. Und seitdem bin ich aufgestanden.«

 

Adlers Flügel, wohin führt ihr mich?

Wen werde ich an diesem Tag im Advent aus dem Leid und der Hilflosigkeit erheben?

Wo bin ich aus der Gefahrenzone herausgehoben worden? War ich dankbar dafür, dass ich hochgehoben wurde, und habe ich die Gotteserfahrung in diesem Augenblick auch erkannt?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 8. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Einen Weg zu bahnen: Schwester, sprich zu mir von Gott.

Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen. Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.

Jes 40, 3-5

 

Dieses berühmteste der Adventsbilder spricht zu uns von einer der tiefsten Sehnsüchte und dem innigsten Wunsch unseres Gottes. Einen Weg zu bahnen und eine Straße zu ebnen, spricht von dem unstillbaren Hunger unseres Gottes, einen Pfad zu seinem Volk zu finden. Es gibt keinen Grund, einen Weg zu bahnen, bevor man nicht einen Ort hat, an dem man sein möchte. Die alten Pfade, die bereits bestehenden Wege, haben uns auch an Orte geführt, die wir besuchen und sehen wollten, aber diese Orte führen nicht zur Entfaltung einer neuen Begegnung, eines neuen Gesprächs und einer neuen Gotteserfahrung.

Ein neuer Weg ist erst dann nötig, wenn wir der alten Orte überdrüssig sind. Ein neuer Weg braucht nicht gebahnt zu werden, solange wir mit den alten Wegen und den Orten, an die sie uns geführt haben, zufrieden sind. Doch wer von uns kennt nicht den Hunger und den Antrieb, von dem dieses Bild spricht? Nachdem wir mit unserer Liebe, unseren Beziehungen und unserer Arbeit mehr oder weniger zufrieden waren, verspüren wir plötzlich den Wunsch nach mehr als dem, was wir haben und was wir gelebt haben. Wir beginnen, den Sinn und die Bedeutung unseres Lebens zu hinterfragen. Wir erleben eine wachsende Unzufriedenheit, ein Gefühl, dass das, was wir tun, keine tiefere Bedeutung hat. Quälende Fragen lassen uns nicht mehr in Ruhe. »Ist das alles, was es in meinem Leben gibt? Macht irgendetwas, was ich tue, einen wirklichen Unterschied?« Wir gehen weiter auf den bewährten und ausgetretenen Pfaden der Vergangenheit, aber sie lassen uns mit einem Gefühl der Leere zurück. Sie machen unser hungriges Herz nicht satt.

Dies ist ein sehr unangenehmer und beunruhigender Moment. Das Bild des Bahnens eines Weges sagt uns dann eine erstaunliche Wahrheit, eine befreiende Offenbarung. Hilfe ist auf dem Weg, denn Gott ist auf dem Weg zu uns. Das ist allerdings nicht die übliche Reaktion auf diesen Moment in unserem Leben. Wie oft haben wir die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass, wenn unser Leben in eine Sinnkrise gerät, wenn wir ernsthaft an uns selbst zweifeln und die grundlegendsten Annahmen, auf denen wir unser Leben aufgebaut haben, in Frage stellen, die Menschen sich abwenden und in die entgegengesetzte Richtung gehen. Oft besteht eine tiefe Angst vor diesen Fragen, denn wenn wir sie laut stellen, könnten sie uns plötzlich dazu bringen, sie auf uns selbst anzuwenden. Ich erinnere mich schmerzlich an einen solchen Moment vor nicht allzu langer Zeit. Eine gute Freundin von mir litt unter einer großen persönlichen Tragödie in ihrer Familie. Alle alten Wege fielen auseinander, waren nicht mehr nützlich und hilfreich, und die Suche nach einem neuen Weg erwies sich als mühsam, anstrengend und schmerzhaft. Eines Tages hörte sie zufällig die Bemerkung einer Kollegin von ihr. Die Kollegin sagte zu einem Dritten, sie könne der Geschichte meiner Freundin nicht lange zuhören, weil sie ihr zu sehr zu schaffen mache. Diese Erfahrung lässt mich bis heute mit den Zähnen knirschen. Meine arme Freundin trug die ganze Last dieser Geschichte, aber sie hatte keine Angst, anderen von dem Bahnen eines neuen Weges durch ein Leben zu erzählen, das auseinanderfiel und in Tragödie und Kummer zusammenbrach. Es war die andere Frau, die Angst hatte. Ihr fehlte der Mut, sich einer Geschichte zu stellen, die sie selbst in keiner Weise zu leben gezwungen war. Aber schon die bloße Erwähnung des Bahnens eines Weges störte ihr geregeltes, sattes und unhinterfragtes Leben und stellte eine Bedrohung für ihren eigenen Frieden und ihre Ruhe dar.

Meine Freunde, Hilfe ist auf dem Weg, denn Gott ist in Bewegung und er geht nicht in die entgegengesetzte Richtung. Er kommt direkt auf uns zu, auf diesen unbequemen Ort, an dem wir uns befinden. Er hat keine Angst, diesen Ort zu besuchen, uns hier zu berühren. Es ist der Wunsch seines Herzens, in diesem Moment der Ungewissheit und des Aufruhrs für uns da zu sein, damit er ihn mit uns teilen und mit uns verändern kann.

Den Weg frei zu machen und die Straße für Gott zu ebnen, ist der Weg, auf dem wir beginnen, alle Hindernisse zu beseitigen, die diese Begegnung mit dem Gott unseres Heils verhindern. Wir alle tragen in uns müde Denkweisen, unhinterfragte Annahmen über das Leben und geerbte Auslegungen darüber, was wichtig ist und was nicht; das sind die alten Wege. Sie haben uns in die Wüste geführt.

Hilfe ist auf dem Weg, denn Gott ist in Bewegung. Aber wenn Gott unterwegs ist, dann ist auch Veränderung im Anmarsch. Denn neue Wege zu bahnen und Straßen zu ebnen bedeutet immer, dass wir Landschaften verändern müssen, auch die inneren Landschaften des Herzens.

 

Wenn wir Gott einen Weg bahnen, wo führt uns das hin?

Werde ich, wenn ich meinem Gott einen Weg bahne, anfangen, neue Sichtweisen zu entwickeln?

Werde ich mich meinen unkritischen Annahmen über das Leben stellen? Werde ich meine Prioritäten neu bewerten?

Werde ich an diesem Adventstag eine Straße ebnen, indem ich auf die Geschichten Gottes höre, die nicht alle meine Vorurteile bestätigen, die nicht automatisch meinen Lebensstil und meine Denkweise gutheißen und die es sogar wagen, in Frage zu stellen, ob ich so glücklich und zufrieden bin, wie ich behaupte, zu sein?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 7. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Tragbahre: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

Da brachten einige Männer einen Gelähmten auf einer Tragbahre. Sie wollten ihn ins Haus bringen und vor Jesus hinlegen. Weil es ihnen aber wegen der vielen Leute nicht möglich war, ihn hineinzubringen, stiegen sie aufs Dach, deckten die Ziegel ab und ließen ihn auf seiner Tragbahre in die Mitte des Raumes hinunter, genau vor Jesus hin.

Lk 5, 18-19

 

Vor Jahren hat Bischof Reinhold Stecher ein wunderschönes Buch geschrieben. Es heißt: »Werte im Wellengang: Ungewöhnliche Interviews«. Im Vorwort schreibt er: »Ich habe mir ein paar Gesprächspartner ausgesucht – nicht die leichtesten-, mit denen ich mich schon lange einmal auseinandersetzen wollte«. Dann führt er Interviews mit der Weite, der Musik, der Weisheit, dem Humor, dem Licht usw.

Ich nehme heute meine Inspiration von diesem außergewöhnlichen Hirten und führe ein Interview mit der Tragbahre der biblischen Erzählung.

Ich: Ich darf Sie herzlich willkommen heißen bei unserer Reihe »Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen«. Unsere Leser werden sich sicherlich freuen, Sie etwas besser kennenzulernen.

Tragbahre: Vielen herzlichen Dank, P. Erik. Es ist für mich eine außergewöhnliche Ehre und zugestanden eine große Überraschung, dass Sie dieses Interview mit mir führen möchten. Ich bin es eher gewohnt, meine Rolle im Hintergrund auszuüben. Normalerweise werde ich kaum beachtet.

Ich: Dabei spielen Sie doch ein wichtige und sogar wiederkehrende Rolle in den biblischen Erzählungen.

Tragbahre: (müde lächelnd) Danke für Ihre anerkennenden Worte. In der Tat, ohne falsche Bescheidenheit, wurde ich von den Händen Jesu berührt vor den Toren Nains. Aber nicht weniger bedeutend für mich waren die vier bewundernswerten Freunde, die mich in die Hand nahmen.

Ich: Es gefällt mir, wie Sie diese Menschen beschreiben. Können Sie etwas näher erläutern, welche Rolle sie in deren Geschichte gespielt haben?

Tragbahre: Nun, ich habe meine Rolle immer als Privileg verstanden. In meiner weiteren Verwandtschaft gibt es Schubkarren, Wagen, Karren und sogar einige Trolleys. Es liegt uns alle im Blut, Lastenträger zu sein. Aber ich habe die Ehre gehabt, immer eine besondere Last zu tragen. Meine Verwandten sind zum Gütertransport da. Ich aber wurde von Gott erwählt, um das Leben seiner Menschen zu tragen, wenn sie so belastet sind, dass sie nicht mehr alleine gehen können.

Ich: Nicht gerade eine leichte Aufgabe.

Tragbahre: (lächelnd) In der Tat. Aber was ich an meiner Aufgabe immer besonders genossen habe ist, dass ich sie nur in der Zusammenarbeit und Kooperation ausüben konnte. Ich trage die Last eines Menschen, der nicht mehr gehen kann, aber andere tragen mich, damit die Geschichte dieses Menschen fortlaufen wird. Ohne diese Partnerschaft geht gar nichts.

Ich: Eine interessante Perspektive.

Tragbahre: Ach, diese Perspektive gewinnt man schnell genug, wenn Sie so nahe an den Menschen und ihren Lähmungen bleiben wie ich. Diese Erfahrung machte mich bescheidener und respektvoller. Und dann spürte ich, welche Ehre es ist, an solchen Lebenserfahrungen der Menschen teilzuhaben.

Ich: Wenn Sie das sagen, erinnert es mich sofort an Papst Franziskus. Er ruft uns sehr oft auf, nah bei den Menschen zu bleiben, besonders den Armen und Geschwächten.

Tragbahre: Ja, dieser Mann ist ein so biblischer Mensch und sehr beliebt unter uns Tragbahren. Er spricht gerne von der Kirche als Feldlazarett und, wie Sie wissen, ein Feldlazarett ohne Tragbahren ist undenkbar.

Ich: Das ist ein wunderbarer Gedanke. Nun haben diese Männer Sie in die Hand genommen und Ihren gelähmten Gefährten zu dem Haus, wo Jesus verweilte, gebracht. War das anstrengend für Sie?

Tragbahre: Belastend und erfreulich zugleich. Immerhin, durfte der Gelähmte sich auf mir ausruhen und spüren, dass er nicht fällt, sondern aufgefangen uns getragen wird. Wenn ein Mensch das von mir annehmen kann, gehört das zu den schönsten der Gefühle.

Ich: Diese Männer, die Sie und den Mann getragen haben, werden wohl am besten dieses Gefühl nachvollziehen. In dieser Geschichte kommen Sie und Ihre Partner dann zur Tür des Hauses, kommen aber so nicht ins Haus hinein.

Tragbahre: Das stimmt. Der Zugang ist von Menschen blockiert, die zwar fasziniert von Jesus sind, aber gleichzeitig dem geschwächten Mensch im Wege stehen, der zu Jesus will. So steigen wir auf das Dach und decken die Ziegel ab.

Ich: Das ist schon abenteuerlich und, milde gesagt, unkonventionell. Das Dach ist normalerweise nicht der Ort des Einganges. Ganz im Gegenteil. Das Dach wird gebaut, um Regen, Wind und Sonne und andere Naturelemente raus zu halten, nicht um Gelähmte zuzulassen. Immerhin, am Ende liegt der Gelähmte mitten im Raum, genau vor Jesus.

Tragbahre:  (schmunzelnd) Nicht nur der Gelähmte. Ich auch. Er lag noch auf mir. Auch ich war in der Mitte des Raumes, direkt vor Jesus.

Ich: Wie war das für Sie?

Tragbahre: Ich war eigentlich am meisten davon beeindruckt, dass er nicht zuerst diesen Gelähmten anschaute, sondern hoch zu den Männern auf dem Dach. Er sah ihren Glauben. (Pause, während die Stimme der Tragbahre vor Emotion bricht).

Ich: Ich merke gerade, wie ergriffen Sie sind.

Tragbahre: Es lag so viel Anerkennung in diesem Blick. Seine Anerkennung war nicht für den Architekt, der das Haus entwarf. Seine Anerkennung galt nicht denjenigen, die das Haus bauten. Sein Lob galt denjenigen, die den Mut besitzen, das Haus zu ändern, damit Leben hineinkommen kann. In dem Augenblick rückte ein gebrechlicher Mensch in den Mittelpunkt. Ich empfinde es bis heute als die größte Würdigung meiner Rolle und die Rolle aller, die Bahrenträger sind. Denn für uns stand dieser gebrechliche Mensch die ganze Zeit  im Mittelpunkt.

Ich: Und dann war Ihre Arbeit getan?

Tragbahre: Nicht ganz. Jesus hat dem Mann gesagt: »Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!« Und das hat mich am tiefsten berührt. Denn für Jesus war ich nicht unbedeutend. Er sollte mich mit nach Hause nehmen, weil er niemals vergessen sollte, welche Rolle ich in seinem Leben und in seiner Heilung gespielt habe.  

 

Tragbahre, wohin führst du mich?

Ich: Können Sie zum Abschluss unseren Lesern noch etwas für ihre Wege durch die Adventszeit mitgeben?

Tragbahre: Sehr gerne. Ich nehme viele Formen an. Ich bin das tragende Wort, auf das sich ein Mensch verlassen kann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Aber ich brauche meine Partner, die Menschen, die mich mutig aussprechen. Sonst gibt es keine Heilsgeschichte. Ich bin die tragende Geste, die ein Mensch ausruhen lässt, wenn die eigenen Kräfte versagen. Aber ich brauche immer meine Partner, die Menschen, die solche Gesten wagen, auch zu unkonventionellen Zeiten und auf unkonventionelle Weise. Ich würde Ihren Lesern einfach gerne ans Herz legen: Seien Sie meine Partner.

Ich: Vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit und dieses Interview.

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 6. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Das Kleid: Schwester, sprich zu mir von Gott.

Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht! Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!

Bar 5, 1-2

 

 

Die Sprache dieses Bildes ist in der heutigen Welt nur noch schwer zu verstehen. Im Gegensatz zu den Tagen der biblischen Geschichten tragen Männer und Frauen unserer Zeit Kleidungsstücke, um zwei Dinge auszudrücken: individuelle Identität und Persönlichkeit. Mode, wie wir sie heute verstehen, spielte in der Zeit, in der die Kleidung erstmals eine symbolische Bedeutung hatte, keine Rolle. Bei den alten Völkern hatte die Kleidung eine sehr praktische Funktion. Unsere Kleidung schützt uns vor dem Wetter, sei es vor Kälte, Regen oder sengender Hitze. Im Gegensatz zu den Tieren haben wir keinen natürlichen Schutz vor den Elementen, so dass Kleidungsstücke für uns das tun, was Fell und Federn für die Tiere tun.

Wenn Kleidungsstücke in biblischen Geschichten auftauchen, sprechen sie zu uns von vielen Dingen. Die Kleidung, die wir tragen, kann natürlich unseren Status in der Gesellschaft verraten. Könige kleiden sich normalerweise nicht wie Bettler.

Wenn Baruch die Sprache des Gewandes verwendet, weist er auf eine weniger offensichtliche Aussage hin, die die Kleidung macht. Die Sprache des Gewandes in dieser Geschichte versucht, den Zustand zu offenbaren, in dem sich unsere Herzen befinden. Die Kleider, die wir anziehen, können verbergen oder verschleiern, was in uns vorgeht. Wir können zum Beispiel die gleiche Uniform tragen wie alle anderen, während wir uns innerlich von ihnen distanzieren, weil wir uns nicht mehr mit der Gruppe oder ihren Interessen identifizieren. Wie viele Kinder haben die gleiche Kleidung wie ihre Altersgenossen getragen, um sich anzupassen und dazuzugehören? Doch tief in ihrem Herzen wissen sie, dass sie immer noch Außenseiter sind, dass sie nicht wirklich akzeptiert oder erwünscht sind. Andererseits können Kleidungsstücke auch die tiefen und verborgenen Realitäten unseres Herzens offenbaren. Wenn wir nach dem Verlust eines geliebten Menschen schwarz tragen, sagt die Farbe, die wir tragen, etwas über den Zustand unseres Herzens aus.

Baruch kennt den Zustand des Herzens der Menschen, an die er schreibt. Sie tragen Gewänder der Trauer und des Elends. Trauernde Witwen tragen Trauerkleider, wenn sie um ihre verlorene Liebe und ihr verlorenes Leben trauern (Gen 38,14.19). Wenn Menschen über begangenes Unrecht zutiefst betrübt waren und ihr Bedauern, ihr Schuldgefühl und ihre Reue zum Ausdruck bringen wollten, trugen sie Sackleinen als Kleidungsstück. (Gen 37,34; 1. Könige 20,31; Esther 4,1-2; Ps 69,11; Jes 37,1). Auch das Elend hatte seine Kleider, wie z. B. die von Aussätzigen getragenen Kleider (Lev 13,45), die die Träger als Ausgestoßene auswiesen.

Aber Baruch schlägt vor, dass es an der Zeit ist, ein festliches Gewand zu tragen. Wie das Hochzeitskleid in Mt 22,11-22 zeigt dies die Bereitschaft, sich auf ein Fest einzulassen, bei dem das Leben und die Liebe gefeiert werden. In der Sprache dieses Bildes steht ein Kleiderwechsel für eine Veränderung des inneren Lebens. Wir sollten den Schritt von der Trostlosigkeit zur Freude, von der Gebrochenheit zur Würde vollziehen.

Dies ist eine adventliche Übung. Die Gewänder sprechen zu uns von einem Gott, der uns auffordert, diese Praxis auszuüben. In unserer herrschenden Kultur geraten wir leicht in einen Kreislauf von Negativität, Bosheit und Klagen. Ich habe eine ganze Reihe von Menschen kennengelernt, die es für äußerst schick halten, alles, was sie erleben, überkritisch zu betrachten. Fast immer ist dies mit einer kaum verhüllten Verachtung für diejenigen verbunden, die sich ein Gewand der Rechtschaffenheit und des Feierns überziehen. Die Hyperkritiker halten sie für naiv, während sie ihre eigene selbstgefällige Kritik für ein Zeichen von Kultiviertheit halten.

Ich erinnere mich an eine solche Begegnung in Belize. Eine Gruppe von Dorfbewohnern kam in die Kirche, um die Sonntagsmesse zu feiern. Sie reisten zu Fuß nach Punta Gorda, und als sie dort ankamen, verschwanden sie hinter den Bäumen und Büschen.  Dann zogen sie ihre staubige Alltagskleidung aus und zogen die schönen, farbenprächtigen Gewänder der Sonntagsfeier an, die sie auf dem Rücken getragen hatten. Erst dann betraten sie die Kirche, um die Eucharistie zu feiern. Ich bewunderte diesen allsonntäglichen Gewandwechsel zutiefst. Ein amerikanischer Tourist wurde ebenfalls Zeuge dieses Vorgangs und bemerkte zu mir. »Sie sind nur glücklich, weil sie zu unwissend sind, um zu wissen, wie schlecht es ihnen geht!« Hier war ein Mann, der alles hatte, was das Leben zu bieten hat, aber er war nicht in der Lage, das Gewand des Kummers und des Elends abzulegen. Er, der allen Luxus besaß, konnte sich nicht an den einfachen Freuden der Menschen um ihn herum erfreuen. Seine Welt war voller reicher Menschen, die versuchten, sich gegenseitig damit zu beeindrucken, dass sie nichts beeindrucken konnte. Der einzige Mensch in der Kirche, der keine großen Sorgen oder Nöte hatte, konnte nicht tun, was diejenigen, die jeden Tag von Sorgen und Nöten gezeichnet waren, mit Freude taten: Sie wechselten das Gewand, um zu feiern, was ihnen gegeben wurde, und um sich in der Erwartung dessen zu freuen, was noch kommen wird.

Das Kleidungsstück in dieser Geschichte spricht zu uns von Gott: Es ist Zeit zu feiern, was gegeben ist. Es ist an der Zeit, sich darüber zu freuen, dass mehr Leben kommt, dass neues Leben kommt, anstatt sich zu beschweren, dass es zu lange gedauert hat, dass es zu spät kam, dass es nicht genug ist, oder dass dieses neue Leben in einer anderen Form hätte kommen sollen.

O Kleid, wohin führst du mich?

Wo werde ich an diesem Adventstag das Gewand der Klage ablegen und das Gewand der Freude und der Dankbarkeit anziehen, damit es alle sehen können?

Wie werde ich meine Freude und mein Vergnügen an den Gaben, die ich erhalten habe, nach außen hin zeigen?

 

 

Erik Riechers

Vallendar, den 5. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Ernte: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

 

Da sagte Jesus  zu seinen Jüngern:

»Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.

Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden.«

Mt 9, 37-38

 

 

 

 

 

Wenn wir auf die Ernte blicken, denken wir meist an Fruchtbarkeit und Fülle. Deshalb danken wir Gott normalerweise jeden Herbst für die Ernte. 

Aber dieses Bild ist viel subtiler, als wir es uns vorstellen, und wenn wir nicht genau hinhören, können wir überhören, was Gott uns zu sagen versucht. Es ist ein Bild, in dem Gott zu uns über Potenzial und Möglichkeiten spricht.

Wenn die Ernte auf den Feldern steht und reichlich vorhanden ist, sehen wir, was gewachsen ist. Aber es ist nie ein Zufall, wenn es eine Ernte gibt. Sie entsteht nicht spontan. Sie wächst unter der Anleitung und Pflege von Menschen, die viel Zeit und Energie investieren, damit es eine Ernte gibt.

Wenn Jesus aufschaut und eine reiche Ernte sieht, bricht er nicht in Jubel aus, sondern warnt. Wo es eine reiche Ernte gibt, muss es auch Arbeiter geben, die sie einbringen. Niemand kann von einer Ernte leben, wenn es kein Ernten gibt, keine Arbeiter, die die Früchte des Feldes ernten und sie an sichere Orte bringen, damit wir sie in Zukunft nutzen können. Eine Ernte, die nicht eingebracht wird, verrottet auf den Feldern. Ernten füllen keine Scheunen, Speisekammern oder Mägen. Das tun die Erntearbeiter. Kein Hunger wurde jemals durch den Anblick eines erntereifen Feldes gestillt.

Als Sohn der kanadischen Prärie hat die Zeit der Ernte eine unauslöschliche Wirkung auf meine Seele. Jeden Herbst erlebte ich, wie die Landwirte um die Ernte besorgt waren. Es war eine Zeit harter Arbeit, in der jeder Tag mit gutem Wetter ausgenutzt wurde, in der mit großen Scheinwerfern gearbeitet wurde, um auch die Nachtstunden für die Weizenernte zu nutzen, und in der ein ständiger Wettlauf stattfand, um vor dem Eintreffen des Winterschnees fertig zu werden. Tief in meiner Seele habe ich eine Lektion gelernt, die die Sprache dieses Bildes der biblischen Geschichten, die zu mir von Gott sprechen, öffnet. Diese Söhne und Töchter des Bodens waren besorgt und getrieben, weil sie wussten, dass eine Ernte zu haben nicht bedeutet, dass man sie nicht durch Nachlässigkeit und Faulheit verlieren kann. Die Erntearbeiter kennen die Weisheit Jesu in ihren Knochen.

Das Bild spricht zu uns von Gott, denn Gott hat den Wunsch, dass wir nicht nur bemerken, dass es auf den Feldern des Lebens, auf den Feldern unseres Herzens, Potenziale und Möglichkeiten gibt, sondern dass wir die Arbeiter sind, die dieses Potenzial und diese Möglichkeiten einbringen. Andernfalls werden sie vergeudet werden.

Wir müssen an dem festhalten, was uns gehört, an dem, wofür wir gearbeitet haben. Wir haben es verdient, und wir sollten das Beste daraus machen wollen. Das ist die Weisheit des Evangeliums, denn es ist die Weisheit Gottes. Vergeuden Sie Ihre Chancen nicht. Der Mann oder die Frau des Evangeliums hat einen Anspruch auf ihre Ernte. Das bedeutet, dass wir an all unseren Möglichkeiten festhalten sollten. Wir halten an unserem Wissen, unserer Erfahrung, unseren Talenten fest, aber auch an unseren Strukturen, Bräuchen und Traditionen, die uns und anderen gute Dienste geleistet haben.

Doch das Bild der Ernte ist noch reicher als diese Perspektive. Denn sobald wir die Ernte eingebracht haben, stellt sich uns eine zweite Frage. Wie werden wir mit unserer Fülle umgehen, mit der Fülle in unserem Glauben, in unserer Kirche und vor allem mit der Fülle in uns selbst? Mit wem werden wir sie teilen? Werden wir sie, wie der Bauer in Lukas 12, 13-21, einbringen und in Scheunen einschließen, oder werden wir auch für andere einen Tisch decken? Wenn die erste Gefahr darin besteht, das Potenzial und die Möglichkeiten, die wir ernten sollten, zu vernachlässigen, dann besteht die zweite Gefahr immer darin, unseren Besitz zu bewahren, das, was mir gehört, in welcher Form auch immer.

Der Grund dafür? Die Angst. Worin liegt diese Angst begründet? Darin, dass wir glauben, an allem festhalten zu müssen, weil es nicht genug Brot und Leben für alle geben wird. Und diese Angst macht uns kleinlich und eng, eng in unserem Denken, eng in unseren Interessen, eng in unserem Handeln und eng in unserem Herzen. Unaufhörlich werden wir also von den zwei Fragen aller Scheunenbauer getrieben: Wie kann ich es für mich behalten? Wie kann ich es von anderen fernhalten?

Wir müssen nicht auf diese Weise leben. Jesus bietet uns eine Alternative. Anstatt größere Scheunen zu bauen, um alles zurückzuhalten, können wir einen Tisch decken und alle einladen. Anstatt unsere Fülle zu verstecken und zu verteidigen, können wir einen Tisch decken, der reich gedeckt ist, wir können vertrauensvoll mit anderen teilen und für sie sorgen.

Das Leben, das Gott uns geschenkt hat, ist voller Potenzial und Möglichkeiten. Wir sollten es nicht vergeuden, indem wir die harte Arbeit des Erntens vernachlässigen. Aber wir sollten es auch nicht verschwenden, indem wir es horten und wegschließen, wo nur einige wenige Privilegierte davon leben können.

Ernte, wohin führst du mich?

Wo gibt es eine Fülle in mir, die ich nicht ernte?

Mit wem werde ich die Fülle teilen, die ich an diesem Adventstag geerntet habe?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 4. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Der Baumstumpf Isais: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.

Jes 11, 1

 

Der Baumstumpf Isais ist eines der bekanntesten Bilder der Adventszeit. Er erklingt in unseren Kirchenliedern wie »Es ist ein Ros entsprungen« und erstrahlt in vielen Kunstwerken, die einen Stammbaum darstellen, der von David zu Jesus führt. Seit dem Mittelalter gibt es die Tradition des Jesse-Baums, bei der die kahlen Zweige eines Baums an jedem Dezembertag mit einem Symbol geschmückt werden, das die große biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Geburt Jesu Christi darstellt. Aber was versucht Gott uns mit einem Baumstumpf zu sagen?

Kontemplation in biblischen Geschichten bedeutet, dass wir bereit sind, einen langen, liebevollen Blick auf das Reale zu werfen. Beginnen wir unseren Adventstag mit der Betrachtung eines Baumes, indem wir einen langen, liebevollen Blick auf seine Realität werfen. Denken wir an seine Größe, wie er da steht, in all seiner Pracht. Beachten Sie seine Schönheit und seine Größe, wenn sich seine Äste ausbreiten. Schauen Sie sich die Zweige an, die Blätter, die sie tragen und vielleicht die Blüten, die sie tragen. Und dann ist da noch der Schatten, den er spendet. Es gibt Menschen, die unter seinen Zweigen Schutz vor Regen und Hitze suchen. Es gibt Vögel, die in den Zweigen des Baumes Obdach und ein Zuhause finden.

Stellen Sie sich nun vor, was passiert, wenn dieser Baum nur noch ein Stumpf ist. Das ist das Bild, das uns von einem großen und bedeutenden Verlust erzählt. Ein Stumpf ist ein Baum, der seiner Herrlichkeit beraubt wurde. Die atemberaubende Pracht ist verloren, die Schönheit beendet. Der Raum, den er einst ausfüllte, ist auf einen Bruchteil seiner früheren Größe reduziert worden. Seine Äste sind verschwunden, so dass nichts mehr übrig ist, was Blätter, Blüten und Fruchtbarkeit aufrechterhalten könnte. Es gibt keinen Schatten mehr, und der Baumstumpf selbst liegt nun immer bloßgestellt. Die Menschen, die einst unter den Armen des Baumes Zuflucht suchten, sind nun ungeschützt und den Elementen ausgesetzt. Die Vögel haben ihren Zufluchtsort und ihr Zuhause verloren. Der Baum ist nicht länger ein Ort des Trosts.

Es ist immer traurig, einen Baum verdorren und sterben zu sehen, aber das ist es, was die Natur letztendlich aus den Bäumen macht. Ein Stumpf ist das, was der Mensch aus den Bäumen macht. Wir fällen sie. Wir reduzieren sie auf eine Hülle ihrer früheren Pracht.

Jetzt, wo wir tief in die Sprache des Baumstumpfs eingetaucht sind, können wir hören, was Gott uns sagen will. So belassen, würde das Bild von einem verheerenden, hoffnungslosen Verlust von so vielem sprechen, was das Leben lebenswert macht. Aber in der Geschichte Gottes nimmt dieses Bild eine ganz andere Gestalt an. Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Jesaja nimmt dieses Bild der Verwüstung und spricht zu uns von Hoffnung. Es ist eine Lektion für das tiefe Herz, die uns daran erinnert, dass Gott an Orten, an denen wir nur Verlust und Zerstörung erwarten, zu uns von Hoffnung sprechen kann.

Der Stumpf Isais spricht zu uns von Gott, weil er ein kleines, aber starkes Zeichen setzt. Wann immer wir die Fülle unseres Lebens auf einen Stumpf reduzieren, wann immer wir unser Leben beschneiden, kann das nicht die Kraft des Lebens auslöschen, die von unserem Gott ausgeht, den Lebensatem, den er seit Anbeginn der Schöpfung in uns hineinhaucht. Die Kraft Gottes, Leben hervorzubringen, kann nicht gebrochen werden, auch wenn wir es sind, die die Bäume zu Stümpfen machen.

Dies ist auch ein Bild des Trotzes, das einen Gott enthüllt, der sich weigert, selbst massive Verluste und Verwüstungen das letzte Wort haben zu lassen. Der Baumstumpf Isais ist die Sprache Gottes, denn wo immer wir diese Baumstümpfe finden, begegnen wir Gott in dem beharrlichen, sturen, unverwüstlichen Drang, ins Leben durchzubrechen.

Jeden Sommer sehe ich Menschen, die ihre Bürgersteige und Einfahrten von Unkraut und Gras befreien, das durch die Ritzen und Spalten der Pflastersteine sprießt. Ich sehe sie dort knien und mit Messern tief schneiden, um die Wurzeln auszukratzen. Ich sehe einige mit kleinen Flammenwerfern, um sie zu Asche zu verbrennen, während andere Unkrautvernichter in die Ritzen schütten. Wissen Sie, was ich auch sehe? Ich sehe dieselben Menschen, die sich ein Jahr später der gleichen Aufgabe stellen, und das Jahr darauf, und das Jahr darauf.

Wir können manchmal brutale Zerstörer sein, wenn das Leben dort erscheint, wo wir es nicht wollen oder wo es uns nicht passt. Das gilt auch für das Leben in uns selbst. Es gibt Stellen des inneren Lebens (Sehnsüchte, Wünsche und Talente), die wir zu einem Stumpf gemacht haben, die wir zerstört haben, weil wir sie für unpassend oder nicht mehr notwendig hielten. Dort werden wir einen Spross der Hoffnung und des Lebens entdecken, der durchbricht, einen Zweig, der sich ausstreckt, um eine neue Fruchtbarkeit zu bringen. Wenn man ihn sieht, begegnet man dem verschmitzten Grinsen, das das Gesicht Gottes erhellt, wenn er das Leben mühelos wieder dorthin zurückkehren lässt, wo ER es will. Im Advent geht es um das Kommen Gottes. Nun, der Stumpf Isais erzählt uns von einer der mächtigsten Arten, wie er kommt.

 

Baumstumpf Isais, wohin führst du mich?

Wo habe ich die Fülle des Lebens abgeschnitten, bis nur noch ein Stumpf übrig war?

Wo habe ich Leben jenseits des Verlustes erfahren, eine fruchtbare Zukunft jenseits der Verwüstung?

Wenn aber die Triebe erscheinen und die Zweige in meinem Leben sprießen, werde ich die Hand ausstrecken und das Gesicht Gottes streicheln?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 3. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Die Tore: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

An jenem Tag singt man in Juda dieses Lied: Wir haben eine befestigte Stadt, zu unserem Schutz baute der Herr Mauern und Wälle.

Öffnet die Tore, damit ein gerechtes Volk durch sie einzieht, ein Volk, das dem Herrn die Treue bewahrt.

       Jes 26, 1-2

 

Wenn Tore oder Türen in einer biblischen Erzählung erscheinen, sprechen sie zu uns über die Art, wie wir Kontrolle in unserem Leben üben. Und wo das Bedürfnis nach Kontrolle in uns wach wird, da ist Vertrauen die Frage. Je größer das Vertrauen, umso weniger üben wir Kontrolle. Aber je geringer unser Vertrauen, umso mehr üben wir Kontrolle.

Die Tore sind eine Kontrollinstanz. Dort bestimmen Menschen, wer und ob jemand eingelassen wird. Tore sind der Ort, wo wir entscheiden, wen wir ausschließen werden und keinen Zutritt gewähren. Wo setzen wir Schloss und Riegel ein, wenn nicht in unseren Türen? Es geht um Kontrolle.

Diese Übung von Zugang und Ausschluss geschieht tagtäglich. Offene Türen signalisieren die Bereitschaft angesprochen zu werden. Die geöffnete Tür bietet Menschen Raum und Zeit für Begegnungen. Dagegen signalisieren verschlossene Türen, dass wir keine Zeit haben, dass wir nicht gestört werden wollen oder keine Lust haben für ein Gespräch oder eine Begegnung.

Hier aber sollten die Tore geöffnet werden, um Zugang zu  gewähren. Die Sprache des Bildes sagt uns, dass unser Gott uns nicht ausschließen sondern einladen möchte. Er will dass wir hineinkommen. Hier ist der Gott, der Raum und Zeit schafft für seine Menschen. Wir werden von ihm nicht als lästige Plage gesehen, sondern als ersehnte Besucher, Gäste und Freunde.

Die Menschen singen in Juda: »Wir haben eine befestigte Stadt, zu unserem Schutz baute der Herr Mauern und Wälle. Wenn wir Angst haben und uns unsicher fühlen, dann brauchen wir Kontrolle. Mauern und Wälle geben uns Schutz. Und Gott ist bereit, uns diesen Schutz zu schenken. Immerhin baute er uns Mauern und Wälle. Gleichzeitig nehmen diese Mauern und Wälle etwas, nämlich Weitblick und Offenheit. Wenn Weitblick und Offenheit fehlen, dann werden wir auf Dauer immer nur ängstlicher und enger, denn wir schließen uns in unserer kleinen erstickenden Welt des Schutzes ein. Darum hat Gott auch Tore in die Mauern gebaut und jetzt besteht er darauf, dass sie geöffnet werden. Sonst werden wir die Gefangenen unserer Sicherheitsbedürfnisse.

In den Tagen von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen reden wir zu wenig von offenen Toren. Wir haben Schutz notwendig in einer Pandemie, aber Gott vergisst nie die andere Seite der Erfahrung. Was wir zum Schutz der Gesundheit tun, persönlich und für andere, sollte uns nicht zu Gefangenen der Angst machen. Auch in dieser Zeit sollten wir Wege suchen die Tore aufzumachen und anderen das Zeichen geben, dass wir offen sind für ein Gespräch und für ihre Anliegen.

Schließlich sprechen die Tore zu uns von einem Element des Advents, das wir leicht vergessen. Wir sprechen unaufhörlich von dem Gott, der kommen wird. Aber das Bild der Tore warnt uns, dass der Gott, der kommen wird, wesentlich größer ist als das, worauf wir uns vorbereiten. In Psalm 24 singen wir: »Ihr Tore, hebt eure Häupter, / hebt euch, ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit!« Wenn wir unsere Tore und Türen bauen, denken wir daran, was durch sie hindurchgehen soll. Wenn wir eine Person mit einem Rollstuhl im Haus haben, machen wir die Türen ein wenig breiter. Wenn wir die Türen der Lieferungshalle der Firma brauchen, um den Zugang zu großen Transportkisten zu ermöglichen, dann machen wir die Tore deutlich höher. Der Psalmist will uns damit sagen, dass wir bei der Vorbereitung auf den König der Herrlichkeit seine Größe unterschätzt haben. Derjenige, der kommen soll, ist größer als unsere Vorstellungskraft, größer als unsere Engstirnigkeit, größer als unsere Ängstlichkeit und größer als das, was wir ursprünglich bereit waren zu empfangen. Wenn es jemals eine wichtige Aufgabe im Advent gab, dann ist es diese: Wir müssen unser Willkommen, unsere Offenheit und Zugänglichkeit für Gott erweitern.

 

Ihr Tore, wohin führt ihr mich?

Welche Türe werde ich heute öffnen, damit das Volk Gottes sich mir nähern kann?

Welche Türe lasse ich offen stehen?

Wem signalisiere ich heute Gesprächs- und Begegnungsbereitschaft?

Wo muss ich weiter werden und mich auf einen Gott einstellen, der überraschend größer ist als ich es mir vorstellte in meinen Gottesbildern?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 2. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Das Festmahl: Schwester, sprich zu mir von Gott.

 

 

Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen.

                                  Jes 25, 6

 

Das Bild des Festmahls ist unzertrennlich von einem reich gedeckten Tisch. Ein Festmahl findet nicht an einer Imbissbude statt und ist auch nicht ein Picknick. Es ist ein Bild der Großzügigkeit, denn ein reichgedeckter Tisch entsteht immer nur, wenn ein Mensch bereit ist, anderen zu gönnen, was er schon besitzt. Bei einem Festmahl geht es um die Großherzigkeit, die keine Angst hat zu teilen, denn das, was dem Geber gehört, stellt er allen Gästen zur Verfügung. Das, was ihn allein nähren könnte, wird jedem angeboten als Nahrung und Sättigung. Das, was er alleine genießen könnte, das können jetzt alle auskosten und sich daran ergötzen. Niemand hält ein Festmahl, der Angst davor hat, dass andere ihm zu viel nehmen könnten.

Das Bild des Festmahls spricht zu uns von einem Gott, der überhaupt keine Berührungsängste hat mit seinen Menschen und ihrem Hunger. Hier spricht das Bild zu uns von Gott, und es sagt uns: Menschen, wo ich in einer Erzählung erscheine, da spreche ich von einem Gott des Gönnens. Dieser Gott gönnt euch Leben.

In Psalm 23 singt der Psalmist: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.« In biblischer Erzählung ist der Feind immer erkenntlich an einer Haltung: der Feind ist der Mensch, der den anderen kein Leben gönnt. Aber unser Gott deckt uns einen Tisch vor den Augen derer, die uns nichts davon gönnen würden. Er stellt uns alles zur Verfügung, was wir brauchen, um Leben zu erhalten und zu genießen. Das tut er vor den Augen unserer Feine, das heißt, er bekennt sich öffentlich zu uns und macht keinen Hehl daraus, dass er uns gegenüber ein offener, gebender und gönnender Gott ist.

Bei diesem Festmahl kommt auch das Beste auf den Tisch. Gott holt das Feinste, Edelste, was er anzubieten hat, heraus und stellt es uns zur Verfügung. Es ist »ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen«. Er bietet uns keine Billigware an. Er deckt den Tisch nicht mit dem, was ihn am wenigsten kostet. Die besten feinsten Speisen sind eben keine Schnellgerichte. In dem Film Go Trabbie Go kommt die Familie aus der ehemaligen DDR zu Besuch bei den Verwandten im Westen. Die Verwandten sehen, wer vor der Tür steht und der Vater sagt zu seinem Sohn: »Alphons, abräumen!« Und sofort wird der reichgedeckte Kaffeetisch abgeräumt. Die Torte verschwindet in einem Schrank. Auf den Tisch kommen ein Paar Nüsse und eine Schale mit geschrumpften Äpfeln. Die reichen Gastgeber haben nur Angst, dass die Gäste ihnen zu viel wegnehmen. Noch schlimmer wenn es ihnen schmeckt, dann könnten sie ja länger bleiben wollen.

Um ein Festmahl so zu gestalten, zeigt Gott eine besondere Liebe für uns, denn alles, was er anbietet, verlangt eine längere Herstellungszeit, mehr Vorbereitung und deutlich mehr Aufwand. Wenn Gott den Tisch deckt, sagt er uns, dass es sich für ihn lohnt, Zeit, Vorbereitung, Anstrengung und große Mühe unseretwegen aufzubringen. Und er hofft, dass es schmeckt, denn er will uns nicht wieder so schnell wie möglich loswerden.

Wie erzählt es John Shea so schön und zärtlich?

Für Jesus war jede Person ein Gast.

Eine Einladung ging von dem Herzen des Lebens aus

an jedes Herz, das im Leben steht,

denn diskriminiert der Regen,

oder hat die Sonne Favoriten?

Seine Stimme war die Musik des Willkommens

in den Ohren der Ablehnung;

seine Gegenwart ein silbernes Platzgedeck in den Slums,

mit leinenen Servietten auf dem Schoß von Aussätzigen

und delikatem Porzellan, Teetassen

gebettet auf Schwielen,

ihre dünnen Ränder gepresst zwischen Lippen,

dick und mit Blasen übersät vor Durst.

 

Festmahl, wohin führst du mich?

Wo und mit wem werden wir eine Spiritualität des Gönnens üben?

Wem werden wir an diesem Adventtag etwas gönnen, ein Angebot machen, in dem klar wird, dass wir bereit sind, das, was unsers ist, anderen zur Verfügung zu stellen?

Für wen werden wir das Beste aus uns herausholen und nicht das, was gerade reicht?

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 1. Dezember 2021

Nächster Abschnitt

Und der Mandelbaum blühte: Wie religiöse Bilder zu uns von Gott sprechen

 

Zur Einführung:

 

In seinem Buch »Bericht an Greco« erzählt Nikos Kazantzakis eine sehr einfache und kurze Geschichte. »Ich sagte zu dem Mandelbaum: 'Schwester, sprich zu mir von Gott.' Und der Mandelbaum blühte auf.«

 

In seinem Buch »Stories of Faith« (Geschichten des Glaubens), schreibt John Shea, die Narrative Theologie »beobachtet die subtilen Bewegungen der religiösen Sprache bei der Bildung von Persönlichkeit und Gemeinschaft, schätzt die Bibel mehr für Bilder als für Gedanken«. Aber wir werden die Bilder der biblischen Geschichten erst dann wirklich schätzen, wenn wir zutiefst daran glauben, dass sie zu uns von Gott sprechen.

Aber wie schätzt man ein Bild mehr als einen Gedanken? Rabbi Hisba schrieb einmal: »Ein Traum, der nicht gedeutet wird, ist wie ein ungeöffneter Brief (von Gott).« Da die Geschichten von Gott und die Geschichten des Glaubens voller Bilder sind, sind sie ein wesentlicher Bestandteil unseres Gesprächs mit Gott. Aber das Gespräch beginnt immer dann, wenn wir anfangen zu deuten, was Gott uns in den Bildern, mit denen er unser Leben beschenkt, sagt. Ein Bild, das nicht gedeutet wird, ist also wie ein Gespräch mit Gott, auf das wir uns nicht einlassen wollen.

Die Schrift ist die tiefste Sprache der Seele. Sie ist voll von Archetypen, Metaphern und universalen Bildern. Darum ist eine wortwörtliche Auslegung der Schrift extrem verarmend. Joseph Campbell hat das schon vor Jahrzehnten erkannt: »Die Hälfte der Menschen auf der Welt hält zum Beispiel die Metaphern ihrer religiösen Traditionen für Tatsachen. Und die andere Hälfte behauptet, dass sie überhaupt keine Fakten sind. Folglich gibt es Menschen, die sich als gläubig bezeichnen, weil sie Metaphern als Fakten akzeptieren, und andere, die sich als Atheisten bezeichnen, weil sie religiöse Metaphern für Lügen halten.«

Die reiche Vielfalt der Bilder der biblischen Geschichten ohne Auslegung zu lassen, bedeutet, einen herrlichen, üppigen und beglückenden Teil des Gesprächs mit Gott zu verpassen. Unsere tägliche Erfahrung lehrt uns das. Wenn ein Mensch sagt, dass er auf uns aufpassen wird, sind wir froh und getröstet. Aber wenn jemand sagt: »Ich werde mich selbst als Wächter auf die Mauern deines Herzens setzen«, dann bewegt uns das in die Sprache der Seele und eröffnet Gefühle und Erfahrungen, die tiefer, wärmer und kraftvoller sind, als es deklarative Sprache je sein kann.

Religiöse Sprache muss das wecken, was schon in uns ist, muss unsere Seele erreichen. Die Mystiker haben es so beschrieben: Wenn Gott die Seele in den Körper legt, ist das letzte was er tut, die Seele zu küssen. Für Ewigkeit erinnert sich die Seele unbewusst an diesen Kuss. Und sie schätzt alles (Güte, Wahrheit, Liebe, Schönheit) durch die dunkle Erinnerung an diesen Kuss.

Die Tage des Advents sind voll von biblischen Bildern. Das liegt daran, dass Gott uns in ein Gespräch von größerer Tiefe, Wärme und Trost mit ihm ziehen will. Anstatt den Brief ungeöffnet liegen zu lassen, werden wir jeden Tag ein Bild öffnen, es auslegen, Bedeutungsebenen entdecken und uns dann für die täglichen Adventsbegegnungen in unseren Lieben öffnen, zu denen uns das Bild locken will. An jedem Bild werden wir die Bitte aussprechen: 'Schwester, sprich zu mir von Gott.' Und wenn die Bilder blühen, vielleicht werden wir dann an diesen Kuss Gottes erinnert und werden wieder alles  schätzen lernen, was gut, wahr, liebevoll und schön im Leben zu finden ist.

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 30. November 2021

Nächster Abschnitt
Nächster Abschnitt

Auf Wiedersehen!

»Bleiben Sie behütet!« riefen wir Ihnen 16 Monate lang zu. So versuchten wir 68 Wochen lang, mit Ihnen und untereinander in Verbindung zu bleiben und Worte der Ermutigung und des Nachdenkens zu teilen. Alle mehr als 300 Impulse stehen Ihnen hier weiterhin zur Verfügung.

Auf Sound Cloud unter dem Link https://soundcloud.com/user-507746930 veröffentlichten wir alle 10 Shea Kurse 2020 und auch die bisherigen 6 Vorträge dieses Jahres. Auch sie sind jederzeit weiter hörbar.

Und schließlich kamen auf diesem Weg auch die Brunnentage des ersten Halbjahres 2021 jeden Monat zu Ihnen.

Die Elemente der einzelnen Brunnentage 2020 wie auch die tägliche Begleitung durch die Advents- und Weihnachtszeit haben viele von Ihnen als E-Mail erhalten.

So sind wir selbst erstaunt und dankbar, wie reichhaltig diese an persönlichen Begegnungen so arme Zeit für uns alle war. Dies bestärkt uns in der gläubigen Zuversicht, dass es sich immer lohnt, mutig und kreativ nach Möglichkeiten zu suchen, auch wenn zunächst alles so unmöglich zu sein scheint.

In diesem Sinn gehen wir weiter - verbunden mit dem ermutigenden Wunsch: »Bleiben Sie behütet!«

 

Vallendar, den 14.Juli 2021

Rosemarie Monnerjahn und Erik Riechers SAC

 

Nächster Abschnitt

Einführung

Ein Lied für die Wallfahrt. Ich erhebe meine Augen zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat. Er lässt deinen Fuß nicht wanken; dein Hüter schlummert nicht ein.  Siehe, er schlummert nicht ein und schläft nicht, der Hüter Israels. Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten zu deiner Rechten. Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht. Der Herr behütet dich vor allem Bösen, er behütet dein Leben. Der Herr behütet dein Gehen und dein Kommen von nun an bis in Ewigkeit.

 

In Psalm 121 wird das Wort »shamar« sechsmal in acht Versen gebraucht. Das Wort ist vielschichtig und bedeutet, etwas oder jemanden zu behüten, zu schützen, zu achten (oder in Ehren zu halten).

Gebeutelt von der Krise des Corona-Virus sehnen sich viele Menschen danach, behütet, geschützt und beachtet zu werden. Diesen Wunsch greifen wir auf in dem Titel »Bleiben Sie behütet«. Und nicht nur als etwas, was wir gerne für uns hätten, sondern als etwas, dem wir bereit sind zu dienen. 1908 organisierte sich in Palästina eine Gruppe unter dem Namen »HaSchomer«. Diese Gruppe schützte ihre Nachbarn als Wächter oder Behüter der jüdischen Siedlungen, die damals neu gegründet worden waren. Sie haben sie achtsam bewahrt und beschützt vor den Angriffen derer, die das Land nicht mit ihnen teilen wollten.

Schon in den ersten Tagen dieser Krise hörten wir Geschichten von Hamsterkäufen und Corona-Parties. In einigen Menschen herrscht der Impuls, »jeder für sich« und »rette sich, wer sich retten kann«. Als Menschen des Glaubens, als Menschen Gottes, müssen wir ein Zeichen dagegen setzen. »Bleiben Sie behütet!« soll unser Ruf werden in dieser Zeit. Schützen wir einander, achten wir aufeinander. Dazu sollen unsere Impulse dienen.

In Gen 4,9 wird erzählt: »Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter (shamar) meines Bruders?« Unsere Antwort sollte sein, dass wir »HaSchomer« füreinander sein wollen.

 

Bleiben Sie behütet!

Vallendar, den 21.März 2020

Erik Riechers SAC

Rosemarie Monnerjahn

 

* Unter dem Datum des 2. November finden Sie unsere weiterführenden Gedanken zu »Atem für den langen Marsch«!

Nächster Abschnitt

»Bleiben Sie behütet«: Hin und zurück

 

Als im März 2020 die Pandemie über uns hereinbrach, wussten wir in Siebenquell, dass wir diesen Moment nicht unbegleitet lassen konnten. So begannen wir die Reihe der Impulse »Bleiben Sie behütet«.  Dass wir 16 Monate später immer noch daran arbeiten würden, konnten wir nicht ahnen.

Wir fragten uns schon seit einiger Zeit, wann der geeignete Moment wäre, diese Begleitung zu beenden. Mit dem allmählichen Abklingen der Krise denken wir, dass die Zeit gekommen ist, diesen langen und abenteuerlichen Weg abzuschließen.

Wenn wir zurückblicken, fällt uns auf, dass unser gemeinsamer Weg interessante und häufige Parallelen zu einem Buch aufweist, auf das wir bei unserer Arbeit oft zurückgegriffen haben, nämlich Der Hobbit von J.R.R. Tolkien. Der oft vergessene Untertitel des Buches ist bezeichnend: »Hin und zurück«.

Wie Gandalf an Bilbo Beutlins Tür klopfte, so klopfte ein Abenteuer an unsere Tür, unerwartet, nicht eingeladen und unwillkommen. Unsere Reaktion war ähnlich wie die Bilbos: »Wir sind alle einfache, ruhige Leute und haben für Abenteuer nichts übrig. Dabei hat man nur Ärger und Scherereien! Man kommt nicht mal mehr rechtzeitig zum Essen!«

Aber dieses Abenteuer, wie alle echten Abenteuer, kam auf der Suche nach uns. Wir hatten uns daran gewöhnt, das Abenteuer als etwas zu betrachten, das wir uns aussuchen, das wir wollen und auswählen, je nach unseren Wünschen und Bedürfnissen. Die biblische Erzählung hingegen versteht das Abenteuer als etwas, das uns auswählt (oder sogar verfolgt). Die wahren Abenteuer des Lebens brechen in unsere glatten Geschichten ein.

Wie Tolkien es später in seiner Trilogie »Der Herr der Ringe« so treffend formuliert: »Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.« Das ist eine Erfahrung, die uns in diesen langen Monaten von Corona kaum fremd war.

Und diese 16 Monate des »Bleiben Sie behütet« waren eine intensive Zeit des Lernens, was es wirklich bedeutet, nicht in echter Gemeinschaft zu leben. Tolkien hatte eine fast pathologische Abneigung gegen heroische Bilder des einsamen Kriegers. Alles Heroische, das er in seinem Leben erlebt hat, hat er in der Gemeinschaft von Gefährten erfahren. Im Ersten Weltkrieg lernte er, dass Menschen Abenteuer nicht als Einzelkämpfer überleben. Die Kriegspropaganda zeigte immer Bilder des heroischen Einzelkämpfers, aber in der Schlacht zählte die Kameradschaft. Daher Tolkiens allgegenwärtiger Schlachtruf: Nicht ohne Gefährten! In seinen Büchern gibt es keine Helden, die ohne Gefährten losziehen. Und Tolkien erzählt immer wieder Geschichten, in denen sie sich gegenseitig brauchen, ergänzen und bereichern. Es gibt keine Abenteuer im Leben, die wir ohne Gefährten auf der Reise erfolgreich bewältigen können.

Wir haben diese Geschichte erzählt, ja, diese Geschichte gelebt. Hunderte von Malen haben wir uns an Sie gewandt, nicht nur, um Sie stark und widerstandsfähig zu halten, sondern auch, um uns selbst fokussiert, motiviert und vital zu halten. Wir wollten nichts sehnlicher, als mit unseren Leuten verbunden zu bleiben. Und wir waren uns auch gegenseitig gute Wegbegleiter, denn wir schrieben und reflektierten und veröffentlichten in Tagen, die dunkel waren, aber zu dunkel geworden wären, wenn wir versucht hätten, sie allein zu bewältigen. Die E-Mails, die Worte der Ermutigung, die Worte der Anerkennung und Dankbarkeit, die wir an Sie schrieben, wie auch die, die wir von Ihnen erhielten, waren offensichtliche Beispiele für das tiefe biblische Gebot: Nicht ohne Gefährten.

Im Laufe seiner großen Erzählung gab Tolkien Bilbo und seinen Gefährten ihre eigenen Sprichwörter und Gleichnisse sowie die Worte von Weisen und Rätseln. Überall im Buch gibt es Gedichte und Lieder. Oft werden sie als Verse aus einer alten und verehrten Tradition zitiert, als das, was von den Geschichtenerzählern von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Tolkien geht es nie um verborgene Weisheiten oder geheimes Wissen, das nur von einigen wenigen Auserwählten und Privilegierten erreicht werden kann. Er spricht immer von dem, was schon lange offenbart und bekannt ist, aber dann so leicht vergessen wurde.

Auch das ist unsere Erfahrung gewesen. Wir haben immer wieder die wirklich wichtigen Themen benannt und angesprochen, die uns alle bekannt sind, wenn wir nur ehrlich schauen und bewerten, was in unseren Herzen ist. Und doch werden sie im Laufe des gedankenlosen täglichen Lebens so leicht vergessen. Wir haben uns bemüht, die wesentlichen Angelegenheiten des menschlichen Herzens inmitten der Krise anzusprechen. Deshalb haben wir die Geschichten erzählt, die ermutigen, erinnern und aufwecken. Wie Bilbo und seine Gefährten haben wir die Lieder geteilt, die unsere Herzen stärken und neuen Mut für die nächste Etappe dieser langen Reise geben. Wir haben unsere Lieblingsgedichte geteilt, in der Hoffnung, dass das, was uns ermutigt hat, auch Ihnen Mut macht. Wir haben eine tiefe biblische Wahrheit kennengelernt, die Tolkien so ausdrückt: »Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung«.

Doch wenn Tolkien zum Ende seiner Geschichte kommt, geschieht etwas Seltsames. Während der gesamten Geschichte ist Bilbo oft von Heimweh nach seinem ruhigen Auenland erfüllt, wo alles bequem, vertraut und friedlich ist. Bei mehreren Gelegenheiten macht er überdeutlich, dass er es nicht erwarten kann, nach Hause zu gehen und sein altes Leben wieder aufzunehmen.

Doch als das Abenteuer vorbei ist und er tatsächlich wieder in seinem geliebten Auenland ist, ist seine Erleichterung nur von kurzer Dauer. Sobald alles wieder »normal« ist, stellt er fest, dass »normal« seinen Reiz verloren hat. Eine der Lektionen von »hin und zurück« ist, dass man, wenn man einmal »hin« gegangen ist, nicht als dieselbe Person, als die man aufgebrochen ist, »zurück« kommen kann. Das Abenteuer hat Bilbo verändert. Die Erfahrungen haben ihn nicht nur herausgefordert, sie haben ihn auch geprägt. Ein neues Heimweh erfüllt ihn, vor allem nach den Gefährten seiner Reise. Die Menschen um ihn herum teilen seinen Lebensstil, seine Annehmlichkeiten und seine Vergnügungen. Aber seine Weggefährten teilten seine Kämpfe und seine Zweifel, sie trugen ihn über seine Unzulänglichkeiten hinweg, drängten ihn, seine Selbstzweifel zu überwinden, weinten mit ihm bei gemeinsamen Verlusten und feierten mit ihm die gemeinsam erreichten Erfolge. Was er vermisst, ist die gemeinsame Sache.

Wir sind hin und zurück gegangen. Es ist unser Wunsch für Sie alle, dass wir Ruhe finden und uns von den anstrengenden Monaten, die wir hinter uns haben, erholen können. Es ist ebenso unsere Hoffnung, dass wir das Beste, das diese Reise in uns hervorgebracht hat, vermissen werden, dass wir nicht wieder in das Leben zurücksinken, wie es war, sondern die Unruhe spüren, die uns daran erinnert, dass es größere Dinge gibt als unseren Komfort und unsere Sicherheit. 

Natürlich weiß ein meisterhafter Geschichtenerzähler wie Tolkien um die wahre Natur des Abenteuers. Wir wissen nie, wann das nächste Abenteuer an unsere Tür klopfen wird. Sollte die Pandemie oder irgendeine andere Krise mit größerer Gefahr oder Wucht zurückkommen, werden Sie in uns willige, bereite und fähige Begleiter finden.

Wir möchten Sie mit dem letzten Lied aus dem Hobbit verlassen. Bilbo ist am Ende seiner Reise zurück ins Auenland angelangt. Als er die Spitze einer Anhöhe erreicht, sieht er in der Ferne seine Heimat, hält an und singt:

 

»Die Straße gleitet fort und fort,

Weg von der Tür, wo sie begann,

Weit überland, von Ort zu Ort,

Ich folge ihr, so gut ich kann.

Ihr lauf ich raschen Fußes nach,

bis sie sich groß und breit verflicht

Mit Weg und Wagnis tausendfach.

Und wohin dann? Ich weiß es nicht.

 

Die Straße gleitet fort und fort

Durch Berg und Schlucht, durch Feld und Tann,

Bald säumend hier, bald eilend dort,

Hin zu der Tür, wo sie begann.

Das Aug, das Feuer sah und Schwert,

Gefahr und Greuel ohne End,

Nun schaut es wieder, heimgekehrt,

Baum, Bach und Hügel, die es kennt.« 

 

An guten und an schlechten Tagen und an jedem Tag dazwischen, bleiben Sie behütet.

 

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

11. Juni 2021

 

 

Und, natürlich, eine Geschichte

 

Eine kleine abschreckende Geschichte mag uns helfen, ein Gefühl für die Bedeutung des Sabbats für uns beim Wiederaufbau unserer Welt nach der Pandemie zu bekommen.

Ein ernsthaftes junges Mädchen namens Anastasia war entschlossen, ein erfülltes und reiches geistliches Leben zu führen. Mittelmäßigkeit in Gebet, Anbetung und religiösen Praktiken waren ihr nicht mehr gut genug. Also verließ sie die Stadt, in der sie aufgewachsen war, und suchte einen großen spirituellen Lehrer namens Ambrosius auf. Vor ihm trug sie ihren Fall vor und schüttete ihm ihren innigen Wunsch aus, eine Schülerin tiefen Glaubens und tiefen Gebets zu werden. Doch der alte Mann war äußerst unwillig, die Verantwortung zu übernehmen, sie zu dem Leben zu führen, das sie sich wünschte. Sie versprach ihm Engagement und Gehorsam, Eifer und Hingabe, aber nichts konnte den alten Meister umstimmen. Schließlich fragte er sie: »Alles, was du versprichst, ist schön und gut, aber ich habe nur eine Frage an dich. Wirst du auf die Weisheit hören, wenn sie keinen natürlichen Reiz für deine Seele hat?« Sie versicherte Ambrosius, dass sie immer auf weisen Rat hören würde, auch wenn er unangenehm und unsympathisch sei, und war erfreut, als er sie als seine Schülerin annahm.

Das nächste Jahr ihres Lebens war sehr anspruchsvoll und eine ständige Herausforderung, aber Anastasia liebte es. Sie liebte alles am Leben einer spirituell Suchenden, die langen Stunden des Gebets und der Meditation, die einfachen Arbeiten des Tages, die Herrlichkeit der Anbetung und die verblüffende Schönheit der Geheimnisse, die in den Kursen und den Büchern enthüllt wurden. Sie liebte das alles.

Eines Tages rief Ambrosius sie zu sich und begann sie über die Entwicklung und Tiefe ihres Gebetslebens zu befragen. Sie beschrieb ihm die reiche Vielfalt des Gebets, die sie trug, besonders das Gebet der Psalmen. Der Meister hörte schweigend und aufmerksam zu und gab ihr dann eine neue Anweisung. Von diesem Tag an sollte sie das Jesusgebet beten, eine einfache, ständige Wiederholung des Namens Jesu. Nichts hätte Anastasia mehr missfallen können. Widerwillig begann sie zu beten, wie es ihr aufgetragen wurde. Doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschwerte sie sich über Ambrosius' Anweisung und folgte heimlich ihrem eigenen Rat. Schließlich, so argumentierte sie vor sich selbst, war dieses einfache Gebet lächerlich einfach und entbehrte jeder Herausforderung für eine Person, die so engagiert und fortgeschritten im geistlichen Leben war wie sie.

Mehrere Wochen vergingen, und schließlich rief Ambrosius die junge Frau erneut zu sich. Diesmal ging er mit ihr durch die Obstgärten, unter den Bäumen hindurch und hielt schließlich am Ufer des Flusses inne. Während des gesamten Spaziergangs trug er einen großen Sack, den er sich über die rechte Schulter gehängt hatte. Am Ufer des Flusses reichte er Anastasia schließlich den Sack und sagte ihr, es sei ein Geschenk für sie. Darin befand sich ein erstaunlich schöner Mantel, handgewebt aus feinster Wolle und exquisit warm. Die Frau war fassungslos über das üppige Geschenk und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dann sprach Ambrosius.

»Kind«, sagte er, »der Mantel gehört dir unter einer Bedingung. Du musst ihn anziehen und dann ans andere Ufer des Flusses schwimmen«.

Verwundert über die scheinbar alberne Bedingung, zog Anastasia den warmen Mantel an und begann, über den Fluss zu schwimmen. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn die warme, dicke Wolle hielt die Kälte des Wassers von ihr ab.

Doch während sie schwamm, begann der Mantel das Wasser aufzusaugen und er wurde mit jedem Armzug schwerer. Ihre Kräfte begannen zu schwinden, als das bleierne Gewicht des Mantels sie auf den Grund des Flusses hinunterzog. In ihrer Verzweiflung riss sie die Knöpfe auf und ließ den schönen Mantel in die aufgewühlten schwarzen Tiefen des Flusses sinken. Mühsam kämpfte sie sich zurück ans Ufer und schaffte es schließlich, sich keuchend vor Anstrengung aus dem Wasser zu ziehen.

Ambrosius blickte schweigend auf sie herab. »Verstehst du jetzt?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, er seufzte und kniete sich neben die zitternde Schülerin. »Die Lektion ist wichtig, Kind. Wir müssen lernen, uns an das zu klammern, was lebensspendend ist, nicht an das, was nur bequem ist.«

Da ist sie, die geistliche Herausforderung der Sabbatwächter, die in die Mitte der geschäftigen Menge geworfen werden. Werden wir uns an das klammern, was nur bequem ist, oder werden wir einige dieser Annehmlichkeiten ablegen, um uns an das Lebensspendende zu klammern? Das ist keine einfache Frage, denn der menschliche Wunsch, sich an das Bequeme zu klammern, ist viel stärker als wir zuzugeben wagen. Doch jede echte Hoffnung auf ein neues Leben, ein reicheres Leben, ein Sabbatleben, ist untrennbar damit verbunden, wie wir diese Frage beantworten.

Ich muss hier ein klärendes Wort über Sabbat hinzufügen. Während das Wort gewöhnlich mit einem bestimmten Tag identifiziert wird, ist Sabbat mehr als das. In seiner tiefsten, weitesten Bedeutung ist es das Rezept für das richtige Gleichgewicht von Arbeit und Freizeit, das für ein gesundes menschliches Leben erforderlich ist. Die Sabbathaltung ist eine Praxis, die weit darüber hinausgehen kann und muss, ob wir sonntags in die Kirche gehen. Es geht darum, der Seele Raum zum Atmen und Aufblühen zu reservieren. Es geht darum, die Prioritäten neu auszurichten, so dass eine Facette des Lebens (Produktivität) nicht den Rest dessen erstickt, was es braucht, um voll lebendig zu sein.

Es ist meine tiefste Hoffnung, dass wir in den Tagen nach der Pandemie den Weg des Glaubens gemeinsam gehen werden, mit dem Gleichgewicht des Sabbats in unseren Adern. Am Ende wird es nicht ausreichen, zu sagen, dass wir die Weisheit gefunden haben, das Gute zu erkennen, oder sogar den Mut, das Gute zu wählen. Am Ende wird es nur reichen, wenn wir die Kraft haben, dieses erkannte und gewählte Gute durchzuhalten. Schließen Sie sich dem Widerstand an! Werden Sie Sabbatwächter!

 

Erik Riechers SAC, 9. Juli 2021

 

 

Das Gespräch, das wir nicht führen

 

Sabbat zu leben ist nicht das religiöse Äquivalent von Stressmanagement. Die christliche spirituelle Tradition fügt der Mischung eine wichtige Zutat hinzu, nämlich eine reiche metaphorische Sprache, die Engagement und spirituelles Wachstum an der Hüfte verbindet.

Jesus offenbart uns nicht nur, dass es Samen der Fruchtbarkeit für jedes sterbliche Leben gibt. Er geht auf die frustrierenden Details der Aussaat ein, die ziemlich unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt, einschließlich einer erschreckenden Anzahl von fruchtlosen Misserfolgen. Eine Aufforderung, auf Feldern zu ernten, die weiß für die Ernte sind, ist immer noch eine Aufforderung zu rückenbrechender Arbeit. Es ist die Rede vom Warten auf das Wachstum und vom Jäten, wenn die Zeit reif ist. In der christlichen Spiritualität geht es nicht darum, wie wir über bestimmte Dinge denken, sondern wie wir auf sie reagieren. Unbeschreiblich ist der Zahnschaden, den das zähneknirschende Gerede über Lebensverbesserung mit keinem Wort über persönliche Investition oder Engagement bei mir angerichtet hat.

Eine Frau erzählte mir einmal von ihrer Frustration, nachdem sie einen Workshop über Lebensmanagement-Fähigkeiten und Stressabbau besucht hatte. Zuerst war sie begeistert von der Aufforderung, langsamer zu machen, die Rosen zu riechen, das Leben zu genießen, ihren Lebensstil zu vereinfachen, ihre Erwartungen herunterzuschrauben und mit ihrem inneren Kind in Kontakt zu treten. Sie kehrte mit der feurigen Entschlossenheit nach Hause zurück, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die erste Woche nach ihrer Rückkehr konfrontierte sie mit einem Haus, in dem jeder Raum eine einzigartige Herausforderung für eine gute Haushaltsführung darstellte. Ihr Büro war geschickt in einem neuen Stil umdekoriert worden, den man am besten als »windzerzaust« beschreibt. Ihr Mann, dessen jede Äußerung in letzter Zeit mit verzerrten Gesichtsbewegungen und dem Rollen der Augen der heranwachsenden Tochter belohnt wurde, wanderte durch das Haus und murmelte etwas über Adoptionsagenturen. Am Ende der Woche hatte sich ihre frische Entschlossenheit, ihr Leben und ihren Stress zu »managen«, völlig aufgelöst. Ihre Worte klingen immer noch in meinem Kopf. »Nachdem ich mein Leben in den Griff bekommen habe, wie soll ich da die Zeit finden, all die Dinge zu tun, über die sie im Kurs gesprochen haben?«

Sie mag in ihrem Workshop gute Ratschläge erhalten haben, aber nichts davon geschieht tatsächlich ohne Engagement. Die Sabbat-Annäherung an den Ärger des modernen Lebens wird auf einem energischen Durchsieben unserer Prioritäten und einigen sehr harten, konkreten Entscheidungen bestehen, um sie zu ändern. Die gestresste Frau hatte den aufrichtigen Wunsch, ihr Leben zu verbessern, aber sie hatte nicht den Willen, die schwierigen Entscheidungen zu treffen, die dies möglich machen.

Ein weiterer Grund für eine spezifisch glaubensgeprägte Herangehensweise an den Kampf mit dem heutigen Leben ist, dass es uns von der lähmenden Abhängigkeit von Vergnügen und Selbstbefriedigung entwöhnt. Vor einigen Jahren, während eines langen Transatlantikfluges, begann der Mann auf dem Sitz neben mir die Tugenden des Selbsthilfebuches zu preisen, in das er vertieft war (aber leider nicht tief genug, um seinen unglücklichen Sitznachbarn zu verschonen). Er konnte den Autor nicht hoch genug loben. Jedes Wort in dem Buch klang bei ihm nach und es war, als hätte der Autor seine Gedanken gelesen. Er konnte nichts in dem Buch finden, mit dem er nicht einverstanden war. Um seine Worte zu zitieren: »Ich liebe es einfach!«

Solche Gespräche lassen Sabbathalter unruhig und ruhelos werden. Das Buch fand sicherlich die Zustimmung des redseligen Reisenden, aber das ist kaum das Thema, wenn wir einen Ausweg aus unserer geistlichen Krise suchen. Die Frage »Ist es unterhaltsam?« hat er beantwortet. Aber was ist mit: »Ist es hilfreich?« Damit kein Zweifel aufkommt: Diese beiden Fragen sind nicht dasselbe, und sie führen auch nicht zu denselben Schlussfolgerungen. Ein angenehmer Ratschlag bedeutet nicht, dass er uns helfen kann. Im geistlichen Leben müssen wir uns mit Realitäten auseinandersetzen, die nicht angenehm und oft sehr einschüchternd sind. Die Topografie der Seele erfordert einen Besuch an den harten und unfruchtbaren Orten des Herzens. Wir müssen mit trockenen Knochen arbeiten, Wasser aus dem Felsen schöpfen und Brot aus dem sonnenverbrannten Wüstenboden sammeln. Oft entdecken wir an diesen Orten, dass  unser unterschiedsloses Verlangen nach Befriedigung zu unserer tiefsten Unzufriedenheit, Not und Niedergeschlagenheit geführt hat.

 

Erik Riechers SAC, 7. Juli 2021

 

 

Sabbat und die Pandemie

 

Wir kommen langsam aus einer langen und sehr anstrengenden Periode unseres Lebens heraus. Wir suchen nach Wegen, wie wir uns wieder ins Leben, insbesondere ins Gemeinschaftsleben, einfinden können. Auch wir bereiten uns darauf vor, die lange Begleitung von »Bleiben Sie behütet« zu beenden. Es ist an der Zeit, sich wieder auf konventionellere Wege zu begeben, um mit- und füreinander Kirche zu sein.

Aber wir sollten vorsichtig sein mit der Art und Weise, wie wir zum »Normalen« zurückkehren. So anstrengend diese Monate auch gewesen sind, unsere Unruhe sollte uns nicht dazu treiben, gedankenlos zu unseren früheren schlechten Gewohnheiten zurückzukehren. Zu den allerschlimmsten gehört unsere hektische, von der Arbeit getriebene, stressgeplagte Lebensweise.

Das Bild ist nicht unüblich. Eine Person geht zügig zur Arbeit. Er oder sie hat ein Headset an den MP3-Player angeschlossen, der in der Tasche ruht, während er oder sie wütend am IPhone arbeitet. Da haben Sie ihn: den modernen Ausdruck von Effizienz. Bewegung, Unterhaltung und Geschäft liegen eng beieinander, um die Zeit optimal zu nutzen.

Es wird erwartet, dass die Passanten von schwärmerischer Bewunderung für diese kraftstrotzenden, kabellosen Wunder erfüllt sein werden. Schließlich sind sie der Inbegriff des Menschen, der mit allem jonglieren kann, was das Leben ihm zuwirft, und es trotzdem schafft, alles unter einen Hut zu bringen. Das ist das Bestreben von Millionen von Menschen, nämlich einen Weg zu finden, alles, was sie tun wollen oder müssen, in ein immer kleiner werdendes Zeitfenster zu quetschen. Willkommen im Reich der Effizienz, wo Produktivität König und Zeit Geld ist.

Von weisen Geschichtenerzählern vorgewarnt, gehen wir trotzdem weiter, um unseren fleißigen Platz in dieser tristen Welt wieder einzunehmen. Wir hätten es besser wissen müssen. Die Anforderungen des Lebens halten uns ständig auf Trab, auf Abruf und in Bewegung. Unsere prall gefüllten Kalender strotzen nur so vor Terminen, was wir als Ehrenzeichen und Zeichen eines offensichtlichen Erfolgs betrachten. Wir sind trotzig stolz darauf, dass wir alles schaffen, alles am Laufen halten und dass wir gefragt sind. Trotz besorgter und liebevoller Warnungen über die Notwendigkeit von Ruhe und Erholung sind wir davon überzeugt, dass wir Vollgas leben müssen, ohne irgendetwas zurückzuhalten. Wenn wir auf allen Zylindern feuern, hat das eine fast berauschende Wirkung auf uns.

Wenn etwas die Kraft hat, uns zu verunsichern, dann ist es die Begegnung mit Menschen, die sich gegen diesen Strich bewegen. Mit einer beängstigenden Leichtigkeit mischen sie ein intensives Arbeitsleben mit Zeiten der erholsamen Ruhe. Wie Widerstandskämpfer weigern sie sich, sich der Tyrannei des modernen Wettlaufs zu unterwerfen. Unerschrocken und ohne Entschuldigung steigen sie aus dem ständigen Produktionstrieb aus. Diesen irritierend ausgeglichenen Menschen fehlt sogar der Anstand, sich für ihre offensichtliche Zeitverschwendung zu schämen. Die Tatsache, dass man sie als faul, ineffektiv und unmotiviert abstempeln könnte, scheint sie fröhlich nicht zu stören. Sie sind aktive Menschen, aber nicht immer auf Trab. Zeit ist für sie nicht Geld, sondern ein kostbares Geschenk, das es auszukosten gilt. Es gibt Menschen, die diese aufrührerischen Neigungen inmitten der Kultur der Non-Stop-Produktivität offen proklamieren. Sie sind Subversive, die die unhinterfragte Prämisse der übrigen Gesellschaft mit einer gelassenen Unverschämtheit untergraben.

Unter der geschäftigen, produktiven Welt von Politik, Familie, Unterhaltung, Religion und Arbeit hat sich diese spirituelle Widerstandsbewegung eine moderne Reihe von Katakomben gegraben. Ihre Höhlen und Korridore sind mit Sabbatwächtern gefüllt.

Wie jede Generation vor uns müssen auch wir uns mit einem geistlichen Kampf auseinandersetzen, der unserer Zeit eigen ist. Auch wir haben heute Dämonen, denen wir ins Auge sehen und die wir austreiben müssen, aber sie sind eine besonders gerissene Art von Dämon. Sie treiben ihr Unwesen unter den unscheinbaren Namen von Geschwindigkeit, Effizienz und Produktivität. Nichts definiert unsere geistliche Krise in der westlichen Welt deutlicher als die Sucht nach nie endender Produktivität und die erschütternde Schwächung, die sie in jeder Facette unseres Lebens anrichtet. Während wir stolz damit prahlen, was wir erreicht, geschaffen und hergestellt haben, geben wir nur ungern zu, dass wir nicht wirklich wissen, wie wir mit den Nebenwirkungen leben sollen. Dieser manische, unaufhörlich getriebene Lebensstil ist der Nährboden für die erschöpfte Seele. Es ist auch der Moment der geistigen Wiedergeburt für die eine Gnade, die unser Leben retten könnte, nämlich die Sabbatzeit.

Sabbatwächter haben es nicht leicht. Erschöpfte Seelen sind Legion, und sie hungern nach geistlichem Trost für ihr anstrengendes, wenn auch höchst effizientes Leben. Doch wer bleibt übrig, um ihnen Trost zuzusprechen? Schön und gut ist die Herausforderung, sich auf eine Glaubensreise zu begeben, aber wir leben mit Menschen, die kaum Ratschläge erhalten haben, was sie für diese Reise packen sollten. Sie werden ständig daran erinnert und ermutigt, ihren konsumistischen und materialistischen Drang herunterzuschalten, aber sie werden hilflos und oft unfreiwillig zurück in den saugenden Strudel des modernen Lebens gezogen. Mit bemerkenswerter Leichtfertigkeit wird alle Schuld für die erschöpfte Seele unkritisch auf den zügellosen Konsum und den ungezügelten Materialismus geschoben. Doch in Wirklichkeit sind sie nur die Symptome des tieferen und gefährlicheren Problems der Unterdrückung der Sabbat-Rhythmen des Lebens. Nachdem der Sabbat so lange aus unserer spirituellen Praxis verbannt war, wurde er erst von der schleichenden Kultur der Produktivität in die Katakomben gedrängt und dann unter einer Decke der kollektiven Amnesie schlummern gelassen.

          Man könnte argumentieren, dass es nach dem »erzwungenen Sabbat« der Pandemie keine Notwendigkeit gibt, über die Belastungen des modernen Lebens zu sprechen. Dem stimme ich natürlich nicht zu. Wenn es das menschliche Leben betrifft, ist es ein Thema für spirituelle Reflexion und Führung. Es gibt keine Aufgabe, die zentraler für das Werk der Spiritualität ist, als das Geheimnis Gottes mit dem Fleisch und Blut der Menschen zu berühren, die er von Anfang an geliebt hat. Es ist eine oft vergessene Wahrheit des Glaubens, aber wenn etwas für den Menschen von Bedeutung ist, ist es auch für Gott von Bedeutung. Alles, was uns schmerzt oder lacht, zum Weinen oder Tanzen bewegt, uns in Qualen winden lässt oder vor Leidenschaft beben macht, interessiert den Gott der unendlichen Liebe und Barmherzigkeit. Unser Gott, der sich um die Lilien auf dem Feld, die Vögel in der Luft und die Haare auf unserem Kopf kümmert, wird wohl kaum ein plötzliches Desinteresse an der erschöpften Seele annehmen.

 

Erik Riechers SAC, 5. Juli 2021

 

 

Licht in Dunkelheit verwandeln

 

14. Sonntag B 2021                   Mk 6,1b-6

 

Die Anfangsszene dieser Geschichte erinnert mich immer daran, dass eine Geschichte sehr unerwartete und dunkle Wendungen nehmen kann. Schließlich bereitet uns der Anfang kaum auf das vor, was danach kommt. Jesus lehrt in der Synagoge und es wird uns gesagt: ». . . die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen.« Normalerweise ist es eine wunderbare Sache, wenn Menschen Erstaunen erleben, und dieser Moment der Überraschung und des Staunens kann uns an wunderbare Orte führen. Wir können mehr suchen, tiefer nachfragen und eine Leidenschaft entdecken, die wir in den Tiefen unserer Seele bisher nicht vermutet haben.

Tatsächlich beginnen die Menschen des Erstaunens, tiefere Fragen zu stellen. »Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen?« All diese Fragen zeigen, dass ihr Erstaunen neue Prozesse in ihnen auslöst, die ihr Herz und ihren Verstand in Bewegung setzen, die nach der Quelle dieser Macht suchen, die sie überwältigt hat.

Dann nimmt die Geschichte eine dunkle Wendung. »Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm.« Wenn das Erstaunen in Ablehnung umschlägt, dann ist der Anstoß geboren. Und was ist die Quelle dieser Ablehnung? Allein die Tatsache, dass sie ihn kennen, seine Familie und seine Herkunft. Hier wird Licht in Dunkelheit verwandelt.

Wir haben im Englischen das treffende Sprichwort: Familiarity breeds contempt (Vertrautheit erzeugt Verachtung). Aber bevor Vertrautheit zu Verachtung führt, führt sie zu Annahmen. Wir gewöhnen uns so sehr an Menschen und ihre Verhaltensweisen, dass wir einfach annehmen, dass wir einen klaren Überblick über alles haben, was sie sind und wozu sie fähig sind. Diese Annahmen züchten eine tiefe Faulheit in uns, die uns davon überzeugt, dass wir nicht mehr nachdenken, abwägen und bewerten müssen, was wir an den Menschen erleben, die wir für selbstverständlich gehalten haben. In vielerlei Hinsicht begegnen wir ihnen nicht mehr in einem wirklichen Sinne des Wortes. Wir gehen von den Karikaturen aus, die wir über sie geschaffen haben. Wir nehmen an, dass wir alles gesehen haben, während wir uns nicht einmal mehr die Mühe machen, sie offen anzuschauen. Wir sind sicher, dass wir das Ende der Geschichte kennen, ohne die restlichen Kapitel zu lesen.

Diese Verachtung, geboren aus faulen, unhinterfragten Annahmen, ist eine schreckliche Sache. Sie nimmt unser Erstaunen und all sein Potenzial und verwandelt es in einen schäbigen und beleidigenden Spott. Was für eine schreckliche Sache, die wir anderen antun, wenn wir unsere Variante von »Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon?« finden.

Was wie eine relativ harmlose Frage klingen kann, enthält in sich eine zerstörerische und abwägende Kraft, die das Staunen und die Wissbegierde und schließlich unsere Beziehungen zerstört. Dies ist der Moment, in dem wir zu anderen sagen: »Dein Leben ist es nicht wert, verehrt zu werden. Dein Leben ist zu schlicht, zu alltäglich und zu oberflächlich, um als würdig erachtet zu werden, als ein Geheimnis behandelt zu werden, als etwas, das erst noch in seiner ganzen Pracht, seiner ganzen Schönheit und seiner ganzen Tiefe enthüllt werden muss. Nichts, was du sagen oder tun kannst, kann uns überraschen. Deshalb werden wir unsere Sandalen nicht ausziehen und vorsichtig treten, weil wir dein Leben nicht als heiligen Boden betrachten.«

»Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon?« Wenn wir unsere Variante dieser Frage anwenden, kommen wir zu dem Moment, wo wir zu anderen sagen: »Du kannst nicht über das hinauswachsen, was wir schon gesehen haben und was wir von dir wissen. Wir würden dich an die Kleinheit, Gebrochenheit und Armut binden, die wir in dir erlebt und angetroffen haben, und dich für immer darin bewahren.«

Wenn wir abwertend sagen, dass wir Menschen, ihre Sippe und ihr Erbe kennen, dann sagen wir zu ihnen: »Ihr könnt euch nicht zu etwas mehr, zu etwas Größerem entwickeln, als das, was ihr bisher gewesen seid. Ihr könnt keine größere Weisheit, Reife oder Nachdenklichkeit erlangen als das, was wir bereits erlebt haben.«

Deshalb ist dies eine so dunkle Wendung in der Geschichte. Überall dort, wo sich dieses Szenario abspielt, sind die vergangenen Erfahrungen eines Menschen nicht mehr Bausteine, aus denen eine Zukunft gemacht wird. Die Vergangenheit wird verwandelt in ein Gefängnis, in dem wir eine Person gefangen halten, gefesselt an einen Lebensabschnitt, an irgendeine Unreife und Unzulänglichkeit, die wir in ihr, ihrer Familie oder ihrer Geschichte gefunden haben

Dies ist eine grundlegende Sünde gegen die Hoffnung. Hoffnung ist die Offenheit gegenüber der Zukunft und ihren unbekannten Möglichkeiten. Und diese Sprache zu verwenden, die das Staunen zerstört und es durch Spott und Ablehnung ersetzt, bedeutet, die Türen zur Hoffnung fest zu verschließen. William Shakespeare beschrieb die Zukunft so treffend als »das unentdeckte Land«. Die Menschen in der Synagoge tun so, als seien die Möglichkeiten, die Jesus bringt, so alltäglich wie ein Spaziergang durch eine bekannte, oft durchquerte Gegend.

Pierre Teilhard de Chardin schrieb einmal: »Die einzige Aufgabe, die es wert ist, dass wir uns bemühen, ist, die Zukunft zu konstruieren.« Wir denken dabei meist an die Zukunft des Landes, des Staates oder der Kirche. Aber es gilt genauso für die Zukunft jedes einzelnen Menschen, für jedes Leben, das uns begegnet und das die Kraft hat, uns zu überraschen. In diesen Momenten könnten wir die Tür zu einer Zukunft der Heilung und des neuen Lebens öffnen. Unsere Aufgabe sollte es sein, Dunkelheit in Licht zu verwandeln, nicht umgekehrt. Oder es kann wie diese Geschichte enden: » Und er konnte dort keine Machttat tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. Und er wunderte sich über ihren Unglauben.«

Seien wir ehrlich. Wenn wir das Jesus antun können, können wir es jedem antun.

 

Erik Riechers SAC, 4. Juli 2021

 

 

Ehrfurcht üben

 

Wovor haben wir (noch) Ehrfurcht?

Die Älteren unter uns hören stark die Furcht heraus und erinnern sich an kleinmachende Erziehungsmethoden und Katechesen. Jüngere können mit diesem Wort meist gar nichts mehr anfangen.

Doch wie leben wir ohne Ehrfurcht?

Wir leben ohne die Dimension des Heiligen in unserem Leben. Alles, was wir wahrnehmen und für bedeutend halten, greift zu kurz. Wir beten Schätze an, die vergehen. Wir drohen in unserem Menschsein zu verkümmern.

Ein Segen kann es sein, Menschen zu begegnen, die für uns gewissermaßen ein Schlüssel werden für diese Welt des Heiligen und uns zeigen können, was Ehrfurcht wirklich bedeutet. Ein solcher Mensch war Bischof Reinhold Stecher. Seine Schlüssel waren Wort und Bild.

Was er zum Wasser schreibt, kann unseren Blick verändern:

 

»Damit man Wasser schätzt, das heißt, für einen Schatz hält, braucht es mehr als nur ein Abschätzen  

im materiellen Sinn.

Wasser verdient Ehrfurcht. Es ist das Erste, was von der Schöpfung in der Schrift genannt wird.

Gen 1, 2: ‚Gottes Geist schwebte über den Wassern...‘

Und so plätschert und gurgelt und rauscht der Lobgesang der Quellen und Brunnen, der Bäche und Ströme,

der Seen und des Meeres, des Regens und des Taus und der Bäume, die am Uferrand stehen

und nie welken, durch alle Lieder der Bibel wie auch der Heiligen Schriften der Völker,

und immer ist das Wasser Symbol für Größeres, Tieferes, Beglückenderes.« *

* Text und Bild aus R. Stecher Bildkalender 2018

 

Rosemarie Monnerjahn, 2. Juli 2021

 

 

Nächster Abschnitt

»Ihnen werden gleich, die sie machen, alle, die auf sie vertrauen.«

 

Vor kurzem wurde mir gesagt, dass Götzendienst für moderne Männer und Frauen kein relevantes Thema mehr sei. Während ich dieser Einschätzung von ganzem Herzen nicht zustimme, kann ich den Grund dafür verstehen. Immer wenn in den biblischen Geschichten von Götzendienst die Rede ist, werden unsere Köpfe mit stereotypen Bildern gefüllt, die mehr Karikatur als Realität sind. Diese übermäßige Vereinfachung führt dazu, dass moderne Männer und Frauen mit dem Konzept des Götzendienstes zu kämpfen haben, wenn sie es nicht gleich abtun. Es wird als ein Problem einer antiken Welt wahrgenommen, aber nicht einer so modernen, fortschrittlichen und zivilisierten Welt wie der unseren.

In der Tat schufen die Götzendiener der biblischen Geschichten eine Vielzahl von Götzen.  Sie verehrten die Sonne, die Sterne und die Kräfte der Natur als Götter. Aber noch prägnanter und definitiv bedrohlicher: Sie verehrten auch die Macht und natürlich diejenigen, die sie ausübten, wie Könige und Potentaten.

Die biblischen Geschichtenerzähler wussten alle, dass Gott niemals nur ein mächtiger Teil der Natur war, und nicht einmal die Summe aller Kräfte in der Natur. Gott war immer mehr, immer größer, immer darüber hinaus.

Es ist erwähnenswert, was Götzendiener wählen, um anzubeten. Die Kräfte der Natur sind unpersönlich, ebenso wie die Macht. Das löst in den Geschichten von Gott eine tiefe Besorgnis, ja sogar einen Alarm aus. Wenn wir das Unpersönliche in den Status der Göttlichkeit erheben, beginnen wir, das Unpersönliche anzubeten. Aber wie Rabbi Jonathan Sacks nie müde wurde zu betonen, werden diejenigen, die das Unpersönliche anbeten, schließlich ihre Menschlichkeit verlieren.

Die Geschichte von Psalm 115 ist eine passende Warnung vor dieser Bewegung in Richtung Unmenschlichkeit. Dort steht geschrieben:

Ihre Götzen sind nur Silber und Gold,

Machwerk von Menschenhand.

Sie haben einen Mund und reden nicht,

sie haben Augen und sehen nicht,

sie haben Ohren und hören nicht,

sie haben eine Nase und riechen nicht;

ihre Hände, sie greifen nicht,

ihre Füße, sie gehen nicht,

 sie bringen keinen Laut hervor aus ihrer Kehle.

Ihnen werden gleich, die sie machen, alle, die auf sie vertrauen. (Psalm 115, 4-8)

 

Wir sind nicht besonders geneigt, die Sonne, die Sterne und die Kräfte der Natur als göttliche Wesen zu verehren. Aber wir haben unsere Vorliebe für die Anbetung von Macht oder denen, die sie tragen, nicht verloren. Die Kultur der Berühmtheit ist ein solches Beispiel. Wir beten auch Geld, Konsum, Luxus und Unterhaltung an, was sich darin zeigt, dass wir bereit sind, fast alles andere zu opfern, um sie zu erreichen. Aber dies sind unpersönliche Kräfte. Sie haben keinen Namen und kein Gesicht. Sie haben keine Stimme, mit der sie zu uns sprechen könnten. Sie haben keine Augen, die unsere Hoffnungen und unsere Verzweiflung, unseren Kummer und unsere Sehnsüchte sehen könnten. Sie haben keine Ohren, die unseren Kummer und unser Klagen und Flehen aufmerksam anhören könnten. Sie verlangen, wie alle Götzen, ständige und bedingungslose Opfer, wenn wir in den Genuss ihrer Wohltaten kommen wollen. Aber sie sind nicht für diejenigen da, die nicht zahlen können.

Wir können keine unpersönlichen Kräfte verehren und gleichzeitig wahre Menschen bleiben. Denn ein echtes menschliches Wesen zu sein, bedeutet, dass wir mitfühlend, menschlich, großzügig und vergebend sind. In diesen schwindenden Tagen der Pandemie kehren wir zu den Götzen zurück, die die Krise nicht abwenden konnten, die Krise nicht lindern konnten und die uns nicht durch die Krise führen konnten. Sie werden uns amüsieren, ablenken und sogar eine Zeit lang befriedigen, aber sie werden uns nicht in das Gelobte Land führen. Was sie ganz sicher tun werden, ist, uns unserer Menschlichkeit zu berauben. Und deshalb ist Götzendienst immer ein relevantes Thema.

 

Erik Riechers SAC, 30. Juni 2021

 

 

Leben - ein Balanceakt?

 

Als Kind und noch lange danach liebte ich es, über Gartenmauern oder liegende Baumstämme zu balancieren. Hochkonzentriert und gesammelt setze ich Fuß vor Fuß. Mich ablenken zu lassen bedeutete stets ein Risiko und oft strauchelte ich und hatte Mühe, oben zu bleiben. Ein Geräusch von der Seite, ein Lachen von Freunden, ein Abschweifen aus der Achtsamkeit - und schon war das Gleichgewicht verloren und die Stabilität dahin.

Warum mir dies jetzt in den Sinn kommt, fragen Sie vielleicht. Ich denke darüber nach, was geschehen ist, dass wir auf unserem Lebensweg immer häufiger, wie es scheint, die Stabilität verlieren. Die vergangenen 16 Monate brachten es deutlich zutage: Wir gingen ein Stück ausgeglichen und festen Schrittes, doch dann starrten wir auf die Inzidenzen, lauschten den Worten von Politikern und Fachleuten - und alles begann zu wanken. Wir waren zufrieden und staunten sogar, wie gut wir leben konnten mit weniger Abwechslungen und Konsum, doch dann blitzten hier und da Reisemöglichkeiten auf und wir wurden unruhig, unausgeglichen und unzufrieden.

Wie oft haben wir Dinge geklärt in unserem Leben, in unseren Beziehungen, und gute Entscheidungen getroffen - und doch steigen wir innerlich immer wieder aus oder lassen uns von kleinen Bemerkungen so irritieren, dass wir regelrecht hinabstürzen in alte Muster.

In den Bergen hatte ich immer mal wieder Gespräche mit alten Bergbauern. Ihre Augen leuchteten vor Leben, wenn sie von sich und ihren Familien erzählten. Die Geschichten waren sehr verschieden. Gemeinsam war ihnen ihre Beständigkeit, eine gewisse innere Ruhe und Ausgeglichenheit. Sie erzählten auch von Verlust, Tod und harter Arbeit, doch gewann ich den Eindruck einer großen Stabilität. Sie war innen. Diese unerschütterliche Innerlichkeit strahlte aus den Augen, prägte die Art des Erzählens. Sie erzählten von ihrem je ganz eigenen Leben, wie sie es angenommen und gestaltet hatten, und nicht von »was wäre, wenn«. Mich beeindruckte ihre Zufriedenheit, ihre Präsenz, ihre Klarheit.

Heute mehr als damals kommt mir Jesu Wort in den Sinn: »Euer Herz lasse sich nicht verwirren.«

In der Tat, Verwirrung lässt uns wanken und instabil werden. In genau dieser Gefahr befinden sich die Jünger, denn die Bedrohung wächst und Jesus bereitet sie auf den Abschied vor mit diesem Wort. Und er fügt sogleich an, was wesentlich ist: »Glaubt an Gott und glaubt an mich!« (Joh 14,1) Zuvor hat Jesus das letzte Mahl mit den Seinen gefeiert und davor hatte er ihnen die Füße gewaschen. Es heißt im Johannes-Evangelium, dass er wusste, »dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte« (Joh 13, 3).

Können wir das auch für uns sagen? Vielleicht haben wir diesen großen Bogen unseres Lebens verloren. Dann sollten wir uns da wieder einschwingen. Gehören wir auf die vielen kleinen Plätze, die uns von außen angeboten werden und uns manchmal fast schwindlig machen? Oder gehören wir zu Gott, von Anbeginn bis in Ewigkeit? Wie das geht? Die Fragen der Jünger sind auch die unseren, die Antwort Jesu gilt auch uns: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben«. (Joh 14, 6)

Wir sind so vielen Stimmen ausgeliefert, die über so viele Kanäle in unser Herz zu dringen versuchen. Sie übertönen den, der von Anbeginn in unseren Herzen wohnt. Entscheiden wir uns dazu, vieles vor der Tür zu lassen und immer wieder Gott in uns zu begegnen. Jesus verspricht seinen Jüngern, dass sie durch den Geist erkennen werden: »Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch.« (Joh 14, 20)

Eine Frau, die alles verloren hatte, wuchs hinein in diese Beziehung und konnte bei meinem Besuch mit klarer Stimme und strahlenden Augen sagen: »Es geht mir gut. Ich bin von tiefer Liebe erfüllt.«

Diese tiefe innerliche Stabilität wünsche ich uns allen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. Juni 2021

 

 

Bitte begleite mich durch diese Geschichte

 

13. Sonntag B 2021                   Mk 5, 21-43

 

Ich hatte eine geschätzte Freundin, bei der ich mit ansehen musste, wie sie in Etappen starb. Der Krebs, der schließlich ihr Leben forderte, nahm sich zuerst ihre Zunge. Und von einem Moment auf den anderen wurden die einfachen Unterhaltungen eines Lebens schwierig. Aber wir haben nie aufgegeben.

Wenn ich sie besuchte, schlug sie oft ihre Bibel auf, zeigte auf eine Geschichte und schrieb einen Zettel. »Bitte begleite mich durch diese Geschichte.« Unfähig, ihr Bett oder das Krankenhauszimmer zu verlassen, führte ich sie durch die Welten, die durch die biblischen Worte entstanden. 

Heute möchte ich meine Dienste als Führer durch die biblische Geschichte anbieten, die mit einer Vielzahl von Charakteren bevölkert ist. Es ist eine Geschichte von einem aufkeimenden jungen Leben und einem erschöpften alten Leben, von Leid und Hoffnung, von Stimmen der Resignation und Stimmen des Glaubens. Wenn Sie kommen möchten, führe ich Sie gerne.

Das Blut zweier Menschen spielt in dieser Geschichte eine große Rolle. Blut ist in der biblischen Erzählung das Lebensprinzip. Wenn wir oft lesen, dass Kontakt mit Blut einen Menschen unrein macht, dann nicht weil Blut unrein ist. Die Unreinheit kommt, weil, wenn wir mit Blut in Kontakt  kommen, dann fließt es nicht mehr dort, wo es dem Leben dienen kann.

In der Frau,  »die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt«, läuft das Blut, das Lebensprinzip, stetig aus. Markus sagt uns, dass sie, was das Leben betrifft, am Ausbluten ist. »Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.« Hier will Jesus einem Leben, das ausblutet und ausläuft, Einhalt gebieten.

In den Adern der Tochter ist das Blut zum Stillstand gekommen, ein sehr tiefes Bild für den Tod. Wenn das Blut, das Lebensprinzip, zum Stillstand kommt, dann sind wir tot.  Hier will Jesus das Leben wieder in Fluss bringen.

Nun haben wir zwei Menschen, die Rettung und Leben brauchen. Wir haben auch Jesus, der Rettung und Leben geben will. Damit diese Geschichte, wie auch unsere Geschichte, eine Erlösungsgeschichte ist, müssen die Frau und Jairus wissen, wo Erlösung und Leben zu finden sind, und dann dorthin gehen, komme was kommt. Zu wissen, dass Jesus helfen kann, ist nicht genug. Wenn es keine Begegnung gibt, gibt es auch keine Heilung.

Halten Sie mit mir an dieser Stelle einen Moment inne. Es lohnt sich zu beachten, wie hier zwei Formen der Erlösung nebeneinander dargestellt werden. Die Frau nimmt selbst Kontakt zu Jesus auf. Wenn wir erwachsen sind, dann müssen wir auch diese Fähigkeit haben, dass wir selbst die Initiative ergreifen, Wege gehen, Berührungen wagen und lernen, Begegnungen zu riskieren. Aber Jairus zeigt uns, dass es auch einen zweiten Weg gibt. Er vertritt die Interessen seiner Tochter, denn sie ist schon zu geschunden und geschwächt, um die Initiative zu ergreifen und ihren eigenen Weg zu gehen. Manchmal müssen wir Menschen, die die Fähigkeit verloren haben, sie selbst zu suchen, Wege zum Heil öffnen. Darüber hinaus sollten wir, wenn wir selbst an der Reihe sind unter den Geschwächten, auch bereit sein, anderen zu erlauben, diesen Dienst für uns zu tun.

Kehren wir zurück zu der Frau und dem Kind. In der Erzählung sind sie durch die Zahl 12 verbunden. Die Frau leidet zwölf Jahre unter dem Verlust des Lebens. Hier ist die Zahl Zwölf das Symbol für ein Leiden, das zu lange gedauert hat. Das Mädchen stirbt im Alter von 12 Jahren und so wird die Zahl zum Symbol für ein Leben, das viel zu früh beendet wurde. Das sind die Plagen, die wir als Menschen kennen. Es gibt Leid, das wir zu lange ertragen müssen, das uns dann zermürbt und auslaugt. Es gibt aber auch Leid, das uns den schönen und geliebten Teil des Lebens zu früh wegnimmt. 12 ist auch unsere Zahl, denn im Laufe unserer Tage erleiden wir sowohl das Schicksal der Frau als auch das des Kindes.

Ich möchte jetzt die Stationen in der Geschichte des Jairus betrachten, denn sie sind wichtige Anhaltspunkte für uns, wenn wir sehnsuchtsvoll einen Weg des Heils suchen für diejenigen, die uns am Herzen liegen.

 

  1. Nennen deine Bitte, klar, deutlich und dringlich.

Jairus sagt nicht einfach, dass er Hilfe braucht. Er sagt: »Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt!« Damit nennt er, für wen er Hilfe braucht (seine Tochter), warum sie seine Hilfe braucht (sie liegt im Sterben), welche Hilfe er von Jesus verlangt (komm zu ihr und berühre sie) und was er sich davon erhofft (dass sie Heilung und Leben erfahren darf).

Das ist eine große Kunst und wir sollten sie nicht unterschätzen. Wir sind es gewohnt, in sehr vagen Tönen darüber zu klagen, was uns plagt. So werden wir sagen: »Mir geht es nicht gut«, ohne zu benennen, was uns plagt und was wir jetzt konkret brauchen. 

 

  1. Wähle die Stimme, die du hören wirst.

Mit der Botschaft »Deine Tochter ist gestorben« kommt die Stunde der Erschütterung. Doch gerade in diesem Augenblick müssen wir, wie Jairus, wählen, welcher Stimme wir Gehör schenken werden. Es gibt die Leute, die sagen: »Warum bemühst du den Meister noch länger?« Hier ist die Stimme der Resignation. Sie sagt uns, dass es zu spät ist, dass es keinen Sinn mehr ergibt weiter zu machen und dass es eh nichts mehr nutzen wird. Es gibt aber auch die Stimme Jesu, die sagt: »Fürchte dich nicht! Glaube nur!« Hier entscheiden wir, ob und wie schnell wir unsere Sehnsucht und Herzensanliegen abschreiben und aufgeben.

 

  1. Lass dich von der Menge nicht bestimmen.

Jesus betritt das Haus und will die weinende, klagende Menge trösten. Er will ihnen eine Hoffnungsperspektive eröffnen. »Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.« Dafür wird er ausgelacht.

Ausgelacht zu werden ist eine erschreckend schmerzhafte Form der Ablehnung. Wenn Menschen zu uns sagen, dass sie unsere Bitte ablehnen, sind wir enttäuscht und vielleicht entmutigt. Aber wenn Menschen über unsere Worte lachen, lehnen sie unsere Bitte nicht nur ab, sondern machen uns klar, dass unsere Sehnsucht nicht einmal einer ernsthaften Betrachtung würdig ist. Es ist eine bittere Art und Weise, zu entdecken, dass das, was uns am Herzen liegt, in ihren Augen lächerlich ist. Dann fühlen wir uns nicht nur enttäuscht und entmutigt, sondern gedemütigt und erniedrigt.

 

  1. Nimm nur Gefährten mit, die dein Herzensanliegen mittragen.

Jesus beißt sich die Zähne nicht aus und versucht, diese Leute umzustimmen oder zu überzeugen. Gleichzeitig verteidigt und rechtfertigt er sich nicht. Seine Haltung ist bewundernswert. Wenn die anderen seine Herzensanliegen nicht teilen, dann lässt er sie zurück und nimmt jene mit, die bereit sind, mit ihm diesen Weg zu gehen. So nimmt er Jairus, seine Frau und die drei Jünger mit.

Wie oft beschweren wir uns über die Menschen, die unsere Sorgen nicht teilen und sie nicht tragen! Aber wenn wir das tun, gewinnen sie eine große Macht über uns. Während wir damit beschäftigt sind, sie zu überzeugen oder zu überreden, wird unser Herzenswunsch vernachlässigt und diejenigen, die bereit sind, mit uns zu gehen, bleiben auf der Strecke, bekommen aber kein grünes Licht.

 

  1. Nimm das Leben, das bedroht ist, in die Hand. Berühre es.

Wir können leicht erstarren, wenn ein Teil unseres Lebens starr und kalt vor uns liegt. Immer wieder erlebe ich Menschen, die mir von den Teilen ihres Lebens erzählen, die sie als bedroht empfinden, sei es in ihren Beziehungen oder in der Gestaltung ihrer Freiheit. Aber sie tun nichts. Sie bewegen sich nicht. Sie wagen nichts. Sie machen keine Schritte und erkunden keine der Möglichkeiten, die vorhanden sind. Wir müssen diese Teile unseres Lebens berühren, sie ansprechen, wie Jesus es tut. Sonst werden wir nur Gespräche mit Leichen führen.

 

  1. Wenn das Leben wieder hergestellt ist, dann sei nicht gelähmt vor Staunen, sondern diene dem Leben.

Markus erzählt uns die Reaktion der Leute. »Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen.« Jesus dagegen geht einen sehr pragmatischen Weg und sagt, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben. Wenn wir endlich das Leben zurückgewinnen, das wir mal verloren haben, dann sollten wir schauen, dass wir diesem Leben dienen, es nähren, fördern und schützen. Es wäre sehr tragisch, das Kind wieder zum Leben zu erwecken und es dann an Hunger verkümmern zu lassen.

Aber die Gefahr ist da. Kennen wir nicht solche Momente, in denen wir uns geschworen haben, dass wir, wenn diese Pandemie vorbei ist, dieses oder jenes nie wieder für selbstverständlich halten werden? Kennen wir nicht Momente des Leidens, in denen wir uns danach sehnen, wieder gesund, fit und leistungsfähig zu sein, nur um genau diese Gaben zu vernachlässigen, wenn sie uns wiedergegeben werden?

 

Ich hatte eine geschätzte Freundin, die ich gezwungen war, in Etappen sterben zu sehen. Ich sah zu, wie ihr Leben langsam ausblutete. Aber sie wollte den Saum seines Gewandes berühren, und sie war dankbar für jede Reise durch eine biblische Geschichte, auf der ich sie begleitete. In ihr schlug das mutige und kühne Herz der blutenden Frau. In ihr floss der suchende Geist des Jairus. Möge dieses Herz in uns schlagen und dieser Geist durch unsere Adern fließen, damit auch wir nie versäumen zu fragen: »Bitte begleite mich durch diese Geschichte.«

 

Erik Riechers SAC, 27. Juni 2021

 

 

Achtsam mitgehen mit deinem Gott

 

Ein Gebet:

Barmherziger, gerechter Gott!

Achtsam mit Dir unsere Wege zu gehen ist uns aufgetragen worden.

Du weißt, dass uns dies oft schwer fällt. Wie gern sind wir Rechthaber. Wie oft sind wir Schuldzuweiser.

Selbstgerecht urteilen wir. Selbstbezogen vermeiden wir es, uns liebevoll in die Lage eines anderen zu versetzen. Selbstverliebt verlieren wir uns.

Würden wir doch den Grund spüren, auf dem wir alle stehen! Dann wären wir geerdet und würden uns nicht übereinander zu erheben versuchen. Und wir gingen aufrecht und könnten einander in die Augen sehen. So könnten wir miteinander gehen – und mit Dir, als Deine Menschen!

In Deiner großen Liebe achtest Du auf uns – von Anbeginn bis in Ewigkeit. Du gehst mit uns und zeigst Dich uns. Hilf uns, achtsam, sensibel und wach unterwegs zu sein durch unser Leben - uns selbst gegenüber, den anderen, der ganzen Schöpfung - und in all dem DICH zu entdecken. Wenn wir dann mehr und mehr Deine Gerechtigkeit und Deine Barmherzigkeit erahnen und entdecken, wollen wir versuchen, sie zu leben und zu lieben, damit Dein Reich komme.

»Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.«

Amen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. Juni 2021

 

 

Güte lieben

 

Wie wir bereits wissen, sah der Prophet Micha die Missstände in seinem Volk, benannte sie deutlich und wusste, was zu tun ist: »Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.« (Micha 6, 6-8)

Heute wenden wir uns der zweiten Aufgabe zu: Güte zu lieben!

Güte wird oft auch mit Barmherzigkeit übersetzt. Das kann uns helfen, wenn wir nämlich dieses Wort im Hebräischen betrachten, wo es die gleiche Wurzel wie »Mutterschoß« hat. Dann kommen wir dem Wesen der Barmherzigkeit tiefer auf die Spur. Sie kommt aus der Tiefe und ist lebensspendend. Sie hat existentiell das Wohl des anderen im Sinn. Erbarmen zeigen heißt einzusteigen in das Leben des anderen mit all seinem Chaos. Gott selbst sagt am Sinai im Vorübergehen zu Mose: »Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue«. (Ex 34, 6)

Genau in diesem Sinn sagt Jesus zu den rechthaberischen und herzenskalten Pharisäern: »Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!« (Mt 9,13) Sie nämlich opfern Menschen, um formal das Gesetz zu erfüllen; Jesus aber wendet sich den Zöllnern und Sündern erbarmend zu und feiert Gemeinschaft mit ihnen. An anderer Stelle sagt er, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, und zwar im Sinne Gottes, der es gegeben hat. Barmherzigkeit, Güte, ist das pulsierende Herz des Evangeliums. Wie oft heißt es von Jesus, dass er Erbarmen hatte mit den Menschen, die ihm begegneten - den Kranken, den Leidenden, den vielen, die ihm vorkamen wie Schafe ohne Hirten, ja am Ende sogar mit seinen Henkern. Sein Herz kann gar nicht anders als die Barmherzigkeit zu lieben und zu leben.

Genau so ist das Herz des Vaters der zwei Söhne in einem der bekanntesten Gleichnisse Jesu, das Lukas uns erzählt. Als der Verlorene heimkehrt, heißt es: »Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.« (Lk 15,20)  Seine Güte, sein Erbarmen fließen förmlich aus ihm heraus und genauso wendet sich sein Herz dem Älteren zu: »Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein.« (V. 31)

Güte, Barmherzigkeit, lässt sich nicht formal erfüllen nach bestimmten Regeln und Geboten. Darum fordert Micha dazu auf, sie zu lieben. Dann wird unser Herz weit und wir werden schöpferisch. Wir handeln wie eine Mutter aus dem Urgrund unseres Seins für das Leben und seine Fülle.

Im Matthäusevangelium, das für eine judenchristliche Gemeinde geschrieben wurde, spielen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eine große Rolle. Am Anfang wird uns ein Mann vorgestellt, der beides nach der Weisung Gottes lebt und verbindet: Josef, der Zimmermann aus Nazaret. Er wird ein Zaddik genannt, ein Gerechter, und er zeigt, welcher Art seine Gerechtigkeit ist: Er legt das Gesetz der Tora barmherzig aus, nachdem er erfährt, dass seine Verlobte Maria schwanger ist, und entscheidet sich, sie still zu entlassen und nicht, wie strenge Gesetzeslehrer es forderten, zu steinigen. Das wäre rechtens gewesen!

Im Traum erfährt er, von wem das Kind ist, und wählt wieder das Leben. Von nun an trägt er das Leben Marias und des Kindes mit. 

Recht tun und Güte lieben gehen Hand in Hand im Reich Gottes.

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. Juni 2021

 

 

Recht tun

 

Vor einigen Jahren begegnete mir eine so prägnante Lebensunterweisung, dass ich sie seither nicht wieder vergessen habe. Und zwar las ich sie damals in englischer Sprache und so blieb sie in mir hängen: »Act justly and love mercy and walk humbly with your God.«

Das klingt kurz und knackig: Handle gerecht, liebe Barmherzigkeit und sei bescheiden unterwegs mit deinem Gott!

Es ist etwa 2700 Jahre alt und der schlichte Rat des Propheten Micha. Wir Christen kennen Micha aus dem Anfang des Matthäus-Evangeliums. Die Schriftgelehrten zitieren ihn, als die Sterndeuter nach Jerusalem kommen: »Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel.« (Mt 2,6) Schon dieser Vers atmet den Grundton des Propheten und er atmet ihn bis heute, denn die Themen sind hochaktuell.

Dieses kleine Prophetenbuch prangert  - ähnlich wie das Buch des Propheten Amos - vor allem die unsoziale Lebensweise der Führungsschicht an mit ihrem Hang zur Korruption, zu Egoismus und Ausbeutung. Die kleinen Leute zählen nicht. Diese Situation damals in diesem überschaubaren Umfeld ist heute im globalen Maßstab nicht anders und gerade die letzten Monate brachten es wieder offen zutage: Die Krise nutzen viele zur persönlichen Bereicherung; ob und wann die Ärmsten sich impfen lassen können, ist kaum im Blick - Hauptsache, wir können endlich wieder unseren Luxus leben. Das Ego führt Regie.

Zwar werden Worte gemacht und Versprechungen oder große Inszenierungen - auch das kannte Micha schon im alten Israel. Warum sonst hätte er gesagt: »Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? Hat der HERR Gefallen an Tausenden von Widdern, an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde? Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.« (Micha 6, 6-8)

Betrachten wir in dieser Woche, was der Prophet uns so schlicht ans Herz legt, nämlich eine Lebensweise, die Gott von uns erwartet, weil sie gut ist für uns.

Recht tun, gerecht zu handeln ist die erste Aufgabe.

Kinder beschweren sich, es sei nicht gerecht, wenn nicht jeder genau gleich viele Gummibärchen in die Hand bekommt. erwachsene sind nicht anders. Vor Jahrzehnten starb ein ältester unverheirateter Bruder und hinterließ ein Sparbuch mit etwa 10.000 DM. Eine seiner Schwestern, früh verwitwet und mit kleiner Rente auskommend, hatte sich am meisten um ihn gekümmert. Doch die gut situierten Geschwister fanden es gerecht, das Geld durch 6 zu teilen. Ich erinnere mich noch gut an die Enttäuschung, ja Erschütterung ihrer Schwester, dass niemand würdigte, was sie alles für den Bruder getan hatte und dass ihren Geschwistern gleichgültig war, unter welchen schwierigen Bedingungen sie ihr Leben bestreiten musste. Sie empfand es als ungerecht, was die übrigen rein mathematisch gerecht nannten.  

Wenn Jesus in der Bergpredigt sagt: »Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit« (Mt 6,33), dann will er uns hinführen zur Gerechtigkeit Gottes, die das Leben aller im Blick hat und jedem geben will, was er zum Leben braucht. Dazu ruft er uns auf. Das klingt jedoch leichter als es oft für uns ist. Wir neigen eher dazu, in der Art der fünf Geschwister zu handeln. Genau darum erzählt Jesus uns das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20): Fünfmal geht ein Weinbergsbesitzer hinaus und wirbt Arbeiter für die Tagesarbeit in seinem Weinberg an. Mit den ersten in der frühen Stunde vereinbart er einen Denar. Den zweiten in der dritten Stunde sagt er: Ich werde euch geben, was recht ist. Dann werden weitere Arbeiter in der sechsten, neunten und elften Stunde angeworben. Am Ende des Tages beginnt die Auszahlung bei den Letzten und sie erhalten einen Denar. Das weckt Begehrlichkeiten bei den Ersten. Sie waren zwar für einen Tageslohn von einem Denar angestellt worden. Aber dies, so denken sie, wäre ja nun nicht mehr gerecht, da sie ja viel länger gearbeitet haben. Doch es bleibt für sie bei einem Denar. Auf ihr Murren antwortet der Gutsherr: »Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem Letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?«

Mit einem Denar konnte eine Familie für einen Tag leben und genau dies ermöglichte der Gutsherr jedem, der bei ihm gearbeitet hatte. Unsere kleinlichen Buchhalterseelen würden vermeintlich fair die »gerechten« Anteile ausrechnen und locker akzeptieren, dass Familien nicht satt werden. Doch mit dem Reich Gottes ist es anders. Wie der Gutsherr handeln Menschen, die Gottes Reich und seine Gerechtigkeit suchen, damit alle leben können.

»Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, …«

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Juni 2021

 

 

Gebeutelt, frustriert und erschöpft

 

12. Sonntag B 2021                   Mk 4,35-41

 

Stürme kommen im Leben schnell auf, und das nicht nur auf Seen. Sie können uns auch in unseren Beziehungen mit erstaunlicher Schnelligkeit überraschen und überrumpeln. In der Natur brauen sich Stürme zusammen, wenn die richtigen Umstände und Bedingungen vorhanden sind. Das Gleiche gilt für unsere Beziehungen, und die perfekten Bedingungen für die Stürme des Herzens sind, wenn wir gebeutelt, frustriert und erschöpft sind. Dies ist selten unsere beste Stunde. Wir haben genug zu tun, um mit dem Kampf der alltäglichen Beziehungen einigermaßen gut zurechtzukommen, denn sie bringen genug emotionale, mentale, körperliche und geistige Stürme mit sich, die es zu bewältigen gilt. Doch wenn wir im Sturm gefangen sind, sorgen der Stress und die Belastung, die er mit sich bringt, meist dafür, dass wir nicht die höchste Gesprächskultur pflegen. Die Funken fliegen sowie die Vorwürfe. Wenn wir bedrängt und bedroht werden, sind wir selten besonders darauf bedacht, anderen aufmerksam und zugewandt zuzuhören.

Das ist es, was in diesem Boot passiert. Denn die Geschichte des vierten Kapitels des Markusevangeliums ist die Geschichte eines Tages, und die Geschichte dieses Tages beschreibt, wie Freunde und Gefährten dazu kommen können, dass sie Menschen, die sie normalerweise lieben, schätzen, respektieren und verehren, Anschuldigungen entgegenschleudern. Schon vor dem Sturm haben die Passagiere dieses Bootes viel Kraft gelassen, denn die Geschichte dieses Tages beginnt so:

Und wieder begann er, am Ufer des Sees zu lehren, und sehr viele Menschen versammelten sich um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot auf dem See und setzte sich; die Leute aber standen am Ufer.

Und er sprach lange zu ihnen und lehrte sie in Gleichnissen. (Mt 4, 1-2)

Für Jesus ist das eine sehr anstrengende Art zu arbeiten. Einen ganzen Tag so zu verbringen, sich anzustrengen, laut genug zu sein, damit sein Wort ihr Ohr erreicht, und kreativ genug, damit sein Wort ihr Herz erreicht, war sicher sehr kräftezehrend.  Das war sicher auch für die Jünger so, denn wenn die Menge weggeht, ist das für sie nicht das Ende des Tages, sondern die zweite Runde, in der sie noch sehr lange, konzentrierte und herausfordernde Gespräche mit Jesus hatten.

Als er mit seinen Begleitern und den Zwölf allein war, fragten sie ihn nach dem Sinn seiner Gleichnisse… Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten.

Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war. (Mk 4, 10, 33-34)

Wir sind Nachzügler an diesem Tag und seiner Geschichte, was eine Warnung an sich ist. Es ist immer schwierig und gefährlich, zu beurteilen, was sich vor unseren Augen entfaltet, wenn wir die oft verschlungene Geschichte nicht kennen, die ihm vorausging. Wir steigen ein am Ende des Tages, wenn der Abend naht. Und Markus macht eine kleine, aber aufschlussreiche Bemerkung, die wir nicht überhören sollten Da gibt es ein Detail im Urtext, die in unserer Übersetzung wegfiel: »Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn, wie er war, im Boot mit.«

Sie nehmen ihn mit, wie er war: müde, ausgelaugt, verausgabt. Kaum geht es zum anderen Ufer ab, und schon ist  er am schlafen. Wenn wir hier die Geschichte pausieren und einen Blick auf Jesus werfen, dann haben wir schnell und ohne zu zögern tiefes Verständnis für ihn. Wir wissen, was für einen Tag er hinter sich hat und dann gönnen wir unserem erschöpften Freund einen guten Erholungsschlaf und ein weiches Kissen.

Aber unser Wohlwollen kann sich schnell ändern, wenn wir selbst angeschlagen sind. Es ist deutlich schwerer anderen Menschen das zu gönnen, was uns gerade fehlt. Darum sollten wir mal einen sanften Blick auf die Lehrlinge Jesu werfen. Der Tag war auch nicht so einfach für sie, aber sie müssen weiter arbeiten und kämpfen, während er jetzt  schläft. Sie müssen jetzt Angstzustände durchstehen, die Jesus erstmal ahnungslos durchschläft. Sie sind keine unerfahrenen, labilen Schwächlinge, die beim ersten Anschein eines Problems schon zusammenknicken. Es ist nicht der erste Sturm, den sie in ihrem Leben überstanden haben. Aber sie waren schon müde und matt, als sie loszogen. Höchstwahrscheinlich fühlen sie sich verlassen, weil sie mit diesem Kampf allein gelassen werden und sehen müssen, wie sie zurechtkommen. Solche Momente und solche Gefühle sind uns sicher nicht völlig fremd.

Irgendwann kocht es dann über. Gebeutelt, frustriert und erschöpft, unterstellen sie Jesus einen Mangel an Fürsorge für sie. »Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?« Hier müssen wir  vorsichtig sein, dass wir die Geschichte nicht romantisieren oder bereinigen. Das hier sind menschliche Reaktionen, mit denen wir alle fertig werden müssen, genau wie wir lernen müssen, einen Sturm zu navigieren. Stürme gehen nicht weg, wenn wir sie ignorieren, auch nicht die inneren Stürme des Herzens. Das Einzige, was weggeht, wenn Sie es ignorieren, sind Ihre Zähne.

Die Jünger machen das, was wir auch oft tun, wenn wir gebeutelt, frustriert und erschöpft sind: sie machen Jesus Vorwürfe. Sie haben ihn geweckt, aber nicht um Hilfe oder  Beistand zu erbitten. Sie suchen das Gespräch, aber nicht um Rat oder Gebet zu erbitten. Nein, sie machen ihm einen heftigen Vorwurf, nämlich, dass es ihm mehr oder weniger egal ist, ob sie leben oder sterben.

Und dieser Vorwurf entsteht auf eine Weise, die auch wir kennen. Die besorgten Mitreisenden sehen und erleben etwas, das sie nicht deuten können, und ziehen ihre Schlüsse, was es zu bedeuten hat, aber ohne Jesus eine Chance zu geben, es zu erklären.

Was Jesus dann tut ist wichtig, und wir sollten auf den Rat Wilhelm Bruners‘ achten der uns erinnert: beachte die Reihenfolge wenn du die Kraft behalten willst die Verhältnisse zu ändern

  1. Er stillt den Sturm: Wörtlich sagt er zum Sturm »Ich lege dir einen Maulkorb an«. Erst wenn es wieder still wird, dann klärt er den Vorwurf mit seinen Menschen. Es ist nicht weise, Klärungsgespräche zu führen mitten im Sturm, wenn noch alles tobt und uns verunsichert. Wir brauchen einen Raum und eine Zeit der Stille. Sonst sprechen nur noch der Sturm, die Krise, der Frust und die Angst, in denen die Menschen sich befinden, aber nicht die Menschen selbst.
  2. Dann stellt er Fragen.

Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?

Indem er Fragen stellt, gibt Jesus seinen Lehrlingen eine Chance, über das Geschehen nachzudenken und eine Antwort zu geben. Anders als seine Lehrlinge, die die Situation interpretieren, ohne Jesus die Chance zu geben, darauf zu antworten, antwortet er nicht in gleicher Weise. Fragen gehen davon aus, dass es noch Klärungsbedarf gibt, dass nicht alle Motive bekannt sind, dass es noch Dinge gibt, die angesprochen werden sollten. Aussagen tun das nicht. Stellungnahmen kommen am Ende des Prozesses. (Natürlich nur, wenn die Frage aufrichtig ist und kein grammatikalisch verschleierter Vorwurf. Immerhin, eine Frage ist nur eine Frage, wenn man sich für die Antwort interessiert).

Darum fragt Jesus nach ihrem Vertrauen, ihrem Glauben. Erleben seine Lehrlinge Jesus wirklich als einen Menschen, der sie im Stich lässt? Haben sie wirklich die Erfahrung gemacht, dass ihm das Schicksal seiner Menschen egal ist? Wo und wann haben sie so etwas mit ihm erlebt?

Das passiert uns Menschen, wenn wir gebeutelt, frustriert und erschöpft sind. Wenn wir uns unwohl, bedroht oder überfordert fühlen, wenn wir in der Vergangenheit solche Verletzungen bei anderen erlebt haben, tun wir uns schwer mitfühlenden Herzens ein Gespräch zu führen. Wenn wir tief und mitfühlend zuhören können, dann ermutigen und befähigen wir eine Person, aus dem Herzen zu sprechen und sich die Zeit zu nehmen, den weiteren Kontext und die vorhandenen Emotionen zu verstehen. Wenn wir auf der Ebene unserer Abwehrkräfte sprechen, die wir aufgebaut haben, um unsere Emotionen und unseren Wesenskern zu schützen, dann werden die Verletzung und der Frust sprechen.

In diesem Boot sitzen wir alle immer wieder mal im Laufe eines Lebens. Alle Menschen in dieser Geschichte sind müde und frustriert. Sie sind aber auch Menschen, die miteinander verbunden sind, Wege gemeinsam wagen und sich gegenseitig lieben. Und trotzdem kommt das Fass zum Überfließen und dann schlagen sie mit ihren Worten um sich. Wir sind sehr verletzbare Wesen, besonders wenn unsere Kräfte schwinden.

Es kann uns nicht schaden, die Reihenfolge Jesu im Text zu beherzigen, wenn Stürme unsere Beziehungen, Freundschaften und Lieben beuteln.

  1. Stellt Fragen anstatt Aussagen.
  2. Lassen wir uns sanft auf die Vertrauensfrage ein. Schaut die große Geschichte des Miteinanders an. Deute eine Episode der Unsicherheit und des Unverständnisses nicht außerhalb des Kontextes einer größeren, reicheren und vielfältigeren Geschichte eines gemeinsamen Weges.

Missverständnisse kommen sehr schnell hoch in den Stürmen des Lebens. Aber wir können auch lernen, die Missverständnisse des Lebens zu navigieren und zu bewältigen. Wenn wir ein wenig üben, gut zuzuhören, offene und ehrliche Fragen zu stellen, statt Vorwürfe zu erheben, und wenn wir darauf vertrauen, dass Güte, Barmherzigkeit und Verlässlichkeit auch in solchen stürmischen Stunden vorhanden sind, auch wenn wir sie zunächst nicht wahrnehmen können, dann tragen wir alle das Potenzial in uns, einen Sturm zu beruhigen.

 

Erik Riechers SAC, 20. Juni 2021

 

 

Liebe, bete und reife III: Der Weg, der vom Kind zum Erwachsensein führt.

 

Daher jetzt zu meinem dritten Punkt. Es gibt einen Weg, das schreckliche Schicksal der ewigen Unreife in der Liebe zu vermeiden. Wir müssen beim Meister des Geistes in die Lehre gehen und Jesus unser Weg zur erwachsenen Liebe sein lassen. In seiner Person finden wir die Verschmelzung des Allerbesten, das die Liebe zu bieten hat, mit dem Allergrößten, das sie zu geben gesandt ist.

Wenn wir Jesus erlauben, uns zu lehren, dann werden wir in den Haushalt der Liebe aufgenommen, aber auch in ihre Weinberge gesandt, um Arbeiter für die Ernte zu sein. Der Meister des Geistes wird uns eine Liebe zeigen, die bereit ist, alles um unseretwillen zu opfern, sogar den Tod am Kreuz. Dann wird er uns auffordern, unsere eigenen Kreuze auf uns zu nehmen und ihm zu folgen, damit andere aufgrund unserer Liebe leben können. In Jesus wird uns derjenige begegnen, der uns als leidender Diener liebt und der uns prompt dazu einladen wird, im Dienst an anderen zu leiden. Der Herr und Meister von uns allen wird uns eine Liebe zeigen, die bereit ist, sich zu entleeren, so dass der König aller Könige und Herr aller Herren bereit ist, Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein zu werden. Dann wird er uns einladen, das Gleiche zu tun.

          Die erste große Erfahrung der Liebe besteht im »Selbst«. Es ist die Entdeckung, dass wir umsorgt und geliebt, genährt und geführt werden. Der Höhepunkt der Liebe wird in dem Moment gefunden, wenn wir unser »Selbst« transzendieren. Wir werden wissen, dass wir mit Jesus unterwegs sind, wenn wir in unergründlicher Dankbarkeit schätzen können, was die Liebe für uns getan hat, und von der Leidenschaft verzehrt werden, dies auch für andere zu tun. Wenn wir vor Dankbarkeit für alles, was unsere Eltern für uns getan haben, überfließen und mit dem Wunsch brennen, unsere Kinder mit der gleichen Inbrunst zu lieben, ist das Reich Gottes uns sehr nahe. Wenn wir in der Erinnerung an Lehrer schwelgen, die uns den Weg gezeigt haben, und vor dem Wunsch zittern, anderen diesen Weg zu zeigen, ist Christus nicht weit von uns entfernt. Wenn wir uns dabei ertappen, wie wir darüber nachdenken, wie wir die Geliebten in unserem Leben bereichern können; wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Geliebten in unseren Armen segnen können; wenn wir uns danach sehnen, die Wunden derer zu heilen, die unser Augapfel sind, und die Kosten dafür nicht meiden, dann wachsen wir in der Tat zur vollen Statur in Christus heran, dann wachsen wir in der Liebe heran.

          Rudyard Kipling schrieb ein Gedicht an seinen Sohn darüber, was es bedeutet, ein erwachsener  Mensch zu werden. Mögen diese Worte auch uns gelten. 

 

Wenn du den Kopf behältst, falls sie dich rügen

Dafür, dass sie verlor’n ihr eig’nes Haupt,

Wenn alle zweifeln, lässt du dich nicht trügen,

Und gibst noch zu, ihr Zweifel sei erlaubt,

 

Wenn warten kannst du, ohne zu erlahmen,

Und Lug verdammst, auch wenn man dich belügt,

Wenn man dich hasst, du ablehnst, nachzuahmen,

Und wenn bescheid’ne Weisheit dir genügt,

 

Wenn deine kühnsten Träume dich nicht binden,

Wenn dein Gedanke nicht zum Selbstzweck wächst,

Wenn kannst du dich mit Sieg und Sturz abfinden,

Und beide Schwindler gleichermaßen deckst,

 

Wenn du erträgst das Wort, das du gesprochen,

Verzerrt vom Schuft, um Narr’n zu irritier’n,

Und einsteckst, wenn du siehst dein Werk zerbrochen,

Und baust es auf von vorn auf allen Vier’n,

 

Wenn du den ganzen Haufen an Gewinnen

Beim simplen Münzwurf zu verspiel’n riskierst,

Dabei bereit, von Null an zu beginnen,

Und nicht ein Wort über dein Pech verlierst,

 

Wenn Herz und Nerv und Sehne kannst du zwingen

Dir noch zu dienen, wenn sie längst verweht,

Damit du stehst, wenn Risse dich durchdringen,

Und bloß dein Wille ihnen vorschreibt: „Steht!“

 

Wenn du mit Sitte sprichst zu Menschenheeren,

Und vor dem König bleibst dem Volk loyal,

Wenn weder Feind noch Freund kann dich versehren,

Wenn man dich hoch schätzt, doch nicht kolossal,

 

Wenn du erfüllst die herzlose Minute

Mit tiefstem Sinn, empfange deinen Lohn:

Dein ist die Welt mit jedem Attribute,

Und mehr noch: dann bist du ein Mensch, mein Sohn!*

 

»Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind; als ich erwachsen wurde, legte ich das kindische Verhalten ab.«  

Möge es so sein. Oh Herr. Möge es so sein.

 

*Übersetzung des Gedichtes „If“ von Rudyard Kipling aus dem Englischen ins Deutsche von Izzy Cartwell © 2009

 

Erik Riechers SAC, 18. Juni 2021

 

 

Liebe, bete und reife II: Die Art und Weise, wie ein Erwachsener liebt

 

Jetzt müssen wir eine zweite große Frage anschauen: Wie muss die Liebe der Erwachsenen aussehen? Wie gesagt, die Art und Weise, wie Liebe von einem Kind erlebt wird, ist kein Problem, solange wir über Kinder sprechen. Doch was bei 3-Jährigen niedlich ist, ist bei Erwachsenen grauenhaft.

Ein Erwachsener in der Arbeit der Liebe zu werden, bedeutet, sich weit über die bloße Erfüllung der eigenen Wünsche und Sehnsüchte hinaus zu bewegen. Der reife Mann oder die reife Frau weiß, dass es bei der Liebe nicht nur darum geht, dass die andere Person tut, was ich will, wann ich es will und wie ich es will. Wenn ein Erwachsener uns um einen Gefallen bittet und wir ihn ablehnen, gibt es die klare Erwartung, dass er sich nicht umdreht und sagt: »Liebst du mich nicht?«

Ein Erwachsener in Gottes Augen zu sein, bedeutet, am rettenden Werk der Liebe teilzunehmen. Kinder verlangen den Dienst der Liebe. Erwachsene lassen sich in ihren Dienst nehmen. Als Christgläubige erwachsen zu werden bedeutet, dass wir nicht nur jedem Menschen, der die Taufe sucht, erzählen müssen, wie er oder sie von Christus geliebt wird, sondern wie seine Liebe uns in eine Welt der liebevollen Fürsorge, der Barmherzigkeit und der Sorge für andere treibt. Wenn wir ganz in Christus leben, ganz im Geist gewachsen sind, verändert sich unser Blick auf die Welt, auf Beziehungen und auf Gemeinschaft radikal. Ein sicheres Zeichen geistlicher Unreife ist der Moment, in dem wir denken, dass die Welt nur zu unserem Vergnügen gemacht ist, dass Beziehungen nur dazu da sind, unsere Wünsche zu erfüllen, und dass die Gemeinschaft uns immer etwas schuldet. 

Der Staat erklärt uns zu Erwachsenen, wenn wir das Alter von 18 Jahren erreichen. Mit Erreichen der Volljährigkeit werden uns automatisch alle möglichen Rechte zugesprochen. Wir können eine Kneipe besuchen, Zigaretten kaufen, wählen gehen oder für ein Amt kandidieren. Aber es gibt keine automatische Übertragung von Verantwortung. Achtzehn Jahre auf diesem Planeten sind keine Garantie dafür, dass man in Maßen trinkt, die Gefahren für unsere Gesundheit bedenkt, in einem politischen Prozess klug wählt oder bereit ist, sich in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen.

So ist es auch in der Welt der Liebe. Christus gewährt uns die Freiheit, wie Söhne und Töchter seines Vaters zu leben, aber wir müssen nicht erwachsen werden. Es gibt Männer und Frauen, deren gesamte Erfahrung von Liebe kindisch ist. Sie wollen verhätschelt und umsorgt werden, während sie jeden egoistischen Impuls bewahren, den sie je hatten. Sie verlangen, geliebt, geschätzt und respektiert zu werden, fühlen sich aber nie dazu getrieben, das Gleiche zu tun. Es ist eines der traurigen Geheimnisse des Lebens. Reife Körper können leicht unreife Herzen und Seelen beherbergen.

(Fortsetzung folgt)

 

Erik Riechers SAC, 16. Juni 2021

 

 

Liebe, bete und reife I: Die Art und Weise, wie ein Kind liebt

 

In Rosemaries Impuls vom 4. Juni 2021 »Worum beten?« wirft sie ernste und lebenswichtige Fragen auf über die Themen, die wir in unseren Herzen tragen und ob wir als reife Christen beten.

Vor einigen Jahren schrieb Elizabeth Gilbert einen halb-autobiografischen Roman mit dem Titel »Eat Pray Love« (Iss, bete, liebe). Wenn ich ein Buch über mein Gebetsleben schreiben würde, würde ich es »Liebe, bete und reife« nennen.

Das Thema der Reife und des Gebets ist in diesen Tagen der Pandemie oft zur Sprache gekommen. Manche Menschen sind durch diese Krise in ein tieferes und reicheres Gebetsleben hineingewachsen. Andere haben es als eine Zeit der Bedrängnis empfunden, da kindliche Gebetsgewohnheiten plötzlich ans Licht kam und sich als völlig unfähig entpuppten, uns durch schwierige Zeiten zu tragen und zu unterstützen.

Sobald junge Menschen ein gewisses Alter erreichen, beschweren sie sich ständig bei den Eltern. Sie wollen nicht wie Kinder behandelt werden. Wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Eltern oder Lehrer ihnen nicht volles Vertrauen entgegenbringen und sie behutsam beschützen, rebellieren sie mit Nachdruck und hormongesteuerter Wut. Die jungen Menschen wünschen sich immer, dass ihre Ältesten anerkennen, dass sie erwachsen werden.

Im ersten Brief an die Korinther spricht Paulus auch über das Erwachsenwerden. Passenderweise können wir uns vom Apostel inspirieren lassen und uns fragen, ob wir als gläubige und treue Menschen der Kirche erwachsen werden. So leiten drei Gedanken diesen Weg zu einem reifen Gebetsleben: (1) Die Art und Weise, wie ein Kind liebt, (2) die Art und Weise, wie ein Erwachsener liebt, und (3) der Weg, der vom Kind zum Erwachsensein führt.

Der heilige Paulus spricht in seinem ersten Brief an die Korinther ein erstaunliches Wort zu uns. Er sagt: »Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind; als ich erwachsen wurde, legte ich das kindische Verhalten ab.« (1 Kor 13,11) Das ist zwar der Weg aller menschlichen Reifung, aber Paulus wendet ihn besonders auf das Thema an, ein Kind zu sein, das erwachsen werden muss, wenn es um das Lieben und damit um das Beten geht.

Die Wahrnehmung von Liebe durch ein Kind basiert auf einer sehr begrenzten Wahrnehmung seiner Wünsche und Bedürfnisse. Wenn Sie ihm geben, worum es bittet, wird die Handlung als liebevoll angesehen. Versuchen Sie aber, einem Kind etwas abzusagen! Eines der ersten Worte aus seinem Mund wird sein: »Hast du mich nicht lieb?«

Natürlich basiert diese Sicht der Liebe aus der Sicht eines Kindes auf einem unvollständigen Bild der Welt, der Beziehung und der Gemeinschaft. Ein Kind glaubt, dass Mutter und Vater genau deshalb da sind, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Es ist eine Einbahnstraße. Es gibt wenig oder gar keine Rücksicht auf Verantwortung oder Gegenseitigkeit. Kinder verstehen nicht automatisch, dass es mehr Menschen gibt, die uns brauchen, als nur sie selbst, und finden es schmerzhaft zu begreifen, wie wir anderen Interessen nachgehen können, wenn sie unsere Aufmerksamkeit, Zeit und Energie wollen.

Nichts daran ist sündhaft, böse oder unangemessen, solange wir von Kindern sprechen. Es ist das Vorrecht der Kinder, eine Liebe zu erfahren, die sie vollständig und ohne Kosten abschirmt. Es ist das Geburtsrecht der Kinder, eine Liebe zu kennen, die um sie kreist, ihre Bedürfnisse stillt, ihre Sorgen lindert, ihre blauen Flecken auf der Haut und im Geist heilt und die Tränen von ihren Wangen wischt. Es gehört zum Wesen des Kindseins, im Wissen um eine Liebe zu wachsen, zu der man vor jedem Schrecken der Nacht fliehen kann. Sie sollen sich einer Liebe erfreuen, in die man sich kuscheln kann, bis der Kummer verklungen ist. Sie sollen ein Recht auf Liebe haben, an die man sich klammern kann, wenn einem die Welt viel zu groß erscheint für die Kleinen.

          Das ist die erste und entscheidende Stufe des Erlernens der Liebe. Wir müssen Kinder sein. Es ist die Art und Weise, wie wir die Liebe von Jesus selbst lernen. In Jesus lernen wir von einem Vater (Abba), der sich um jedes Haar auf unserem Kopf kümmert, der uns mit dem täglichen Brot versorgt, der unsere tiefste Angst in seine liebevolle Umarmung aufnimmt und uns die Tränen aus den Augen wischt. Wenn Männer und Frauen in eine tiefere Umkehr in ihrem Leben eintreten, müssen sie diese Phase der Liebe sehr intensiv erleben. Sie müssen sich über alle Maßen geliebt wissen, wie geliebte Kinder, wie Jesus im Jordan vor seinem Vater. »Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.«

(Fortsetzung folgt)

 

Erik Riechers SAC, 14. Juni 2021

 

 

Gott sieht mehr in uns als wir in uns selbst sehen

 

11. Sonntag B 2021                   Mk 4, 26–34

 

Der Text, der diesen Gleichnissen vorausgeht, erzählt von 4 Formen von Erde und wie sie Frucht tragen, oder auch nicht.

Die Erde ist das Bild des menschlichen Herzens und Jesus spricht über die vier Formen der Empfänglichkeit, die in diesem Herzen zu finden sind.

Harte Erde bedeutet keine Empfänglichkeit.

Felsige Erde repräsentiert die blockierte Empfänglichkeit.

Dornige Erde ist das Bild für die erstickte Empfänglichkeit.

Gute Erde symbolisiert eine gesunde Empfänglichkeit.

Was ein bisschen untergeht in dem Ganzen ist die gute Erde. Sie wird nicht besonders befriedigend kommentiert. »Auf guten Boden ist das Wort bei denen gesät, die es hören und aufnehmen und Frucht bringen, dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach.« (Mk 4, 20)

 

Wenn wir über die drei Formen der Unempfänglichkeit im menschlichen Herzen nachdenken, gibt es klare Strategien des Geistes, um mit ihnen umzugehen.

Wenn Ihr Herz hart ist, erweichen Sie es.

Wenn Ihr Herz blockiert ist, gehen Sie unter die Oberfläche, suchen Sie, sieben Sie aus und entfernen Sie die Blockaden, die das Leben an der Entfaltung hindern.

Wenn Ihr Herz erstickt ist, entfernen Sie das, was das neue Leben, das sich in Ihnen zu entwickeln versucht, stranguliert und erstickt, an den Wurzeln.

Aber was sollten wir tun mit der guten Erde?

Die Antwort der heutigen Gleichnisse ist einfach: gar nichts. Lass die gute Erde, das empfängliche Herz in Ruhe. Lass sie einfach mal wirken.

Wir müssen tief durchatmen und uns einen Moment lang entspannen. Wenn wir Härten, Blockaden und erstickende Elemente entfernen, machen wir immer eine einfache, aber schöne Entdeckung: Was bleibt, ist immer die gute Erde. Wenn es um ein gutes und aufnahmefähiges Herz geht, geht es nie darum, ein solches zu erschaffen, sondern darum, es von allem zu befreien, was es daran hindert, das zu sein, wozu es geschaffen wurde. Es geht uns nicht darum, gute Erde zu erschaffen. Wir sind einfach dabei, sie zu befreien.

Hier legt Jesus aus, wie die gute Erde wirkt, wie ein empfängliches Herz in uns entfaltet und aufrechterhalten wird.

Im ersten  Gleichnis legt er uns nahe, dem natürlichen Wachstumsprozess des Herzens zu trauen. Wenn Kontakt aufgenommen wird zwischen dem Samen (das Wort) und der guten Erde (das empfängliche Herz), wird ein Entwicklungsprozess beginnen. Aber dieser Prozess ist geheimnisvoller als wir meinen und wir sollten uns da nicht voreilig einmischen.

Der Sämann schläft und »steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie«.  Die Einmischung des Sämanns wird zum Wachstumsprozess nichts beitragen. Es gibt ein Muster im Wachstum, das geschieht, wenn Samen und Boden (Wort und Herz) gut zusammenarbeiten. Dieses Muster zeigt uns, dass sich allmählich eine Vermehrung des Lebens entfaltet. Der Samen und die Erde produzieren, »zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre.«  Letztendlich wird es Reife und Ernte geben, und der Samen wird dann zum Brot.

Wenn schon von der Einmischung im Prozess abgeraten wird, dann wird die Kooperation mit dem Prozess beschrieben als ein Wahrnehmen des geheimnisvollen Wachstums.

Wir wollen das Größere für die Menschen, dass sie ein Mehr an Glauben, Leben und Freude haben. Aber das Größere ist im Kleineren beinhaltet und wird daraus hervorkommen. Hierfür sollten wir achtsamer werden.

Mit anderen Worten, der ganze Prozess kann nicht auf einmal erkannt werden. Das volle Korn ist in der Ähre, und die Ähre ist im Halm. Das Hundertfache liegt im Sechzigfachen, und das Sechzigfache im Dreißigfachen.

Diese Lehre Jesu ist als Trost gedacht. Es ist alles da. Lass es mal wachsen. Dafür schenkt uns Gott Zeit und Raum. Gute Erde zu werden, die fruchtbares Leben hervorbringt, ist das, was wir sicherlich alle wollen. Aber das heißt nicht, dass wir den ganzen Werdegang dirigieren müssen. Es heißt nicht einmal, dass wir ihn verstehen müssen.   

Der Prozess des Wachstums verlangt Vertrauen und Kooperation von uns.

Menschen brauchen

  • unsere Geduld (Raum und Zeit), damit Leben eine Chance hat sich so zu entfalten, wie es für sie stimmig ist.
  • unsere Aufmerksamkeit, damit wir auch liebevoll merken, was in ihnen wächst und sie ermutigen.
  • unsere zärtliche Begleitung.

 

Was wir nicht brauchen ist Panik: Nachdem der Samen in uns gesät ist, werden wir etwas über den Halm lernen. Wenn der Halm erscheint, werden wir die Ähre entdecken; wenn die Ähre bekannt ist, dann wird das volle Korn hervorkommen.

Gott sieht mehr in uns, als wir in uns selbst sehen. Da er weiß, wie er uns geschaffen hat, hat er ein tiefes und beständiges Vertrauen, dass alles, was wir brauchen, schon da ist. Und genau dieses Vertrauen haben wir oft nicht in uns selbst, in unser Leben und in unser eigenes Herz. Es ist leicht, uns selbst als ein Senfkorn zu betrachten, klein und unbedeutend. Was ein wenig mehr Arbeit und Gewöhnung erfordert, ist die Erfahrung und Begegnung mit einem Gott, der bereits den schützenden, beherbergenden Baum des Lebens sieht, der in unseren senfkorngroßen Herzen steckt und nur darauf wartet, sich zu entfalten.

In Psalm 92 heißt es:

Denn mit deinem Werk, DU, hast du mich erfreut,

ich bejuble die Taten deiner Hände.

Wie groß sind deine Taten, DU,

gar tief sind deine Planungen!

 

Wie viele von uns haben diese Worte auf uns selbst bezogen? Gott tut es auf jeden Fall.

Also, keine Panik! Es ist  schon alles da. Nehmen wir uns Zeit, denn wir dürfen wachsen und größer werden als das, was wir vorerst sind. Vertraut auf die gute Erde eurer Herzen!

 

Erik Riechers SAC, 13. Juni 2021

 

 

Wohin geht unsere Sehnsucht?

 

Leichtfertig gehen wir um mit diesem Wort. Wir bedürfen der Ruhe oder wünschen uns mehr Leichtigkeit. Wir erhoffen gesund zu werden oder zu bleiben. Wir haben Verlangen nach einer Urlaubsreise oder Lust auf ein vorzügliches Essen. Wir begehren, unsere Freunde wieder in die Arme zu schließen. Ja, was können Menschen nicht alles ersehnen.

Denn vielfältig sind unsere Sehnsüchte und wahrscheinlich sind sie uns in diesen Zeiten viel bewusster geworden als je zuvor.

Neu und fremd war für viele von uns, dass wir warten mussten und immer noch müssen, dass vieles nicht so flott befriedigt werden kann, wie wir es gewöhnt sind und sogar oft beanspruchen.

Darin liegt eine große Chance: wir können uns die Frage stellen, was tiefer liegt als all die Bedürfnisse, die wir so schnell auf der Zunge haben. Wonach sehnen wir uns wirklich? Eine schwer kranke Frau, der vieles weggebrochen ist, sagte neulich mit strahlenden Augen, dass ihre eigene lange Leidenszeit ihr zeigt, was wahrhaft wesentlich für sie ist.

Seien wir ehrlich: als das Wünschen und Erfüllen noch einfach war, blieben wir oft leer zurück und irrten suchend umher. Nehmen wir doch unsere tiefe Sehnsucht einmal sanft in unsere Hände und halten sie hoch. Betrachten wir, was sich regt in unseren Herzen. Nehmen wir die Unruhe ernst, auch wenn sie noch ganz diffus ist. Halten wir dies aus und wagen wir einen neuen Blick.

Andreas Knapp hat damit seine Erfahrung gemacht und teilt sie mit uns so:

von gott aus gesehen

ist unser suchen nach gott

vielleicht die weise wie er uns auf der spur bleibt

und unser hunger nach ihm das mittel

mit dem er unser leben nährt

 

ist unser irrendes pilgern

das zelt in dem gott zu gast ist

und unser warten auf ihn

sein geduldiges anklopfen

 

ist unsere sehnsucht nach gott

die flamme seiner gegenwart

und unser zweifel der raum

in dem gott an uns glaubt

(aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel 2018)

  

Rosemarie Monnerjahn, 11. Juni 2021

 

 

Was ist dir dein Leben wert?

 

Für alle, die sagen: Aber ich darf doch auch mal ein bisschen Kritik üben, oder?

Ein Gleichnis.

 

Der Mann setzte sich mit einem dumpfen Schlag auf den Stuhl. Sein Begleiter hob die Augenbrauen bei dieser eher mürrischen Ankunft und antwortete mit Freundlichkeit. »Herzlich willkommen. Es ist schön, dich wiederzusehen. Bitte fühle dich frei, von der Speisekarte zu bestellen, was immer du dir wünschst. Du bist heute mein Gast.«

Doch der mürrische Gast schien von der Gnade seines Gastgebers nicht beeindruckt zu sein. Er schnauzte die Kellnerin an: »Bringen Sie mir einen Cappuccino!«, warf ihr die Speisekarte zu und winkte sie abweisend ab. Es ist wirklich recht erstaunlich, wie Sterbliche eine Immunität gegen Freundlichkeit entwickeln können.

Nachdem er wieder eine Augenbraue hochgezogen hatte, sagte sein Gastgeber: »Komm doch, lass uns entspannen und die Gesellschaft voneinander genießen, wie auch den guten Kaffee, die frische Luft und den warmen Sonnenschein. Du bist gekommen, weil du dich unterhalten wolltest. Also lass uns das tun und ein schönes Gespräch führen.«

Aus den spröden Lippen des Gastes quoll jedoch eine Litanei der Beschwerde. Unerbittlich kritisierte er jede wirkliche oder eingebildete Kränkung, die ihm in den letzten Wochen widerfahren war. Als die Kellnerin seinen Cappuccino brachte, machte er sich nicht die Mühe, sie mit einem Wort des Dankes oder einem Blick zu beehren. Stattdessen nahm er einen Schluck und murmelte: »Hier kann man nicht einmal eine anständige Tasse Kaffee aufbrühen. Und wenn die Kellnerin ihn bringt, ist er nicht einmal mehr heiß.«

Während die junge Frau zurück ins Restaurant ging, lehnte sich der Gast in seinem Stuhl zurück, erschöpft von der schweren Last, die Welt zu verurteilen und zu verdammen. Es ist wirklich ziemlich anstrengend, wenn man Gottes Arbeit für ihn machen muss. Nun saß er erwartungsvoll da und erwartete von seinem Gastgeber den Trost und die Bestätigung, die ihm so sehr zustanden.

»Was ist dir dein Leben wert?«, fragte sein Gastgeber.

Der Mann war völlig aus dem Häuschen. »Was meinst du?«

»Nun, ich habe mir die ganze Zeit über deine Forderungen angehört. Du hast klare und massive Erwartungen an das, was deiner Meinung nach andere für dein Leben tun sollten. Du zählst ziemlich akribisch all die Anstrengungen auf, die sie machen sollten, um dich zu unterhalten, zu befriedigen, zu besänftigen und die Lasten deines Lebens zu tragen. Aber, was ist dir dein Leben wert?

Welche Zeit und welchen Raum investierst du in das Lernen und Wachsen, in die Erweiterung des Horizonts deiner Anliegen? Welche Anstrengungen unternimmst du, um ernsthaft zu leben? Welche Schritte unternimmst du, um ein Mensch von größerer Freundlichkeit und Höflichkeit zu werden? Bist du bereit, dir die Mühe zu machen, ein großes Gespräch zu führen, oder begnügst du dich mit diesen ermüdenden Monologen selbstbezogener Beschwerden? Arbeitest du daran, die Lasten des Lebens mitzutragen, oder bist du lediglich eine Last, die der Rest von uns zu tragen hat? Wirst du erwachsen? Wie steht es um dein Engagement? Oder sitzt du immer noch auf dem Zaun und kritisierst das Leben in anderen, das du selbst nicht zu leben bereit bist? Gibst du dir so viel Mühe, andere zu kennen, wie du von ihnen erwartest, dass sie jede Marotte, jede Laune und jeden Wunsch von dir kennen?

Was ist dir dein Leben wert? Denn wenn du dein Leben nicht genug wertschätzt, um all diese Dinge dafür zu tun, warum sollte es dann jemand anderes tun? Wenn du dich nicht genug kümmerst, um es schön, geliebt und attraktiv zu machen, warum sollte sich dann jemand anderes die Mühe machen?«

Der Gast schimpfte und stotterte. »Aber ich darf doch auch mal ein bisschen Kritik üben, oder?« Als sein Gastgeber nicht antwortete, erhob er sich von dem Stuhl der Gastfreundschaft, den er in einen Richterstuhl verwandelt hatte, und stapfte davon.

Der Gastgeber sah zu, wie er in der Ferne verschwand. Dann rief er die Kellnerin herbei und bezahlte ihr die Kaffees, gab ihr ein exorbitantes Trinkgeld und machte ihr ein exquisites Kompliment für ihren freundlichen, fürsorglichen und aufmerksamen Service. Dann flüsterte er ihr ein Wort ins Ohr und ging, eine fröhliche Melodie pfeifend, davon.

Im Restaurant fragte die Barista die junge Kellnerin, was sich draußen auf der Terrasse zugetragen hatte.

»Der Mann, der weggestapft ist, war ein Scharfschütze.«

Die Barista lachte ungläubig. »Ein Scharfschütze. Wie kommt du dazu, so etwas zu sagen?«

Die Kellnerin schaute sie aufmerksam an. »Ja, ein Scharfschütze. Er schießt auf andere, ist aber zu feige, sich offen in den Kampf des Lebens zu begeben, wo er selbst einige Wunden riskieren würde.«

»Ist es das, was dir der Mann ins Ohr geflüstert hat?«, erkundigte sich die Barista, die ihre  Neugier nicht verbergen konnte.

»Nein«, lachte sie. »Er hat sich für die schlechten Manieren seines Gastes entschuldigt und mir dann erzählt: Kleinliche Kritik wird immer von denen geübt, die keinen eigenen positiven und kreativen Beitrag in die Welt bringen.«

 

Erik Riechers SAC, 9. Juni 2021

 

 

Wie leben?

 

 

Eines Tages kamen Besucher zu einem Einsiedler. Sie fragten ihn: »Welchen Sinn siehst du in deinem Leben der Stille?« Er war gerade mit dem Schöpfen von Wasser beschäftigt. Er holte es aus einer Zisterne. Er dachte nach und sprach: »Schaut in die Zisterne. Was seht ihr?«

Die Leute blickten in die Zisterne: »Wir sehen nichts.«

Nach einer Weile forderte der Einsiedler die Besucher wieder auf: »Schaut in die Zisterne. Was seht ihr?« Sie blickten hinunter und sagten: »Jetzt sehen wir uns selbst!«

Der Einsiedler sprach: »Als ich vorhin Wasser schöpfte, war das Wasser unruhig, und ihr konntet nichts sehen. Jetzt ist das Wasser ruhig, und ihr seht euch selber. Das ist die Erfahrung der Stille.«

 

Einige der Erfahrungen der letzten 15 Monate waren für die meisten von uns eine deutlich größere Ruhe, viel weniger Ablenkungen und Getrieben sein und mehr Zeit.

Wie haben wir sie gefüllt? Wie haben wir sie genutzt? Haben wir uns selbst ehrlich angeschaut? Konnten wir Wesentliches über uns selbst und für unser Leben entdecken? Oder war alles nur ein schrecklich langes Warten darauf, dass die Welt uns wieder all das bieten kann, was wir vermeintlich zum Leben brauchen?

Der Einsiedler unserer kleinen Geschichte hat seine Besucher nicht so schnell entlassen. Er fuhr nämlich fort: »Und nun wartet noch eine Weile.« Und nach einer Weile sagte er erneut: »Schaut jetzt in den Brunnen. Was seht ihr?«

Die Menschen schauten hinunter: »Nun sehen wir die Steine auf dem Grund des Brunnens.«

Da erklärte der Mönch: »Wenn man lange genug wartet, sieht man den Grund aller Dinge.«

 

Den Grund aller Dinge wahrzunehmen verhilft uns zu einem guten Stand im Leben; tief gegründet, fest verankert und wahrhaft geerdet können wir unsere Gegenwart annehmen und gestalten. So wanken wir nicht bei jedem Wind, stets bedroht, unseren Halt zu verlieren und immer versucht, uns an äußeren Dingen festzuklammern. Dann werden wir innerlich frei von äußeren Umständen. Natürlich gehört zum Leben das Genießen von gemeinsamen Feiern, guten Mahlzeiten, schönen Reisen - aber eben nicht in der Weise des Geierns nach dem nächsten Kick. Das alte Wort von »weniger ist mehr« stimmt: dann leben wir bewusster, achtsamer und intensiver.

In diesem Sinne schenke ich Ihnen ein Gedicht von Andreas Knapp:

 

Regeln für die Realpräsenz

wir haben mit dem Leben

keinen unbefristeten Vertrag

Zeit schenkt sich nur

von nun auf jetzt

 

vertreibe deine Zeit doch nicht

und schlage sie auch nicht tot

gleich einer Fliege die belästigt

zerpflücke nicht den Tag

 

nutze die Zeitfenster

zum stillen Schauen

geistesgegenwärtig

bewohne deinen Leib

 

übergehe nicht die Rose unterwegs

bleib stehn und atme ihren Duft

nur der Augenblick ist wirklich

wann lebst du wenn nicht jetzt

 (aus: Andreas Knapp, Gedichte auf Leben und Tod, 2016)

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Juni 2021

 

 

Die Wahrheit leugnen, die wir bereits kennen

 

10. Sonntag B 2021                   Mk 3, 20–35

 

Die Schriftgelehrten erheben eine erstaunliche Anschuldigung gegen Jesus. »Die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er ist von Beélzebul besessen; mit Hilfe des Herrschers der Dämonen treibt er die Dämonen aus.«

Das Problem ist hier ganz einfach: Die Schriftgelehrten wissen selbst ganz genau, dass das, was sie sagen, nicht wahr sein kann. Theologisch versiert, wissen sie, dass das, was sie behaupten, ein totaler Widerspruch zu fundamentalen Glaubenswahrheiten ist, die sie selbst lehren und hochhalten.

»Da rief er sie zu sich und belehrte sie in Gleichnissen: Wie kann der Satan den Satan austreiben? Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. Und wenn sich der Satan gegen sich selbst erhebt und gespalten ist, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen. Es kann aber auch keiner in das Haus des Starken eindringen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt; erst dann kann er sein Haus plündern.«

Worauf Jesus in all dem hinweist, ist eine grundlegende Wahrheit: Das Böse handelt nie gegen sein eigenes Interesse. Das ist es, was es völlig vom Guten trennt. Gute Menschen können gegen ihren Eigennutz handeln: Sie teilen ihr Brot, auch wenn sie hungrig sind, sie bringen Opfer, und sie praktizieren keine Menschenopfer, jene zeitlose Bereitschaft, andere dem Leid und dem Schmerz zu opfern, nur damit wir besser und leichter leben können. Sie können sich selbst transzendieren.

Die Bösen tun dies nie. Das Böse kennt nur ein Interesse, und das ist der Eigennutz. Es wird niemals gegen sein Eigeninteresse handeln. Warum sollte also der Herrscher der Dämonen helfen, andere Dämonen zu vertreiben? Seit wann helfen Dämonen den Exorzisten?

Die Schriftgelehrten sind nicht dumm. Sie wissen, wie fadenscheinig dieses Argument ist. Was sie hier tun, wird Jesus klar benennen:

»Amen, ich sage euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften.« 

Jesus nennt dies eine Lästerung gegen den Geist. Es ist das, was passiert, wenn wir die Wahrheit sehr wohl kennen, sie aber leugnen, um unseren Zwecken zu dienen. Wir sprechen eine Unwahrheit aus, damit wir uns nicht der Wahrheit stellen müssen, die wir bereits erkannt haben, aber nicht ertragen können. Wir tun es, damit wir nicht zugeben müssen, was wir nicht wahr haben wollen. Wir würden lieber über die Wahrheit lügen, die wir kennen, um sie zu leugnen, als die Realität zu akzeptieren, die vor unseren Augen liegt. Selbst die theologischen Analphabeten wissen, dass nur ein Mensch, der mit der Kraft Gottes erfüllt ist, Dämonen austreiben kann. Aber dies zuzugeben, bedeutet zuzugeben, dass Jesus mit der Kraft Gottes erfüllt ist, und das ist die Wahrheit, die die Schriftgelehrten  nicht akzeptieren können. Da der Geist uns in alle Wahrheit führen wird, ist es eine Lästerung gegen den Geist, die Wahrheit zu leugnen, die der Geist uns bereits gegeben hat.

Das Problem geht sehr tief. Das ist es, was passiert, wenn wir die Lüge so lange vor uns selbst wiederholen, dass wir schließlich sogar anfangen, sie zu glauben. Wir verleugnen, was wir bereits kennen und erkennen, bis wir es nicht mehr kennen und erkennen. 

Diese Sünde, die uns für immer anhaftet, liegt nicht im Inhalt der Lüge, sondern im Prozess der Lüge, im Prozess der Verleugnung. Schauen wir uns die Menschen in den USA an, die immer noch an der Lüge festhalten, dass die Präsidentschaftswahl 2020 von Donald Trump gestohlen wurde. Sie akzeptieren keine Vergebung, keine Verzeihung, und auch kein Angebot, zum Wohl des Landes jetzt zusammenzukommen. Warum? Weil sie diese Lüge so lange und so überzeugend erzählt haben, dass sie sie selbst glauben. Und weil sie es glauben, können sie keine Vergebung, Versöhnung und das Angebot, weiterzumachen, akzeptieren. Trotz aller Beweise glauben sie, dass sie keine Begnadigung und Vergebung brauchen, weil sie überzeugt sind, im Recht zu sein. 

»Wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften.« Solche Menschen werden keine Vergebung finden, aber nicht, weil Gott sie nicht anbieten würde. Sie werden niemals Vergebung finden, weil sie sie niemals annehmen werden. Das ist nie so weit von uns entfernt, wie wir gerne glauben möchten. Wie schwer ist es, Güte, Freundlichkeit, Wahrheit oder Großzügigkeit in Menschen zuzugeben, die wir nicht mögen? Können wir bereitwillig die Wahrheit zugeben, wenn sie von jemandem kommt, den wir nicht ausstehen können? Werden wir akzeptieren, dass der Heilige Geist am Werk ist, wenn wir diesem Werk in Menschen begegnen, die anders denken, anders wählen und anders entscheiden als wir?

In einer Welt voller Verschwörungstheorien, von den Ursprüngen von Covid 19 bis zum Tragen von Masken als Regierungskomplott, werden wir Zeugen, wie weit Menschen gehen werden, um ihre persönliche Sicht der Dinge aufrechtzuerhalten, egal wie überwältigend und schlüssig die Fakten sind. Sie haben oft großen Schaden angerichtet, sogar bis hin zur Gefährdung anderer. Aber selbst wenn wir ihnen die Hand reichen und einen Weg nach vorne in Frieden und Vergebung anbieten, werden sie die Vergebung annehmen oder einfach weiter darauf bestehen, dass sie die ganze Zeit Recht hatten?

 

Erik Riechers SAC, 6. Juni 2021

 

 

Worum beten?

 

Müde Gesichter begegnen mir in diesen Wochen. Frage ich nach, klingt die Stimme schwer und beladen. »Es reicht«, sagt der eine und meint die Einschränkungen aufgrund der Pandemie. »Ich habe meine Leichtigkeit verloren«, klagt die andere.

Ich treffe auch Menschen mit frohen Augen. »Meine Tochter hat mehrere Operationen überstanden. Sie lebt!«, jubelt der eine. »Mein Mann und ich waren an Corona erkrankt und mussten einige Wochen im Krankenhaus bleiben. Nun geht es uns wieder gut - trotz unseres Alters», freut sich die andere.

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen des Lebens stimmen mich nachdenklich.

Haben wir Menschen ein Recht auf ein einfaches, leichtes, unangestrengtes Leben? Oder können wir erst wahre Leichtigkeit gewinnen, wenn wir tief verankert sind und Stürme uns nicht haltlos machen?

Verlieren wir schon die Perspektive, wenn unser Leben äußerlich etwas eingeschränkt wird? Oder machen wir Erfahrungen dessen, was wahrhaft wesentlich ist und gewinnen so einen weiten Blick?

Können wir noch dankbar sein? Haben wir ein Gegenüber für unsere Dankbarkeit, vor dem wir sie aussprechen können?

Und welche Bitten tragen wir in unseren Herzen? Sind wir verwöhnte Kinder oder werden wir reife, kraftvolle Menschen?

Um was können wir beten?

Psalm 138 kommt mir da zu Hilfe. Der Beter, David, zeigt uns, dass er sich bewusst und sehr klar entscheidet zu danken und zu loben; »ich will« sagt er viermal! Die Antwort, die er von Gott erfahren hat, ist lebenstragend: »du weckst Kraft in meiner Seele« kann er darum sagen. Die Kraft war schon da, aber Gottes Nähe und Begleitung weckt sie, setzt sie frei. So kann er handeln und gehen, auch wenn es schwer und bedrückend wird, stets in dem Bewusstsein, dass Gott es ist, der ihn am Leben erhält und das vollendet, was er selbst nicht schaffen kann. So bittet er nicht um ein bequemes Leben und das Abnehmen von Gefahren. Er ist dankbar für die in ihm geweckte Kraft. Mit ihr und daraus handelt er und lässt Gott vollenden, was seine Möglichkeiten übersteigt. Vielleicht können wir uns einschwingen in die Spur seines Gebets:

 

Ich will dir danken mit meinem ganzen Herzen,

vor Göttern will ich dir singen und spielen.

Ich will mich niederwerfen zu deinem heiligen Tempel hin,

will deinem Namen danken für deine Huld und für deine Treue.

Denn du hast dein Wort größer gemacht als deinen ganzen Namen.

Am Tag, da ich rief, gabst du mir Antwort, du weckst Kraft in meiner Seele.

Dir, HERR, sollen alle Könige der Erde danken, wenn sie die Worte deines Munds hören.

Sie sollen singen auf den Wegen des HERRN Die Herrlichkeit des HERRN ist gewaltig.

Erhaben ist der HERR, doch er schaut auf den Niedrigen,

in der Höhe ist er, doch er erkennt von ferne.

Muss ich auch gehen inmitten der Drangsal, du erhältst mich am Leben trotz der Wut meiner Feinde.

Du streckst deine Hand aus, deine Rechte hilft mir.

Der HERR wird es für mich vollenden. HERR, deine Huld währt ewig.

Lass nicht ab von den Werken deiner Hände!

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. Juni 2021

 

 

Es kommt ein besserer Tag

 

In dem überschwänglichen Gospellied »In That Great Gettin' Up Morning« gibt es eine Zeile, die uns immer wieder innehalten lässt.»There’s a better day a coming.« (Es kommt ein besserer Tag)

Es ist leicht, den Gedanken zu bewundern und das Lied zu singen, bis wir an der Reihe sind, die Realität zu erleben, aus der dieses Lied geboren wurde. Dies ist kein billiges Tonikum, das uns von irgendeinem Selbstwertgefühls-Guru verkauft wird. Diese Worte wurden in einer Zeit der Erschütterung und schweren Unterdrückung geboren. Sie wurden von Menschen gesungen, die wussten, dass ihre Besitzer darauf abzielten, den menschlichen Geist zu brechen und nicht nur den Körper, sondern auch die Seele der Menschen zu versklaven, die sie fesselten und in Ketten legten. Aus dieser Dunkelheit heraus fand ein Volk die inneren Quellen der Hoffnung in den großen biblischen Geschichten. Und diese Geschichten von Gott führten sie dazu, zu verkünden, dass ein besserer Tag kommen wird. Sie sangen von diesem Tag, bevor sie ihn sehen konnten. Sie sangen von diesem Tag, bevor sie auch nur ein Jota von seiner Verheißung erleben konnten. Ein Volk in der Sklaverei sang dieses Lied.

Gestern haben wir unser Siebenquell-Programm für das zweite Halbjahr 2021 ausgerollt. Wochen, ja Monate der Vorbereitung sind darin eingeflossen. Darin steckt mehr als nur Planung und Organisation. Wir haben das Programm frühzeitig vorgestellt, Monate bevor wir mit der ersten Veranstaltung beginnen, um unseren Menschen wieder einen Horizont der Hoffnung zu geben, damit sie eine Perspektive jenseits der vergangenen Tage der Begrenzung und Einschränkung haben. Es ist unsere Art zu singen: There's a better day a coming.

Für die Zukunft zu planen, bedeutet, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen. Es gibt uns die Motivation, auf diesen besseren Tag zuzugehen, bevor wir tatsächlich in seiner Umarmung stehen. Es ermutigt uns, ihm einen Empfang zu bereiten. Es ist eigentlich eine sehr einfache Sache, und doch kann sie leicht eine brillante Wahrheit verdecken. Nur diejenigen, die eine echte Hoffnung und Erwartung für eine Zukunft haben, machen sich überhaupt die Mühe, sich auf eine solche vorzubereiten.

Und es geht darum, den Mächten zu widerstehen, die den menschlichen Geist brechen würden. Wir planten für die zweite Jahreshälfte, auch wenn die erste Hälfte des Jahres jeden Plan, den wir geschmiedet hatten, veränderte. Doch auch wenn wir gezwungen waren, unsere Pläne zu ändern, führte das nicht dazu, dass wir die Hoffnung und den Willen aufgaben, dem Geschenk des Lebens zu dienen. In der einen oder anderen Form fanden wir einen Weg, die Geschichten von Gott und dem Glauben und der Heimat zu erzählen, die uns so sehr am Herzen lagen.

Als Jesse Jackson 1988 seine Kandidatur als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei verlor, hielt er eine mitreißende Rede über einen besseren Tag, der kommen würde. Er schmollte nicht, und zog sich nicht aus dem Kampf zurück. Stattdessen gab er einen leidenschaftlichen Überblick über seine Pläne für die Zukunft, die Gründe, für die er kämpfen würde. Am Ende teilte er mit den Zuhörern den Geist, der ihn antrieb:

»Wo immer Du heute Abend bist, Du kannst es schaffen. Halte Deinen Kopf hoch; streck Deine Brust heraus. Du kannst es schaffen. Es wird manchmal dunkel, aber der Morgen kommt. Gib nicht auf!

Leiden züchtet Charakter, Charakter züchtet Glauben. Am Ende wird der Glaube nicht enttäuschen.

Du darfst nicht aufgeben! Du kannst es schaffen oder auch nicht, aber du musst wissen, dass du dazu in der Lage bist! Und halte durch, halte durch! Wir dürfen niemals aufgeben!! ...Erhalte die Hoffnung am Leben! Am morgigen Abend und darüber hinaus, erhalte die Hoffnung am Leben!«

Trotz aller Überraschungen, Unwägbarkeiten und unvorhersehbaren Risiken, die die Zukunft birgt, einschließlich der Enttäuschung, die sie manchmal auch mit sich bringen kann, machen wir weiter, planen wir und erhalten die Hoffnung am Leben. Es wird ein besserer Tag kommen. Glauben Sie daran, tief und leidenschaftlich. Die vielen Hindernisse und Widerstände auf dem Weg können die Sehnsucht in uns nicht auslöschen.

 

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

2. Juni 2021

 

 

Versprechen

 

Nach fast 10 Jahren griff ich zu einem Buch und begann es erneut zu lesen. Ich staunte, wie vieles ich gar nicht mehr in Erinnerung hatte, es war fast wie eine Neuentdeckung - »Die italienischen Schuhe« von Henning Mankell. Bald kam ich an eine Stelle, die mir seither nachgeht. Bei der ersten Begegnung der Protagonisten nach fast vier Jahrzehnten erinnert Harriet den Erzähler an ein Versprechen, das er ihr einst gab; sie nennt es das »einzig wirklich schöne Versprechen«, das sie je erhalten hat. Und dann legt sie ihm dar: »Man bekommt ständig Versprechen … Man gibt selber Versprechen. Man lauscht den Versprechen anderer Menschen. Politikern, die von einem besseren Leben für die Alternden sprechen, von einer Krankenpflege, bei der niemand wundgelegene Stellen bekommt. Von Banken, die Versprechungen über höhere Zinsen machen, Lebensmittel, die eine Gewichtsabnahme versprechen, und Cremes, die ein Alter mit weniger Falten garantieren. Das Leben ist nichts anderes, als mit seinem kleinen Boot zwischen einem wechselnden, aber nie versiegenden Strom von Versprechungen zu kreuzen.«

Ich hielt inne. In der Tat: Binden wir unser Leben an das, was uns über die Medien gesagt wird, dann sind wir einer Flut von Versprechen ausgeliefert. Wenn wir ihnen Glauben schenken und auf die Erfüllung setzen, werden wir immer wieder enttäuscht die Erfahrung machen, dass sich nichts ändert, weder auf meinem Bankkonto noch in der Haut. Das ist frustrierend, das wird ein Grund für viel Verdrossenheit sein, aber davor kann ich mich schützen. Mir hilft es etwa, sie als das zu betrachten, was sie oft sind: Verlockungen nicht um meines Wohles willen, sondern zum je eigenen Vorteil dessen, der hier etwas verspricht.

Anders empfinde ich es mit Versprechen, die mir ein Mensch persönlich gibt. Sie gelten mir. Ich vertraue darauf, dass sie eingehalten werden. Geschieht dies nicht, sprechen wir von einem gebrochenen Versprechen. »Gebrochene Versprechen sind wie Schatten, die in einer Dämmerung dahintanzen. Je älter ich werde, um so deutlicher sehe ich sie.«, sagt Harriet zu dem Menschen, der ihr einst das »einzig wirklich schöne Versprechen« gegeben hatte und auf dessen Erfüllung sie nun, gealtert und schwerkrank, besteht. Es war ein Versprechen, das damals von Herz zu Herz gesprochen hatte: er wollte ihr einen Ort zeigen, der tief verbunden war mit einem Moment seiner Kindheit.

Es ist uns Menschen zutiefst eigen, dass wir ernstnehmen und darauf vertrauen, was andere uns versprechen. Das ist lebensnotwendig und existentiell wichtig und wird grundgelegt im Urvertrauen unserer frühesten Kindheit. Müssen wir auf die Erfüllung auch lange warten, wir vergessen es meist nicht. So geschieht es auch mit allem, was wir anderen versprechen. Schauen wir ehrlich auf die letzten 15 Monate: Wem haben wir Aufmerksamkeit und Zeit versprochen? Was haben wir versprochen anders zu machen, wenn die Krise überwunden ist? Wissen wir überhaupt noch, was wir versprochen haben? Machen wir uns die Mühe, einander an unsere Versprechen zu erinnern?

Solchen Fragen müssen wir uns stellen, soll diese außergewöhnliche Zeit Früchte bringen und uns als einzelne und als Gemeinschaft wachsen lassen.

Die Bibel spricht oft von Gottes Huld und Treue. Gott wendet sich uns wohlwollend zu und er ist treu. Er hält sein Wort. Immer wieder erzählen Menschen von genau dieser Erfahrung, so wie der Beter des 40. Psalms: »Du, HERR, wirst dein Erbarmen nicht vor mir verschließen. Deine Huld und deine Treue werden mich immer behüten.«

Wir sind von Seiner Art. Trauen wir uns, einander Versprechen zu geben und bemühen wir uns, sie zu halten. Dann leben wir als Menschen Gottes und nicht als Frevler, deren Worte leer sind und wie Spreu verfliegen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 31. Mai 2021  

 

 

In welcher Liebe wollen wir wohnen?

 

Dreifaltigkeitssonntag 2021                   Mt 28, 16–20

 

Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern;

tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

 

Damit wissen wir, in wessen Namen wir sie taufen. Aber das wird nicht reichen. Immerhin, wir sagen nicht nur, dass Gott dreieinig ist, sondern dass wir in das Leben der Dreifaltigkeit hineingezogen werden. Dann stellt sich die Frage, wie sieht die Beziehung aus, in die wir alle hinein getauft worden sind?

Richard von St. Viktor (1110–1173), ein Denker des Mittelalters und einer der wichtigsten Theologen in Paris, wird vermutlich den meisten von Ihnen nicht viel sagen. Aber von ihm habe ich eine sehr tiefe und hilfreiche Einsicht gewonnen über das Leben der Dreifaltigkeit.

In seinem Werk »De Trinitate« bezeichnet er das Leben der Dreifaltigkeit als gegenseitige Freundschaft zwischen den drei Personen. Er nennt diese Beziehung eine absolute Freundschaft.

Da Sie vermutlich Ihre Kopie der gesammelten Werke des Richard von St. Viktor einem Freund ausgeliehen haben, fasse ich seine Gedanken kurz zusammen.

Er beginnt mit dem Wort: Gott ist gut. Aber um gut zu sein, muss Gott nur eins sein.

Dann sagt er, dass Gott auch liebend ist, aber um zu lieben, muss Gott zwei sein, denn jede Liebe ist eine Beziehung des Gebens und des Empfangens.

Dann kommt Richard von St. Victor zu dem Teil, der mich immer wieder begeistert, denn er sagt, dass Gott auch von genüsslicher Freude erfüllt ist und glücklich, Gedanken, die der biblischen Erzählung nicht fremd sind, aber die kaum vorkommen, wenn wir die Geschichten Gottes erzählen. Aber um von genüsslicher Freude erfüllt und  glücklich zu sein, muss Gott drei sein. Er sagt, genüssliche Freude kommt erst zustande, wenn zwei zusammen die gleiche Sache zur gleichen Zeit genießen und sich darüber freuen. Als  Beispiel nennt er neue Eltern, die ihr neues Kind lieben und nicht aufhören können, zusammen das Kind zu bewundern. Diese Liebe hat sich entfaltet. Ursprünglich floss diese Liebe hin und her zwischen Mann und Frau. Jetzt aber fließt sie in einem unendlichen Kreis, zwischen Mutter, Vater und Kind. Jeder der drei hat seinen Anteil an der Erzeugung und dem Vorantreiben der Sehnsucht und der Liebe. Und das nennt Richard von St. Viktor die wahre, absolute Freundschaft.

Das gefällt mir sehr. Die Theologie dieses außergewöhnlichen Mannes stellt die Freundschaft mitten ins Herz Gottes.

Diese Freundschaft, die in der Lage ist, über sich selbst hinaus zu lieben, ist der Höhepunkt eines menschlichen Lebens. Sie muss ihre Quelle in Gott haben, denn Gott ist der Urheber alles Guten und aller Liebe. Authentische Liebe geht vom Selbst zum anderen hin und bleibt nicht bei zwei, denn sie werden diese Liebe teilen wollen mit einem anderen. Um die Fülle der Liebe zu erfahren, spüren und genießen, suchen wir einen, der unsere Liebe zu dem Geliebten, zu dem, was wir so lieben, teilt. Richard sieht die Freundschaft in der Dreifaltigkeit als ein ekstatisches Hinausbrechen über die zwei hinaus, um einen dritten einzubeziehen. Der Dritte wird in keiner Weise weniger geliebt als die anderen beiden, denn die Liebe fließt gleichermaßen in allen Richtungen. Fragen Sie nur das geliebte Kind zweier liebevoller Eltern.

In diese Freundschaft werden wir hineingetauft, ja, hineingesenkt. Die Menschen, die wir am tiefsten lieben, mit großer Hingabe und aus voller Freiheit, werden niemals einfach die Menschen sein, die uns lieben. Die Menschen der tiefsten echten Freundschaft sind die, die auch lieben, was wir lieben. Wie kann ein Elternteil zum anderen sagen: »Ich liebe dich, aber nicht unser Kind«, ohne die Liebe, die sie schon haben, zu mindern oder sogar zu zerstören? Wie sage ich zu einem Freund, ich liebe dich, aber nicht was du mit Herzblut liebst?

Im Optimalfall verlieben sich beide Eltern in die Herausforderung und Freude, die ihr neugeborenes Kind ist. Das Kind, in das sie verliebt sind, hält das Paar in einer Art ekstatischer und dienstbereiter Erregung zusammen. Liebe ist dann kein Kraftakt; sie fließt in jedem neuen Moment zwischen dem Einen, der zustimmt, den Fluss in Gang zu setzen, dem Zweiten, der den Fluss empfängt und erwidert, und dem Dritten, der der Nutznießer und der Fluss selbst wird. Und sie wechseln ständig die Plätze!

Denken Sie ein paar Stunden darüber nach. Sie werden nirgendwo anders leben wollen.

 

Erik Riechers SAC, 30. Mai 2021

 

 

Die Wahl, die uns zu neuen Geschichten führt

 

In meiner Reflexion »Die Geschichten, die uns zu neuen Entscheidungen führen«, sprach ich von meiner Liebe zu Dr. Eva Edith Egers Buch »Ich bin hier, und alles ist jetzt«. Darin habe ich wunderbare Beispiele für die Macht von Geschichten gefunden, die unser Leben beeinflussen, uns aus alten inneren Gefängnissen ausbrechen lassen und uns zu Entscheidungen führen, die wir sonst nicht wagen würden, und zu Freundschaften, die wir sonst nicht schließen würden.

Heute wende ich mich einer weiteren mächtigen Wirkung zu, die eine gute Geschichte haben kann. Es ist die Langzeitwirkung der Geschichte, die Jahre, ja Jahrzehnte dauern kann, um ihre volle Kraft zu entfalten. 

Die Zeile aus Viktor Frankls Buch, die Eva Edith Eger für das Herzstück seiner Lehre hält, ist diese: dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen

Viele Jahre später erhält Dr. Eger eine Einladung zu einem Besuch und einer Lehrtätigkeit in Deutschland. Sie soll vor 600 Seelsorgern der US-Armee über ihr Fachgebiet, die Posttraumatische Belastungsstörung, sprechen. Tatsächlich wird sie in Berchtesgaden sein, in einem alten Alpenhotel, das einst von SS-Offizieren genutzt wurde. Sie ist sehr zwiegespalten. Dann besucht sie zum ersten Mal seit ihrer Befreiung Auschwitz.

Hier blüht die Geschichte, die mit einem Buch begann, das ihr ein Student in die Hand drückte, zu voller Größe auf. Sie wird von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt, von der unbeantwortbaren Frage: Warum habe ich überlebt und nicht die anderen. Dann trifft sie ihre Wahl:

Hätte ich meine Mutter retten können? Vielleicht. Und mit dieser Möglichkeit werde ich mein ganzes restliches Leben verbringen. Und ich kann mich kasteien, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe. Das ist mein Privileg. Oder ich kann akzeptieren, dass die wichtigere Entscheidung nicht diejenige ist, die ich getroffen habe, als ich hungrig und verängstigt war, als wir von Hunden, Pistolen und Ungewissheit umgeben waren, als ich sechzehn war – es ist die Entscheidung die ich jetzt treffe. Die Entscheidung, mich so zu akzeptieren, wie ich bin: menschlich, unvollkommen. Und die Entscheidung, für mein eigenes Glück verantwortlich zu sein. Mir meine Unvollkommenheiten zu vergeben und meine Unschuld wieder einzufordern. Nicht mehr zu fragen, warum ausgerechnet ich überlebt  habe. Zu funktionieren, so gut ich kann, mich dafür einzusetzen, anderen von Nutzen zu sein, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um meine Eltern zu ehren, mich darum zu kümmern, dass sie nicht vergebens gestorben sind. Mit meinen beschränkten Möglichkeiten mein Bestes zu geben, damit zukünftige Generationen nicht das erleben müssen, was ich erlebt habe. Nützlich zu sein, gebraucht zu werden, weiterzuleben und erfolgreich zu sein, damit ich jeden Augenblick nutzen kann, um eine bessere Welt zu schaffen. Und am Ende, am Ende nicht mehr vor der Vergangenheit davonzulaufen. Nach Möglichkeit alles zu tun, um mich mit meiner Vergangenheit zu versöhnen und sie dann zu erlösen. Ich kann die Entscheidung treffen, die wir alle treffen können. Ich werde die Vergangenheit niemals ändern können. Aber es gibt ein Leben, das ich retten kann: Es ist mein Leben. Das Leben, das ich gerade jetzt lebe, diesen kostbaren Augenblick. *

Ich denke, das ist die schwerste Entscheidung von allen, uns selbst zu vergeben für das, was wir nicht in der Lage waren zu sein oder zu tun, und das Leben zu wählen. Die Worte von Dr. Eger sind einer der reinsten und rohesten Ausdrücke der Worte des Deuteronomiums: Ich stelle vor dich Segen und Fluch, Leben und Tod. Wähle das Leben, damit du leben kannst.

Wir haben nicht den Luxus, immer den Zeitpunkt und den Ort zu wählen, an dem wir das Leben wählen müssen. Den meisten von uns bleibt die Erfahrung von Auschwitz erspart, aber viele Männer und Frauen sind durch andere Grausamkeiten und Nöte und Schläge traumatisiert.

Und zu dem riesigen Todeslager, das meine Eltern und so unendlich viele andere verschlang, zu der Schule des Horrors, die mir dennoch eine sakrale Lektion darüber erteilte, wie ich mein Leben meistern kann – darüber, dass ich zu einem Opfer gemacht wurde, aber kein Opfer bin. Dass ich verletzt wurde, aber nicht zerbrochen bin. Dass die Seele niemals stirbt, dass Sinn und Ziel tief aus dem Herzen dessen kommen können, was uns am meisten schmerzt – sage ich meine letzten Worte. Adieu, sage ich. Und Danke. Danke für mein Leben und für die Fähigkeit, am Ende das Leben zu akzeptieren, das ist.*

Viktor Frankl gab seine Geschichte an die Welt weiter, ein Mann gab Frankls Geschichte an eine verängstigte Frau weiter, die von den gleichen Ereignissen traumatisiert war, und sie erzählte ihre Geschichte weiter an viele andere. Und ich gebe ihre Geschichte an Sie weiter. Sie wird nie zu Ende sein. Nach harten 15 Monaten mit pandemischen Einschränkungen, Verlusten und Ungewissheiten wird uns diese Geschichte vielleicht zu neuen Entscheidungen führen, vielleicht sogar dazu, uns selbst zu verzeihen, dass wir nicht alles waren und taten, was wir dachten, dass wir es hätten tun sollen, und zu diesen Tagen zurückzukehren und zu sagen: »Adieu, sage ich. Und Danke. Danke für mein Leben und für die Fähigkeit, am Ende das Leben zu akzeptieren, das ist.«

* Dr. Edith Eva Eger, Ich bin hier, und alles ist jetzt. S.399-401

 

Erik Riechers SAC, 28. Mai 2021

 

 

Die Geschichten, die uns zu neuen Entscheidungen führen

 

Im letzten Jahr habe ich viele, viele Bücher gelesen. Wenn mich jemand fragen würde, zu welchem Buch ich am häufigsten zurückgekehrt bin, würde ich zweifelsohne »Ich bin hier, und alles ist jetzt« von Edith Eva Eger sagen. Das Buch ist ein faszinierender Bericht über ihr Leben, von ihrer Kindheit in Budapest über ihr Überleben in Auschwitz, ihre Emigration in die USA bis hin zu ihrer eigenen Entwicklung zur Therapeutin, die sich auf die Behandlung von Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) spezialisiert hat.

Aber es ist die Botschaft im Herzen des Buches, die mich immer wieder zu ihm zurückbringt. Und diese Botschaft ist, dass wir eine Wahl haben und durch diese Wahl können wir unser Leben und die Welt um uns herum formen und sogar gestalten.

Dr. Eger beschreibt, wie sie gleich zu Beginn ihres Studiums von einem Kommilitonen ein Exemplar von Viktor Frankls »Die Suche des Menschen nach dem Sinn« geschenkt bekommt. Allein das hat mich verzaubert, denn es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Geschichten in unser Leben treten und ihm eine neue Richtung geben.

In diesem Fall findet Frau Dr. Eger eine Stimme, die eine Geschichte erzählt, die sie kennt, der sie sich aber in ihrem eigenen Leben nicht stellen, geschweige denn erzählen konnte.

[Frankl] spricht mit mir. Er spricht für mich. . . . Ich starre auf all das, was ich zu verbergen gesucht habe. Und während ich lese, stelle ich fest, dass ich nicht das Gefühl habe, handlungsunfähig zu sein, in der Falle zu sitzen oder abermals dort eingesperrt zu sein. Zu meiner Überraschung habe ich keine Angst. Für jede Seite, die ich lese, will ich zehn schreiben. Was, wenn der Druck auf die Vergangenheit sich dadurch, dass ich die Geschichte erzähle, löst statt erhöht? Was wenn die Vergangenheit dadurch, dass ich über sie spreche, bewältigt statt in Stein gemeißelt wird? Was wenn Schweigen und Verleugnen nicht die einzigen Entscheidungsmöglichkeiten sind, die mir nach katastrophalen Verlusten offenstehen. *

Das ist die Kraft einer guten Geschichte: uns Worte und Bilder für Erfahrungen zu geben, die wir tief erlebt haben, aber nicht formulieren können. Die Geschichten sind die Begleiter, die uns den Mut geben, die verschütteten Geschichten des Schmerzes anzuschauen und zu erzählen. Die Geschichten können uns von alten Dämonen befreien, indem sie uns ungesehene Horizonte, unbetretene Wege und unerprobte Möglichkeiten zeigen. Und sie lehren uns, dass wir nicht allein sind, auch nicht mit den Albträumen, die wir erlitten haben.

Dr. Eger macht dann eine lebensverändernde Entdeckung:

In jenen Stunden vor Tagesanbruch im Herbst 1966 lese ich das, was den Kern von Frankls Lehre ausmacht, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Jeder Augenblick ist eine Entscheidung. Unabhängig davon, wie frustrierend, langweilig, einschränkend oder qualvoll unsere Erfahrungen sind, können wir immer entscheiden, wie wir darauf reagieren. Und ich beginne schließlich zu erkennen, dass auch ich eine Wahl habe. Diese Erkenntnis wird mein Leben verändern. **

Später wird sie einen ersten Versuch unternehmen, ihre eigene Geschichte in einem Essay mit dem Titel »Viktor Frankl und ich« zu erzählen. Sie ist überwältigt, als sie einen Brief Viktor Frankls erhält, der mit dem Gruß »Von einem Überlebenden zum anderen« beginnt. Die beiden werden Freunde. Außerdem wird er die Rolle eines Mentors übernehmen und ihren Weg zu einer gefragten Therapeutin begleiten.

All das kommt zustande, weil ihr jemand eine Geschichte zum Lesen gegeben hat. Geschichten eröffnen nicht nur neue Horizonte und Möglichkeiten, die bisher ungesehen und unbemerkt waren, sie führen uns auch zu Weggefährten und leiten uns zu Freundschaften, die wir sonst vielleicht nie kennengelernt hätten.

* Dr. Edith Eva Eger, Ich bin hier, und alles ist jetzt. S. 271-272

** ebd. S. 273

 

Erik Riechers SAC, 26. Mai 2021

 

 

Sei etwas Schönes für Gott

 

Pfingsten 2021                    Sirach 39, 12-16

 

Hört mich an, ihr frommen Söhne und Töchter,

und gedeiht wie eine Rose, die am Flusslauf wächst!

 

Verströmt Wohlgeruch wie Weihrauch!

Treibt Blüten wie eine Lilie!

 

Verbreitet Wohlgeruch und stimmt ein Loblied an

und preist den Herrn für all die Werke!

 

Macht seinen Namen groß, preist ihn im Lobgesang!

Mit Liedern auf den Lippen und mit Saitenspiel,

so werdet ihr preisend sprechen:

Alle Werke des Herrn sind überaus gut und jeder Befehl geschieht zur rechten Zeit.

 

Pfingsten ist das Fest der Sendung, der Moment, in dem der Geist uns berührt, uns in Brand setzt und uns aus der Enge der Räume befreit, in die wir uns zurückgezogen haben, damit wir uns in die weiteren Räume bewegen können, die Gott uns berühren lassen möchte. 

Aber es gibt immer eine begleitende Frage zu unserer Bewegung vom Coenaculum in die Stadt. Wie leben wir das aus? Ich bezweifle nicht, dass wir unseren geisterfüllten Glauben in die Welt bringen, aber ich habe oft und zunehmend den Eindruck, dass wir das in einer stark abgespeckten Form tun. Deshalb habe ich diese Worte von Jesus Sirach gewählt, denn so hinreißend sie sind, sie stellen uns auch eine dringende Frage.

In der Tat preisen wir den Herrn »für all die Werke«, aber verbreiten wir Wohlgeruch aus?

Sicherlich machen wir »seinen Namen groß«, aber wir sind nicht übermäßig darauf bedacht, dabei so wohlriechend wie Weihrauch zu sein.

Christliche Verkündigung, synodale Prozesse, theologische Debatten über die drängenden Fragen unserer Zeit, kirchliche Dokumente und kirchliche Reformen sind zu einem grimmigen Geschäft geworden. Der letztendliche Eindruck, den das alles hinterlässt, wird von einem Kommentator gut eingefangen, der bemerkt hat: Sie sind ein ziemlich freudloser Haufen.

Ich weiß natürlich, dass es eine ernste Angelegenheit ist, ein vom Glauben durchdrungenes Leben zu führen. Aber im Laufe des Hinausgehens in die ganze Welt haben wir den Kontakt zu einem tief empfundenen Wunsch Gottes verloren, an den uns Jesus Sirach erinnert. Wir selbst sollen aufblühen und wachsen, während wir die Leute versammeln, die Geschichten erzählen und das Brot brechen.

Kürzlich habe ich an einer Vesper teilgenommen. Gute und fromme Frauen zeigten grimmige Entschlossenheit, das Geschäft des Lobes Gottes zu erledigen, und zwar richtig gründlich. Seite nach Seite des Lobpreises wurde rezitiert, wobei in lebendigen, akribischen Details all die Gründe dargelegt wurden, die wir Menschen haben, um der Welt zu verkünden, dass dies unser Gott ist.

Aber ich muss hinzufügen, es war kaum attraktiv, inspirierend oder ansprechend. Es hatte etwas Hartes und Kaltes an sich. An einem Punkt sagte ich einfach zu mir selbst: Wo sind wir in all dem? Reicht es wirklich aus zu sagen, dass wir dafür gesorgt haben, dass Gott seine tägliche Dosis Lob erhält, ohne zu fragen, was Gott sich für uns wünscht. Wenn es um die Werke des Herrn geht, beschreibt der Psalmist die Pfingstmission so: »Das wollen wir auch unseren Kindern nicht vorenthalten. Denen, die nach uns kommen, wollen wir von den großartigen Taten des Herrn erzählen, von seiner Macht und den Wundern, die er vollbracht hat.« (Psalm 78,4) . Deshalb frage ich mich, ist das die Art und Weise, wie wir der nächsten Generation die Geschichten von Gott erzählen wollen? Ist das die Art und Weise, in der uns die Erfahrung von Pfingsten in die Welt schicken möchte?

Oder ist es nicht so, dass das größte und zutiefst überzeugende Argument für Gottes Gegenwart immer die Wirkung war, die seine Geschichte auf unser Leben hat? 

Wenn wir nicht gedeihen »wie eine Rose, die am Flusslauf wächst«, während wir die Geschichten von Gott erzählen, sondern stattdessen am Weinstock verdorren und ein graues, farbloses und tristes Leben führen, was erwarten wir dann von den anderen als Reaktion auf unsere Einladung? Was ist das Motto eines solchen Erzählens? Elend sucht Gesellschaft?

Wenn wir in unseren Erzählungen des Glaubens nicht »Wohlgeruch wie Weihrauch« verströmen, sondern rauchende Wut, Anschuldigungen und Schuldzuweisungen, die fast den gesamten öffentlichen Diskurs prägen, hinzufügen, wo liegt die attraktive Qualität darin? In einer Welt, die mit den Nebenprodukten von Wut und bitterer Schmähung überschwemmt ist, gibt es kaum einen Grund, noch mehr davon auf den Markt zu bringen.

Wenn die Geschichten, die wir als Gefährten Gott erzählen, uns nicht dazu bringen, Blüten zu treiben wie eine Lilie, sondern zur Hässlichkeit und Gemeinheit des öffentlichen Diskurses beitragen, dann gießen wir nur Öl in ein bereits hell brennendes Feuer. Aber wir entzünden sicherlich keine neue Flamme.

Wenn unsere Geschichten uns nicht dazu bringen, Wohlgeruch zu verbreiten, sondern das bisschen Geheimnis, das wir begriffen haben, an uns klammern, es in unser Herz der privaten Frömmigkeit sperren und eifersüchtig für unsere persönliche Erbauung bewachen, dann verhalten wir uns wie Bettler, während wir verkünden, dass wir aus einem guten, weiten Land des Überflusses kommen. Parfüm, das nie die Flasche verlässt, kann seine Bestimmung nicht erfüllen.

In der Erfahrung von Pfingsten will Gott ganz sicher, dass wir dem Leben der Welt dienen, aber er will auch ganz sicher, dass wir selbst leben und gedeihen, während wir das tun. Wir sprechen vom Geist als dem Herrn und Geber des Lebens, aber wir, die wir die vom Geist gewebten Geschichten erzählen, haben genauso das Recht, Empfänger des Lebens zu sein. Wir sollen es genießen, nicht nur verkünden.

»Wir sollen nicht nur die Welt schöner machen, sondern diese Schönheit selbst genießen und in sie eintreten: Wir wollen nicht nur Schönheit sehen ... wir wollen etwas anderes, das sich kaum in Worte fassen lässt - mit der Schönheit, die wir sehen, vereint sein, in sie übergehen, sie in uns aufnehmen, in ihr baden, Teil von ihr werden.«  C.S. Lewis

 

Wir sollen wachsen, in Schönheit wie auch in Kraft.

Unser Leben soll sich entfalten, sowohl in Attraktivität als auch in Fleiß.

Wir sollen erblühen, nicht nur produzieren.

Ich habe nie einen Mann gekannt, der Schönheit so ernst genommen hat wie John O'Donohue. Er bezeichnete sie als eine menschliche Berufung. 

»Bei der Schönheit geht es um ein abgerundetes, substantielles Werden. Und ich denke, wenn wir eine neue Schwelle überschreiten, wenn wir sie würdig überschreiten, dann heilen wir die Muster der Wiederholung, die in uns waren, die uns irgendwo gefangen hatten. Und bei unserem Überschreiten betreten wir dann neuen Boden, auf dem wir einfach nicht wiederholen, was wir an dem letzten Ort, an dem wir waren, durchgemacht haben. Ich denke also, dass es bei Schönheit in diesem Sinne um eine entstehende Fülle geht, einen größeren Sinn für Anmut und Eleganz, einen tieferen Sinn für Tiefe und auch eine Art Heimkehr für die bereicherte Erinnerung an Dein sich entfaltendes Leben.«

Derselbe John O'Donohue gestand einst poetisch einen geheimen Wunsch seines Herzens. »Ich möchte gerne leben, wie ein Fluss fließt, getragen von der Überraschung seiner eigenen Entfaltung.« Jesus Sirach beschreibt, wie das aussehen würde.

 

Hört mich an, ihr frommen Söhne und Töchter,

und gedeiht wie eine Rose, die am Flusslauf wächst!

Verströmt Wohlgeruch wie Weihrauch!

Treibt Blüten wie eine Lilie!

Verbreitet Wohlgeruch und stimmt ein Loblied an

und preist den Herrn für all die Werke!

 

Wenn diese Worte unsere Art und Weise beschreiben, wie wir in der Welt sind und wie wir in dieser Welt Menschen ein Willkommen bereiten, wird die Qualität unseres Zeugnisses außerordentlich attraktiv sein.

 

Erik Riechers SAC, Pfingsten, 23. Mai 2021

 

 

Es gibt noch Erzähler: »Theater am Faden«

 

Wo sind die Geschichtenerzähler für unsere Jugendlichen, Kinder und Enkel?

Welche Geschichten werden ihnen angeboten? Wovon können sie sich nähren?

Diese Fragen beschäftigen mich seit langem und nicht bloß akademisch. Wer in Kitas und Schulen oder im privaten Umfeld mit Kindern zu tun hat, erlebt häufig Kinder, die wenig Phantasie zeigen und nur noch unterhalten werden wollen. Sie sind auch schnell abgelenkt, vermögen nicht, in eine Sache zu versinken. Ausdauer und Begeisterungsfähigkeit fehlen ihnen. Das ist alles nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, wie der Alltag vieler Kinder aussieht. Sie verbringen den größten Teil des Tages fremdbestimmt, werden überallhin gefahren, sind wenig unterwegs in der Natur. Zweckfreie Zeiten mit Muße und Räumen, die die Phantasie beflügeln, gibt’s selten und oft fehlen an ihrer Seite Erwachsene, die auf sie eingehen, die erzählen und vorlesen oder kleine Abenteuer mit ihnen suchen. Dazu dienen eher der Fernseher oder das Tablet: die Bilder werden vorgegeben, die Geschichten sind nie angepasst an die jeweilige Situation der Kinder und sie sind passive Konsumenten. Vieles wäre dazu noch zu sagen. 

Mir tut es weh, dies zu beobachten und es macht mir Sorge. Ich frage mich: Wo begegnen Kinder heute noch echten Erzählern und lebendigen Geschichten?

Anfang Mai spazierte ich mit meinem jüngsten Enkel und seinen Eltern durch Stuttgarts Süden, als plötzlich mein Blick von einem Hof angezogen wurde. Es war, als ob mitten in der gut situierten Welt dieses Stadtteils ein Fenster aufging in eine verzauberte andere Welt. Mir fiel ein, dass ich im Winter schon einmal in diesen alten, etwas chaotischen Hof geschaut hatte; da war er unbelebt und leer gewesen. Doch jetzt blickten mich viele Gesichter an, Farben sprühten, märchenhafte und exotische Figuren schienen lebendig zu werden. Sie warteten nur darauf, in Bewegung zu geraten und zu uns zu sprechen.

Es waren große Marionetten und sie gehörten zum »Theater am Faden«; die Puppen hatten die Treppe bevölkert und lockten uns in den Hof hinein. Meine Tochter sah sich um und bemerkte: »Ich spüre genau, wie ich hier als Kind abgetaucht wäre.«

Mir ging das Herz auf: Es gibt sie noch, die Erzähler, die Zauberer neuer Welten. Sie haben die Pandemie überlebt und bieten sich wieder an für den Sommer. Hier saßen schon Kinder und hier werden sie wieder sitzen und sich in verzauberte Welten mitnehmen lassen.

Lassen wir uns also den Mut nicht nehmen! Und lassen wir uns immer wieder inspirieren!

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Mai 2021

Nächster Abschnitt

Die Wahl zwischen dem, was richtig ist und dem, was leicht ist

 

In J.K. Rowlings Buch »Harry Potter und den Feuerkelch« spricht Albus Dumbledore, der weise und geniale Schulleiter der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei, eine Warnung an seinen jungen Schützling:

»Vor uns liegen dunkle, schwere Zeiten. Schon bald müssen wir uns entscheiden zwischen dem richtigen Weg und dem leichten.«

Dies ist eine bewundernswerte Unterscheidung, weil sie eine überraschende Wendung bietet. Normalerweise stellen wir die klassische Wahl als zwischen richtig und falsch dar. Doch die viel realistischere und daher schwierigere Wahl, vor der wir stehen, ist die zwischen dem, was leicht ist, und dem, was richtig ist.

Wir alle treffen zwar falsche Entscheidungen, aber wir treffen sie selten aus dem Wunsch heraus, das zu tun, was unangemessen oder moralisch falsch ist. Wir wählen den falschen Weg, weil es der leichtere Weg ist, der Weg des geringsten Widerstandes.

In der unnachahmlichen Sprache der biblischen Geschichten wird diese Wahl sehr fein beschrieben. Wir sind aufgerufen, zwischen der Fülle des Lebens oder einem leichten Leben zu wählen. Fülle ist nicht Leichtigkeit. Doch unsere Sprache verrät uns oft. Ich kann nicht zählen, wie oft Menschen zur geistlichen Begleitung gekommen sind, weil sie eine größere Fülle in einem Leben suchen, das unerträglich geworden ist. Doch in dem Moment, in dem ich ihnen mögliche Wege zu dieser Fülle zeige, schießen die Worte aus ihnen heraus: »Das ist doch nicht so leicht!« Sie haben Recht, aber Leichtigkeit ist nicht das Thema. Wir alle haben eine Wahl zu treffen. Wollen wir das Leben und das Leben in Fülle? Oder wollen wir ein leichtes Leben? Beides werden wir mit Sicherheit nicht haben.

Wenn diese Pandemie zu Ende geht, werden wir einige Entscheidungen zu treffen haben. »Vor uns liegen dunkle, schwere Zeiten. Schon bald müssen wir uns entscheiden zwischen dem richtigen Weg und dem leichten.« Es wäre in der Tat sehr töricht zu glauben, dass die Tage nach Covid-19 voller Sonnenschein und Schmetterlinge sein werden. Gier, Konsumdenken und radikaler Individualismus hämmern bereits auf das Gemeinwohl und die menschliche Brüderlichkeit ein. Das ist der leichte Weg, aber kaum der richtige. Stattdessen könnten wir fragen: Werden wir versuchen, mehr miteinander verbunden zu sein? Werden wir von neuem sehen, wie sehr wir einander schon immer gebraucht haben? Werden wir etwas von dem Schaden reparieren, den wir anderen und uns selbst zugefügt haben?

Hört und beherzigt die poetischen Worte von John O'Donohue:

»Du schwebst in dieser Zwischenzeit, in der

alles zurückgenommen wirkt.

Der Pfad, den du hierherkamst, ist verschwunden;

Der Weg nach vorne verbirgt sich noch vor dir.

Das Alte ist noch nicht alt genug fürs Sterben;

Das Neue noch zu jung für die Geburt.«

Im Herrn der Ringe erzählt Frodo einem anderen Zauberer, dass er sich wünscht, er wäre von den Geschehnissen seiner Zeit verschont geblieben. Gandalf antwortet mit einer Weisheit aus tiefstem Herzen: »Das tun alle, die solche Zeiten erleben, aber es liegt nicht in ihrer Macht das zu entscheiden. Wir können nur entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen wollen, die uns gegeben ist.«

In großen Geschichten sind Zauberer oft die Träger einer großen Weisheit über Entscheidungen, die das Leben verändern. Ich vermute, dass diese Weisheit in der großen Geschichte Gottes zu finden ist, in der wir alle eine Rolle spielen.

 

Erik Riechers SAC, 19. Mai 2021

 

 

Wovon leiten lassen?

 

Es ist nicht so, dass wir, wie wir gern behaupten, ja nicht anders könnten als so oder so zu handeln, als sei das, was wir tun, alternativlos. Nein, wir haben eine Fülle von Möglichkeiten des Denkens, des Entscheidens und Handelns. Diese Vielfalt gilt es anzuschauen, auszuhalten, abzuwägen und dann auszuwählen. Ja, das ist manchmal ganz schön anstrengend; es ist kein Laissez-faire-Lebensstil, in dem ich nach Lust und Laune mal hierhin und mal dorthin schnuppere.

Die Vielfalt zwingt mich und uns alle zu Entscheidungen, die Konsequenzen haben.

Wie aber gelangen wir zur guten Wahl, zu tragenden Lebensentscheidungen?  Vor über einem Jahr, angesichts der sich ausbreitenden Pandemie, hat sich der amerikanische Philosoph und Autor Charles Eisenstein in vielen Essays mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Die Thematik wird für ihn durch die - noch immer andauernde - Krise besonders deutlich, aber die Frage, was uns leitet, gilt immer. Denn:   

»Eine Million Wege gabeln sich vor uns auf. . . .

Was kann uns als einzelne und als Gesellschaft leiten, die wir durch diesen Garten sich verzweigender Wege gehen?

An jeder Wegkreuzung können wir uns bewusst machen, wovon wir uns leiten lassen:

Angst oder Liebe? Selbstschutz oder Großherzigkeit?

Sollen wir in Angst leben und eine darauf basierende Gesellschaft einrichten?

Sollen wir leben, um unsere abgetrennten Egos zu wahren? . . .

Ein nächster Schritt in Richtung Liebe liegt vor uns.

Er fühlt sich wagemutig an, aber nicht leichtsinnig.

Er umspannt die Wertschätzung des Lebens und zugleich die Anerkennung des Todes.

Er kommt aus dem Vertrauen darauf, dass mit jedem neuen Schritt

der nächste sichtbar wird.«

 

Schauen wir auf den Lebensweg und die Lebensweise Jesu und nehmen wir einmal dankbar wahr, welch einen Meister wir haben!

 

Rosemarie Monnerjahn, 17. Mai 2021

 

 

Wie sollte es weiter gehen?

 

7. Sonntag der Osterzeit 2021                    Apg 1,15–17.20ac–26 

 

Wenn eine große Ära oder eine besonders intensive Zeit zu Ende geht, stellen wir uns automatisch eine Frage: Wie sollte es danach weiter gehen?

Vor dieser Frage stehen auch die Jünger nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Ausgestattet mit dem Auftrag des Herrn, seine Zeugen zu sein, müssen sie nun das Leben des Glaubens gestalten und die Gemeinschaft der Gläubigen führen und begleiten. Dazu gehört auch, dass sie einen Nachfolger für einen Kollegen suchen müssen, der nacheinander erst durch Habgier, dann durch Verrat und schließlich durch Hoffnungslosigkeit verloren ging: Judas Iskariot.

Das Kriterium für den Nachfolger ist klar:

Es ist also nötig, dass einer von den Männern,

die mit uns die ganze Zeit zusammen waren,

als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging,

angefangen von der Taufe durch Johannes

bis zu dem Tag,

an dem er von uns ging

und in den Himmel aufgenommen wurde –

einer von diesen muss nun zusammen mit uns

Zeuge seiner Auferstehung sein.

Aber auch wenn Petrus und die Apostel in diesen beiden Kriterien der steten Anwesenheit bei Jesus und ein Augenzeuge der Auferstehung zu sein ihre Fragen an die vorgeschlagenen Nachfolger »Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen Justus, und Matthias« stellen, sie müssen sich selbst auch eine Frage stellen: Kann ich ein Nachfolger anstatt ein Pionier sein?

Matthias ist ein Mann, den ich sehr bewundere. In seiner Bereitschaft, sich zur Wahl zu stellen und diese anzunehmen, sehe ich in ihm einen Mut, der vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Denn durch seine Wahl wird er der einzige Nachfolger in einer Truppe von Pionieren.

Gleichzeitig gibt es einige Vorteile, ein Pionier zu sein, die wir normalerweise nicht berücksichtigen. Pioniere haben keine Vorgänger. Und weil sie keine Vorgänger haben, gibt es niemanden, der ihnen sagt: »Ich habe das schon immer so gemacht.« Weil sie die Ersten sind, werden sie auch nicht ständig mit denen verglichen, die die Aufgabe vor ihnen erledigt haben. Sie sind frei, ihre ganze Kreativität einzusetzen, frei von allen Vorerfahrungen, die so nonchalant als normativ für alle, die folgen, gelten.

Matthias gerät durch seine Wahl in eine schwierige Situation. Die Elf waren alle Pioniere. Vor ihnen gab es keine Apostel. Sie waren die ersten, die diese Rolle ausfüllten, und es gab keine Stellenbeschreibung. 

Matthias muss in der Tat als einziger Nachfolger in eine Gruppe eintreten, die alle keine Vorgänger hatten. Deshalb ist er der einzige der Apostel, der mit seinen Vorgängern verglichen werden kann, und wie wir alle nur zu gut wissen, sind alle Vergleiche teuflisch. Auf ihn können vorgefasste Erwartungen projiziert werden, eine Erfahrung, die keiner seiner Kollegen machen musste.

So wird er auch einen besonderen Druck erfahren, den alle Menschen ertragen, die eine Position übernehmen, die ein anderer vor ihnen innehatte. Er wird im Schatten seiner Vorgänger stehen. Und dieser Schatten kann in der Tat ein sehr dunkler Ort sein. Dort werden uns Botschaften ins Ohr geträufelt, Botschaften, die das Selbstvertrauen des Herzens zerfressen wie Gift: Sei nicht dein eigener Mann, sei der Verwalter dessen, was vor dir gewesen ist. »Wie es war vor aller Zeit, so muss es bleiben in Ewigkeit.« ist ein Satz, den Pioniere nicht hören, aber alle, die nach ihnen kommen, können sich ihm nicht entziehen.

Wir waren vermutlich alle mal in Matthias‘ Situation. Wir waren die Neulinge, in der Schule, in der Firma oder in einer Arbeitsgruppe. Alle anderen kennen sich aus, deshalb führen sie uns ein und sagen uns, wo es lang geht, was zu tun ist und wie die Dinge hier ablaufen. Es kann recht lange dauern, bis wir uns zurecht finden.

Was sicherlich deutlich länger dauern wird, ist den Mut zu finden, uns selbst mit unseren Gedanken und Vorstellungen einzubringen. Denn es kostet einiges an Selbstvertrauen, um etwas anderes vorzuschlagen, geschweige zu wagen.

Hier erleben wir die große Herausforderung des Matthias. Muss ein Nachfolger nur ein Verwalter der alten Wege sein? Was für ein Nachfolger will ich sein?

Auch wenn wir ständig verglichen werden mit den Menschen, die schon vor uns Hand angelegt haben, müssen wir widerstehen, um das zu sein, was wir von Gott her sind. Wir werden Kraft und Mut brauchen, um frei von allen Vorerfahrungen unsere ganze Kreativität einzusetzen. Es ist nicht einfach, das Gute zu bewahren und trotzdem das Neue zu wagen.

Wir stehen heute vor einer ähnlichen Situation wie Matthias. Wenn die Pandemie vorbei ist, geht eine außergewöhnliche, intensive und vermutlich (hoffentlich) einmalige Ära unseres Lebens zu Ende. Jetzt schon stehen wir vor der Frage: Wie sollte es danach weiter gehen?

Bisher gibt es einen dominanten Kult der Wiederherstellung. Es sollte alles wieder so sein wie es war. Wirtschaftlich wollten wir alles wieder herstellen. Gesellschaftlich wollen wir alle Möglichkeiten des Konsums und der Unterhaltung wieder genießen dürfen. Das Leben nach der Krise sollte so ablaufen, wie es vor der Krise war.

Die Frage, die kaum gestellt wird, ist, ob wir nicht auch einiges ändern müssen. Hier wären auch Chancen, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen durchzuführen. Wenn wir nämlich nur alles wiederherstellen müssen und dann weiterführen, sind wir schon alle nur die Verwalter des Alten. Auch hier könnten wir, müssten wir, aus dem Schatten dessen, was wir mal waren, heraustreten. Wie wäre es mit neuen Wegen?

Papst Franziskus stellt diese Frage schon seit Beginn der Pandemie.

»Gott fordert uns auf, es zu wagen, etwas Neues zu erschaffen. Wir können nicht einfach zu den falschen Sicherheiten der politischen und ökonomischen Systeme von vor der Krise zurückkehren. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das allen Zugang zu den Früchten der Schöpfung verschafft, zu den grundlegenden Bedürfnissen des Lebens: zu Land, zu Arbeit und zu Wohnraum. Wir brauchen eine Politik, welche die Armen, Ausgeschlossenen und Schwachen integrieren und mit ihnen einen Dialog führen kann, einen Dialog, der den Menschen ein Mitspracherecht bei den ihr Leben bestimmenden Entscheidungen gibt. Wir müssen verlangsamen, Bilanz ziehen und bessere Weisen des Zusammenlebens auf dieser Welt entwerfen…

Wir brauchen eine Bewegung von Menschen, die wissen, dass wir einander  brauchen, die ein Verantwortungsgefühl[ für andere und für die Welt haben. Wir müssen verkünden, dass Freundlichkeit, Glaube und die Arbeit für das Gemeinwohl große Lebensziele sind, die Mut und Kraft brauchen…«                                          (»Wage zu träumen«, S.13-14)

Ist das nicht die Revolution der Zuversicht, von der Rosemarie so treffend und rührend schrieb am Tag vor Christi Himmelfahrt? Sie schreibt: »Zuversicht ist nicht Schönreden oder oberflächlich Überspielen im Sinne von ‚alles gut‘, wie es erschreckend oft daher gesagt wird. Zuversicht meint fest zu vertrauen auf das Gute, das ich erwarte. ‚Sehen‘ steckt darin: Ich habe schon eine Sicht auf das Gute, das im Werden ist, auch mit meiner Hilfe.« Nachfolger in diesem Sinne sollten wir alle sein.

Wenn wir die Rollen übernehmen, die andere vor uns hatten, ausfüllten und ausübten, dann kommen wir in die Zeit des Übergangs. Und dazu spricht John O’Donohue Worte, die uns auch segnen und stärken können.

Was hier verklärt wird, ist dein Gemüt,

und es ist schwierig, neu zu werden, und braucht lang;

je treuer du hier aushältst, desto mehr

wird dein Herz geläutert und verfeinert werden

für deine Ankunft im neuen Morgenrot.

(John O’Donohue , Benedictus, S. 14)

 

Erik Riechers SAC, 16. Mai 2021

 

 

Grenzen

 

Die Erfahrungen einschränkender Begrenzungen gehören zu unserem Leben, dauerhaft so wie zeitlich vorübergehend. Dabei erleben wir von außen gesetzte Grenzen so wie auch jeder von uns seine je eigenen inneren Grenzen hat. Seine Beobachtungen in den ersten Wochen der Pandemie regten Willi Bruners im März letzten Jahres zu einem Gedicht darüber an, wie wir mit diesen damals ganz neuen Begrenzungen umgingen. Nun sind 14 Monate seither vergangen, wir hatten Zeit zum Innehalten und Nachdenken und es gibt inzwischen gute Perspektiven. Doch als mir dieser Text jetzt in die Hände fiel, war ich erstaunt, ja sogar erschrocken, wie aktuell er ist.

Könnte es sein, dass unsere inneren Grenzen starrer sind als die, die uns von außen zeitweise aufgenötigt werden?

Lesen Sie selbst:

begrenzte zeiten

 

jetzt sitzen wir da und warten auf die nachricht

dass wir wieder leben dürfen wie vorher

ins auto steigen und losfahren

in den flieger steigen und losfliegen

schließlich ist die reise schon bezahlt

dass wir die aldi-hamster-käufe mit verfallsdatum

beim nächsten müll entsorgen können

dass die regale in den konsumtempeln

wieder frisch gefüllt sind mit actionspreisen

dass die kitas wieder offen und die schulen auch

der lärm im kinderzimmer war nicht länger auszuhalten

 

ach ja, fast schon vergessen die geflüchteten

an griechenlands grenzen mit vielen kindern

die ohne begleitung gekommen und mit großen augen

auf unsere trotz krise immer noch gefüllten teller schauen

dass mit corona-viren auch ihre probleme verschwinden

ist eine illusion die uns bald vom regen weggespült wird

und auf die nachricht vom ende aller schrecken

werden wir noch lange warten auch wenn corona

uns längst nicht mehr in die vier wände sperrt

und davon abhält einander ohne maske zu besuchen

 

Rosemarie Monnerjahn, 14. Mai 2021

 

 

»Revolution der Zuversicht«

 

Zwei riesige Problemfelder unserer Erde und unserer Zeit ringen um die Vormachtstellung im öffentlichen Bewusstsein: die COVID 19-Pandemie und die Klimakatastrophe.

Wir gehen wir mit ihnen um, was lernen wir?

Sicherlich dies: vieles liegt in unseren Händen, auch wenn wir nicht die Erlöser und Retter der Welt sein können. Darin liegt eine große Spannung, die es auszubalancieren und auszuhalten gilt.

Das Coronavirus ist in der Welt, aber wir kennen klare Regeln, die uns schützen, wenn wir sie befolgen und wir haben inzwischen mehrere (!) Impfstoffe dagegen.

Der Klimawandel ist seit langem sichtbar, aber viele Zusammenhänge haben wir bereits erkannt und Lösungen teilweise umgesetzt, um den Wandel positiv zu beeinflussen.

Wir schwanken in unseren Reaktionen jedoch oft zwischen Machtlosigkeit und Resignation angesichts der großen Bedrohungen einerseits und auf der anderen Seite den Phantasien, dass wir alle Probleme lösen können und müssen.

Da taucht im neuen Buch von Frank Schätzing (»Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise«) der Gedanke auf von einer »Revolution der Zuversicht«. Allein das Wort Zuversicht scheint in der medialen Welt im wahren Sinn kaum vorzukommen – und dann in diesem Zusammenhang! Ja, mir scheint der Autor richtig zu liegen: es bedarf einer Revolution, eines tiefgreifenden Wandels. Zuversicht ist nicht Schönreden oder oberflächlich Überspielen im Sinne von »alles gut«, wie es erschreckend oft daher gesagt wird. Zuversicht meint fest zu vertrauen auf das Gute, das ich erwarte. »Sehen« steckt darin: Ich habe schon eine Sicht auf das Gute, das im Werden ist, auch mit meiner Hilfe.

Dass wir so schnell mehrere Impfstoffe zur Verfügung haben, hat alle bestätigt, die zuversichtlich an unsere Möglichkeiten geglaubt bzw. daran als Fachleute gearbeitet haben.

Im Blick auf unser Klima, dem sich Schätzing verschreibt, ist in seinen Augen die »Revolution der Zuversicht« not-wendig, aber auch herausfordernd. Wir können auf den Abgrund des Planeten stieren, aber wir könnten auch erkennen, »dass wir uns durch konsequentes Handeln … vom Abgrund wegbewegen können.« Denn wir haben, so Schätzing, »die Wahl, es besser zu machen.« Und er mahnt an, dass wir maßhalten »und eben nicht nur alles ausrichten auf Konsum, Maximierung und Gewinnsteigerung.«

Und hier verweben sich die beiden großen Themen unserer Tage. Sie anzugehen erfordert in der Tat revolutionäre Veränderungen, deren Ziel weder ein »Weiter so wie bisher!« noch ein »Endlich wieder so wie es war!« sein kann. Haben wir nicht bemerkt in den letzten 14 Monaten, dass Leben mehr ist als das, was wir uns größtenteils seit Jahrzehnten vormachen?

 

In dieser Rubrik »Bleiben Sie behütet!« üben wir seit 40 Tagen österliches Sehen.

Ich denke, wir sollten die Anführer einer Revolution der Zuversicht werden.

Denn uns ist zugesagt, dass wir nie allein sind: »ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.« (Mt 28,20)

Uns ist zugesagt, dass es Leben durch das Dunkel und darüber hinaus gibt. So hören die Frauen am Grab: »Er ist auferstanden; er ist nicht hier.« (Mk 16, 6)

Wir sind die Nachfahren der ersten Zeugen, von denen es morgen am Himmelfahrtstag heißt: »Sie aber zogen aus und verkündeten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte das Wort durch die Zeichen, die es begleiteten.« (Mk 16, 20)

Beten wir also, wie John O’Donohue es einem Morgengebet ausdrückt, um ein mitfühlendes Herz, um klares Reden, gütiges Gewahrsein, tapferes Denken und liebenden Mut, damit wir zu Mitgestaltern eines Wandels der Zuversicht werden, dass neues Leben möglich ist.

Und werden wir Zeugen der Hoffnung.

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. Mai 2021

 

 

Der Stab des Hirten

 

Vor zwei Wochen habe ich eine Predigt über Jesus als den guten Hirten geschrieben. Kurz nachdem sie auf der Website veröffentlicht wurde, erhielt ich eine E-Mail mit Worten der Ermutigung und Dankbarkeit, die mein Herz sehr stärkten. In dieser E-Mail war auch ein Kunstwerk enthalten, das Karl Ditt als kreative Antwort auf meine Predigt geschaffen hat.

Geschichten erzeugen Geschichten. Deshalb wird es nie ein Ende geben, etwas, wofür wir meiner Meinung nach viel dankbarer sein sollten, als wir es normalerweise sind. Heute möchte ich einfach die Geschichte teilen, die mir geschenkt wurde, in der Hoffnung, dass Sie am Segen dieser Geschichte teilhaben können. Ich hege auch eine stille, tiefe Hoffnung, dass der Stab des Hirten eine neue Geschichte in Ihnen inspirieren könnte, vielleicht den schlummernden guten Hirten in Ihnen erwecken. Wer weiß? Vielleicht werden Sie sich selbst dabei ertappen, wie Sie nach dem Hirtenstab greifen und eine ganz neue, eigene Geschichte beginnen.

Erik Riechers SAC, 10. Mai 2021

Nächster Abschnitt

Auf der Suche nach Freunden unter Menschen, die Sklaverei gewohnt sind

 

6. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 15, 9-17

 

Ich nenne euch nicht mehr Knechte;

denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut.

Vielmehr habe ich euch Freunde genannt;

denn ich habe euch alles mitgeteilt,

was ich von meinem Vater gehört habe.

 

Ob Gott uns damit einen Gefallen getan hat?

Um den Schock des Textes etwas abzumildern, wurde das Wort »doulous« mit »Knechte« übersetzt, anstatt »Sklaven«. Aber hier ist nicht die Rede von schlecht oder kaum bezahlten Bediensteten. Diese Menschen wurden ihrer Freiheit beraubt, hatten kaum Rechte und keinen Schutz vor der Willkür ihrer Herren.

Jesus greift dieses Bild auf, um die Beziehung zwischen ihm und seinen Lehrlingen zu klären. Er sagt: »Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.« Aber ob wir diese Freunde werden, uns auf diese Beziehung des Vertrauens einlassen, ist unsere freie Wahl. Damals wie heute sind Menschen, im Gegensatz zu Sklaven, einfach gegangen, wenn es ihnen nicht mehr passte.

Um die Dringlichkeit und auch die Schönheit des Angebotes Jesu wahrzunehmen, sollten wir die Unterschiede zwischen Sklaven und Freunden genau merken.

Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit.

Jeder der Freunde Jesu

ist Geber und Empfänger zugleich.

Sklaverei ist eine einseitige Beziehung.

Es geht um den Meister,

die Erfüllung seiner Wünsche

und das Austragen seiner Pläne.

Freundschaft bedeutet Mitverantwortung.

Beide Seiten müssen die Beziehung gestalten.

Sklaven sind nicht mitverantwortlich.

Sie müssen nur die Pläne anderer ausführen.

Freundschaft ist eine Erfahrung

der Entdeckung und des Abenteuers.

Freunde müssen immer schauen,

was gerade dran ist, was stimmig ist,

und diese Rollen ändern sich ständig.

Deshalb brauchen sie Feingefühl und

Sensibilität.

Sklaven haben eine klare Rolle,

bestimmt von oben und unten,

und sie haben eine feste Struktur

sowie eine feste Befehlskette.

Der Sklave braucht weder Feingefühl

noch Sensibilität.

Er braucht sich keine Gedanken zu machen

über die Qualität der Beziehung.

Er muss nur gehorsam sein.

Freunde tragen Sorge für die Herzensanliegen

des Anderen.

Sklaven erfüllen ihre Pflichten,

egal ob sie die Herzensanliegen

des Herrn tragen oder nicht.

Freunde müssen auch Initiative ergreifen.

Der Freund muss nicht nur warten,

dass er andere handelt, vorschlägt oder

einführt, sondern handelt selbst

Sklaven empfangen Befehle und

verrichten Dienste.

Sie setzten lediglich die Initiativen

ihrer Meister um.

 

Das heißt, wenn wir nicht mehr Sklaven, sondern Freunde sind, verändert sich nicht nur unser Selbstverständnis, sondern die gesamte Beziehung zu Gott. Ob Gott uns damit einen Gefallen getan hat? Denn Gegenseitigkeit, Mitverantwortung, Feingefühl und Sensibilität, Sorge um Herzensanliegen und Initiativen zu ergreifen ist deutlich schwieriger, anstrengender und herausfordernder als einfach zu tun, was ein anderer sagt.

Es ist erheblicher einfacher, ein Sklave Jesu zu sein als sein Freund. Beide werden zwar dienen, aber der Sklave dient aus Angst, Zwang und Druck. Der Freund sollte allerdings seinen Dienst aus Liebe anbieten. Von ihr berührt und bewegt, hat der Freund das innere Bedürfnis, das Leben eines anderen Menschen zu stärken, heilen und begleiten.

Vor Jahren habe ich einen Autoaufkleber gesehen. Darauf stand: »Gott hat es gesagt. Ich glaube es. Damit ist alles erledigt.« Manche werden sich das anschauen und denken, das sei eine mutigere, einfachere oder sogar reinere Art des Glaubens. Doch wenn wir diese Geschichte von Jesus ernst nehmen, dann müssen wir zugeben, dass das nicht die Glaubensbeziehung ist, die er sucht. Das ist die Stellenbeschreibung eines Sklaven. Jesus kam auf der Suche nach neuen Freunden.

Ob Gott uns damit einen Gefallen getan hat? Das kommt darauf an, wie wir leben möchten.

 

Erik Riechers SAC, 9. Mai 2021

 

 

Wunderbar

 

Üben Sie es auch in diesen österlichen Zeiten? Nicht in Gräber zu schauen, sondern ins Leben? Die Natur macht es uns leicht und wir entdecken Leben an unscheinbaren Orten: in allen Gärten sprießt es, an trockenen Steinwänden und Mauern lachen uns leuchtende Farben an und am Boden der noch hellen Wälder leuchten weiße Sternenblüten.

Wie viel Leben steckt in den Geschichten der Menschen, denen wir begegnen. Schauen und hören wir genau hin und tun sie nicht ab als Kleinkram. Hier zeigen sich manchmal große Schritte vom Dunklen ins Licht.

Eine solche kleine Geschichte von Leben und Liebe begegnete uns kürzlich. Sie erzählt von einer wandelnden Begegnung zwischen Veronica, einer jungen südamerikanischen Frau, die ihren Freiwilligendienst in einem deutschen Kindergarten macht, und dem kleinen Luca.

 

»Du bist wunderbar«, sagt Veronica einem Kind im Kindergarten.

Das Kind stutzt kurz, holt dann tief Luft und schreit Vero an:

»Nein, du bist wunderbar.«

Jetzt stutzt Vero und fängt dann herzhaft an zu lachen.

»Das ist kein Schimpfwort, Luca. Ich bin dir nicht böse. Das ist ein gutes Wort.

Ich bin glücklich mit dir. Du bist ein guter Junge.

Ich mag dich. Ich bastle gerne mit dir und spiele so gerne mit dir Verstecken.

Das heißt: ‚wunderbar‘. Du bist ein guter Freund. Du bist ein wertvoller Mensch.«

Luca schaut Vero mit großen Augen an. Schweigt. Guckt auf den Boden.

Dann sagt er leise: »Du bist auch wunderbar, Vero.«

 

So viel Leben in seiner Spannbreite steckt in dieser kleinen Begebenheit eines Alltags im Kindergarten!

Was spricht uns an? Was berührt uns? Was kennen wir?

Viel Freude beim »Auspacken« dieses kleinen Edelsteins!

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Mai 2021

 

 

Wer wird uns leiten?

 

In der CBC-Radiosendung »Tapestry« hörte ich ein Interview mit einer Schriftstellerin namens Leigh Stein. Mit erfreulicher Klarheit und Unverblümtheit weist sie auf ein Problem hin, mit dem sie sich schon seit einiger Zeit auseinandersetzt. In einer Gesellschaft, in der sich Prominente nicht mehr darauf beschränken, bestimmte Produkte durch Werbung und bestimmte Anliegen durch ihre Medienpräsenz zu fördern, sind immer mehr von ihnen zu »Wellness-Influencern« geworden. Obwohl sie es in der Regel nicht so nennen würden, bieten sie den Menschen an, ihre geistlichen Begleiter zu werden.

Leigh Stein ist davon ganz und gar nicht beeindruckt. Sie weist deutlich darauf hin, dass wir die Ergebnisse reicher Traditionen über spirituelles Leben nicht mit den Ergüssen von Menschen vergleichen sollten, die spät zum Spiel gekommen sind und wenig Gedanken in ihre Äußerungen investiert haben. »Was uns die Religion bietet, sind Tausende von Jahren, in denen Menschen durch sehr ähnliche Kämpfe gegangen sind. Wir wurden geboren. Wir heiraten vielleicht. Wir haben vielleicht Kinder. Und dann sterben wir alle. Es gibt religiöse Traditionen, die Tausende von Jahren zurückreichen, die mit diesen Fragen gerungen haben. Und ich finde nicht, dass die Influencer sich diesen Fragen auch nur annähern.«

Ich war begeistert und konnte nicht mehr zustimmen. Eine Pandemie ist ein hervorragender Zeitpunkt, um sich die Wahrheit dieser Lektion zu merken. Dies sind ernste Zeiten, die ernste Probleme schaffen. Sie erfordern eine ernsthafte Antwort, die aus einem tieferen Verständnis des Lebens geboren ist als aus den Oberflächlichkeiten, mit denen wir so viel von unserem täglichen Leben genährt haben, bevor die Krise uns traf.

G.K. Chesterton schreibt in seinem Buch »Orthodoxie« ein paar Zeilen, die ich sehr schätze. »Tradition bedeutet, der obskursten aller Klassen, unseren Vorfahren, Stimmen zu geben. Es ist die Demokratie der Toten. Tradition weigert sich, sich der kleinen und arroganten Oligarchie derer zu unterwerfen, die nur zufällig herumlaufen.«

Während wir sicherlich Fortschritte in der Technologie gemacht haben, die sich Ihre Vorfahren kaum hätten vorstellen können, haben wir auch Teile der Menschlichkeit geopfert, die sie entsetzt hätten. Unsere kurzen Aufmerksamkeitsspannen und das ständige Verlangen nach sofortiger Befriedigung dienen uns gut in einer Gesellschaft, in der der Konsum des Lebens König ist. Doch nun, da dies nicht mehr möglich ist, kehren die älteren, ehrwürdigeren Fragen zurück. Rabbi Jonathan Sacks hat es so formuliert: »Irgendwann im Leben stellt sich jeder nachdenkliche Mensch drei grundlegende Fragen: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie soll ich dann leben?«

Wenn diese Fragen aus unserer Tiefe auftauchen, entfesselt und unvermindert auch nach Jahren der Vernachlässigung, an wen werden wir uns dann wenden? Wer wird uns leiten? Die Menschen, die nur für den gegenwärtigen Moment lebten, sind die Architekten dieses gegenwärtigen Moments. Ein guter Ort, um damit anzufangen, sind die großen Geschichtenerzähler religiöser Traditionen, »die Tausende von Jahren zurückreichen und mit diesen Fragen gerungen haben«. Sie werden uns daran erinnern, dass wir nicht die Ersten und auch nicht die Letzten sind, die sich diesen Fragen stellen. Noch besser, sie werden uns daran erinnern, dass wir bei der Beantwortung dieser Fragen nicht allein sind.

 

Erik Riechers SAC, 5. Mai 2021

 

 

Zum zweiten Feuer gehen

 

In ihrem Impuls vom 22. April 2021 mit dem Titel »Aufgehoben« schrieb Sylvia Ditt eine Zeile, die mich von dem Moment an, als ich sie las, beschäftigt hat.

ich gestehe ein

nicht immun zu sein

gegen Todesangst

die an meinem Herzen nagt

mich an falschen Feuern zu erwärmen suchte.

 Die Geschichte, die sie erzählt, findet sich in Johannes 21. Dort lässt Jesus Brot und Fisch auf einem Kohlenfeuer zubereiten. Dieses kleine Detail ist wichtig, denn früher im Evangelium erzählt uns Johannes: »Die Knechte und die Diener hatten sich ein Kohlenfeuer angezündet und standen dabei, um sich zu wärmen; denn es war kalt. Auch Petrus stand bei ihnen und wärmte sich.« (Joh 18,18) Petrus wärmt sich an einem Kohlenfeuer, während er seinen Freund dreimal verleugnet. Eine Passion, einen Tod und eine Auferstehung später führt er ein Gespräch mit demselben Freund vor einem Kohlenfeuer, und dreifache Liebe fließt aus seinem Herzen.

Sylvia Ditts Worte sprechen eine zutiefst schmerzhafte Wahrheit auf sanfte und großzügige Weise aus. Wir alle kennen den Moment, in dem wir unser Herz an einem falschen Feuer erwärmt haben. Viele Wege führen zu diesen falschen Feuern, denn es gibt viele Hunger des Herzens. Logik allein regiert nicht die weiten und tiefen Orte eines menschlichen Herzens. Das menschliche Herz ist ein Land, in dem Verzweiflung, Einsamkeit, Trauer, intensive Sehnsucht, vereiteltes Verlangen, knochentiefe Angst und Wut, die sowohl brodelt als auch explodiert, nur eine Auswahl dessen sind, was uns zu jedem Feuer treibt, das uns auch nur einen Hauch von Erleichterung verschaffen würde.

Johannes macht es sich zur Aufgabe, uns eine Geschichte von einem zweiten Feuer zu erzählen, in dem neue Gespräche zu neuem Vertrauen führen können, in dem wahre Wärme und echte Verantwortung geboren werden können. Und doch werden wir alle, die unsere Herzen an falschen Feuern erwärmt haben, nicht nur Erleichterung und Freude über die gute Nachricht eines zweiten Feuers kennen. Wir werden auch Zweifel und Zögern kennen. Werden wir an diesem Feuer unser Willkommen in der Welt finden? Werden wir es wagen, dort aufzutauchen? Welches Gespräch wird dort stattfinden?

Denn es gibt ein Geheimnis über Herzen, die am falschen Feuer gewesen sind, das wir selten aussprechen, obwohl wir es zu gut kennen, um es jemals wirklich zu leugnen. Gott ist willens, fähig und begierig, zum zweiten Feuer weiterzugehen und ein völlig anderes, lebensveränderndes neues Gespräch mit uns zu führen. Aber wir klammern uns an unsere Schuld und Scham. Wir vergeben uns selbst nicht so leicht wie Gott es tut.

Nachdem ich über Sylvias wunderschönes biblisches Gedicht nachgedacht hatte, stand ich auf, ging zu meinem Bücherregal und holte einen anderen Gedichtband aus meinem Regal. Dort suchte ich ein Gedicht von Padraig O'Tuama, das ebenfalls die Evangeliumsszene des Feuergesprächs zwischen Jesus und Petrus als Ausgangspunkt verwendet. Und am Ende des Gedichtes lässt er Petrus sagen:

»Und er sagte

'Komm jetzt, Fischer, komm schon

und singe vielleicht eine andere Melodie

und finde ein Zimmer, wo du mich bleiben lassen kannst

und nimm vielleicht das Ruder aus deinem eigenen Auge

und paddle dorthin zurück, wo ich mit dir angefangen habe.

Lass uns über all das hinaus sein,

und lass uns weitermachen', sagte er zu mir.«

Und das ist die tiefste Einladung des zweiten Feuers. »Lass uns über all das hinaus sein und lass uns weitergehen.« Gott ist bereit, das zu tun, damit ein falsches Feuer nicht zur dominierenden Geschichte eines ganzen Lebens wird. Wir sollten diese sanfte Einladung annehmen und selbst bereit sein, weiterzugehen. Es würde uns nicht schaden, uns selbst ab und zu mal ein wenig zu vergeben.

 

Erik Riechers SAC, 3. Mai 2021

 

 

Gottes einsatzfreudige Pflege der Beziehung

 

5. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 15, 1-8

 

In der Ausbildung in Narrativer Theologie wird immer wieder darauf hingewiesen, dass wir darauf achten sollten, welche Bilder Menschen einsetzen, wenn sie über ihre Beziehungen erzählen. Diese Bilder sagen uns, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Darum sollten wir uns bewusst machen, dass es eine uralte Auseinandersetzung gibt zwischen den mechanistischen und organischen Bildern, die Menschen gebrauchen. Diese Auseinandersetzung spiegelt die darunter liegende Auseinandersetzung der Herzensanliegen.

In der Erzählung aus dem Johannes-Evangelium offenbart Jesus eines seiner großen Herzensanliegen, nämlich die Verbundenheit und Verbindlichkeit in unserer Beziehung zu ihm. Jesus greift zu einem organischen Bild, nämlich der Beziehung zwischen Weinstock und Reben und Frucht und offenbart uns dadurch, was ihm am Herzen liegt. Er will, dass wir leben und dass unser Leben fruchtbar ist. Er will eine Beziehung zu uns, die innerlich so gesund läuft, dass sie zur gegebenen Zeit äußerlich das hervorbringt, wovon wir und andere leben können, nämlich die Frucht. Das ist für uns, die wir die Geschichte gut kennen, zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Allerdings ist es ebenso wichtig zu bemerken, was Jesus nicht tut. Er hat kein mechanistisches Bild gewählt, um seine ersehnte Beziehung zu uns zu beschreiben. Das wiederum sagt uns, dass Jesus weder das Leben seiner Menschen noch seine Beziehung zu uns wie eine Maschine betrachtet.

Vor Jahren hörte ich, wie ein Prediger diese Wahl Jesu auf den Kopf stellte, und zwar genau bei der Auslegung dieser biblischen Erzählung. Er wollte Jesus als die Mitte unseres Lebens herausstreichen und griff zu dem Bild von dem Verhältnis der Speichen eines Rades zu seiner Nabe. Dabei wechselte er das organische Bild Jesu für ein mechanistisches Bild.

Für viele Menschen wird das egal sein. Andere sagen, das ist nur Wortklauberei. Aber Worte erzeugen Welten und die Bilder, die wir wählen, haben eine große Macht und Wirkung auf die Art, wie wir lieben, arbeiten und in Beziehung treten.

Räder mit ihren Naben und Speichen gehören zu den mechanistischen Bildern. Und wie bei allen Maschinen geht es um ein zentrales Thema: Sie müssen funktionieren. Wenn eine Maschine nicht funktioniert, dann wird sie repariert. Sinn dieser Zuwendung ist es lediglich, sie sobald wie möglich wieder zum Funktionieren zu bringen. Was hier überhaupt keine Rolle spielt, ist der Rhythmus. Maschinen werden nicht gefragt, ob sie gerade Lust, Laune und Zeit haben, ihren vorbestimmten Zweck zu erfüllen, oder ob es gerade passend ist, wenn wir ihre Funktionen brauchen. Deshalb brauchen wir auch nicht zu warten, bis sie soweit sind. Sie arbeiten auf Knopfdruck, und dann brauchen wir uns nicht zu gedulden mit Reifungsprozessen und Wachstum. Bei Maschinen sind das keine Themen.

Jetzt schauen wir, was passiert, wenn wir ein mechanistisches Bild wie die Beziehung von Rädern, Speichen und Naben einsetzen, um unsere Beziehung zu Jesus zu schildern. Wenn wir unsere Beziehung zu Jesus so beschreiben, dann werden wir glauben, dass Jesus von uns erwartet, was wir von unseren Maschinen erwarten, nämlich dass wir richtig und rechtzeitig zu funktionieren haben. Das Bild ist entsetzlich. Denn wir alle wissen, was passiert, wenn unsere Maschinen nicht funktionieren. Dann werden sie ersetzt. Sollte das die Aussage Jesu sein über seine erwünschte Beziehung zu uns? Funktioniert gefälligst, sonst werdet ihr ersetzt? Und wenn wir unsere Maschinen reparieren, dann lediglich um sie sobald wie möglich wieder zum Funktionieren zu bringen. Glaubt wirklich jemand, dass dieses Bild die Beziehung Jesu zu uns spiegelt?

In diesem mechanistischen Bild von Speichen und Nabe (wie in allen mechanistischen Bildern) spielt der Rhythmus keine Rolle mehr. In diesem Bild werden wir Menschen nicht mehr gefragt, ob wir in diese Beziehung eintreten können oder wollen, oder ob sie gerade passend und stimmig ist. Dann bekommen wir auch keinen Raum und keine Zeit für das, was wir oft dringend brauchen, damit wir unser Nein in ein Ja verwandeln können, damit wir heil werden können, damit wir in einer authentischen Beziehung wachsen und reifen können.

In allen biblischen Erzählungen weigert sich Jesus, so mit Menschen umzugehen, und deshalb greift er auch das organische Bild von Weinstock und Reben auf.

Im Gegensatz zu einer Maschine kann die fruchtbringende Beziehung zwischen dem Weinstock und den Reben nicht repariert werden. Sie muss nicht funktionsfähig gemacht, sondern gehegt und gepflegt werden. So auch unsere Beziehung zu Jesus.

Bei allem, was organisch ist (Menschen wie Pflanzen), spielt Rhythmus eine große Rolle. Wenn unsere Beziehung zu Jesus leben soll, müssen wir uns viele Rhythmus-Fragen stellen. Was ist gerade dran? Was ist stimmig und was voreilig? Wann muss ich handeln (wässern, jäten, pflanzen, stützen) und wann muss ich mich gedulden und den nötigen Abläufen Zeit und Raum lassen?

Organische Bilder erinnern uns daran, dass Beziehung ein Akt der gegenseitigen Abstimmung ist. Denn das Leben ist nicht nur in Jesus, sondern auch in uns. Es sollte zwischen uns fließen. Wir sollten es miteinander teilen. Diese Beziehung bindet uns zusammen und wir sind in diesem Leben in einer gegenseitigen, abhängigen Beziehung. »Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.« Das gilt aber nie für Maschinen. Nur weil der Weinstock schon voller Lebenssaft ist, heißt es nicht, dass die Rebe mit Frucht voll behangen sein muss. Ohne Teilnahme an den inneren Prozessen des anderen entsteht kein Leben.

Frucht kommt siebenmal in dieser Geschichte vor. Jesus spricht von Frucht tragen, Frucht bringen. Frucht ist offensichtlich wichtig und bedeutend für ihn. Frucht tragen ist der Grund des Bleibens in dieser Beziehung, warum die Verbindung zu Jesus als Lebensträger (Weinstock) nicht gekappt werden sollte.

Frucht ist Metapher und Bild. Frucht wächst und stammt aus dem Fluss des Lebens. Frucht ist dem Leben dienlich, weil sie stärkt und nährt und weil sie Leben erhält.

Frucht tragen ist aber kein mechanistisches Bild, denn das ist ein Prozess, der von innen nach außen fließt. Frucht wird nicht von außen an den Weinstock geklebt. Frucht entsteht nur, wenn der Kontakt zu den inneren Prozessen besteht. Frucht ist nur gegeben, wenn der Kontakt zu dem Lebensträger (Jesus = Weinstock) besteht. Diese Prozesse der Fruchtbarkeit können von außen nicht wahrgenommen werden.

Diese Frucht soll bleiben. Das, was wächst, sollte Bestand haben. Es soll von Dauer sein. In anderen Worten, wir sollten uns darauf verlassen können. Dies ist eine reichhaltige Beschreibung von der Art von Beziehung, die Jesus mit uns teilen möchte.

Das alles ist das Herzensanliegen Jesu für seine Menschen. Und gerade deswegen dürfen wir unsere Beziehung zu ihm nicht mechanistisch behandeln. Darum sollten wir teilnehmen an den inneren Ablauf des Lebensflusses in ihm, denn sonst entsteht diese Frucht nicht. Was in der Geschichte Jeus betont wird, ist, dass diese Beziehung nicht abgebrochen werden darf. Aber nirgendwo in der Erzählung sagt uns Jesus, wie schnell es gehen muss. Was er uns allerdings ans Herz liegt, sagt er gleich am Anfang. »Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer.« Unser Gott ist ein Winzer. Winzer haben ein Herzensanliegen, nämlich die Fruchtbarkeit. »Mein Vater wird dadurch verherrlicht,

dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet.« Solange auch nur ein bisschen Leben in den Reben steckt, wird der Winzer alles tun, um den Fluss zu sichern und zu stärken. Der Winzergott dient dem Leben und der Fruchtbarkeit unserer Beziehung zu Jesus zu allen Zeiten, auch im Winter, wenn alles brach liegt. Jesus leugnet nicht, dass diese Beziehung scheitern kann, aber im Gegensatz zu einer Maschine wird Gott seine ganze Kraft und Liebe und Fürsorge in sie investieren, solange noch ein Funken Hoffnung auf Fruchtbarkeit vorhanden ist.

Darum ist es nicht harmlos, welche Bilder wir wählen, um unsere Beziehung zu Gott zu  beschreiben. Denn Bilder offenbaren unsere wahren Herzensanliegen.

 

Erik Riechers SAC, 2. Mai 2021

 

 

Österlich leben - ein Beispiel

 

Vor vielen Wochen hörte ich unterwegs in einem Radiogespräch eine wahre Geschichte, die mich so fesselte, dass ich, am Ziel angekommen, noch bis zum Ende lauschte.

Eine Bratschistin erzählte von ihren aktuellen Aufgaben und Herausforderungen und kam dann auf ihre Studienzeit zu sprechen, vor allem auf einen Lehrer, der sie besonders beeindruckt und geprägt hat. Er war ihr Dozent im Studium der Bratsche. Dieser Mann hatte in jungen Jahren durch einen Unfall 2 Finger der linken Hand verloren, der Hand, die die Saiten spielt. Die Bratsche war da schon längst »sein« Instrument. Er hatte das Spielen zu seinem Beruf machen wollen und nun sah es so aus, als müsse er diesen Plan, diesen Wunsch, begraben - aus, Ende, unmöglich!

Aber seine Sehnsucht weiterzumachen war unglaublich groß. Und er folgte ihr. Er ließ sich eine neue Bratsche bauen, die er anders herum spielen konnte; seine linke Hand führte von nun an den Bogen. Er übte mit noch größerer Ausdauer und Hingabe an die Musik. Diese Hingabe, seine Beharrlichkeit und seine Sehnsucht, die ihn nicht aufgeben ließ, führten dazu, dass er zu einem Meister seines Fachs wurde.

Als Dozent machte er um all das keine Worte. Ab und zu - so erzählte es die Frau im Radio - kam es vor, dass er seinen Studenten etwas zeigen wollte und seine Bratsche nicht dabei hatte. Dann ließ er sich von ihnen eine Bratsche geben und spielte vor, was ihm wichtig zu demonstrieren war. Dieses Spiel war jedes Mal so überwältigend, dass es in den Schülern etwas auslöste: Wenn er, gehandicapt und auf einer für ihn »falschen« Bratsche so spielt, dann müssen wir noch mehr üben und üben und üben.

So endete die Erzählung.

Mich lässt sie nicht los. Da schaute ein junger Mann einst nach diesem Unfall in ein Grab, das Grab seiner Hoffnungen und Lebenspläne. Aber seine Sehnsucht war größer als dieses Grab - und sehr fokussiert. Er wollte weiter Bratsche spielen. Diese Sehnsucht nährte seine Beharrlichkeit, nach neuen Wegen zu suchen und somit sich vom Grab ab- und neuen Möglichkeiten zuzuwenden. Und schließlich muss er von einer großen Hingabe an die Musik erfüllt gewesen sein (und ist es bis heute), denn wie viel Raum und Zeit widmete er fortan dem Üben. Er blieb dran, auch wenn das Spielen zunächst viel schwieriger für ihn war. Er gab nicht auf und fand neu zu seinem Leben der Musik.

Es war für ihn wie es alle Auferstehungsgeschichten der Evangelien erzählen: Leben ist nicht zu finden im Grab. Es ist leer! Neues Leben finden wir, wenn wir uns dem Leben (wieder) zuwenden. Die Frauen und Männer begegnen Jesus in ihrer alltäglichen Welt: im Garten, auf dem Weg, im Zimmer, am See. Da beginnen sie anders, neu zu leben. Sie sehnen sich nach Leben und wagen neue Schritte, sie treten hinaus und gehen neue Wege – bis heute!

 

Rosemarie Monnerjahn, 30. April 2021

 

 

Aus der Asche soll ein Feuer geweckt werden, Ein Licht aus den Schatten soll entspringen.

 

»Alles was Gold ist, glitzert nicht,

Nicht alle, die wandern, sind verloren.

Das Alte, das stark ist, verdorrt nicht,

Tiefe Wurzeln werden durch den Frost nicht erreicht.

Aus der Asche soll ein Feuer geweckt werden,

Ein Licht aus den Schatten soll entspringen.«

Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht von J.R.R. Tolkien, aus seinem Buch »Die Gefährten des Rings«. Sie sprechen für mich von der echten Auferstehungserfahrung und der wahren Osterhoffnung. Sie sprechen für mich auch von der einen Person in den Geschichten des Evangeliums, die meiner Meinung nach diese Worte verkörpert hat, Maria von Magdala.

Meine Lieblings-Ostergeschichte ist die von Maria von Magdala im Garten. Hier ist eine Frau, deren Leben sich in Asche verwandelt hat, aber die ganze Geschichte erzählt uns, wie es unter dieser Asche ein Feuer gab und wie sie es durch ihre unermüdliche Suche nach dem, den ihre Seele liebte, wieder aufflammen ließ. Als sie sich aus der engen Dunkelheit der Gnade umdreht, um sich dem dämmernden Licht zuzuwenden, sieht sie zuerst einen Gärtner, aber schließlich den auferstandenen Herrn. Es ist in der Tat der Moment, in dem ein Licht aus den Schatten entspringt. Diese bemerkenswerte Frau lebte ihr Leben mit einer poetischen Eleganz, die mich bis heute dazu bringt, über sie nachzudenken und über sie zu schreiben. Es ist der Grund, warum ich mich sofort zu jedem hingezogen fühle, der über ihr poetisches Leben auf lyrische Weise schreibt.

Ron Rolheiser hat vor Jahren ein solches Gedicht geschrieben und jedes Jahr ziehe ich es wieder heraus und freue mich an seiner einfachen Wahrheit. Es sind Worte, die uns zum Herzen von Marias Erfahrung der Auferstehung führen. Deshalb sind es auch Worte, die uns ins Herz unseres eigenen Kampfes führen, ein Leben im Licht des österlichen Geheimnisses zu leben, eines Geheimnisses, das so groß ist, dass kein einziger Tag es fassen kann. Ich finde es besonders hilfreich in Zeiten, in denen ich mich zu sehr an das Leben klammere, das ich kenne, und mich schwer tue, das Leben anzunehmen, das brauche. Möge das Gedicht Sie heute segnen, wie es mich seit Jahren gesegnet hat

 

Maria von Magdalas Ostergebet

Ich habe nie Auferstehung

            vermutet

                        und dass sie so schmerzhaft sein würde

                        dass sie mich weinen lässt

Vor Freude

            Dich lebendig und lächelnd vor dem leeren Grab getroffen zu haben

Mit Bedauern

            nicht weil ich dich verloren habe

            sondern weil ich dich verloren habe, wie ich dich hatte -

                        in verständlichem, berührbarem, küssbarem, anfassbarem Fleisch

                        nicht als vollendeter Herr, sondern als fassbarer Mensch.

 

Ich möchte mich festhalten, trotz deines Protestes

            mich an deinen Körper klammern

            mich an deine, und meine, anfassbare Menschlichkeit klammern

            mich an das klammern, was wir hatten, an unsere Vergangenheit.

 

 Aber ich weiß, dass ... wenn ich mich festhalte

            kannst du nicht aufsteigen und

            ich werde an dein früheres Selbst geklammert bleiben

            ... unfähig, deinen gegenwärtigen Geist zu empfangen.

 

 

Erik Riechers SAC, 28. April 2021

 

 

Osteraugen

 

Der auferstandene Jesus ist derselbe, der nach Jahren unauffälligen Lebens die Menschen um sich scharte und ihnen erzählte und ein Beispiel gab von der barmherzigen Liebe Gottes.

Er ist derselbe, der verurteilt, gefoltert und gekreuzigt wurde.

Er ist derselbe, der begraben wurde.

Eine junge Frau sagte mir vor Jahren, dass dies für sie das Herausragende und Überzeugende unseres christlichen Glaubens sei: »Unser Gott kennt unser größtes Leid, weil er selbst da durch ging. Welche Religion kommt dem nahe?« Diesem Gott könne sie sich anvertrauen.

Darum sind die Ostererzählungen so bedeutsam. Sie leugnen nichts von all dem, was vor Ostern war. Sie zeigen vielmehr die Größe der Liebe Gottes zu uns Menschen, die immer schon unendlich war und die er durch Jesu Leben, Sterben und Auferstehen bestätigt. »Seht ihr, wie sehr ich euch liebe?« fragt er uns.

Der langjährige und von vielen verehrte Bischof von Aachen Klaus Hemmerle schrieb einmal folgenden österlichen Wunsch:

Ich wünsche uns Osteraugen,

die im Tod bis zum Leben,

in der Schuld bis zur Vergebung,

in der Trennung bis zur Einheit,

in den Wunden bis zur Herrlichkeit,

im Menschen bis zu Gott,

in Gott bis zum Menschen,

im Ich bis zum Du

zu sehen vermögen.

 

Dies ist ein Wunsch für ein ganzes Leben in all seiner Spannbreite und all seiner Fülle.

Osteraugen klammern nichts aus und sehen tiefer. Sie üben sich ein, immer mehr den liebenden Blick unseres Gottes auf uns wahrzunehmen und selbst so in die Welt zu schauen.

Osteraugen kennen keine Tabus und vermögen Welten zu verbinden. Gegensätze verschmelzen und Schweres kann seine Schönheit zeigen.

Ich wünsche uns solche Osteraugen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. April 2021

 

 

Zu Hause bei den guten Hirten

 

4. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 10, 11-18

 

»Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Wenn Jesus diese Worte spricht, versucht er, uns einen Einblick in die wahre Natur seiner Hingabe für uns zu geben. Indem er sich selbst als einen Hirten beschreibt, der bereit ist, sein Leben für diejenigen hinzugeben, die ihm anvertraut sind, beschreibt er, wie er uns liebt. Später wird Jesus sagen: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.« (Joh 15,13) Die Hingabe des Lebens, diese Bereitschaft, das Leben für das Wohlergehen eines anderen hinzugeben, ist für Jesus das sichere Zeichen der Liebe.

Jesus betont, dass seine liebevolle Hingabe weit über die normalen Grenzen des Eigeninteresses hinausgeht: Es ist eine Hingabe für den anderen jenseits von Gehaltsschecks und pragmatischer Nützlichkeit von bezahlten Knechten. Vor allem enthüllt Jesus die Integrität  seiner persönlichen Berufung, eine Integrität, die sich am vollständigsten zeigt, wenn ein hoher Preis zu zahlen ist, um diese Hingabe aufrechtzuerhalten.

»Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Diese Worte Jesu werden bis zum heutigen Tag immer wieder gesprochen. Dieses Wort ist Fleisch geworden in den vielen Menschen, die sich die tiefe persönliche Hingabe Jesu zu Eigen gemacht haben. Sie haben die Berufung eines guten Hirten übernommen und ausgelebt. Aber sie haben auch den Preis für diese Hingabe bezahlt. Sie sind nicht geflohen, als die Anforderungen des Liebens schwer wurden: Sie haben die Schafe nicht im Stich gelassen und nur sich selbst gerettet, als die Wölfe kamen.

In diesen Tagen der Pandemie ist es meine Gewohnheit, mich auf solche Menschen zu konzentrieren, und es ist nicht einfach. Die Medien sind eng fokussiert, ja besessen davon, über die Menschen zu berichten, deren Reaktion auf die weltweite Krise narzisstisch und selbstbezogen ist. Diejenigen, die selbstherrlich und selbstverliebt sind, die sich weigern, Masken zu tragen, die sich in Massen versammeln, Corona-Partys feiern und ganz allgemein ihre Verachtung für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zeigen, finden eine Kamera und ein Mikrofon, die auf sie warten. Es erinnert an das Buch der Richter, das beschreibt, wie das Volk in Chaos und Gewalt versinkt, weil es keinen Sinn für das Gemeinwohl mehr hatte. Traurig endet das Buch mit diesem letzten Satz: »Jeder tat, was in seinen eigenen Augen recht war.« Weit und breit keine Spur von Menschen, die sich den Satz zu Eigen machen: Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.

Darüber hinaus überschwemmen uns die Medien mit einer ebenso hirnlosen wie atemlosen Dringlichkeit mit Zahlen: die Infizierten, die auf der Intensivstation, die Zahl der Geimpften, die bestellten Dosen usw. Die einzige Statistik, über die nie berichtet wird, sind die Zahlen der Menschen, die diese auf ihr Herz tätowierten Worte gelebt haben: »Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Sie werden als uninteressant und nicht so nachrichtenwürdig eingestuft. Daher warten keine Kameras und Mikrofone auf sie.

Aber ich habe meinen Fokus auf Menschen gerichtet, die in der Lage sind, das Richtige für alle Menschen zu tun und nicht nur für sich selbst. Sie zu benennen, sich an sie zu erinnern und ihre Geschichten zu erzählen, ist das stärkende Gospel-Tonikum, um mein Gleichgewicht in einer unsicheren und unausgeglichenen Welt zu halten. Ihre Geschichte, wie jede Geschichte, schweigt, bis das Wort gesprochen wird, bezeugt und Fleisch wird, so dass es berührt, gefühlt und gelebt werden kann.

Was haben wir von den geistlosen Demonstranten und Agitatoren zu erwarten? Sie werden keinen Beitrag zum Leben der Welt leisten. In jeder Generation, in jeder Kultur, an jedem Ort und zu jeder Zeit sind echte Hilfe und authentische Veränderung von den guten Hirten ausgegangen, von Frauen und Männern, die ihr Leben hingegeben, ihr Leben investiert haben, damit andere leben können.

Heute ist der Weltgebetstag für geistliche Berufungen. So bete ich mit Dankbarkeit, dass so viele Menschen ihre Berufung ernst genommen haben. In der Welt wimmelt es von guten Hirten. Es sind die Nachbarn, die sich im Stillen umeinander kümmern. Ich sehe sie in Männern und Frauen, die alles für ihre Ehepartner und Kinder geben, damit sie in Würde leben können, auch wenn sie erschöpft sind und am Zahnfleisch gehen. Ich sehe die guten Hirten in den vielen Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, und in den Forschern, die monatelang in Labors eingesperrt waren und alle persönlichen Anliegen beiseiteschoben, um einen Impfstoff für die Welt zu finden. Und was ist mit den Menschen, die unzählige kreative pastorale Initiativen unternommen haben, um die Armen zu ernähren, die Frierenden in den Flüchtlingslagern zu kleiden, die Isolierten in Verbindung zu halten, die Müden und Zerschlagenen zu inspirieren und zu motivieren? Sind sie nicht gute Hirten? Oder die Angestellten in Lebensmittelgeschäften, die Regale einräumen und immer noch ein freundliches Wort und ein Lächeln für mich finden, nachdem sie gerade von dem Kunden vor mir so schäbig behandelt wurden?

Hier sind die geistlichen Berufe, um die wir beten. Hier sind die guten Hirten. Sie zeigen ihre liebevolle Hingabe nicht, weil sie persönlich gut dafür belohnt wurden. Sie waren keine bezahlten Knechte, denen nichts an den Schafen liegt. Sie tun das alles nicht, weil das Geld gut war, der Applaus endlos, die Dankbarkeit unsterblich und erbaulich. Sie haben es getan, weil sie echte Ostermenschen sind. »Wir sind hierher gesandt, um das Osterlicht in unseren Herzen zu suchen, und wenn wir es finden, sollen wir es großzügig weitergeben.« (John O'Donohue)

Hinter ihrer Berufung verbirgt sich eine tiefe Liebe. Dies ist keine blauäugige Liebe, die keine Ahnung von den Anforderungen und Risiken hat, die sie auf sich nimmt. Die Liebe des guten Hirten ist etwas, das versucht, Angelleinen der Hoffnung in das dunkle Herz der menschlichen Verzweiflung auszuwerfen.

Die Liebe steht im Mittelpunkt dieses Textes. Es ist wegen der Liebe, dass der gute Hirte sein Leben hingibt. Um diese Liebe auszudrücken, verwendet Jesus die interessante Metapher des Hirten, ein Bild aus dem Alltag der Arbeiterklasse. Die Evangelien erzählen uns, dass sich die Menschen der Arbeiterklasse mit ihm identifizieren. Schließlich kommt er als Sohn eines Zimmermanns aus diesem Milieu. Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr tägliches Brot verdienen, fühlen sich zu ihm hingezogen, wie z.B. die Fischer. Seine Gleichnisse sind voll von den Erfahrungen der Arbeiterklasse: die Arbeit der Bauern; die Erfahrung, die man macht, wenn das Geld knapp ist und man mit großer Entschlossenheit nach einer verlorenen Münze sucht, weil man nur noch zehn hat; das Einkneten des Sauerteigs in das Mehl, um Brot zu backen; das Säen und Ernten auf den Feldern; die schweißtreibende Arbeit in den Weinbergen.

Jesus spricht die Sprache dieses täglichen Lebens der arbeitenden Männer und Frauen. Die endlosen Stunden harter, rückenbrechender Arbeit endeten nicht immer mit einem großzügigen Lohn, der von einem großherzigen Arbeitgeber gezahlt wurde. Und selbst wenn der Tag geschafft war, wussten diese Menschen, bevor sie in den Schlaf der Erschöpften fielen, dass sie das Gleiche erwartete, wenn sie am nächsten Tag die Augen öffneten. Unabhängig davon, was der Tag brachte, wussten sie, dass sie arbeiten mussten, durch Krankheit, Stürme, Kälte und persönlichen Kummer hindurch, wenn sie ihr tägliches Brot haben wollten. Ihr Leben spielt sich ab am Ort der Mühsal, der Arbeit, der großen Anstrengung, um ihr Leben und ihre Zukunft von der Erde aus zu sichern. Es ist der Ort, an dem sie alles investieren, um Fruchtbarkeit hervorzubringen. Sie sind die Diener des Lebens. Sie sind es gewohnt, die Anforderungen des Lebens durchzuarbeiten.

Damit stehen sie in scharfem Gegensatz zu den Reichen und Mächtigen. Ihr Leben spielt sich dort ab, wo andere sich abmühen, um ihrem Leben zu dienen, wo andere arbeiten, um ihre Annehmlichkeiten zu sichern und sie mühelos leben können. Sie sind nicht Diener des Lebens, sondern Konsumenten desselben. Sie haben eine Erwartung, die die Arbeiterklasse nicht kennt, nämlich, dass andere ihrem Leben dienen. Sie arbeiten sich nicht an den Anforderungen des Lebens ab, sondern stellen einfach Ansprüche an das Leben.

Mitten in diese Welt der Arbeit hinein tut Jesus etwas Atemberaubendes und wählt dies als den Ort, an dem er über die Liebe sprechen wird. Er wählt keine versteckten Orte oder privilegierten Orte. Er spricht von der Liebe nicht in außergewöhnlichen und zärtlichen Momenten, die zutiefst persönlich und privat sind.

»Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.« Hirten tun dies, aber sie tun es in der Öffentlichkeit, vor den Augen einer beobachtenden Welt. Jesus macht den Wert der Liebe öffentlich. Für ihn ist das der Ort, an dem die Liebe gebraucht wird, inmitten einer ringenden Welt. Liebe wird an öffentlichen Orten gebraucht, dort, wo sich das Leben täglich abspielt. Sie sollte nicht in den Bereich der Privatsphäre verbannt werden. Die Liebe wird an den Orten unserer Professionalität gebraucht und sollte nicht zur Freizeitbeschäftigung degradiert werden. Liebe muss an den Orten der Politik gelebt und erzählt werden und darf nicht zu den Heiligtümern und Hörsälen relegiert werden.

Denn Liebe ist für Jesus keine Privatangelegenheit. Für Jesus ist die Liebe die schöpferischste Kraft in der ganzen Schöpfung. Sie hat eine unglaubliche Kraft, das Leben der Menschen zu bereichern, Gerechtigkeit zu schaffen, Veränderungen herbeizuführen und Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu stiften. Aber wo ist das ein dringenderes Anliegen als an den öffentlichen Orten der Welt? Liebe wird in unseren Vorstandsetagen dringender gebraucht als in unseren Schlafzimmern.

Ich muss gestehen, dass mir die Untergangspropheten in letzter Zeit zu schaffen machen. Ich habe immer wieder festgestellt, dass meine Frustration aufflammt, ich fühle mich genervt und irritiert von ihrer endlosen Litanei von Entmutigung, Jammern und Kritik. Wie viele andere habe ich es als einen harten Kampf empfunden, den Glauben am Leben und die Hoffnung am Brennen zu halten. Es gab Zeiten, in denen ich ernsthaft versucht war, das Handtuch zu werfen.

Aber es gibt auch eine hartnäckige Ader des Widerstands in mir. Ich weigere mich, meine Seele den Propheten des Untergangs zu überlassen. Ich bin müde, meine Freunde, aber ich bin immer noch stolz darauf, mit dem Meister zu sagen: »Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.« Dann kehre ich den plappernden Schwarzmalern den Rücken und halte stattdessen Ausschau nach all meinen Mitmenschen, die gute Hirten sind, achte ihre Geschichten und erzähle sie, weil sie Zeugnis davon ablegen, dass die Welt noch voller Liebe und Licht ist, und auch von Gott, dem ersten und wichtigsten der guten Hirten. Und es gibt mir Mut, weiterzumachen und weiter »auf den Weiden des Wunders« zu gehen (John O'Donohue). Und es gibt mir Trost, unter so vielen guten Hirten zu sein, ein Teil ihrer Zunft zu sein.

Und so habe ich mich, jenseits von Müdigkeit und Frustration, hingesetzt und getan, was gute Hirten tun, und diese Worte für Sie geschrieben.

Erik Riechers SAC, 25. April 2021

 

 

Leben mit der Auferstehung

 

Die Botschaft der Auferstehung, die Botschaften des Auferstandenen wirklich zu hören im umfassenden und biblischen Sinn braucht Zeit. So ist es gut und segensreich, dass die Osterzeit so lange dauert, denn um wahrhaft Mensch zu werden, brauchen wir Zeit und Übung.

Mit bloßem Wahrnehmen der Botschaften ist es nämlich auch hier nicht getan. Wir müssen – wie einst die Jünger – das Erlebte und Gehörte in uns aufnehmen. Allen Ostergeschichten gemeinsam ist, dass Jesus ganz unerwartet kommt, in ganz unterschiedliche alltägliche Situationen hinein: am Grab und auf dem Weg, hinter verschlossene Türen und beim Fischen am See. Ganz allmählich entfaltet sich so in den Seinen der Glaube und die Zuversicht: Er lebt. Er ist bei uns. »Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.« heißt es am Ende des Matthäus-Evangeliums. Dem zu vertrauen ist die Übung der österlichen Zeit damals wie heute. Er nennt auch uns beim Namen. Ihm begegnen auch wir in den Wunden und im Brechen des Brotes. Ihn hören auch wir, wenn er Frieden zusagt und uns nach unserer Liebe fragt. Er sendet auch uns. So können wir hineinwachsen in den 3. Schritt biblischen Hörens nach dem Wahrnehmen und Aufnehmen: das Mitnehmen.

Dann kann das Leben als österliche Menschen wahrhaft beginnen, eine Lebensart, die geprägt und durchdrungen ist von dem, was wir gehört haben. 

Ein Gebet von Papst Franziskus mag uns begleiten auf dem Weg, Ostern »weiter« zu leben:

Allmächtiger Gott,

du bist in der Weite des Alls gegenwärtig

und im kleinsten deiner Geschöpfe,

der du alles, was existiert,

mit deiner Zärtlichkeit umschließt,

gieße uns die Kraft deiner Liebe ein,

damit wir das Leben und die Schönheit hüten.

 

Überflute uns mit Frieden,

damit wir als Brüder und Schwestern leben

und niemandem schaden.

 

Lehre uns zu erkennen,

dass wir zutiefst verbunden sind

mit allen Geschöpfen

auf unserem Weg zu deinem unendlichen Licht.

 

Danke, dass du alle Tage bei uns bist.

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. April 2021

 

 

Ostern in Wüstenzeiten - Einladung zum Gebet

 

Manchmal nehmen wir Ostern kaum wahr, weil wir so abgelenkt sind.

Manchmal atmen wir für ein, zwei Tage auf, doch dann schieben sich andere Themen in ihrer »Wichtigkeit« so in den Vordergrund, dass die zarten Lebensimpulse erstickt werden.

Manchmal ist die Wüste in uns so stark, dass wir Angst haben, uns ganz auf das Leben einzulassen, weil wir befürchten, auf eine Fata Morgana hereinzufallen.

Versuchen wir, auch dieses Hier unseres Lebens wahrzunehmen und ehrlich in ihm stehend uns betend dem Auferstandenen anzuvertrauen:

 

In der Wüste unseres Herzens

rufst du, Verborgener, jeder und jedem zu:

Hab keine Angst, komm!

Und: Folge mir nach!

Lass dich ergreifen vom Feuer meiner Liebe.

Niemals sagt dieses Feuer: Es reicht.

Noch mit den Dornen unseres Herzens

entzündest du ein  Feuer;

selbst die Steine in uns, die unfruchtbaren Gegenden,

bringst du zum Glühen.

Mitten durch die Wüste unseres Herzens

bahnst du dir einen Weg,

lässt uns deine Gegenwart erahnen.

 

Auferstandener, der Hauch

deiner Gegenwart schafft uns neu -

Tag für Tag.

Aus versteinerten Eisblöcken formst

du uns zu Menschen.

Deine Vergebung, frisch wie am ersten Tag,

erfindet uns neu.

Noch im Dunkel unserer Schuld,

im Gefängnis unserer Gewohnheiten

- dein Antlitz: menschlich, erbarmend,

und belebend.

            Markus Grünling in: Gegen die Schwerkraft des Todes 2008  

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. April 2021

 

 

Langsam nur

 

Heute ist für uns der 16. Tag mit der Botschaft »Jesus lebt!«

 

Die Pandemie beherrscht die Schlagzeilen – seit so  langer Zeit!

»Nebenbei« so viele andere Nöte für so viele von uns!

 

 Ist es verwunderlich, dass wir zaghaft sind?

 

Vieles in unserem Leben ist schwer, düster, unsicher, . . .

 

Wie war es einst, bei denen, die ihr Leben ganz an ihren Meister Jesus gebunden hatten und nach dem Todesdunkel völlig verstört waren? Zwei verließen die Stadt, viele schlossen sich ein, es wird auch erzählt, dass einige resigniert an die alte Arbeit zurückgingen. Furcht und Verwirrung herrschten vor.

 

Wie gut wir das verstehen!

 

Ich fand diese Zeilen – ihre Quelle kenne ich nicht – doch sie sprechen so ehrlich von dem Weg, den die Auferstehung in unsere Herzen nimmt.

 

»Langsam nur lernt mein Herz deinen Jubel.

Zu mächtig sind mir die Bilder des Todes.

Ich weiß zu viel von den Qualen der Erde

und zu wenig von dem, der sie überwand.«

 

Rosemarie Monnerjahn, 19. April 2021

 

 

3. Ostersonntag 2021                         Lk 24, 35–48

 

Manchmal macht uns die Dringlichkeit unseres Hungers blind

für die Tatsache, dass wir bereits beim Festmahl sind.

Dies zu akzeptieren, kann alles ändern; wir

sind immer zu Hause, niemals im Exil.

- John O'Donohue

 

Das Evangelium nach Lukas erzählt die Geschichte, die in den Worten von John O'Donohue versteckt ist. Die Dringlichkeit ihres Hungers macht die Jünger blind für die Tatsache, dass alles, wonach sie hungern, direkt vor ihren Augen ist. Ihre Reaktion?  »Sie erschraken und hatten große Angst, denn sie meinten, einen Geist zu sehen.« 

So geht es uns, wenn wir zu sehr auf die Dringlichkeit unseres Hungers fixiert sind. Wenn wir wie die Jünger nur in der Rolle des Zuschauers bleiben, dann wird der Hunger, der uns erschreckt und ängstigt, nicht weichen. Dann ist es egal, wie die Auferstehung in unser Leben einbricht oder wo sie in unserem Leben auftaucht, auch wenn wir schon beim Festmahl sind. 

In einem Gespräch erzählt ein Mann seinem Begleiter all die Sehnsucht und Hoffnung, die er bezüglich seiner Zukunft in sich trägt. Dann sagt er: »Ich will leben. Das ist meine Entscheidung.« Sein Begleiter sagt zu ihm: »Nein, das sind nur deine Überlegungen. Entscheidungen bringen konkrete Handlungen und Zeichen hervor, nicht nur drastische neue Erkenntnisse über dein Problem, das du eigentlich nicht angehen willst. Da du die Herausforderungen der Entscheidungsfindung aufschieben willst, versteckst du dich hinter deinen Überlegungen, die dir das warme und beruhigende Gefühl geben, dass du etwas tust, ohne dass du dabei irgendetwas investieren müsstest.« Der Mann nickt, während er seinem Begleiter zuhört und sagt dann: »Ich kann gut hören, was du sagst. Ich werde es mir gut überlegen.«

Der auferstandene Herr kommt zu uns mit dem Angebot eines neuen Lebens, nicht mit einer vorgefertigten Lösung für die Dringlichkeit unseres Hungers. Aber Menschen sind nicht verpflichtet oder gezwungen, die Angebote Gottes anzunehmen. Wir können dieses Angebot des neuen Lebens auch ablehnen.

Österliches Leben besteht aus fünf klaren Schritten: Tod, Auferstehung, die 40 Tage, Himmelfahrt und Pfingsten. Jeder dieser Schritte hat auch eine tiefe Bedeutung für Menschen, die österlich leben wollen.

Tod bedeutet den Verlust des Lebens. In diesem Schritt müssen wir trauern und unsere Verluste würdigen.

Auferstehung ist das Angebot eines neuen Lebens.

Die vierzig Tage sind die Zeit der Reifung, der Überlegung und der Übung, damit wir uns allmählich für das neue Leben entscheiden.

Himmelfahrt ist die Übung, das alte Leben loszulassen, damit wir uns auf das neue Leben einlassen können. 

Und Pfingsten ist der Empfang eines neuen Geistes.

Der Herr bricht mit seinem Angebot des neuen Lebens dort ein, wo Menschen zu sehr um die Dringlichkeit ihres Hungers kreisen, wo sie zu passiv und zurückhaltend geworden sind bei der Gestaltung ihres Lebens. Hand in Hand mit diesem Angebot kommt allerdings die Kernfrage: Wie viel Leben wollt ihr wagen? Denn nur gewagtes Leben fordert konkrete Zeichen und Schritte von uns. Erst wenn wir mehr Leben wagen, müssen wir es bewältigen und gestalten. Die Frage »Wie viel Leben wollt ihr wagen?« ist ein Frontalangriff auf das ungelebte Leben. 

In dieser biblischen Erzählung sind die konkreten Zeichen und Schritte, die Jesus wagt um des neuen Lebens  willens deutlich: Begegnung, Berührung und Besprechung.

Auch wenn die Jünger meinen, einen Geist zu sehen: Jesus ist kein Gespenst. Der Geist, der ihn erfüllt, ist greifbar und berührbar, denn Begegnung, Berührung und Besprechung machen den Geist Gottes spürbar.

»Fasst mich doch an und begreift«: Hier begegnen wir dem alten biblischen Lebensprinzip wieder. Erst Leben, dann Erkenntnis. Erst ergriffen werden, dann begreifen.

»Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.« Was Fleisch hat, hat Substanz, da ist etwas dran. Und die Knochen bilden ein Skelett in uns, eine tragende Struktur für die Substanz unseres Fleisches. Analysen über das Leben, das wir möglicherweise, unter gewissen Bedingen, eventuell, eines Tages, zur gegebenen Zeit, vielleicht umsetzen werden, bieten uns weder eine tragenden Struktur noch die Substanz, die wir brauchen um zu handeln. Ein gelebtes Leben hat Fleisch und Knochen, wie wir es bei Jesus sehen. Der primäre Ort, an dem sich Tradition und Erfahrung treffen, sind das Fleisch und die Knochen eines jeden Menschen. Deshalb machen Begegnung, Berührung und Besprechung den Geist Gottes spürbar.

»Seht meine Hände und meine Füße an…Fasst mich doch an und begreift… Bei diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und Füße.« Hier setzt die Geschichte große Bilder ein, um uns die Wahrheit zu sagen: Ein authentisches, auferstandenes Leben hat Hände und Füße. Im Bild der Hand sagt sie uns: Hier ist Leben, das anpacken kann, das handeln und schaffen kann. Im Bild des Fußes zeigt es uns: Hier ist Leben, das beweglich ist, begleitend, auf dem Weg.

Und dann isst Jesus. »Habt ihr etwas zu essen hier? Sie gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch; er nahm es und aß es vor ihren Augen.« In diesem Bild vom Fisch und dem Essen wird ein weiterer Aspekt des authentischen Lebens in der Auferstehung enthüllt. Was Jesus seinen Freunden demonstriert, ist wesentlich: Was zu eurem Leben wesentlich gehört, gehört auch zu meinem Leben. Jedes Leben, auch das auferstandene Leben, muss genährt werden.

Fisch wird gegessen. Fisch ist etwas, das dem Leben hungriger Menschen dienen und sie ernähren kann, aber nur, wenn sie bereit sind, die harte Arbeit zu tun, diese Fische aus dunklen Gewässern und verborgenen Tiefen zu sammeln und sie an den Ort zu bringen, wo sie leben und arbeiten. Fische liegen bekanntlich nicht an der Wasseroberfläche und springen schon gar nicht von selbst ins Boot.

Dieser Fisch ist jedoch nicht roh, sondern gebraten. Er wurde verarbeitet und zubereitet, damit er das Leben nähren und stärken kann. Auch hier wird von uns erwartet, dass wir in unser Leben investieren und einen Beitrag leisten. Wenn sie nicht von selbst ins Boot springen, springen Fische sicher nicht in unsere Bratpfannen.

Dies sind die kraftvollen Bilder dieser Auferstehungsgeschichte. Sie werden zu unserer Gefahr ignoriert, solange wir die Bibel nicht sowohl für ihre Bilder als auch für ihre Gedanken schätzen. Diese Geschichten sind keine in das menschliche Leben eingeschmuggelten Fremden, sondern die unvermeidlichen Begleiter eines Volkes, das durch Geburt und Tod gebunden ist. Sie sagen uns: Überall ist Geist und Leben tief im Inneren: sei es in Menschen, in Träumen, in Geschichten, in Liedern. Sie haben Leben in sich. Aber wir werden diesem Leben begegnen, es berühren und besprechen müssen. Es wird, wie der Fisch, aus der Tiefe geholt und geformt werden müssen, wenn es für uns Nahrung für eine lebenslange Reise sein soll. Wir können das Leben der Auferstehung nicht als passive Beobachter unserer eigenen Existenz leben.

Wie viel Leben werden wir wagen? Wenn es nur Geist ist, dann bleibt alles vage, farblos und blutleer und ohne scharfe Konturen. Das wird niemals zu einem Leben führen, das gewagt wird, weil es absolut nichts von uns verlangt: wir müssen keine Haltung einzunehmen, keine Aktion riskieren und keine Entscheidung treffen. Der Geist, der in Jesus ist, spornt uns an, mehr zu wagen, zu leben.

Die Auferstehung ist Gottes Angebot zu neuem Leben. Doch das Wesen und die Herausforderung aller Angebote sind, dass sie Einladungen sind. So angenehm es auch ist, sie zu erhalten, sie sind völlig wertlos, bis wir uns entscheiden, sie anzunehmen.

 

Erik Riechers SAC, 18. April 2021

 

 

Gegen die Schwerkraft des Todes

 

Wenn wir weiter und tiefer die Osterbotschaft betrachten und vor allem leben wollen, dann sind wir herausgefordert, sie mit hineinzunehmen in all das Schwere, dem wir begegnen und das wir tragen. Wir können es nicht schön reden, wir können ihm nicht ausweichen, wir wollen es nicht verdrängen.

Wie aber können wir lernen, damit zu leben?

Indem wir die biblische Erfahrung von Ostern ernst nehmen.

Lassen wir dazu eine weitere Stimme zu Wort kommen:

 

Einer steht auf.

Gegen die Schwerkraft des Todes

erhebt er sich vom Tod.

Nimmt dem Tod seine Schwere

ein für alle mal.

 

Strahlend hell sind nun die Aussichten.

Ein Funke Hoffnung auf die geheilte Welt:

Jenseits des Todes: Leben!

 

Leben jenseits des Todes –

neue Perspektiven tun sich auf

für das Leben hier und heute!

 

Zentnerschwere Last bleibt Last,

unermessliches Leid bleibt Leid

und der Tod bleibt in der Welt.

Doch Last und Leid und Tod haben nicht das letzte Wort.

Das letzte Wort ist einem anderen vorbehalten.

Und der antwortet

auf die Schwerkraft des Todes

mit der Sprengkraft des Lebens.

 

Ursula Schauber aus: Dies. (Hg.), Gegen die Schwerkraft des Todes. Fastenzeit und Ostern, 2008

 

Der Tod begegnet uns in vielen Facetten unseres Lebens und macht unser Gehen schwer.

Nehmen wir ihn als das, was er ist: ein Durchgang zu mehr Leben.

 

Rosemarie Monnerjahn, 16. April 2021

 

 

Wir sollten einander nicht im Stich lassen

 

Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; sie liefen beide zusammen, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als Erster ans Grab.

Joh 20, 1-4

Was ist Marias erster Impuls, nachdem sie sieht, dass der Stein vom Grab weggerollt wurde? Maria kehrt mit ihrer Nachricht zurück zu ihren Gefährten. Sie kommt zu ihnen mit allem, was in ihr ist: mit den Emotionen, die diese Erfahrung geweckt hat, mit den Ängsten, die sie ausgelöst hat, mit  den unausgesprochenen Hoffnungen, die sie geweckt hat. Sie ist zurückgekommen und hat einen Ort des Teilens geschaffen, einen Ort der Begegnung. Aber leider wird es nicht zu einem Ort des Dialogs, des Gesprächs.

Warum nicht? Weil von Seiten der Jünger es keine Antwort auf ihre Erfahrung gibt. Keiner fragt nach dem, was sie erlebt hat, wie sie sich fühlt und wie es ihr mit all dem geht. Sie lassen sie im Stich. Sie lassen sie allein mit allem, was in ihr ist.

Sind Sie schon mal zurückgekehrt nach einem tollen Urlaub, einer bewegenden Feier oder einem Vortrag und wollten anderen erzählen von dem, wovon Sie voll waren? Haben Sie mal einen bewegenden Film gesehen oder ein inspirierendes Buch gelesen und wollten anderen unbedingt davon erzählten, sie daran teilhaben lassen? Was passiert, wenn keiner Ihnen richtig zuhört? Was passiert, wenn es kein Echo auf Ihre Erfahrung gibt, sondern nur schweigendes Desinteresse? Sie werden sich im Stich gelassen fühlen. Desinteresse an unseren Themen empfinden wir immer als Desinteresse an unserer Person.

Petrus und Johannes haben, was sie fürs Erste brauchen und dann machen sie sich auf den Weg, um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Sie befriedigen ihre Neugierde, ihren Hunger nach Wissen, aber sie tun dies, indem sie eine Freundin und Gefährtin opfern.

Die Suche nach Leben und Wahrheit kann nicht authentisch sein, wenn wir andere Menschen opfern, um unsere Ziele zu erreichen. Das ist aber leider oft die Erfahrung mit ungesunden religiösen Agenden, die uns so kurzsichtig machen und uns Scheuklappen aufsetzen, dass wir Gottes Menschen, besonders die Leidenden, übersehen oder, noch schlimmer, ignorieren. Wir sehen nur das, was wir von der religiösen Erfahrung, die wir suchen, brauchen, und dann sind wir bereit, andere zu opfern, um es zu bekommen.

Das ist genau das Gegenteil zu der Art und Weise, wie die auferstandene Liebe lebt und handelt. Jesus, der Auferstandene, weigert sich, alle anderen zurückzulassen. Jesus kehrt immer zu uns zurück. Er erscheint und sucht uns dort, wo wir sind, in den Bedingungen, in denen wir leben, in den Situationen und Erfahrungen, die uns im Griff haben. Das ist die Liebe Jesu und das ist die Liebe, die die Jünger vermissen: eine Liebe, die sich weigert, ihre eigene Erfüllung auf Kosten der anderen zu suchen. Das ist die Liebe, die sie suchen, aber nicht die Liebe, der sie nacheifern. Sie lassen Maria zurück.

Wir können von unseren religiösen Idealen so vereinnahmt werden, dass wir die Priorität des menschlichen Lebens im liebenden Herzen Gottes vergessen. Dann wird die liturgische Reinheit wichtiger als die Teilnehmer eines Gottesdienstes. Es gibt eine Besessenheit, das Leben des Glaubens zu regulieren, die oft das Leben der Gläubigen ignoriert.

Das ist es, was die Jünger tun. Sie ignorieren das Leben dieser gläubigen Frau. Ohne sie hätten sie nicht einmal die Geschichte, die sie in Bewegung setzt, gehört. Aber sie lassen sie zurück. Und sie tun es zweimal.

Nachdem sie das leere Grab und das, was sie interessiert hat, erkundet haben, gehen sie nach Hause. Maria, die ihnen allein zum Grab gefolgt ist, lassen sie mit ihren Tränen allein.

Menschen in ihrer Trauer allein zu lassen, ist nicht der Weg des Auferstandenen. Lassen Sie ihn dort, wo er in Auferstehungsgeschichten auftaucht. Er ist immer dort zu finden, wo seine Jünger leiden, sei es durch Angst, Depression, Trauer, Zweifel oder Hoffnungslosigkeit.

Das ist oft der Vorwurf an die hierarchische Kirche: Ihr habt uns in unserem Kummer und unserer Verletzlichkeit im Stich gelassen. Viele Menschen in schwierigen Beziehungen haben die Erfahrung gemacht, dass die offizielle Kirche sie eher verurteilt als begleitet. In einem Beispiel nach dem anderen sind Missbrauchsopfer nicht respektiert und begleitet worden, weil die Amtsträger den Skandal vermeiden wollten, den die Anerkennung ihres Schmerzes mit sich bringt.

Vor einigen Wochen haben wir alle erlebt, wie das Rechtsgutachten in Köln veröffentlicht wurde. Direkt danach wurde ein Weihbischof von seinem Amt entpflichtet. Danach schrieb er: »Tiefer noch beschämt mich, zu wenig beachtet zu haben, wie verletzte Menschen empfinden, was sie brauchen und wie ihnen die Kirche begegnen muss. Das ist ein Versagen als Seelsorger und als Mensch«. Wenn ein Weihbischof das erst sagen kann, nachdem er im Missbrauchsskandal enttarnt wurde, dann müssen wir schon fragen: Wo waren Sie in all den Jahren? Womit waren Sie so beschäftigt, dass Sie nicht wissen, was verletzte Menschen empfinden und brauchen?  Sicherlich nicht mit diesen Menschen. Er hatte Zeit für die Kirchenkarriere und war immer besorgt um die Menschen, die ihn befördern konnten, anstatt sich zu kümmern um die Menschen, die seinen Schutz brauchten. Seine Sorge um den Personenkult um Kardinal Meisner und das gepflegte Denunzieren aller, die nicht jede liturgische Regel eingehalten haben, ist dilettantisch gewesen, denn er sorgte nicht dafür, dass die Regeln des Kirchenrechts eingehalten wurden, sobald es um die gebrechlichsten Menschen ging. Die Sorge um all das ließ wohl kaum Zeit übrig für die Sorge um die Seelen der Menschen. So entstehen Menschen, die am Ende Maria von Magdala am Grab weinend stehen lassen.

Johannes zeichnet einen starken Kontrast zwischen Maria und den Jüngern. In ihrer Trauer 1. denkt sie an die anderen, 2. kehrt sie zu ihnen zurück (sucht sie auf, lässt sie nicht allein), 3. erzählt ihnen ihre Geschichte (und damit etwas, was auch ihr Leben stärken könnte in einer Zeit der Trauer) und 4. nimmt dafür Umwege in Kauf nimmt (sie könnte auch im Garten bleiben, ihren Interessen nachgehen und ihren Weg fortsetzten).

Die Jünger dagegen 1. denken nur an sich und lassen Maria zurück, 2. suchen sie nicht auf, 3.  erzählen ihr nichts von ihrer Geschichte (und damit teilen sie nichts, was Marias Leben stärken könnte in einer Zeit der Trauer) und 4. gehen einfach nach Hause, wenn sie fertig sind. Keine Umwege. Kein Warten, bis Maria so weit wäre.

Eine gesunde österliche Spiritualität muss ich die Frage stellen, wie wir den Auferstandenen suchen und ihm begegnen werden. Wenn wir Ostern „weiter“ feiern wollen, dann sicherlich nicht, indem wir einander im Stich lassen.

 

Erik Riechers SAC, 14. April 2021

 

 

Ostern »weiter« feiern

 

Liturgisch feiern wir an allen Sonntagen bis Pfingsten das Ostergeheimnis. Doch in unserem Bewusstsein tritt Ostern spätestens mit dem Weißen Sonntag, also nach einer Woche, in den Hintergrund. Schade!

Dem möchten wir entgegenwirken und Ostern mit Ihnen weiter feiern - zum einen zeitlich, zum anderen auch in Formen und durch die Stimmen anderer Menschen. Um unseren Blick und unsere Herzen zu weiten, lassen wir immer wieder andere zu Wort kommen. In der vergangenen Woche war es Willi Bruners. Heute spricht zu uns Susanne Ruschmann aus Freiburg über das, was in aller Frühe geschah und geschieht:

 

Wenn du

im Dunkel des Morgens

zu den Gräbern des Lebens gehst

in deinem Herzen mehr Nacht noch

als dämmender Tag

 

wenn deine Trauer nicht enden will

über alles, was du zu Grabe trugst

deine Hoffnungen, Pläne, gescheiterte Liebe

deine lebendige Sehnsucht, die mitten im Leben erstarb

der Sinn deiner Gegenwart, von dem du glaubtest, er trüge dich

in die blühende Zukunft und über die Zukunft hinaus

 

dann erinnere dich

dass schon einmal einer

der Hoffnung und Sinn für so viele war

verspottet, gescheitert, ums Leben gebracht

begraben wurde im Abgrund Tod.

 

Und denke daran

die ihn begruben, die um ihn weinten

erlebten nicht seine Wiedergeburt

keine Rückkehr ins Leben, als sei nichts geschehen.

Alles blieb wahr: die gestorbene Hoffnung, die Trauer, der Tod.

Als sie ihn sahen, trug er sogar seine Wunden noch.

Und doch wussten sie:

jetzt blüht uns ein neuer Anfang

wie es noch nie einen gab

weil er, der selber das Leben ist

aus Grabestiefe und Todesnacht

neues Leben erweckt.

 

Dann mache dich auf

im frühen  Licht deines Ostertags

und suche das Leben.

Doch suche es nicht im Grab.

Es begegnet dir anders und neu

befremdlich zuerst,

gezeichnet und zart

mitten im Alltag.

Im Arbeiten, Lieben

im Hoffen und Trauern, im Scheitern, Beginnen.

und mitten in dir.

Susanne Ruschmann, aus: Dies. (Hg.), Es wird in aller Frühe sein. Fastenzeit und Ostern, 2009

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. April 2021

 

 

Keine Türen können ihn aufhalten

 

2. Sonntag der Osterzeit 2021                         Joh 20,19-31

 

»Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus…«

»Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte…«

 

Jesus kommt bei verschlossenen Türen. Johannes wiederholt diesen Satz zweimal. Bei einem so wortkargen Erzähler ist das immer ein Zeichen, dass es sich um etwas Wichtiges handelt. Warum? Weil, wenn etwas nur einmal gesagt wird, dann haben wir auch nur eine Gelegenheit es zu verstehen und umzusetzen.

Was aber wiederholt wird, gibt uns mehr als eine Chance, das Gesagte in uns aufzunehmen und zu verdauen. Deshalb betont Johannes zweimal, dass die Türen verschlossen waren. So signalisiert er schon im Voraus, dass diese verschlossenen Türen beide Male eine bedeutende Rolle spielen. Wenn es um die verschlossenen Türen unseres persönlichen Lebens geht, werden auch wir einen Gott brauchen, der mehr als einen Versuch unternimmt, sie zu durchzudringen.

Jedes Mal, wenn ich diese Geschichte höre, wird ein Bild meiner Kindheit in mir wieder wach. Denn als ich noch sehr klein war, schenkte mir eine Ordensfrau ein Heiligenbildchen mit dem Untertitel: Nur du kannst die Tür aufmachen. Im Bild war ein Mann zu sehen. Er saß hinter einer verschlossenen Tür, zusammengezuckt, von Angst und innerer Dunkelheit gelähmt. Draußen, vor dieser Tür, stand Jesus. Mit der einen Hand hält er eine Laterne, mit der anderen klopft er an der Tür. Und hier musste man sehr genau das Bild betrachten, denn erst dann merkte man, dass die Tür nur einen Griff auf der Innenseite hatte. Jesus kann nicht hinein, außer dass der Mann erst die Tür von innen aufschließt. Und so der Untertitel:  Nur du kannst die Tür aufmachen

Ein Teil des Bildes spiegelt die Erfahrung des Evangeliums, aber auch eine zu häufige Erfahrung unseres Lebens. Wir leben oft hinter verschlossenen Türen. Wir fühlen uns eingeengt und eingeschlossen. Aber auch wenn wir selbst diese Türen verschlossen haben, heißt es nicht, dass wir sie von allein sie wieder aufbekommen. Wenn dann die Botschaft erklingt »Nur du kannst die Tür aufmachen«, dann kommt es wie Hohn bei uns an.

Das heutige Evangelium bietet uns eine alternative Geschichte an. Nach der Auferstehung Jesu erscheint er den Jüngern, die, wie Johannes es beschreibt, in einem Raum versammelt waren, voller Furcht, hinter verschlossenen Türen. Jesus kommt direkt durch die verschlossenen Türen, stellt sich in die Mitte ihrer Ängste und haucht Frieden auf sie aus. Eine Woche später macht er es wieder. »Acht Tage darauf… Die Türen waren verschlossen.«

So niedlich wie das Bildchen meiner Kindheit war, harmlos war es nicht. Denn es kann eine Frage nicht beantworten, die Johannes klar beantwortet. Was ist, wenn wir die Tür unserer Ängste nicht öffnen können? Solche Lebenssituationen kommen gelegentlich vor. In diesen Tagen erzählten mir Menschen von einer Frau die sich das Leben genommen hat. Die Erzählung war erfüllt von Betroffenheit und tiefer Traurigkeit, aber auch von Hilflosigkeit.  Warum konnten wir sie nicht erreichen? Warum konnten wir nicht hinter diesen verschlossenen Türen ihres Herzens erscheinen, um etwas zu tun, etwas zu bewirken? Ja, hier begegnen wir den Grenzen unseres menschlichen Könnens. Und wo wir an diese Grenze stoßen, werden wir die Worte hören, die Jesus zu Petrus sprach, als dieser am Ende seiner Vorstellungskraft von dem, was möglich ist, angelangt war: Für Gott aber ist nichts unmöglich.

Wir sollten uns allerdings nicht als immun gegenüber solchen Stunden wähnen. Manchmal haben auch wir zu viel Angst, um die Türen zu öffnen. Andermal sind wir von Sorgen gelähmt. Manchmal können wir einfach die Kraft nicht finden oder aufbringen aufzustehen, um die Türen wieder aufzumachen.

Was dann? Heißt das, dass Jesus dann die Achseln zuckt und davongeht, nur weil wir die Tür nicht öffnen konnten? Sollten unsere Augenblicke der Schwäche, der Dunkelheit, der Schwere und der Lähmung die Orte bestimmen können, die Gott betreten darf?

Die biblische  Erzählung verneint so eine Vorstellung ganz energisch, eben zweimal. Denn beide Male kommt Jesus hinter verschlossene Türe zu uns. Haben wir es uns wirklich anders vorgestellt von diesem Jesus, von dem wir singen »da sprengt er Riegel, Schloss und Stein«? Wenn weder das Holz des Kreuzes ihn festhalten konnte, noch das mit Felsen versiegelte Grab ihn einzusperren vermochte, welche Chance haben dann von Menschenhand verschlossene Türen, seien sie in unseren Häusern oder in unseren Herzen?

Wenn wir vor Angst und Dunkelheit so gelähmt sind, dass wir uns selbst nicht mehr helfen können, wenn wir zum Augenblick kommen, wo wir es nicht mehr schaffen, die Tür zu öffnen, um Licht und Leben hineinzulassen, dort kommt Gott immer noch durch verschlossene Türen.

Gott kommt durch alle verschlossenen Türen unseres Lebens, stellt sich in die Mitte unserer Ängste und haucht den Frieden über uns aus. Es gibt Türen, die wir höchst persönlich abgeschlossen und verriegelt haben. Die Liebe Gottes steht nicht hilflos vor solchen verschlossenen Türen. Eben weil er auch hinter verschlossenen Türen erscheint, erkennen wir, dass es keine Gott-losen, keine Gott-leeren Räume geben kann.

Diese Erfahrung kann unser Leben verändern. Eine Frau schrieb mir in diesen Tagen: »Ich entdeckte, dass ich Liebeskummer mit meinem persönlichen Gott habe. Und irgendwie war es trotz Schmerz befreiend für mich. Weil ich so das erste Mal in meinem Leben erkannt habe, und gerade spüre, dass es keine gottlosen Räume gibt. Das ist ganz neu für mich. Eine ganz neue Erfahrung.«

Das heißt nicht, dass alles sofort gut wird, dass alle Sorge weicht und nur noch Leichtigkeit in uns herrscht. Denn, wie Johannes so treffend erzählt, nachdem Jesus schon einmal hinter verschlossene Türen kam, um die Ängste seiner Menschen zu lindern, ist es nur acht Tage später, wo wir dann hören, dass die Türen wieder verschlossen sind. Wir brauchen mehr als eine Chance, um vieles im Leben hinzubekommen. Wir haben das große Glück, dass der Herr, der zweimal für uns auf steinerne Tafeln schreibt, der Herr, der für uns zweimal im Staub schreibt, auch der Herr ist, der zweimal hinter verschlossene Türen kommt.

Und doch sollten wir hier die Botschaft nicht verkennen. Hier spricht Johannes uns Trost zu. Denn von woher kommt die Stimme Jesu, die so gerne wieder mit uns sprechen möchte? Im Bildchen kommt sie von außerhalb des Hauses. Dort steht die Tür zwischen einem Menschen und Jesus. Und diese Stimme fordert uns auf, die Tür zu öffnen.

In Johannes kommt die Stimme von innerhalb des Hauses. Der Jesus, der sich liebend gerne mit uns unterhalten möchte, steht im Raum unserer Ängste. Keine Türe steht zwischen unserer Zaghaftigkeit und seiner Bereitschaft, zwischen unserer Schwäche und seiner Kraft. Das ist wahrer Trost, denn diese zweifache Erzählung erinnert uns, dass all diese Dinge Raum und Platz und Zeit bekommen in den Räumen unserer Begegnungen mit Jesus. Seine Stimme ist neben uns, dort wo wir sind. Diese Stimme kommt in die Räume, wo wir bedrängt, eingeengt und gefangen sind.

Auch diese Auferstehungsgeschichte erzählt uns von der Erfahrung der Jünger mit der andauernden und doch verwandelten Gegenwart Jesu. Und heute hören wir zweimal, dass diese Gegenwart des Auferstandenen eine begleitende Präsenz ist, bereit, alle unsere Räume zu betreten, ob wir sie schon aufgeräumt haben oder nicht. Die Gegenwart Jesu macht uns die Türen von innen auf, damit wir wieder ins Leben hinausgehen können.

Hier ist einer, der präsent, nahe und gegenwärtig die Räume unseres Lebens betritt. Wir Menschen haben jede Menge Berührungsängste. Jesus teilt keine einzige davon.

Natürlich haben wir immer noch alle unsere Freiheiten hinter diesen Türen. Wir können sie geschlossen halten. Wir können weiterhin dort bleiben. Es gibt Türen, die wir persönlich verschlossen und verriegelt halten. Aber wir sollten niemals, niemals die Freiheit Gottes unterschätzen. Die Liebe Gottes steht nicht hilflos vor solchen verschlossenen Türen. Denn es gibt keine gottlosen, keine gottleeren Räume. Wir Menschen können zwar ziemlich hartnäckig sein, aber verglichen mit der Hartnäckigkeit Gottes sind wir alle nur Amateure. Gott kommt nicht nur einmal.

 

Erik Riechers SAC, 11. April 2021

 

 

Wenn das einer könnte

 

Wie ein Schmetterling möchten viele leben; leicht soll es sich anfühlen, einfach schön, vielleicht gemütlich, gern gesellig - wo können wir gut essen, was ziehen wir an? Geschichten von Leid? Schnell weiter- will ich nicht hören! Es ist doch schon schlimm genug, dass wir so lange nicht verreisen dürfen! Du machst dir Sorgen? Gönn‘ dir etwas Schönes, lenk‘ dich ab! Schmerzen? Dagegen gibt’s Mittel! Narben von alten Verwundungen? Alles überdeckt, verschwiegen, schön geredet.

Aber das Leben ist nicht nur leicht – weder in der großen Welt noch in der kleinen und in keinem einzelnen Menschenleben. Hunger, Flucht, Kriege sind Realitäten genauso wie Krankheit, Verlust, Trennung und Schmerz. Warum haben wir Angst, diese Wirklichkeit genauso anzunehmen wie die hellen Seiten des Lebens?

Warum tun wir uns so schwer, das Dunkle anzuschauen und Ja zu sagen zu Verletzungen und Vernarbungen, sie weder zu verleugnen noch zu verdammen?

Ist es nicht das Außergewöhnliche unseres Glaubens, dass wir einem Meister folgen, der das Leben in seiner ganzen Spannbreite durchlebt und durchlitten hat und nichts verdeckt, nichts schönredet? Die Narben sind geradezu das Erkennungszeichen des Auferstandenen. Sie gehören zu ihm so wie jedes Leid, das wir durchstehen, zu uns gehört. Wenn wir dies begreifen, brauchen wir weder ein andauerndes religiöses Hochgefühl, das so tut, als müssten wir nur richtig glauben und alles sei einfach. Noch müssen wir eine oberflächlich leichte Fassade aufrechterhalten aus Angst, das Schwere nähme uns etwas vom Leben. Wenn wir unsere eigenen Wunden annehmen könnten, dann würden wir auch nicht all jene Menschen ignorieren und an den Rand drängen, die leiden, weil deren Schmerz uns an unseren eigenen Schmerz erinnert.

Es könnte österlicher Friede in unsere Herzen und Gemeinschaften einkehren, in dem alles seinen Platz hat und das ganze Leben Gewicht bekommt.

Willi Bruners fand dafür vor vielen Jahren wunderbare Worte.

 

»Friede sei mit euch!

Nach diesen Worten zeigte

er ihnen seine Hände und

seine Seite«

(Joh 20, 19f)

 

Wenn das einer könnte

 

seine Narben zeigen

seine Wunden, das Blut

noch nicht getrocknet

 

            und nicht fluchen

            nicht richten

 

wenn das einer könnte

 

die Reihe wäre an ihm

den Himmel auszugraben

 

die vergessenen Toten

 

            aus: Wilhelm Bruners, Verabschiede die Nacht, S. 74

 

Rosemarie Monnerjahn, 9. April 2021

 

 

Schritt für Schritt

 

Ostern ist kein Fest für ein, zwei Tage. Wir feiern es in der Liturgie wochenlang. Wir nähern uns dem Geheimnis, wir buchstabieren es immer wieder neu. Das hat seinen Grund. Auferstehung erfahren ist nämlich kein triumphalistisches Ereignis, das über uns kommt und mit einem Schlag alles klärt. Das war es von Anfang an nicht. Da sind die biblischen Erzählungen eindeutig. Immer war und ist es ein zartes, fragendes Herantasten, das schließlich das Herz erwärmt und uns in Bewegung bringt.

Willi Bruners hat es so ins Wort gebracht:

Schritt für Schritt

lichtet sich das Chaos

wird das Leben erkennbar

das vor uns liegt

Hungrige Menschen

                       speisen

die auf Brot warten

Kranke Menschen

                  besuchen

die sich voll Erwartung 

nach einem guten Blick

                            sehnen

Tote herausrufen

die auf Worte

der Auferweckung

hoffen

 

Wenn wir ausziehen

aus dem Haus

unserer Ängste

und Enttäuschungen

werden wir wieder frei

füreinander

und geben dem Dämon

endloser Totenrede den Laufpass

 

Neu entdecken wir

die Lebensspur

neu entdecken wir den Auferweckten

neu entdecken wir im Chaos

die großen Zusammenhänge

die uns langsam aufgehen

und durchsichtig werden

auf eine offene Zukunft

in und mit

 

IHM

                                                                 w.bruners

 

Vielleicht nehmen wir uns in diesen Osterwochen immer wieder Zeit für einen inneren und auch äußeren Weg nach Emmaus. Wir könnten Fragen, Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen in uns wahrnehmen und benennen. Wir könnten den Auferstandenen in neuen Möglichkeiten und Lebensräumen erahnen und entdecken auf eine Weise, die wir nie erwarteten.

Öffnen wir die Augen und Ohren unserer Herzen, damit uns unser Osterlicht immer wieder neu aufgeht!

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. April 2021

 

 

 

Da wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten ihn

 

Ostermontag 2021                         Lk 24, 13-35

 

Die Auferstehungsgeschichten der biblischen Erzählung sind reich und komplex zugleich. Sie erzählen uns von der Erfahrung der Jünger mit der andauernden und doch verwandelten Gegenwart Jesu. Und das ist der Grund, warum es keine ekstatischen Auferstehungsgeschichten gibt. Die Jünger sind froh, dass Jesu Gegenwart andauert, aber sie können sich nicht leicht mit der Art und Weise abfinden, wie seine Gegenwart verwandelt worden ist. Sie sind immer wieder erschrocken, meist überwältigt, häufig verängstigt und größtenteils ahnungslos.

Gerade weil es so schwierig ist, sich auf diese verwandelte Gegenwart Jesu einzustellen, offenbaren uns alle Auferstehungsgeschichten vier Erkennungszeichen für die Art und Weise, wie der auferstandene Herr in unser Leben tritt.

  1. Zuerst tritt er in unsere gegenwärtige, ungefilterte und unbereinigte Lebenssituation ein.
  2. Er kommt unbekannt und ungebeten.
  3. Er offenbart sich zunächst als freundlicher Nachbar.
  4. Erst nach der Erfahrung der Wirkung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben erkennen wir ihn als Meister und Herrn.  

  

  1. Zuerst tritt er in unsere gegenwärtige, ungefilterte und unbereinigte Lebenssituation ein.

Die gegenwärtige Lebenssituation der Jünger ist niederschmetternd. Sie lebten einst mit der großen Gewissheit, dass Jesus ein Prophet war, »mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk«. Mit seinem Tod verwandelte sich diese »große Gewissheit« in die »große Ernüchterung« für die Jünger. Sein Tod beendete nicht nur sein physisches Leben, sondern in den Herzen und Köpfen dieser Jünger wurde auch die Wahrheit, an die er glaubte, seine große Gewissheit, dass Gott gnädig und barmherzig ist, zerstört.

»Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde.«

Es ist ein niederschmetternder Satz, denn es wird von Hoffnung in der Vergangenheitsform gesprochen. Wie viele Fragen sind in diesem einen Satz verwoben? Kann die letzte Macht des Lebens barmherzig sein, wenn gerade dieser Mann und alles wofür er stand, gekreuzigt wird? War die freudige Zuversicht, die Jesus auszeichnete, nur eine Fata Morgana?  Welche Art von Liebe erlaubt es Pilatus, in seinem Bett zu sterben und Jesus an das Holz zu nageln?

 

  1. Er kommt unbekannt und ungebeten.

Die Auferstehung ist die Erfahrung der Jünger mit der fortdauernden und doch verwandelten Gegenwart Jesu. Aber weil diese Gegenwart Jesu verwandelt worden ist, erkennen sie ihn nicht. Seine Auferstehung löst nicht die Rätsel der menschlichen Existenz.

Ein langer, liebevoller Blick auf die Realität dieser Auferstehungsgeschichte zeigt uns, dass die beiden Jünger Jesus begegnen und mit ihm unterwegs sind, aber das macht weder alles kristallklar, noch löst es ihre Zweifel und Ängste auf oder beruhigt ihre aufgewühlten Herzen.

Die beiden teilen ihren Weg und ihre Geschichten mit Jesus, aber seine Anwesenheit setzt nicht allen Stürmen ihres Lebens ein Ende, so dass sie nun beruhigt nach Hause zurückkehren könnten.

Ich erinnere Sie behutsam daran, dass dies eine Geschichte ist, in der von Hoffnung in der Vergangenheitsform gesprochen wird. Die beiden schütten ihren Kummer über die bösartige Verfolgung durch die Hohepriester und die Führer des Volkes aus. Sie erwähnen, dass »heute schon der dritte Tag« ist,  aber es werden keine Alarmglocken ausgelöst.

Sie sprechen von den bemerkenswerten Frauen ihrer Gemeinde.

Als die Zwölf ihn verließen, blieben die Frauen.

Als der Morgen noch dunkel war, brachten die Frauen die wohlriechende Gewürze.

Als das Grab leer war, verkündeten die Frauen die Frohe Botschaft.

Als die Männer ihnen nicht glaubten, gaben die Frauen nicht auf.

Aber nichts von alledem, keine ihrer eigenen Geschichten, scheint irgendeine Wirkung auf sie zu haben. Und die Gegenwart des auferstandenen Herrn verändert nicht die Art und Weise, wie sie ihre eigene Geschichte als Erfahrung hören und bedienen.

Warum ist das alles immer noch so verwirrend? Weil die Auferstehung die Rätsel der menschlichen Existenz nicht löst. Der auferstandene Herr ist ihr Begleiter, aber niemand in dieser biblischen Erzählung kann herumlaufen und singen »Verschwunden sind die Nebel all«.

Das ist nicht die Art und Weise, wie Auferstehung funktioniert. Das Merkmal unseres Christseins ist nicht, dass wir über die kommende himmlische Zukunft bestens informiert sind. Die Auferstehung klärt nicht ein für alle Mal das Geheimnis der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk.

Stattdessen lehrt sie uns, dass diese Beziehung real ist. Unsere Erfahrungen mit dem auferstandenen Herrn werden dort zu finden sein, wo sie unsere Zweifel und Unsicherheiten begleiten. Der auferstandene Herr wird uns zuerst auffordern, unsere Geschichten in ihrer ganzen betäubenden, verwirrenden, unordentlichen und chaotischen Fülle zu erzählen. Der auferstandene Herr ist nicht derjenige, der plötzlich auftaucht und sagt: »Ich bin wieder da. Macht euch keine Sorgen. Jetzt werde ich euch alles erzählen.« Er ist derjenige, der zuerst sagt: »Erzähle mir alles«.

Der auferstandene Herr führt uns allmählich in die Fülle des Geheimnisses dieser Beziehung ein.

 

  1. Er offenbart sich zunächst als freundlicher Nachbar.

Die Auferstehung ist die ursprüngliche religiöse Erfahrung für Christen, aber sie löst das Geheimnis Gottes oder unseres Lebens mit ihm nicht auf. Alle Auferstehungsgeschichten zeigen uns, dass die Jünger von der Auferstehung genauso schockiert sind wie von der Kreuzigung.

Wie alle Handlungen Jesu ist auch die Auferstehung eine Einladung. Er lädt uns ein, den Tod zu überwinden. Und wie? Indem er unser gegenwärtiges, ungefiltertes, unbereinigtes und reales Leben nimmt und es unwiederbringlich in die geheimnisvolle Beziehung eintaucht, die Gott mit seinem geliebten Volk genießt. Ostern ist eine Einladung in eine Welt der Möglichkeiten und Perspektiven, an die wir noch gar nicht gedacht haben. »Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.«

Die Auferstehungserfahrung ist zunächst mit einem gütigen Nächsten und Mitmenschen verbunden, der unsere Perspektiven auf all die Orte zwischen Himmel und Hölle öffnet, an denen das Leben erblühen kann.

Als Jesus ihnen all das präsentierte, wovon Mose, die Propheten und die ganze Heilige Schrift zu berichten haben, erinnerte er sie daran, dass wilde Dinge geschehen, wenn man es wagt, mit Gott zu gehen.  Er führt sie sanft zu einer Lektion, die John Shea so formuliert hat: »Die meisten Menschen, die tief von Gott getrunken haben, sind wild durchs Leben gelaufen«.  Jesus erzählt ihnen die Geschichten von Gott und die Geschichten des Glaubens, und diese Geschichten erzählen davon, wie die Gnade schleichend am Werk ist und unsere Wunden heilt. Das geschieht auf dem Weg nach Emmaus, während er davon erzählt. »Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete?« Er erzählte ihnen die Geschichten von einem Gott, der überraschende Einladungen ausspricht, und von einer langweiligen alten Welt, die von der unerwarteten Kraft des Menschensohns durchschossen wird.

Die Auferstehungsgeschichten sind Geschichten des Glaubens. Sie sind ein poetischer Überschwang von Glaubenserfahrungen. Was auch immer sie über den auferstandenen Herrn sagen mögen, sie erzählen uns mehr über uns selbst und wie wir das Leben nach der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn realistisch erleben.

 

  1. Erst nach der Erfahrung der Wirkung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben erkennen wir ihn als Meister und Herrn.  

Das ist es, was uns alle Auferstehungsgeschichten lehren. Erst jetzt und nur allmählich werden uns die Augen geöffnet. Unsere Herzen brennen lange Zeit, während wir unterwegs sind, bevor sie erkennen, wer der Brandstifter ist.

Die Auferstehung und die Herausforderung, das Leben über den Tod hinaus zu gestalten, ist für uns schwierig, damals wie heute, weil die Gnade durch die unwahrscheinlichsten Menschen wirkt. Hier ist einer, der sie aus ihrem Kummer und ihrer Depression herausholt. Sie erkennen ihn zunächst nicht, so wie Maria nicht erkennt, wer der Gärtner ist, der das für sie tut. Erst die Erfahrung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben, dann das Wissen, wem wir da begegnen. Hier ist einer, der sie zu neuen Perspektiven jenseits alter Schuld führt. Sie werden ihn zunächst nicht erkennen, so wie der Petrus den fischkochenden und brotbackenden Mann am Ufer des Sees von Tiberias nicht erkennt, der genau das Gleiche für ihn tut. Erst die Erfahrung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben, dann das Wissen, wem wir da begegnen. Hier ist ein guter Mann, der sie über die zu großen Enttäuschungen und die zu kleinen Geschichten hinausführen wird. Erst am Tisch werden sie ihn voll erkennen. Erst die Erfahrung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben, dann das Wissen, wem wir da begegnen. 

Halten Sie also die Augen offen für die Zeichen des Auferstandenen:

  1. Zuerst tritt er in unsere gegenwärtige, ungefilterte und unbereinigte Lebenssituation ein.
  2. Er kommt unbekannt und ungebeten.
  3. Er offenbart sich zunächst als freundlicher Nachbar.
  4. Erst nach der Erfahrung der Wirkung seiner verwandelten Gegenwart in unserem Leben erkennen wir ihn als Meister und Herrn.  

 

Erik Riechers SAC

Ostermontag, 5. April 2021

 

 

Der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht

 

Ostersonntag 2021                         Joh 20, 1-11

 

In Genesis 28, 16-17 kommt Jakob, der an sich und an dem Ort, an dem er sich gerade befindet, überhaupt keine Gotteserfahrung erwartet, zu einer erstaunlichen Erkenntnis.  »Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. Und er erschrak und sagte: Wie großartig ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als das Haus Gottes, und dies ist die Pforte des Himmels.«

Wenn es um die Auferstehung geht, meinen viele von uns, dass sie an irgendeinem Ort stattfinden wird, außer in uns selbst und an den Orten, an denen wir wohnen. Doch die heutige Geschichte aus dem Johannesevangelium führt uns im Garten, in dem der Stein weggerollt wird, zu der gleichen erstaunlichen Erkenntnis, die Jakob in der Wüste mit einem Stein unter dem Kopf hatte. »Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.«

Versteckt in den Falten von Johannes' Geschichte ist eine ältere Geschichte von Liebe und Sehnsucht. Sie leitete sein Herz und seine Hand, als er seine erste Ostergeschichte für uns schrieb.

Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, /

den meine Seele liebt. /

Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, /

die Gassen und Plätze, /

ihn suchen, den meine Seele liebt.

Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Mich fanden die Wächter / bei ihrer Runde durch die Stadt.

Habt ihr ihn gesehen, / den meine Seele liebt?

Kaum war ich an ihnen vorüber, /

fand ich ihn, den meine Seele liebt.

Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los, /

bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte, /

in die Kammer derer, die mich geboren hat.

Hohelied der Liebe 3, 1-4

 

Wenn Sie eine vertrauenswürdige und trittsichere Begleiterin auf dem Weg zum auferstandenen, erlösten Leben suchen, empfehle ich Ihnen Maria von Magdala. Sie kann uns von einem der schlimmsten Probleme des Osterglaubens heilen: der Romantisierung der Auferstehung.

Zu oft sprechen und singen wir über die Auferstehung als etwas Fertiges, als ein Endprodukt. Aber nicht alle Dunkelheit, die schwer auf unseren Herzen lag, ist verschwunden. Wie die Jünger in jeder Auferstehungsgeschichte haben wir ein Problem: Niemand von uns lebt ein so antiseptisches Leben.

Wir träumen vom auferstandenen, erlösten Leben; von Freundschaften, die nach langem Winterschlaf wieder zur Lebendigkeit erwecken; von der Wiederbelebung alter Liebesgeschichten, die lang verloren sind; von Frieden, der Krieg ein Ende setzt, von Essen, das auf Hungersnot folgt, von Gesundheit, die Krankheit ersetzt, und von Freiheit, die Unterdrückung trumpft.

In der Tat ist dieses Leben für Jesus erfüllt, aber nicht für uns. Auf unserer Seite des Grabes erleben wir die Verheißung des auferstandenen Lebens wie Maria im Garten: weder ganz vollendet noch eine Hoffnung in der fernen Zukunft. Maria von Magdala ist die Begleiterin in dieses Geheimnis, denn sie allein geht alle Schritte durch, die dieser Prozess verlangt. Sie nimmt keine Abkürzungen und gibt nicht mitten auf dem Weg auf (im Gegensatz zu Petrus und Johannes, die einfach wieder nach Hause gehen). Sie lehrt uns: dieses auferstandene Leben ist kein Besitz, sondern ein Prozess, der sich in uns durch die Kraft Gottes entfalten muss. Das ist wichtig, wenn Ostern nicht nur ein Innehalten auf dem Weg der Verzweiflung sein soll.

Diese erste Ostererfahrung von Maria gleicht der Erfahrung, die wir im Laufe unseres Lebens unzählige Male gemacht haben. Unser Leben ist schmerzlich unvollständig und unvollkommen. Nur wer diese Erfahrung ernst nimmt, versteht den tiefsten Grund für den Tod Jesu: Eine wahre Liebe, die etwas erlösen will, muss bereit sein, für das zu kämpfen, was sie liebt. Authentische Liebe sucht »den, den meine Seele liebt«. Wir werden nicht das Blut unseres Herzens für das vergießen, was wir nicht erlösen wollen.

Im Hohelied sehen wir diese Bereitschaft, für das zu kämpfen, was uns ans Herz gewachsen ist. Was für einen gewaltigen und mühsamen Aufwand an liebevoller Anstrengung macht diese Frau um ihrer Liebe willen: Lange Nächte lang zu suchen und nicht zu finden, wonach sie Ausschau hält; die Stadt zu durchstreifen, die Straßen und Plätze zu durchkämmen; andere anzuhalten und zu befragen in der Hoffnung, einen Hinweis, eine Richtung zu finden; den Geliebten zu packen, nicht loszulassen und ihn nach Hause zu bringen.

In der Evangeliumsgeschichte vom ersten Ostermorgen schaut Johannes bewundernd auf Maria von Magdala und erkennt dieselbe Bereitschaft zum Kampf um der großen Liebe willen, die er aus dem Hohelied kannte. Maria ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die alttestamentliche Sängerin: Sie steht früh auf, wandert durch die Dunkelheit, nur um Leere zu finden. Sie geht zurück zum Ausgangspunkt und bespricht die Situation mit anderen, findet aber wenig Verständnis und keine Unterstützung; sie geht wieder zurück in den Garten, nachdem sie von ihren Begleitern zurückgelassen wurde. Sie steht vor dem Grab (draußen vor). Sie braucht eine Zeit zum Weinen, von der Kohelet wusste, dass sie kommen muss. Sie wagt es, in die Leere zu starren. Sie riskiert, befragt zu werden. Sie wendet sich ab von Dunkelheit und Enge zu Licht und Weite, vom Grab zum Garten. Und dann gibt es mehr Fragen, mehr Erkennen und noch mehr Loslassen

Aber Johannes bleibt nicht dabei stehen. Er sieht diese Bereitschaft, um der Liebe willen zu kämpfen, in dem auferstandenen Herrn. Die zugrunde liegende Frage ist: Wen liebt meine Seele? Das ist in der Tat die Kernfrage. Gott antwortet auf diese Kernfrage der Liebe. Zu unserem bleibenden Erstaunen, und oft zu unserem Unglauben, sind wir die Antwort. Jesus, der Auferstandene, sagt uns, dass wir diejenigen sind, für die er bereit war, um der großen Liebe willen zu kämpfen.

Das ist die ewige Botschaft der Erzählungen Gottes. Sie zeigen uns einen Gott, der bereit ist, Herzblut zu vergießen für die Menschen, die er wahrhaft liebt. Sie zeigen uns einen Gott, der bereit ist für uns zu ringen. Wenn es nicht so wäre, braucht er das Rote Meer nicht zu spalten und sich anzulegen mit Militärmächten. Wenn es nicht so wäre, dann braucht er keine Kohlenhydrate vom Himmel regnen zulassen. Dann dürfen Felsen weiterhin stur und stumm kein Wasser hergeben, auch wenn durstige Menschen davor jammern. Wenn Gott nicht um uns ringen würde, dann wäre die erste Gartengeschichte von Adam und Eva die letzte gewesen, und die heutige Gartengeschichte von Jesus und Maria hätte es nie gegeben.

Johannes weiß das alles und doch erkennt er mit dem Auge des Adlers auch, dass dieses auferstehende, erlösende Leben nicht nur in Gott, sondern auch in Maria pulsiert. Und in uns. Dieses Auferstehungsleben weigert sich, den, den meine Seele liebt, abzuschreiben und aufzugeben. Dieses Leben schreibt weiter an menschlichen Geschichten, die andere längst ins Grab gelegt haben. Dieses Herz ist in unserem Gott zu finden, aber es ist auch in seinem geliebten Volk zu finden. Es ist ein Herz, das weiß, wofür es sich zu kämpfen, wofür es sich zu leiden lohnt.

Vielleicht ist dies das bestgehütete Geheimnis des christlichen Glaubens. Wir tragen eine erlösende Liebe in uns. Erlösung ist nur ein anderes Wort für die göttliche Weite, die Gott allen Menschen an all den engen Stellen schenkt, an denen ihr Leben auf dem Spiel steht, ganz gleich, wie sie dorthin gekommen sind oder ob sie den Namen des Herrn kennen. Wir haben Anteil an diesem Erlösungswerk, weil auch wir fähig und willens sind, um der großen Liebe willen um das Leben der Welt zu ringen. Warum sonst kämpfen wir mit Arbeitslosigkeit, sozialer Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Ungleichheit? Warum wurschteln wir uns durch komplizierte Beziehungsgeschichten und werfen nicht gleich das Handtuch? Warum verbiegen wir uns für Menschen, die unsere Bemühungen nicht immer zu schätzen wissen? Warum ziehen wir uns nicht sofort zurück, wenn Tod, Krankheit oder Verzweiflung das Leben anderer anstecken und unser Leben belasten?

Wir leben in einer Zeit, in der wir uns von der Krise überrollt fühlen. Unser Vertrauen in die Zukunft ist erschüttert. So schließen Sie sich mir an, liebe Osterleute, nicht in triumphalistischen und unrealistischen Hymnen der österlichen Herrlichkeit, sondern in der erdverbundenen, geerdeten Geschichte einer bemerkenswerten Frau und ihrem Gang in diesen Garten.

Denkt daran, meine lieben Grabgänger und Gartengäste: Wir werden nie um das ringen, was wir nicht lieben. Wir werden nie für das ringen, was uns nicht am Herzen liegt. Wir werden nie etwas aufs Spiel setzen für das, was uns kalt lässt. Gott ringt mit uns und für uns, und das ist das einzig sichere und zuverlässige Zeichen der Liebe. Er gießt diese auferstehende, erlösende Liebe in uns, und sie macht uns bereit zu kämpfen, füreinander, für die Welt, für Gerechtigkeit, für die Kinder, für die Armen. Auferstehung fließt durch unsere Adern.

Der Weg Jesu, der Weg des Evangeliums und der Weg einer österlichen Spiritualität sind die Wege des Ringens. Ringen wird uns sehend machen. Wir werden sehen, was wir wirklich lieben. Wir werden sehen, wofür es sich zu ringen lohnt. Wir werden sehen, was wirklich in unserem Herzen ist. Geh voran, Maria von Magdala. Und erinnere uns daran, dass es Dinge gibt, die man nur mit weinenden Augen sehen kann.

 

Erik Riechers SAC

Ostersonntag, 4. April 2021

 

 

Was ist das für eine wundersame Liebe?

 

Karfreitag B 2021                         Joh 18, 1 – 19, 42

 

Es ist leicht genug, sich in der dramatischen und herzzerreißenden Passion Jesu zu verfangen. Diese Erzählung lässt uns die Tiefe seines Schmerzes mit einer neuen Heftigkeit spüren. Da wir seine Unschuld kennen, sind wir umso mehr entsetzt über die Ungerechtigkeit, die ihm angetan wurde. Da wir seine Güte kennen, sind wir umso entsetzter über die Grausamkeit, die er um unseretwillen ertrug. Die Bösartigkeit macht uns wütend, die Tragödie zerreißt uns das Herz, und sein erniedrigender Tod hat unsere Seelen über Jahrhunderte hinweg traurig gemacht.

Vor einigen Jahren nahm eine Lehrerin eine Gruppe von Kindergartenkindern mit auf einen Rundgang durch die Kirche. Der Kreuzweg bewegte einen der kleinen Jungen in der Gruppe besonders. Während er die Stationen entlangging und die Geschichte der Passion Christi verfolgte, wurde er immer unruhiger. Schließlich stand er unter dem großen Kreuz in der Kirche und sein jugendlicher Sinn für Empörung und Ungerechtigkeit brach hervor. Die Hände in die Hüften gestemmt, mit Trotz in der Stimme, platzte der Junge heraus: »Ich werde die Typen töten, die Jesus getötet haben!«

Meine Freunde, das ist nicht die höchste Theologie des Kreuzes, die ich je gehört habe, aber sie berührt das eine Geheimnis dieses Tages, das uns am meisten am Herzen liegen muss. Wie der kleine Junge muss uns das Leiden und Sterben Jesu Christi tief berühren und uns persönlich bewegen. Wie der kleine Junge muss die Passion Christi in denen, die mit ihm den Weg nach Golgatha gehen, eine Leidenschaft für Christus wecken.

Aber, damit wir auf noch tieferen Ebenen als Trauer und Wut uns berühren lassen, müssen wir drei Facetten des Geheimnisses betrachten, das sich an diesem Tag über uns erhebt.

(I)

Es ist die Liebe, die Christus ans Kreuz bringt. In der ganzen Passionsgeschichte des Johannes hören wir, wie Christus durch die allmählichen Stadien des Weges zum Kreuz kommt. Dennoch macht Johannes sehr deutlich, dass Jesus überhaupt nicht hätte gehen müssen, wenn er nicht gewollt hätte. Dies ist nicht das Leiden und Sterben eines machtlosen Mannes. Als Judas mit dem Trupp in den Garten kommt, rennt Jesus nicht weg und versteckt sich. Er tritt freiwillig vor, um sich der Stunde zu stellen. Als er dem Lynchmob gesteht, dass er derjenige ist, den sie jagen, fallen die Soldaten zu Boden. Jesus bietet sich für die Verhaftung an, besteht aber darauf: »Wenn ihr also mich sucht, dann lasst diese gehen!« Unerschrocken und furchtlos steht er vor dem Sanhedrin.  Angesichts des Beharrens von Pilatus, dass er Macht über ihn habe, erwidert Jesus: »Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre.«

In der Tat macht diese Vollmacht, das Kreuz zu vermeiden, den Tod Christi noch viel erstaunlicher. Die Strecken, die er bereit war, für uns zu gehen, in Leiden und Tod, finden ihre wahre Bedeutung in der Tatsache, dass er überhaupt nicht gehen musste. Dies ist ein freiwilliger Tod, ein frei gewähltes Leiden. Es ist ein Sterben, das sich durch die Jahrhunderte hindurch in Müttern und Vätern widerspiegelt, die ihre persönliche Sicherheit über Bord werfen, um in ein brennendes Gebäude zu rennen, um ihre Kinder zu retten. Es ist ein Sterben, das sich in einer zarten Geschichte widerspiegelt, die von Schwester Joan Delaplane erzählt wird.

»Der fünfjährige Johnny Quinn liebte seinen großen Bruder Tommy. Der Arzt erzählte Johnny, dass sein Bruder sehr krank sei und eine Bluttransfusion brauche, und der Arzt fragte: 'Johnny, wärst du bereit, deinem Bruder etwas Blut zu spenden?' Johnny schluckte schwer, seine Augen wurden groß, aber nach einem Moment des Zögerns sagte er: ‚Sicher, Doktor‘. Der Arzt nahm das Blut ab und Johnny lag ruhig auf dem Tisch. Ein paar Minuten später schaute Johnny zu dem Arzt auf und sagte: 'Wann sterbe ich, Doktor?' Erst da erkannte der Arzt das Ausmaß der Liebe dieses kleinen Jungen.« 

Es ist Liebe, nicht Gewalt, die Eltern in das Inferno schleudert. Es ist die Liebe, nicht die Gewalt, die Johnny dazu bringt, sein Blut für seinen Bruder zu vergießen. Es ist die Liebe, nicht die Gewalt, die Christus ans Kreuz bringt.

Dieser Moment muss unsere Herzen zum Bersten bringen. Wir sind der Grund, warum Christus nach Golgatha kommt. Er hegt eine so tiefe Liebe zu uns, dass er gerne auf sich nimmt, was er leicht vermeiden könnte. Für uns begibt er sich in ein Elend und eine Grausamkeit, die augenblicklich gelindert würden, wenn er nur sein Herz von unserem Schicksal lösen würde. Wenn wir vor Pilatus in Gabbatha stünden, an dem Ort, der »Lithóstrotos« genannt wird, wären wir nicht versucht, ihm zuzurufen: »Lass uns zurück, rette dich selbst.«? Doch er nimmt nicht Abschied von uns. Er nimmt das Kreuz für uns auf sich. Die Liebe, die Liebe zu uns, und nicht die Schuld bringt Christus ans Kreuz.

(II)

Das führt uns direkt zum zweiten Geheimnis des heutigen Tages. Wenn in der ersten Instanz die Liebe Christus ans Kreuz bringt, dann hält in der zweiten Instanz die Liebe Christus am Kreuz. Es ist ein Wunder des Kreuzes, dass Christus nicht zum Holz des Kreuzes gehen muss, sondern freiwillig um unseretwillen sich stellt. Es ist ein Wunder gleichen Ausmaßes, dass er nicht bleiben muss, sondern sich freiwillig dafür entscheidet zu bleiben.

Hier ist der Herr des gesamten Universums, der anwesend war, als Gott zuerst das Wasser zurückschälte, um das Werk der Schöpfung zu beginnen. Er hat die Macht, vom Kreuz herabzusteigen. Er hat die Macht, Legionen von Engeln herbeizurufen, so dass er nicht einmal seinen Fuß an einen Stein stoßen würde. Sein Wort schenkt Augen Licht, die in der Dunkelheit schmachten, und Kraft, um Beine in Gang zu setzen, die einst lahm waren.

Angesichts der Qualen des Kreuzes, des Spottes der Menge und der Demütigung durch die Soldaten, die vor seinen sterbenden Augen um seine Kleidung spielen, bleibt Jesus am Kreuz. Er verweilt an diesem erbarmungslosen Ort des Schmerzes. Er verlässt diesen entsetzlichen Moment nicht, der von gefühlloser Missachtung seiner Person und seiner Würde erfüllt ist. Erfüllt von der Agonie dieser Brutalität, die von der Haut bis zum Knochenmark nagt, bleibt Jesus am Kreuz.

Der Grund dafür ist einfach. Jesus muss zwei Werke der Barmherzigkeit vollenden. Das erste ist ein Werk der Offenbarung und das zweite ein Werk der Erlösung. Diese beiden Werke sind lebenswichtig.

In seinem Bleiben am Kreuz haben wir das Werk der Offenbarung, nämlich, dass Gott in den schmerzhaften Momenten der Liebe bei uns bleiben wird. Er wird nicht weggehen. Wir werden nicht verlassen, wenn es schwierig wird. Seine Liebe zu uns hält ihn in unserer Nähe. Das Kreuz offenbart, dass wir bis zum Tod geliebt sind.

Das zweite Werk der Erlösung ist ebenso wichtig. Wenn Christus am Kreuz bleibt, lernen wir, dass niemand durch Liebe gerettet werden kann, wenn wir nicht an den Orten des Leidens mit dem Geliebten bleiben. Das Kreuz erlöst uns, indem es uns die Erfahrung schenkt, dass wir von einem Gott geliebt werden, der an furchtbaren, schmerzvollen, blutgetränkten Orten und Zeiten, vor denen wir selbst am liebsten fliehen würden, gegenwärtig ist.

(III)

So kommen wir zu einem dritten Moment, in dem wir eine tiefere Wertschätzung für das Kreuz gewinnen. Erinnern Sie sich an den kleinen Jungen unter dem Kreuz. Er war so bewegt, dass er Rache an den Menschen nehmen wollte, die den Freund, den er in Jesus hatte, verletzt hatten. Wenn wir seine Leidenschaft auf einer erwachsenen Ebene teilen wollen, dann müssen wir uns klare Fragen stellen. Werden wir zulassen, dass unsere Liebe zu anderen uns ans Kreuz bringt? Werden wir unserer Liebe zu anderen erlauben, uns dort zu halten? Aber werden wir auch die Rache und Gewalt vermeiden, die das Kreuz oft in uns weckt?

Wir gehen nur zum Kreuz, wenn wir bereit sind, uns mit etwas anderem zu beschäftigen als mit unserer eigenen Agenda, unseren Sorgen und Bequemlichkeiten. Das ist die Frage, die das Kreuz aus unseren Herzen zieht. Lieben wir jemanden genug, um für ihn zu tun, was Christus für uns getan hat? Wenn wir von den Geschehnissen auf Golgatha ergriffen sind, dann müssen wir uns von der Liebe zum Kreuz leiten lassen, und das wird sich darin zeigen, ob wir die Orte des Leidens in unserem geliebten Menschen meiden oder umarmen. Werden wir freiwillig an die Orte gehen, wo die Liebe gekreuzigt wird? Werden wir frei an den Orten bleiben, wo die bloße Anwesenheit unserer geliebten Menschen eine Passion ist?

In diesem Jahr der körperlichen Distanzierung können wir unser geliebtes Ritual der Kreuzverehrung nicht feiern. Aber hier gibt es eine Einladung, die uns über das Ritual hinaus in das Herz und die Seele des Lebens führt.  Wenn Ihr Herz so bewegt ist wie das dieses kleinen Jungen, dann müssen Sie sich zu einer Verehrung des Kreuzes an jeden Ort bewegen, an dem es in der Landschaft Ihres Lebens aufgestellt ist. Es gibt Freunde, die im Stillen weinen, aber deren Tränen wir nicht beachten müssen. Wir sind nicht gezwungen, in das Herz ihres Leidens vorzudringen. Wir können unsere Augen vor genau den Tränen verschließen, die die ihren röten. Wir können vor ihrem Schluchzen Taubheit vortäuschen. Werden wir bleiben, wenn die Älteren uns die Geschichten erzählen wollen, die für uns langweilig und für sie eine Erleichterung sind? Wir verehren das Kreuz, wenn es eine Qual für unsere Herzen ist, die Lähmung unserer Eltern zu sehen. Wir tun es, wenn wir in die Schrecken, die ihre Seelen heimsuchen, eintauchen und in uns selbst ihre Qualen spüren. Unsere Knie beugen sich vor dem Holz des Kreuzes, wenn wir mit jeder Faser unseres Seins schmerzen, wenn wir bei Freunden stehen, die sich entmutigenden und schweren medizinischen Behandlungen unterziehen. Das Kreuz berührt unser Fleisch, wenn nicht einmal wilde Pferde uns von der Seite der Sterbenden wegziehen könnten, während alle anderen vor dieser unangenehmen Erinnerung an unsere Sterblichkeit fliehen. 

Das Kreuz ist geschmiedet aus jeder Instanz, wo wir leiden, weil wir uns in Liebe für den anderen einsetzen. Das ist das Holz des Kreuzes, an dem unser Erlöser hing. Was ist mit uns? Werden wir lieben, auch wenn es einen einfachen Ausweg gibt und nichts und niemand uns zum Bleiben zwingen kann? Werden wir an den Orten des Leidens unseres Geliebten bleiben, auch wenn wir die Bühne unauffällig verlassen könnten?

Vor genau zwanzig Jahren feierte ich einen Karfreitag, der für mich der bisher ergreifendste war. Drei Tage zuvor traf ich ein Ehepaar, Kevin und Jodie, in deren Fleisch ich das Bild des gekreuzigten Christus eingraviert sah. Jodie war mit ihrem vierten Kind schwanger, und das Baby war in Gefahr. Nach einer Reihe von Versuchen, das Kind im Mutterleib zu retten, gaben die Ärzte dem Paar eine einzige Hoffnung auf das Überleben, nämlich die Einleitung der Wehen. 36 Stunden lang dauerten die Wehen an, und dann wurde das Kind geboren. Ich wurde gerufen und eilte ins Krankenhaus, um den Kleinen zu taufen. Zwanzig Minuten später starb der kleine Keegan Patrick in meinen Händen, während ich ihn durch die Taufe in die Familie des Glaubens aufnahm.

Die Eltern mussten nicht zu diesem Kreuz gehen. Die Abtreibung wurde beraten und angeboten, aber abgelehnt. Sie gingen bereitwillig durch wochenlange Unannehmlichkeiten, stundenlange Schmerzen und die Qualen, einen geliebten Sohn durch den Tod zu verlieren. Sie hätten nicht zu diesem Kreuz gehen müssen. Und auch wenn sie anfänglich gegangen waren, mussten sie nicht bleiben. Aber sie gingen trotzdem. Und dann blieben sie dort. Deshalb erlebte ihr Kind, das nur 55 Minuten Atem hatte, sein Leben eingehüllt in eine gewaltige Liebe, die bereit war zu leiden, damit es diese 55 Minuten haben konnte.

Dieser Säugling erlebte in seinen Eltern, was wir in Christus erleben. Die Worte eines alten Kirchenliedes fassen Keegans Erfahrung der erlösenden Liebe Christi und die unsere so gut zusammen.

»What wondrous love is this, o my soul, o my soul?

What wondrous love is this, o my soul? 

What wondrous love is this,

 that made the Lord of bliss,

to bear the dreadful curse for my soul, for my soul,

 to bear the dreadful curse for my soul?«

 

»Was für eine wundersame Liebe ist das, o meine Seele, o meine Seele?

Was für eine wundersame Liebe ist das, o meine Seele? 

Welch wundersame Liebe ist dies,

 die den Herrn der Seligkeit dazu brachte,

den furchtbaren Fluch für meine Seele zu tragen, für meine Seele,

 um den furchtbaren Fluch für meine Seele zu tragen?«

 

Keegan starb und kannte nur die hingebungsvolle Liebe von Menschen, die bereit waren, kreuzigende Leidenschaft zu erleiden, um ihn das Leben kennen zu lassen. Ich würde sagen, dass seine Eltern die perfekte Vorbereitung für die Begegnung mit Jesus Christus waren. Möge das Gleiche von uns gesagt werden.

 

Erik Riechers SAC

Karfreitag, 2. April 2021

 

 

Begreift ihr, was ich an euch getan habe?

 

Gründonnerstag B 2021                         1 Kor 11, 23–26 und Joh 13, 1–15

 

Am Gründonnerstag strecken wir unsere Hand aus, um den Leib und das Blut des Herrn zu berühren. Einen Tag später strecken wir die Hand aus, um das Holz des Kreuzes zu berühren. Wenn das Berühren des Geheimnisses Gottes bedeutet, dass wir bereit sein müssen, dieses Geheimnis im Leben anderer zu berühren, dann müssen wir ernsthaft über die Frage Jesu bei der Fußwaschung nachdenken. »Begreift ihr, was ich an euch getan habe?«

(I)

Der Anfang der zweiten Lesung aus dem exquisiten ersten Brief des Paulus an die Korinther sagt uns eigentlich nichts, was wir nicht schon wissen. In der Nacht seines Verrats nahm Jesus einen Laib Brot und brach ihn. Im Laufe der vielen Jahre, in denen wir Christus auf Händen und Zungen getragen haben, sind wir ziemlich daran gewöhnt, ein gebrochenes Brot zu sehen. Es ist eine Erfahrung, die in unseren Küchen üblich ist und in unseren Esszimmern durchgeführt wird. Das Brechen des Brotes ist eine Routine. Doch Routinehandlungen sind keine bedeutungslosen Handlungen. Oft sind sie mit einer Bedeutung beladen, die unsichtbar und unbemerkt bleibt, weil wir die Handlung so häufig wiederholen. 

In diesem Sinne ist das Brechen des Brotes beim letzten Abendmahl alles andere als banal. Betrachten Sie einen Laib Brot in Ihren Händen, auf Ihrem Tisch. Er enthält Nahrung für die Hungrigen. Er befriedigt knurrende Mägen und gibt Grundnahrungsmittel, damit Nerven und Sehnen nicht versagen. Doch nichts von dieser potenziellen Nahrung und Kraft kann freigesetzt werden, wenn eine wichtige Voraussetzung nicht erfüllt ist. Der Laib muss zuerst gebrochen werden.

Betrachten Sie den Leib Christi auf dem Altar. Er enthält Nahrung für die Seele und sättigt das hungrige Herz. Er strotzt vor lebensspendender Gegenwart und hält Leib und Seele zusammen. Aber auch hier gäbe es keinen Tisch der Fülle, wenn Christus nicht einen besonderen Segen gewähren würde. Sein Leib muss zuerst gebrochen werden. Wenn Christus nicht das Brot für uns bricht, dann isst niemand. Wenn er nicht sein Blut für uns vergießt, dann wird kein Durst gestillt.

Der Akt des Brechens selbst ermöglicht das Teilen. Brechen teilt einen Besitz, so dass er von vielen genossen werden kann. Wenn man am Ganzen festhält, dann gibt es nichts zu teilen, und nichts kann anderen als Segen gegeben werden. Das Brechen des Brotes und des Leibes ist die Zertrümmerung des Besitzdenkens.

Eine entscheidende Zeile des Paulusbriefes lehrt uns diese Lektion. »Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.« Dieser Satz verbindet die Eucharistie mit dem Kreuz, und das aus gutem Grund.  Denn die Bereitschaft, sein Leben für uns in der Eucharistie aufzubrechen, wäre nichts ohne die Bereitschaft, sein Leben für uns am Holz des Kreuzes aufzubrechen. Wenn er bereit wäre, es am Tisch zu tun, aber nicht am Kreuz, dann wäre das Kreuz ein bedeutungsloser Moment und die Eucharistie ein hohles Ritual. Warum sollte Christus sein Leben aufbrechen, um ein Volk zu ernähren, das er nicht retten wollte? Warum ein Leben nähren, das man nicht erlösen will? Das Leben Christi muss für uns aufgebrochen werden, sonst lebt niemand. Sein Leben muss für uns ausgegossen werden, sonst wird niemand gerettet. Sehr einfach ausgedrückt: Echtes Lieben erfordert ein echtes Aufbrechen dessen, was wir besitzen, ob es nun Brot, Leib oder Gegenwart ist.

(II)

Authentische Liebe erfordert ein echtes Brechen unseres Brotes. Es gibt viele Formen von Brot, die uns nähren, und die echte Liebe, die uns am Kreuz und in der Eucharistie enthüllt wurde, lehrt uns, dass wir sie mit anderen teilen müssen, wenn ihre nährende Fülle freigesetzt werden soll. Brich dein Brot. Brecht das Brot eures Lebens. Brecht das Brot eurer Tische. Brecht das Brot eurer Freuden.

Die Bereitschaft, unser Brot um des Hungers in anderen Menschen willen zu brechen, ist die Essenz dessen, was wir gemeinhin als Opfer bezeichnen. Opfer bedeutet, unser Leben aufzubrechen. Wir brechen es auf durch Selbstlosigkeit und Dienst. Wir brechen es durch Selbstverleugnung auf. Doch ein wahres Opfer bedeutet immer, dass wir ein klares Ziel haben. Dieser Zweck ist es, andere leben, gedeihen und wachsen zu lassen. Ein Opfer muss einem anderen zugutekommen, nicht nur mich leer machen. Wenn Sie das Brot des Opfers brechen, reicht es nicht aus, dass Sie hungrig bleiben. Andere müssen auch essen. Ihre frei gewählte Verarmung muss in einem anderen eine unerwartete Bereicherung hervorbringen. Es ist nicht klug, dein Brot zu brechen, wenn es niemanden gibt, der hungrig genug ist, davon zu essen. Solches Brot wird nur schal werden. Es ist nicht weise, deinen Wein auszuschütten, wenn niemand da ist, der davon trinkt. Solcher Wein wird nur verderben und sauer werden.

(III)

Das wirft weitere Fragen auf. Werden wir ein Leben führen, das der Eucharistie würdig ist? Werden wir ein Leben führen, das des Kreuzzeichens würdig ist? Werden wir das Brot unserer Tische brechen? Werden wir das Brot unseres Lebens brechen? Der einzige Weg, wie wir sicher sein können, dass die Eucharistie und das Kreuz das göttliche Bild unseres Herrn und Meisters in uns eingraviert haben, ist, wenn wir beim Brechens des Brotes als opferbereite Menschen ertappt werden.

Beim Brechen des Brotes mag ein Vater oder eine Mutter um der Kinder willen auf eine Karrieremöglichkeit verzichten. So brechen sie ihr Brot der Macht und der persönlichen Erfüllung, damit ihre Kinder von ihrer Gegenwart und aufmerksamen Liebe zehren können. Teure Theaterkarten werden vielleicht ungenutzt gelassen, weil die Not eines Freundes größer war als unser Geschmack an Unterhaltung. In diesem Moment wird das Brot gebrochen, und wir geben von dem, was uns gehört, um einen anderen zu speisen.

Jesus fragt die Jünger nach der Fußwaschung: »Begreift ihr, was ich an euch getan habe?« Wenn wir auf ein lang ersehntes Vergnügen verzichten, weil eine größere Pflicht unsere Anwesenheit gebietet; wenn wir das Lieblingsfernsehprogramm ausschalten, um dem Weinen unserer Kinder zuzuhören, wenn wir einen freien Tag aufgeben, um jemand anderem den Tag zu verschönern; dann können wir die Frage Jesu getreu beantworten.  Ja, Herr, wir wissen, was du an uns getan hast. Du hast alles genommen, was dir gehört, hast es zerbrochen, um es zu teilen, und hast es uns gegeben, damit wir weiterleben können. Und wir haben dasselbe getan.

Um den Weg des Opfers zu gehen, bedarf es vor allem einer überwältigenden Realität. Wir müssen jemanden als würdig erachten, ein Opfer zu bringen. Wir müssen das Leben dieser Person als wertvoll genug ansehen, als kostbar genug, um unser eigenes Leben um seinetwillen aufzubrechen. Wenn wir unseren Blick auf einen anderen werfen und das, was wir sehen, als unter unserer Würde, jenseits unserer Verachtung und als erbärmlich unzureichend ansehen, werden wir sicherlich kein Opfer für ihn bringen.

Alles, was den Gründonnerstag ausmacht, besteht aus einer stillen, von Traurigkeit geprägten Freude. In der Tat, es gibt eine stille Freude, denn wir wissen, dass sein Brechen unser Segen ist. Es gibt einen Hauch von Traurigkeit, denn wir wissen, dass nicht nur das Brot Christi, sondern sein Leib gebrochen werden muss. Es ist unerlässlich zu wissen, dass dies der Weg all unseres Brechens ist. Es wird von stiller Freude geprägt und von Traurigkeit gefärbt sein. Sie werden die stille, befriedigende Freude kennen, wenn Sie Leben und Segen in die Schattenländer der zerbrochenen Herzen zurückbringen. Doch Sie werden auch den Hauch von Traurigkeit kennen, der mit dem Opfer kommt, denn es werden echte Verluste erlitten. Dies ist eine kritische Stunde. Sie kann das Herz zu Bitterkeit und Groll führen. Wenn wir zurückblicken, werden wir feststellen, dass einige unserer Träume unerfüllt blieben, dass bestimmte Bestrebungen notwendigerweise verloren gingen und dass bestimmte Freuden verweigert wurden, alles wegen anderer, die wir mehr geliebt haben als uns selbst. Dann müssen wir, wie Christus, ja mit Christus, die letzte Frage beantworten. Waren sie es wert? Mit Zittern müssen wir in diese Nacht des Gründonnerstags kommen, denn nach allem, was er für uns in der Fußwaschung, in der Eucharistie und am Kreuz ertragen hat, ist dies der Ort, ist dies die Stunde, in der Christus uns zuflüstert: Du warst es auf jeden Fall wert.

 

Erik Riechers SAC

Gründonnerstag, 1. April 2021

 

 

Was setzt die Auferstehung und das Leben in Bewegung?

 

Im Johannesevangelium (Joh 11, 1-44) webt der Evangelist eine großartige Geschichte über den Tod von Lazarus, einem Freund von Jesus. Zu Beginn der Geschichte stehen seine beiden Schwestern, Martha und Maria, im Mittelpunkt. Hier sind zwei Schwestern, die das gleiche Schicksal erleiden, nämlich den Verlust ihres Bruders. Jede von ihnen hat im weiteren Verlauf der Geschichte eine persönliche Begegnung mit Jesus. Beide Schwestern beginnen ihr Gespräch mit Jesus, indem sie genau das Gleiche zu ihm sagen: »Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.«

Die offensichtliche Erwartung wäre, dass zwei so identische Begegnungen zum gleichen Ergebnis führen würden. Aber so läuft es nicht ab.

Martha beginnt ihre Begegnung mit Jesus mit ihrer Aussage: »Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.« Sie vergießt keine Tränen, zeigt keine Emotion. Sie gibt Jesus auch keine Chance, zu antworten. Stattdessen prescht sie mit einer theologischen Erklärung vor. »Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben.«

Jesus seinerseits geht nicht direkt auf ihre theologische Aussage ein. Er geht direkt auf den Kern der Sache ein, nämlich auf das, was Marthas schmerzendes Herz in dieser Stunde am meisten braucht: »Dein Bruder wird auferstehen.«

Martha nimmt diese sehr existenzielle, persönliche Vergewisserung und verschiebt sie in den Bereich der Abstraktion. Sie spricht von fernen Tagen, an denen wundersame Dinge geschehen werden. »Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tag.«

Jesus antwortet ihr, indem er das Thema auf den gegenwärtigen Moment zurückbringt. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?«

Martha antwortet erneut, diesmal mit dem Bekenntnis, dass sie an ihn als den Christus, den Sohn Gottes, der in die Welt kommt, glaubt. Aber sie verliert kein Wort darüber, dass sie glaubt, dass Jesus die Auferstehung und das Leben ist, hier und jetzt. Sie spricht über den Glauben im Allgemeinen, aber nicht über ihr irdisches, dringendes Bedürfnis nach Auferstehung und Leben in ihrem zermürbenden Moment der Not.

Dann geht sie nach Hause. Und dann ist Maria an der Reihe. Sie geht hinaus, um Jesus zu sehen, der noch außerhalb des Dorfes ist.  »Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte.« Ein erstaunlicher Moment, denn er zeigt uns, dass die Begegnung mit Marta nichts in Bewegung gesetzt hat. Er ist immer noch genau an der gleichen Stelle, an der er war, bevor er mit ihr sprach. Die Auferstehung und das Leben haben sich nicht bewegt.

Maria beginnt die Begegnung genauso, wie ihre Schwester es tat. »Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.« Aber sie sagt dies, während sie auf den Knien liegt und weint. Ihre Begegnung hat keine Aussagen und Glaubensbekenntnisse. Aber sie ist voll von Tränen.

»Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert.« Und sofort werden die Auferstehung und das Leben in Gang gesetzt. Zuerst fragt Jesus, wo Lazarus begraben liegt. Dann fängt er selbst zu weinen ein. Von dort geht er zum Grab und begleitet die Trauernden zum Ort ihres Verlustes und ihrer Trauer und zur Quelle ihrer Tränen. 

Es sind die Tränen, die ihn bewegen. Es sind nicht die Diskussionen, nicht die Glaubensbekenntnisse, sondern die Tränen. Denn Tränen sind die Sprache der Betroffenen und Bedrängten. Sie entstehen nicht aus unseren Gedanken über Trauer und Verlust, sondern aus der existenziellen Erfahrung dessen, was diese Dinge mit uns machen. So wichtig die Diskussion über den Glauben auch ist, wenn sie nicht das Herz erreicht, bleibt sie letztlich eine kalte, klinisch distanzierte und leblose Realität. Sie wird nichts in Bewegung setzen. Denn das Herz ist der Ort, an dem sich alles entscheidet.

Die Ausgangspunkte für eine wirkliche Bewegung hin zur Auferstehung und zum Leben sind die Erfahrungen des Lebens, die uns in die Knie zwingen und unsere Augen mit Tränen füllen. Die reine Lehre wird nicht ausreichen, um uns an den Ort zu bringen, an dem die Auferstehung und das Leben erfahren werden können. Aber wir werden weinend uns den Weg dorthin bahnen, denn wo wir weinen, offenbaren wir uns als das, was wir wirklich sind, und zeigen, was wir wahrhaftig brauchen. Diese Tränen sprechen von dem, was wirklich mit uns und in uns geschieht. Sie offenbaren, was wir normalerweise in unserem Herzen gut versteckt halten. Tränen sind der Ort der Begegnung. Sie sind die Sprache der Seele. Und sie sprechen zu Gott. Und sie setzen die Auferstehung und das Leben in Bewegung, weil sie das Herz Gottes bewegen.

 

Erik Riechers SAC, 31. März 2021

 

 

Sich ergreifen lassen

 

Vielleicht machen uns persönliche Leiderfahrungen dünnhäutiger.

Vielleicht machen uns die Unsicherheiten und Bedrohungen durch die so lang andauernde Pandemie sensibler.

So mag es sein, dass wir beim Eintreten in die Karwoche stärker empfinden, auf welch einen Weg wir in diesen Tagen erinnernd Jesus begleiten und welch ungeheure Spannung in den Erzählungen zum Ausdruck kommt: die Anspannung wächst, der Konflikt tritt offen zutage, auf wen ist noch Verlass? Worte und Handlungen bekommen angesichts des Todes eine noch größere Bedeutung. Alles ist wesentlich.

Johannes erzählt im 12. Kapitel von Jesu letztem Besuch bei seinem Freund Lazarus und dessen Schwestern Marta und Maria, bevor er von Osten den Ölberg hinauf- und dann auf einem Esel hinab in die Stadt zieht. Maria salbt liebevoll seine Füße mit kostbarem Nardenöl. Sogleich zeigt sich der Riss innerhalb der Jünger, als Judas den Vorwurf der Verschwendung macht. Jesus aber spricht von seinem Begräbnis. Wie verwirrend und beängstigend für alle, die es hören!

Jerusalem füllt sich mit Menschen, die zum Passahfest pilgern; doch an allen Ecken lauern die Feinde Jesu und die Menge distanziert sich von ihm - von denen, die ihm beim feierlichen Einzug zuriefen, ist nichts zu erwarten.

Dann kommt es zum letzten Mahl im engen Kreis um den Meister. Vom Äußersten spricht Jesus da, von Blut und Hingabe, »für euch und für alle«, jedes Wort ein Vermächtnis. Johannes setzt in seiner Erzählung eine ergreifende Schilderung voran: Jesus hockt sich auf den Boden und wäscht den Seinen die staubigen Füße - am letzten Tag seines Lebens. Jesus wusste, »dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte« (Joh 13, 3) heißt es zuvor. Welch eine Verankerung und Perspektive!

Und dann gibt es kein Ausweichen mehr: verraten und verhaftet, beschuldigt und vorgeführt, verspottet und grausam erniedrigt, einsam und verlassen dem Pöbel ausgeliefert, gefoltert, gequält, ermordet. Und am Ende das Wort: »Es ist vollbracht!«

In keiner anderen Woche im Jahr werden wir so konfrontiert und herausgefordert, das Leben authentisch, treu und ganz zu leben, das Leiden nicht zu verdrängen, sondern diese Spannung auszuhalten. Diese letzten Tage Jesu können uns ergreifen, so dass wir Mittragende werden und in unseren Kreuzen mitgetragen werden.

Ich glaube, es ist der einzige Weg, um Ostern zu erfahren.

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. März 2021

 

 

 

Am Rande des Weges

 

Palmsonntag B 2021                                      Mk 11, 1-10

 

Wir sprechen oft von diesem Moment in der großen Geschichte des Evangeliums als dem triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Das ist eine Sprache, die ich lieber vermeiden möchte. Während ich ziemlich sicher bin, dass die Zuschauer entlang des Weges etwas von Triumph bei dieser Prozession in die Stadt Davids empfanden, bin ich ebenso sicher, dass Jesus das nicht tat.

Dies ist eine Geschichte über einen Weg, den ein Mensch gehen muss. Wo solche Geschichten erzählt werden, passiert einiges. Wen wird der Reisende auf diesem Weg treffen? Wie werden sie ihm begegnen? Was werden andere tun, um dem Reisenden auf dem Weg zu helfen? Diese Geschichte ist keine Ausnahme. Daher würde ich einen genaueren Blick darauf werfen, was die Menschen in der Erzählung bereit sind zu tun, um Jesus auf seinem Weg zu begleiten. Ferner möchte ich die eine Sache in den Blick nehmen, die niemand bereit ist, in diesem Moment für ihn zu tun. Markus sagt uns zwar, was viele tun werden (sie werden ihre Mäntel ausbreiten und Zweige niederlegen), aber das sagt uns nicht, was alle tun. Was wir sagen können, ist, dass niemand aktiv versucht, Jesus auf seinem Weg zu behindern oder zu blockieren. Viele werden neutrale Beobachter und unauffällige Zuschauer bleiben. Sie legen ihm keine Stolpersteine in den Weg. Das ist der Weg des Minimalismus. Dieser Minimalismus zeigt keine Unterstützung oder Ermutigung für Jesus, seine Mission oder seinen Weg, aber er entmutigt ihn auch nicht. Hier gibt es keine Investition, keine Beteiligung, nur die kühle Distanz des Zuschauers und die zurückgezogene Unnahbarkeit derer, die es vermeiden, überhaupt Stellung zu beziehen. So erleben wir oft Menschen auf unserem eigenen Lebensweg. Sie sind nicht unsere Feinde, aber sie sind sicher auch nicht unsere Begleiter.

Dann sehen wir die beiden Jünger, die ausgesandt wurden, um seinen Transport zu sichern. Nachdem sie ihre Aufgabe der Beschaffung erfüllt haben, erzählt uns Markus:

Sie brachten das Fohlen zu Jesus, warfen ihre Kleider auf das Tier und er setzte sich darauf.

Sie machen den ersten Versuch, einen Beitrag zur Erleichterung des Weges Jesu zu leisten. Aber das Bild ist nuancierter, als wir vielleicht bemerken. Sie »warfen« die Umhänge auf das Fohlen. Wenn wir einer Person oder einem Tier etwas über den Rücken werfen, ist das ein Bild für ein raues, unaufmerksames und ruppiges Leben. Es fehlt die Zärtlichkeit und Rücksichtnahme, die wir erleben, wenn sich ein Mensch Zeit nimmt, um sich mit Zeit und Sensibilität um unsere Bedürfnisse zu kümmern. Es vermittelt die Vorstellung, dass es sich um etwas handelt, das wir schnell hinter uns bringen wollen. Auch das ist eine Erfahrung, die wir machen, wenn wir auf unserem Weg sind. Es gibt immer die Erfahrung, dass einem geholfen wird, aber es fehlt an Wärme und Herzlichkeit.

Dann treffen wir die Vielen. Über sie sagt Markus:

Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg aus.

Beachten Sie die Veränderung des Tons. Diese Leute werfen die Kleider nicht hin, wie die beiden Jünger. Stattdessen breiten sie sie aus, ein Bild der Achtsamkeit. Es ist ein Bild des sich Zeitnehmens, um sorgfältige Vorbereitungen zu treffen. Es ist ein Bild des bewussten Handelns. Wir würden sofort den Unterschied bemerken, wenn eine Person uns am Tisch begrüßt, indem sie ein Tischtuch darüber wirft, oder wenn sie sich die Zeit nimmt, ein Tischtuch darüber auszubreiten. Das würde einen Unterschied in der Art und Weise machen, wie wir uns willkommen fühlen.

Zum zweiten Mal werden Kleider, Gewänder, eingesetzt. Ein Kleidungsstück ist etwas, das uns gehört, das uns ohne weiteres zur Verfügung steht. Wir müssen nicht weit gehen, um ein Kleidungsstück zu finden. Es gibt nur selten eine Zeit, in der wir sie nicht tragen, sie überallhin mitnehmen, wo wir hingehen. Die Vielen breiten ihre Gewänder auf der Straße aus und machen so den Weg für Jesus etwas weicher und sanfter. Aber wenn Jesus einmal vorbeigegangen ist, können wir sie leicht wieder an uns nehmen, den Staub abbürsten oder sie waschen und sie sogar reparieren, wenn es nötig ist. Dann können wir sie wieder anziehen und sie wieder in den Dienst unserer Bedürfnisse stellen.

Daran ist nichts Negatives. Es ist eine kleine Hilfe, die einem anderen angeboten wird, um ihm den Weg ein wenig zu erleichtern, um ihm die Reise etwas angenehmer zu machen. Wir haben solche Menschen auf unserem eigenen Lebensweg kennengelernt und haben ihre kleinen Gesten und Freundlichkeiten sicherlich zu schätzen gewusst. Sie lassen uns ein Werkzeug ausleihen, ein Zimmer teilen oder ihre Einrichtungen nutzen. Dann fordern sie es für ihre eigenen Zwecke zurück.

Markus fährt dann fort, eine weitere Reaktion zu beschreiben:

…andere aber Büschel, die sie von den Feldern abgerissen hatten.

Dies ist ein Bild für eine größere und gesteigerte Investition und ein Bemühen, den Weg Jesu zu erleichtern. Diese Menschen greifen nicht nach dem, was in der Nähe und leicht verfügbar ist (ihre Umhänge). Sie ziehen hinaus auf die Felder, ziehen hinaus in die weite Welt, auf der Suche nach anderen Ressourcen und Mitteln, mit denen sie den Weg Jesu ebnen können. Und sie machen sich die Mühe, sie einzusammeln und zurückzutragen. Darüber hinaus sind sie bereit, etwas abzugeben, was sie zurückzulassen bereit sind. Im Gegensatz zu den Kleidern dienen diese Zweige dem einzigen Zweck, den Weg Jesu etwas weicher, leichter und bequemer zu machen. Auch wir haben solche Menschen auf unserem Lebensweg kennengelernt. Sie haben sich große Mühe gegeben, uns den Weg zu ebnen. Aber sie gehen noch einen Schritt weiter als die Gewandspender. Sie investieren Ressourcen, die sie nicht zurückbekommen. Das sind die Menschen, die eine Mahlzeit mit uns teilen, wohl wissend, dass sie das Essen danach nicht zurückbekommen. Die Dankbarkeit für solche Menschen ist meist auch ein wenig tiefer, denn sie gehen auch ein wenig weiter für uns.

Also, was fehlt? Was ist die eine Sache, die niemand bereit ist, in diesem Moment für Jesus zu tun? Niemand bietet Jesus an, seinen Weg zu teilen, mit ihm den ganzen Weg zu gehen. Jeder der bisherigen Momente, so kostbar sie auch sind, zeigt uns eine vorübergehende Hilfe, keine langfristige Begleitung. Markus erzählt die Geschichte sehr subtil:

Die Leute, die vor ihm hergingen und die ihm nachfolgten, riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!

 Einige gehen vor ihm, aber nur für ein kurzes Stück dieses Weges. Andere gehen hinter ihm, wieder nur für ein kurzes Stück seines Weges. Aber keiner sagt zu ihm: Ich will den ganzen Weg mit dir gehen. Das soll die anderen Angebote nicht herabwürdigen oder schmälern, aber sie bleiben alle hinter dem zurück, was wir alle auf unserer langen Reise durch das Leben brauchen: Gefährten.

Das hat Konsequenzen. Kurze Abschnitte der Reise eines Menschen zu teilen, besonders die aufregenden oder besonders vergnüglichen Teile, ist gar nicht so schwierig. Die Erleichterung der Reise und die Vorbereitung des Weges für uns sind wertvolle Geschenke, aber sie können und werden am Ende nicht ausreichen. Wir brauchen auch Gefährten, Menschen, die mit uns durch jede Landschaft des Lebens gehen, jede Kurve mit uns nehmen und jede Jahreszeit mit uns durchstehen. Die Konsequenz aus dieser Geschichte im bemerkenswerten Markusevangelium ist ganz klar: Niemand wird mit Jesus am Fuß des Kreuzes stehen. Markus erzählt die krasseste Geschichte von allen Evangelisten und lässt absolut niemanden in der Nähe des Kreuzes von Jesus stehen, wenn er stirbt. Die anderen Evangelisten mildern die Szene in ihrer Erzählung ab. Aber ich halte es mit Markus. Wenn wir keine Langstrecken-Begleiter auf unserem Weg haben, sondern nur Zuschauer, dann werden wir allein sein, wenn wir unsere Karfreitage erreichen.

All diese Arten von Menschen sind uns auf unserer Reise durch das Leben begegnet. Dennoch sollten wir diese Geschichte nicht auf dieser Note verlassen. Stattdessen sollten wir uns fragen, wo wir in dieser Geschichte stehen. Sind wir Zuschauer, die anderen den Weg mal mehr, mal weniger erleichtern? Oder sind wir Gefährten, die anderen die Begleitung auf allen Wegen anbieten, die ihre Reise nehmen mag?

Ich lade Sie ein, mit mir ein Gebet aus der Feder und der Seele von  Padraig O'Tuama zu beten. Mögen seine Worte einen sanften und doch reichen Segen auf unseren Palmsonntag legen.

Jesus,

 

Person des Privatlebens und der Öffentlichkeit

populär - eine Zeit lang - aber nicht populistisch;

Du hast Deine Mitte gehalten,

basierend auf dem, was du als deinen Ruf verstanden hast.

 

Hilf uns, einen Ruf zu hören,

nicht zu Großartigkeit oder Grandiosität,

nicht zu Position oder Berühmtheit,

sondern auf den tiefsten Ruf von allen:

Liebe, Kreativität und Gerechtigkeit.

 

Möge dies uns tragen,

durch die Lobpreisungen und Wehklagen

unseres Lebens.

 

Und mögen wir der Liebe, Kreativität und Gerechtigkeit treu sein

so wie du es warst.

Amen.

 

Erik Riechers SAC, 28. März 2021

 

 

Nur jene, die sehen können, ziehen ihre Schuhe aus

 

In meinem letzten Impuls (Mose und Maud) schrieb ich über das Finden des Dornbusches, den Gott in Brand setzt, um uns zu rufen. Doch in dem Moment, in dem wir diesen brennenden Dornbusch finden, müssen wir eine der großen Regeln des Geheimnisses verstehen und befolgen. Wir müssen unsere Schuhe ausziehen.

Die englische Dichterin Elizabeth Barrett Browning sprach elegant und liebevoll über diese Grundregel des Mysteriums und ebenso eloquent darüber, was mit denen geschieht, die sie nicht beherzigen.

»Die Erde ist randvoll mit Himmel,

und in jedem gewöhnlichen Dornenbusch brennt Gott,

aber nur jene, die sehen können, ziehen ihre Schuhe aus;

die anderen sitzen darum herum und pflücken Brombeeren.«

Das ist eine Lehre über Sensibilität und wie man sie fördert und erhält. Nichts geht schneller und leichter verloren als unsere Sensibilität gegenüber den Erfahrungen des brennenden Dornbusches. Schauen wir uns deshalb genauer an, was passiert, wenn wir unsere Schuhe ausziehen.

  1. Wir gehen behutsam und vorsichtig.
  2. Wir achten darauf, wohin wir treten.
  3. Wir werden langsamer.
  4. Wir tun dies, weil wir ohne einen Schuh, der uns schützt, wieder verletzlich und extrem empfindlich sind.

Was Mose und Maud und Elisabeth über das Geheimnis Gottes gelernt haben, ist, dass wir dies vor jedem Geheimnis tun müssen, dem wir begegnen, sei es das eucharistische Leben unseres Herrn oder das spielerische Leben unserer Kinder. Dies muss unsere Haltung sein in der Stunde des Werbens, der Freundschaft und der Kollegialität. Dies muss unser Weg in der Ehe, in der Elternschaft und im Priestertum sein. Sonst werden wir die Momente des Geheimnisses mit Füßen treten. Dann werden wir nicht die lebensverändernden Gespräche halten, die Mose mit Gott hatte. Wir hätten keine der Gemälde von Maud Lewis, die unsere müden Seelen erregen und beruhigen, wenn die Welten, die sie in Farbe und Form darstellt, nicht zuerst ihre eigene Seele erregt und beruhigt hätte. Und es gäbe keine Gedichte von Elisabeth Barrett Browning, nur Brombeerpflücker. Diese Menschen hatten die Tiefe der Begegnung mit Gott, weil sie dieser Regel des tiefen Herzens folgten: sich dem Geheimnis mit Sorgfalt, mit Sanftheit, mit Zeit und mit Sensibilität nähern.

Dies sollten auch die vier goldenen Regeln unseres Heiligen Frühlings sein, eine neue und achtsamere Art, sich durch das Leben zu bewegen.

  1. Wir sollten behutsam und vorsichtig vorgehen, denn überall, wo wir uns hinwenden, können wir das Geheimnis Gottes finden.
  2. Wir sollten aufpassen, wohin wir treten. Es gibt keine gottlosen Orte oder Begegnungen auf der Welt.
  3. Wir sollten langsamer gehen. Wir können nicht sehen, erkennen und schätzen, woran wir vorbeirasen.
  4. Wir müssen dringend unsere Verletzlichkeit und unsere extreme Sensibilität wiederfinden. Die raue und grobe Art, wie wir mit dem Leben, der Liebe und der Sehnsucht umgehen, verdeckt, entstellt oder missbraucht oft Momente, die uns für das Geheimnis öffnen sollten. Der Mangel an Sensibilität tötet die Poesie in uns, verwischt die Färbung und Formung unserer Kreativität und erstickt die Gespräche, die zu außergewöhnlichem Leben führen.

Wenn wir mit dem Mysterium, das unser Leben ziert, gut leben wollen, müssen wir unsere Schuhe ausziehen.

 

Erik Riechers SAC, 26. März 2021

 

 

Mose und Maud: Menschen mit Augen, die brennenden Dornbüsche des Lebens zu sehen

 

Als ich im Westen Irlands Narrative Theologie studierte, gab es eine kreative Übung, die wir oft spielten. Wir sollten zwei Personen aus der Geschichte oder Literatur benennen und sie dann zu einem Gespräch zusammenbringen. Dann war es unsere Aufgabe, einen imaginären Dialog zwischen ihnen zu entwerfen.

An diese erheiternd kreative Übung wurde ich kürzlich erinnert, als ich mir das Leben von Maud Lewis, einer kanadischen Malerin aus Nova Scotia, ansah. Sowohl ihre Lebensgeschichte als auch ihre Bilder sind eine Quelle tiefgreifender Inspiration. In all ihren Gemälden zeichnet sie eine Welt ohne Schatten. Sie wird gewöhnlich als Volkskünstlerin bezeichnet, aber ich habe auch Hinweise auf ihre Arbeit als primitive Kunst gefunden. Ich könnte dem nicht mehr widersprechen. Es liegt etwas Erhabenes und Anspruchsvolles in ihrer Kunst, denn sie hatte die Fähigkeit, anderen zu zeigen, was ihr eine tiefe innere Gabe ermöglichte: Sie hatte die Fähigkeit, uns das Staunen zu zeigen.

Wenn ich also die Übung des imaginären Gesprächs noch einmal durchspielen würde, würde ich Maud Lewis gegenüber von Mose an den Tisch setzen. Ich glaube, dass sie etwas gemeinsam haben. Beide wussten etwas darüber, wie man einen brennenden Dornbusch erkennt und sich auf ihn zubewegt. Daher wussten beide etwas darüber, wie man sich dem Geheimnis Gottes nähert und vor ihm steht.

Ich denke, dass jeder in dem anderen einen verwandten Geist erkennen würde. Sie waren beide Kinder des Staunens. Das Staunen aber ist der Anfang des Glaubens. Wenn Mose nicht vom Staunen bewegt worden wäre, hätte er sich nie zur Seite gewandt, um den brennenden Dornbusch zu sehen, aber das hätte bedeutet, dass er die Begegnung mit Gott verpasst hätte.

Das Staunen bewegt Männer und Frauen zur Begegnung mit Gott. Man kann die Bilder von Maud Lewis nicht betrachten, ohne von ihrem nie versagenden Sinn für Wunder berührt zu werden. Sie fand Wunder in Bäumen, Vögeln, Fischerbooten und Tulpen, Hauskatzen und Kühen. Dies waren ihre brennenden Dornbüsche.

Wir haben unsere eigenen brennenden Dornbüsche. Brennende Dornbüsche sind jene Momente des Staunens, die Gott uns täglich in den Weg legt, um uns aufzuhalten. Es sind Momente, in denen der schöne Gott uns zu einer Begegnung einlädt, die einen langen, liebevollen Blick auf das Reale verlangt. Sie sind unsere ersten, kleinkindhaften Schritte auf Gott zu.

Allerdings würden Mose und Maud uns vor der einen großen Gefahr warnen, die zwischen uns und unseren brennenden Dornbüschen liegt: unserem gewöhnlichen, unscheinbaren Alltag. Mose war nicht auf der Suche nach spektakulären Erfahrungen des Göttlichen. Er hat Schafe gehütet. Maud Lewis reiste nicht um die Welt, um sich inspirieren zu lassen, sondern malte, was sie in der Welt vor ihrer Haustür sah, wobei sie nie weiter als eine Autostunde von ihrem Geburtsort entfernt war.

Wenn wir in den Mühen des Alltags gefangen sind, lautet die Frage, die unser Herz am meisten quält: »Wo sind diese sagenhaften brennenden Dornbüsche, von denen du sprichst?« Doch die eigentliche Frage lautet: »Wo sind die Söhne und Töchter von Mose und Maud, die in den brennenden Dornbusch Momenten des Lebens innehalten, sie wahrnehmen und sich ihnen nähern?«

Ein Dornbusch brennt, wenn Männer und Frauen zu dem Augenblick kommen, in dem sie im anderen einen Gefährten erkennen, mit dem sie eine Lebens- und Liebesgemeinschaft schmieden könnten, und sich gegenseitig in die gegenseitige Verpflichtung des Bundes aufnehmen. Doch das Wunder hält nicht alle, und zu viele weigern sich, den begonnenen Weg zu verlassen, zur Seite zu treten und ein Leben zu betrachten, das sich nicht nur um sie dreht.

Der Dornbusch brennt in den hochfliegenden Gedanken der leidenschaftlichen und funkelnden Redekunst der großen Geschichtenerzähler des Glaubens. Und doch ist es allzu leicht, daran vorbeizugehen und uns der Verstopfung des Denkens und dem Durchfall der geistlosen Worte im Fernsehen hinzugeben.

Der Dornbusch brennt, wenn wir aufwachen, weil wir neues Leben im Mutterleib finden, das Staunen über echte Liebe spüren, Küsse im Mondschein genießen, Zärtlichkeit in der Prüfung erfahren und Hände, die durch die Hölle gehalten werden, erleben. Aber jede dieser Aufforderungen zu einer neuen Begegnung mit Gott können wir leicht ignorieren, herabsetzen, ja sogar verspotten mit einer unverfrorenen Arroganz, die sich für zu hoch entwickelt hält, um mit solch trivialen Dingen des Wunders umzugehen.

Aus diesem Grund wird uns ein Heiliger Frühling geschenkt. Das ist ein Rennen, das nicht an die Schnellen geht, sondern an die Bezauberten. Das Thema ist klar. Wo sind Ihre brennenden Büsche, und haben Sie noch das Zeug dazu, für den Weg, auf den Gott sie vorerst gesetzt hat, zur Seite zu gehen? Können Sie ein geistlicher Sohn oder eine geistliche Tochter von Mose und Maud sein?

 

Erik Riechers SAC, 24. März 2021

 

 

Von Treue, Ausdauer und Gefährtenschaft

 

Vor genau einem Jahr starteten wir unser Angebot: »Bleiben Sie behütet!« Die Ausbreitung der Pandemie und die Festlegung des ersten Lockdown verunsicherten uns alle; unser Leben wurde ungewöhnlich und schmerzhaft eingeschränkt, wir waren regelrecht auf uns selbst geworfen, Sorge und Angst breiteten sich aus. Im beginnenden Frühling wurde es dunkel. So etwas hatte niemand von uns je erlebt. In dieser Situation begannen wir unseren gemeinsamen Weg - schreibend und lesend. Wir gehen ihn bis heute zusammen und haben gerade die 53. Woche begonnen. Das ist nicht so leicht wie es klingt, für beide Seiten. Keiner von uns wusste vor einem Jahr, wie der Weg verlaufen wird und wie lange er sein würde. Dieses Abenteuer hatten wir uns nicht ausgesucht, es war völlig neu. Und doch  gingen und gehen wir miteinander Tag für Tag und bleiben dran, bis heute und darüber hinaus.

Das ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Es fordert Treue, Beständigkeit und Ausdauer, auf beiden Seiten. Natürlich gibt es Momente der Versuchung auszusteigen. Als es so schien, als sei das Schwierigste geschafft, gab es Stimmen, die uns einflüsterten: »Es reicht; das war genug. Jetzt sind wir fertig.« Wir erinnern uns daran vom letzten Sommer. Wir kennen solche Stimmen von vielen langwierigen und herausfordernden Zeiten unseres Lebens und allein würden wir dieser Versuchung vielleicht erliegen: aufhören zu schreiben, aufhören zu lesen. Doch ein nüchterner Blick ließ klar sehen, dass die Krise nicht vorbei war und Covid19 keineswegs schon im Griff.

So wurden wir mehr und mehr herausgefordert zu üben, was das große Thema unserer Brunnentage im Jahr zuvor gewesen war, nämlich Atem für den langen Marsch zu behalten. Die großen Werke J.R.R.Tolkien’s, »Der Hobbit« und »Der Herr der Ringe« waren damals unsere Begleiter. Und nun üben wir miteinander, was es heißt: »Alles, was wir zu entscheiden haben ist, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist«. Wir setzen Prioritäten. Wir widersagen dem Jammern. Wir gestalten das, was möglich ist. Wir behalten einander im Blick. Wir sprechen an, was nicht verdrängt werden sollte. Und wir zeigen einander, was wertvoll, wesentlich und schön ist.

Die Schatten sind noch immer da, der Weg viel länger als gedacht. Ein Blick zu Tolkien möge uns immer wieder mahnen: »Treulos ist, der Lebewohl sagt, wenn die Straße dunkel wird«.

Wir haben uns miteinander auf diesen langen Weg durch das Dunkel eingelassen und gehen nun ins zweite Jahr. Vielleicht ist eine der wichtigsten Erfahrungen diese: Nicht ohne Gefährten! Gefährten teilen mit uns Brot und richten uns auf, wenn wir stolpern; sie ermuntern uns, wenn wir müde werden, sie singen mit uns im Dunkel und bringen uns zum Lachen, wenn unser Blick zu eng wird. All das ist möglich unter Beachtung von Abstands- und Hygieneregeln. Wir alle geben seit 52 Wochen dafür Zeugnis.

Darum machen wir weiter: Nicht ohne Gefährten!                

Rosemarie Monnerjahn, 22. März 2021

 

 

 

Wie Weizenkörner

5. Fastensonntag B 2021                                      Joh 12, 20–33

 

Vor dreißig Jahren, als ich in einem Park saß, beobachtete ich, wie ein Kind schluchzend auf seine Mutter zugelaufen kam und sich ein Glas an die Brust drückte. Irgendwie schaffte es die Mutter inmitten des Jammerns und Heulens, die Natur der Tragödie zu entdecken, die dem Kind widerfahren war. Sie hatte einen Schmetterling gefangen und in diesem Glasgefäß sorgfältig aufbewahrt. Nach mehreren Stunden in der Sonne, ohne jegliche Belüftung, starb das arme Geschöpf, sehr zum Entsetzen und fassungslosen Unglauben des kleinen Mädchens. Behutsam brachte ihre Mutter sie wieder zu einem Anschein von Ruhe und sagte dann einen kurzen und einfachen Satz. »Schatz, dafür war es nie gedacht.«

Das sagt auf den Punkt gebracht alles über die Geschichte aus dem Evangelium über das Weizenkorn.  »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein.« Jesus lehrt uns, dass wir uns nicht gegen jede Form des Sterbens in unserem Leben wehren dürfen. In der Tat gibt es eine Form des Sterbens, die für ein gut gelebtes Leben vor Gott und seinem Volk von größter Bedeutung ist. Es gibt eine Form der Fruchtbarkeit, die nur durch eine Erfahrung des Todes geboren werden kann.

Tragisch ist die Erkenntnis, dass wir unser Leben nicht in Glasgefäßen einfangen und sorgfältig konservieren können. Vielleicht werden wir schluchzen und unseren Protest zum Himmel schreien, ähnlich wie das kleine Mädchen. Jesus wird uns dann mit einem kurzen und einfachen Satz antworten: »Dafür warst du nie bestimmt.«

Sehen Sie sich ein Weizenkorn an. Von Natur aus muss es sterben, um Früchte zu tragen. Das ist Teil seiner Beschaffenheit, Teil seines Wesens. Wenn der Bauer beschließt, es sorgfältig in einem Glasgefäß zu konservieren, dann schützt er es nicht vor dem Tod. Stattdessen verweigert er ihm die Fülle, für die es geschaffen wurde, zu der es berufen ist und für die es immer bestimmt war. Das Weizenkorn ist das Bild für ein noch unerfülltes Lebens- und Fruchtbarkeitspotenzial, ein Leben voller Möglichkeiten, das sich erst noch in der Welt entfalten muss. Diejenigen, die sich an das Weizenkorn ihres Lebens klammern würden, müssen sanft zurechtgewiesen werden: »Dafür war es nie gedacht«.

Menschen sind ähnlich wie Weizenkörner. Teil unseres Wesens ist es, zur Fruchtbarkeit zu sterben. Es ist ein Teil unserer Natur. Niemand wird vorgeben, dass es ein angenehmer oder besonders erfreulicher Teil ist, aber ein Teil ist es. Das Sterben von Teilen unseres Lebens ist schmerzhaft, unangenehm und schwierig. Es ist aber auch notwendig, wenn wir das werden wollen, wofür wir geschaffen wurden, das, was wir sein sollen. Jeder Versuch, diesen Tod zur Fruchtbarkeit zu verweigern, ist eine Verleugnung unserer selbst, der Fülle und der Bestimmung, für die wir von Anfang an bestimmt sind.

Ein Ortswechsel ist jetzt angebracht, denn wir wenden uns einer Vignette aus dem Leben von Pater Pedro Arrupe zu, einem ehemaligen Generaloberen der Gesellschaft Jesu (Jesuiten). In seinen Memoiren schreibt er von einem jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren, der ein Opfer des Horrors von Hiroshima war. Die Strahlung der Atomexplosion hatte die Hälfte seines Körpers als eine einzige, große, eiternde Wunde hinterlassen. Als er vor Arrupe stand, sagte er: »Pater, helfen Sie mir.«

Arrupe schätzte die Situation sofort ein. »Es wird sehr wehtun.« Worauf der junge Mann antwortete: »Pater, zögern Sie nicht, mir wehzutun; ich kann es ertragen, aber retten Sie mich.« Es folgte das, was man nur als eine Zeit der schrecklichen Heilung beschreiben kann. Die Reinigung des verbrannten Fleisches musste mit Borsäure erfolgen, wobei der Eiter unter den Verbrennungen bereits verhärtet war. Zweieinhalb Stunden lang zog sich der schreckliche Prozess hin. Arrupe schrieb, dass »er am Ende vor Leiden am Boden lag, und ich war erschöpft von der Anspannung«. Dann kommt der vielsagende Kommentar. »Ich musste für diesen Mann wie ein Henker werden, wenn ich sein Leben retten wollte«.

Wir sind wie dieser Mann. Es gibt Wunden, die wir in unserem Leben tragen. Wir sind mit den Wunden von Momenten bedeckt, in denen wir unter unserem Niveau und unserer Würde gelebt haben, in denen wir unseren Beziehungen zu Gott, den Nächsten und der Schöpfung und zu uns selbst nicht gerecht geworden sind. Die Reinigung dieser Wunden ist mit Schmerzen verbunden, und es tut weh, den Schorf zu entfernen, um das zu sein, wozu wir geschaffen wurden: gesund und stark. Die Selbstbezogenheit muss uns abgestreift werden, und das ist schmerzhaft und verursacht Leiden, aber es gibt keine andere Möglichkeit, wenn wir das sein wollen, was wir sein sollen: ein Volk des Dienens. Wir müssen den Egoismus sterben lassen, denn wir sind zur Selbstentäußerung und Selbstlosigkeit geschaffen. Die Gier muss vergehen, denn wir sind für Großzügigkeit bestimmt. Der schroffe Individualismus wird von denen abgeschält, die für die Gemeinschaft bestimmt sind. Rassismus muss vergehen in einem Volk, das für Gerechtigkeit bestimmt ist. Der Hass muss sterben in einem Herzen, das für den Frieden geschmiedet ist. Es tut weh, all diese Dinge sterben zu lassen. Aber es ist eine Notwendigkeit, sie sterben zu lassen, denn wir wurden nie für sie geschaffen, nie für sie bestimmt. Wenn unser Leben mit all diesen sündigen Realitäten gefüllt ist, werden wir Gott hören, der uns die Worte der weisen, jungen Mutter ins Ohr flüstert: »Schatz, dafür war es nie gedacht.«

Wenn wir einer dienenden, sich selbst entäußernden, großzügigen, gerechten und friedlichen Person der Gemeinschaft begegnen, wissen wir, dass dieses Leben für Gott etwas Schönes ist. Dennoch sollten wir nie vergessen, dass dies eine Schönheit ist, die aus einem tiefen Sterben geboren wird. Keiner von uns kann diesen Prozess der schmerzhaften Reinigung vermeiden und trotzdem den Sinn unseres Lebens erfüllen. Durch das Sterben kommen wir zum Leben. Durch den Tod werden wir fruchtbar.

Gelegentlich sind wir versucht, dem natürlichen Rhythmus der Dinge den Rücken zu kehren, weil wir uns oder anderen den Schmerz und das Leid ersparen wollen und uns dadurch für edel und wahrhaftig halten. Vor Jahren traf ich einen sehr begabten geistlichen Leiter. Er machte die Bemerkung, dass er oft eine Klage von Menschen hörte, die er begleitete. Es ging nie um einen Mangel an Freundlichkeit, Mitgefühl oder Verständnis. Es ging um seine Klarheit. Er gab zu, dass ihn das oft auf die Palme brachte. Er war ein Mann, in dessen Herz eine tiefe und persönliche Sorge für alle Menschen wohnte, die ihm anvertraut waren. Doch er hatte ein echtes Mitgefühl und kein falsches Mitleid. Er nannte die Dinge beim Namen und rief seine Menschen, die Wahrheit, Schönheit und Güte zu sein, die Gott für sie vorgesehen hatte. Er sah in ihnen Potential und Treue, eine echte Kraft und liebevollen Adel. Aber oft war es gefesselt, zugedeckt oder durch Sünde und Vernachlässigung belastet. Nicht gewillt, sie mit weniger zufrieden zu stellen, übte er wahres Mitgefühl, indem er sie zur Befreiung einlud, sie zur Freiheit erhob und ihnen eine Vision dessen zeigte, was für sie  noch Wirklichkeit werden könnte.

Als ich die Geschichte dieses alten Mannes hörte, dachte ich, er muss sich ähnlich fühlen wie Pedro Arrupe. Am Ende ist es oft der einzige Weg zur Heilung, der einzige Weg, ein Leben zu retten. »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein.« Wie barmherzig wäre Arrupe gewesen, wenn er diesem Mann den furchtbaren Schmerz erspart hätte? Es ist eine aufschlussreiche Lektion unseres Glaubens. Wir können einem anderen den Schmerz ersparen, auf natürliche Weise zu sterben wie das Weizenkorn, und entdecken, dass wir ihm tatsächlich das wahre Leben verweigert haben.

 

Erik Riechers SAC, 21. März 2021

 

 

Ein Mann, »als Fels hineingestellt« *

 

Ein treuer Begleiter,

der Frau und Sohn gut und verlässlich versorgt,

der weiß, was bei Gefahr zu tun ist und entsprechend handelt,

der sich nicht in den Vordergrund stellt, doch seiner Verantwortung für die Seinen stets      gerecht wird,

der tiefe Verbindung zu Gott pflegt -

wer wünschte sich nicht einen solchen Gefährten, einen solchen Vater?!

All das erzählen uns Matthäus und Lukas von Josef aus Nazareth.

Und genau dies macht ihn für viele zum Vorbild ihres Lebens: sorgend wie er, hörend auf Gottes Stimme und Verantwortung verlässlich wahrnehmend. Wie viele Einrichtungen, in denen hilfsbedürftige Menschen betreut werden, tragen darum seinen Namen! In unserer Welt jedoch scheinen Selbstdarstellung und große Worte mehr beachtet zu werden; wenn es schwierig wird, fehlt es an Geduld und Ausdauer, Ausreden sind schnell auf den Lippen und Gott ist für viele ein Fremdwort.

Der Jesuit Alfred Delp lebte und litt in seiner Welt in den Jahren der Naziherrschaft. Doch er hielt stand und gewann seine ganz eigene Verbindung und Verehrung des hl. Josef. Wegen seiner Verbindung zum Widerstand wurde er im Juli 1944 verhaftet und schrieb im Gefängnis:

Josef »ist der Mann am Rande, im Schatten. Der Mann der schweigenden Hilfestellung und Hilfeleistung. Der Mann, in dessen Leben Gott dauernd eingreift mit neuen Weisungen und Sendungen. Die eigenen Pläne werden stillschweigend überholt. Immer neue Weisung und Sendung, neuer Aufbruch und neue Ausfahrt.

Er ist der Mann, der dient. Dass ein Wort Gottes bindet und sendet, ist ihm selbstverständlich. Die dienstwillige Bereitschaft, das ist sein Geheimnis. (...) Er ist der Mann, der sich eine bergende Häuslichkeit im stillen Glanze des angebeteten Herrgotts bereiten wollte, und der geschickt wurde in die Ungeborgenheit des Zweifels, des belasteten Gemütes, des gequälten Gewissens, der zugigen und windoffenen Straßen, des unhäuslichen Stalles, des unwirklichen fremden Lebens.

Und er ist der Mann, der ging...« *

Das bringt uns der tieferen Realität der kargen Worte des Evangeliums näher. Alfred Delp wusste, was es bedeutet, wenn Pläne durchkreuzt werden und die Treue zur eigenen Sendung immer wieder neu herausgefordert wird und zum Aufbruch drängt - in die Fremde, gegen die Ängste, ja sogar in den Tod.

Josef war ein Mann, der die Spannungen des Lebens aushielt und sich in ihnen bewegte, ohne sich zu verlieren. Er konnte all das leben, was die Evangelisten knapp erzählen, weil er tief verwurzelt war in Gott.

Er war ein Mensch von der Art, von der Jesus in der Bergpredigt sagt: »… ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut.« (Mt 7, 24-25)

Menschen wie ihn braucht die Welt auch und gerade heute - wie gut, dass Papst Franziskus ihn uns in diesem Jahr besonders ans Herz legt!

* Alfred Delp, Gesammelte Schriften, IV, 199f

Rosemarie Monnerjahn, 19. März 2021

 

 

 

Eine Legende vom heiligen Patrick

 

Heute ist St. Patrick's Day. Möge sein Segen auf Ihnen ruhen.

Sobald wir von St. Patrick sprechen, sind wir umgeben von einer Fülle von Legenden, die sich um seine Person gebildet haben. Und sobald wir die Legenden hören, werden wir verwirrt. Wir nehmen sie nicht ernst, weil wir sie für ein wenig kindisch halten, oder schlimmer noch, für etwas für die Einfältigen und Abergläubischen.

Die Legenden um Patrick sind aus der Volkswahrnehmung entstanden. So haben die Menschen ihn gesehen und wahrgenommen. Diese Geschichten sind eine andere Art der Annäherung an die historische Person Patricks. Sie sind nicht aus dem historisch-kritischen Auge des Gelehrten geboren. Sie entspringen dem ehrfürchtigen und tief berührten Herzen nach der Begegnung mit Patrick. Die Legenden sind nicht die kalten, analytischen Darstellungen des wissenschaftlichen Verstandes, der für immer dazu verurteilt ist, unter den Zuschauern und Beobachtern der Welt zu stehen. Dies sind die Geschichten von lebendigen Begegnungen, von der Wärme, die Menschen spürten, von den Horizonten, die sich den Herzen öffneten, die zitterten, weil sie das Privileg hatten, Patrick zu begegnen. Sie wussten, dass das, was sie in der Begegnung mit ihm erlebten, von Gott durchdrungen war. Diese Geschichtenerzähler waren nie Zuschauer, sondern Teilnehmer.

Erlauben Sie mir, meine Lieblingslegende von Patrick zu erzählen. Eine der Geschichten beginnt damit, dass Patrick sich von seinem Elternhaus in Großbritannien verabschiedet, um nach Irland zurückzukehren. Er nimmt seinen geliebten Wanderstab mit, der aus dem Holz der Esche gefertigt ist. Auf seiner Reise hält er immer wieder an, um die Leute zu versammeln, das Brot zu brechen und die Geschichten von Gott zu erzählen. Er nutzt jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, um die Frohe Botschaft von Jesus zu verkünden.

Wenn er in einem Dorf innehielt, war es seine Gewohnheit, seinen Wanderstab in den Boden zu stoßen. Damit setzte er ein Zeichen, dass er nicht einfach weitergehen würde, sondern bereit war, anzuhalten und eine Weile zu bleiben. Eines Tages erreichte er ein Dorf und beschloss, dort anzuhalten, um den Menschen dort die Geschichten von Gott und vom Glauben zu erzählen. Wie immer stieß er seinen Wanderstab in den Boden. Doch dieses Mal dauerte es sehr lange, bis die Geschichten gehört wurden. Beunruhigte Herzen, ängstliche Herzen und verhärtete Herzen öffneten sich nicht sofort und nahmen seine Worte nicht schnell auf. Es gab Zögern, Verwirrung, Widerwillen und Widerstand.  Also blieb Patrick viel länger an diesem Ort, erzählte die Geschichten und verkündete die gute Nachricht. Und weil es so lange dauerte, entwickelte der Wanderstab aus dem Holz der Esche Wurzeln und wurde zu einem lebendigen Baum. Der Ort, an dem all dies geschah, wurde danach Aspatria genannt, was »Esche des Patrick« bedeutet.

Wenden wir uns nun den Menschen zu, die diese Geschichte erzählt haben. Sie wählten den Baum als Symbol für das, was sie erlebten. In biblischen Erzählungen dient der Baum oft als Symbol für den Menschen und sein Wachstum. Der Baum erfreut sich einer großen Vielfalt, die man an den Ästen und Blättern und Früchten sieht, die er trägt. Und doch bildet diese Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit. Die Einheit ist der Stamm, von dem aus sich alles verzweigt. Diese Einheit (der Stamm) erhält ihr Leben aus den Wurzeln. Die Wurzeln aber sind tief in der Erde vergraben und verrichten ihre lebensspendende Arbeit an Orten, die wir nicht sehen können.

In tief symbolischer Sprache erzählen die Menschen, die Patrick begegnet sind, was sie erlebt haben, was sie berührt hat und was sie aus der Begegnung mitgenommen haben. Wenn wir heute innehalten, um Patricks Geschichten über Gott und Geschichten über den Glauben zu hören, dann wird das, was mit seinem Spazierstock geschah, auch mit uns geschehen. Diese Menschen lernten, dass wir Kraft aus den verborgenen Orten schöpfen müssen. Wir müssen in zwei Richtungen gleichzeitig wachsen - wir müssen in die Tiefe wachsen, um verbunden und gut geerdet zu bleiben. Wir müssen auch nach oben wachsen, um uns nach dem Himmel zu strecken, nach dem Licht. Unser Leben muss sich verzweigen, höher und breiter werden, Früchte tragen und den Himmel und das Licht erreichen. Und wir müssen den unsichtbaren Teilen dieses Prozesses vertrauen, der in der Tiefe (den Wurzeln) geschieht, auch wenn an der Oberfläche scheinbar nichts geschieht.

Wenn wir uns unter diesen Menschen bewegen, werden sie uns nach der Begegnung mit Patrick die Natur des ehrfürchtigen und berührten Herzens offenbaren. Woran erinnern sie sich? Was möchten sie uns über ihre Begegnung mit Patrick erzählen?

Ich möchte einen imaginären Brief für uns schreiben. Eines Abends setzen sich die Erzähler der Legende hin, um uns folgendes zu schreiben.

 »Freunde der Zukunft. Wir geben die Legende an euch weiter, denn was uns wertvoll ist, wollen wir euch nicht vorenthalten. Wir kannten Patrick, berührten seine Hände und wurden von seinen Händen berührt. Seine Stimme hallt noch in unseren Herzen nach, lange nachdem sie aufgehört hat, in unseren Ohren zu klingen. Diesen Mann kennengelernt zu haben, hieß, etwas von Gott erfahren zu haben. Und wer kann dann noch schweigen? Hier war ein Mann, der Geduld mit uns hatte. Selbst als er merkte, dass seine Botschaft lange brauchte, um zu uns durchzudringen, ging er nicht weg, verfluchte nicht unsere Ignoranz oder verachtete uns wegen unserem Mangel an Bildung. Er blieb bei uns und begleitete uns, indem er uns die Zeit und den Raum gab, den wir brauchten, um uns dem unbekannten Gott zu öffnen.

Es ist etwas, das wir nie vergessen haben. In unserer Zeit werden wir oft von den Mächtigen abgeschrieben, von den Gelehrten herabgesetzt und verspottet und selbst von Predigern mit Verachtung behandelt. Höchstwahrscheinlich werden die Gelehrten eurer Zeit uns und unsere Geschichten auf ähnliche Weise behandeln. Aber wir geben unsere Geschichten an euch weiter, nicht an sie. Von Patrick erhielten wir Würde. Von ihm lernten wir, dass echtes Geschichtenerzählen und authentisches Predigen keine Unternehmungen für diejenigen sind, die auf den schnellen Profit und den leichten Gewinn aus sind. Von diesem Mann lernten wir, dass echte Geschichtenerzähler und authentische Prediger nach Gottes Volk suchen, ihre Herzen aufsuchen und ihre Wunden berühren wollen.

Und wir sahen in seinem Gehstock den Prozess, der sich in uns abspielt und entfaltet. Es hat lange gedauert, bis wir Wurzeln geschlagen haben, liebe Freunde. Wir mussten tief gehen und durften nicht schnell sein. Deshalb erzählen wir unsere Geschichte allen, die Ohren haben, um zu hören. Wenn ihr nicht tief geht, werdet ihr nie mehr als ein Wanderstock sein. Wenn ihr nicht tief geht, werdet ihr nie zu einem lebendigen Baum werden.«

»Lá fhéile Pádraig sona dhuit!«  Ihnen einen schönen St. Patrick's Day.

 

Erik Riechers SAC

Fest des Hl. Patrick, den 17. März 2021

 

 

Wer die Wahrheit tut . . .

 

Recht weit fortgeschritten sind wir schon auf unserem Weg durch den »heiligen Frühling«. Viele von uns lieben diesen alten Namen für die Fastenzeit inzwischen sehr und in der Tat, wir sind gut vorangekommen. Zeitlich stimmt dies auf jeden Fall, denn wir sind nun bereits in der 4. Fastenwoche. Aber ist es auch innerlich stimmig und wahr? Ein Blick aus dem Fenster kann uns leiten. Draußen ist es derzeit recht kalt, dennoch bricht überall Leben hervor. Was im Dunkel der Erde begonnen hat, lässt sich nicht mehr stoppen. Es zeigt sich mehr und mehr: Schneeglöckchen und Krokusse, Narzissen und erste Tulpenspitzen, Triebe von Stauden, wo ich gar nichts mehr erwartet habe. Vielfalt zeigt sich im Garten, wo meine Augen sich an eintöniges, lebloses Braun gewöhnt hatten. Unsichtbar begann das Wachstum, zaghaft im Dunkeln, und bahnt sich nun seinen Weg ins Licht.  

Spüre ich auch in mir erste Zeichen von Lebendigkeit, zarte Anfänge vielleicht von Prozessen, die zunehmend Raum brauchen und langsam nach außen streben? Lasse ich sie durchbrechen, wenn es soweit ist? Dürfen sie sich zeigen? Vielleicht bricht sich - durch Stille, Gebet, gute Begleitung gefördert - endlich in meinem Herzen die Wahrheit Bahn, dass Gott mich anschaut, mich liebt und groß von mir denkt. Das lässt mich wachsen und treibt hinaus zu ganz neuer Lebendigkeit, mehr Farbe, Kreativität und Bewegtheit. Es muss sich zeigen dürfen, es will und muss hinaus ans Licht. 

»Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht« hörten wir im gestrigen Evangelium. Jesus sagt es zu Nikodemus, dem angesehenen Pharisäer und Lehrer, der sich nur bei Nacht traut, Jesus aufzusuchen. Die Sehnsucht hat ihn bewegt zu diesem Schritt, aber gleichzeitig hat er Angst. Er vertraut den gewohnten Sicherheiten seines Standes mehr als dem, was Jesu Worte in ihm ausgelöst haben. Er scheint mir kein Mann des Frühlings zu sein.

Frühlingsmenschen nämlich vertrauen dem noch unsichtbaren Keim in sich und lassen ihn ins Licht kommen, indem sie diese gefundene Wahrheit beginnen zu leben. Leben, das in uns zu wachsen beginnt, muss irgendwann umgesetzt werden in Handlung, ins Tun. Menschen können viel darüber sprechen, was in ihnen vorgeht, welche Vorstellungen und Wünsche sie haben und was sie alles tun wollen. Doch wird es nie in Handlung verwandelt, wird noch nicht der kleinste Trieb neuen Lebens sichtbar in ihrem Tun, dann leben sie ihre Wahrheit nicht und drohen zu verkümmern. Das Reden darüber ist noch kein Leben. Wenn ich die Wahrheit in mir wahrnehme, wenn sich neues Leben in mir regt und mich bewegt, dann kann heiliger Frühling werden: Wagen wir erste Schritte, zeigen wir uns der Welt, gehen wir, handeln wir! Mit der ersten Triebspitze einer Tulpe, die den Boden durchbricht, ist noch nicht die ganze Blume da. Aber wenn dieser Durchbruch ins Licht nicht geschieht, wird es keine Tulpe geben - keine Farbe, kein Duft, keine Nahrung, keine Freude, nichts! 

Ich wünsche uns, dass wir uns trauen, unsere Wahrheit zu tun, damit wir ins österliche Licht hineinwachsen - mal zaghaft und langsam, mal mutig in größeren Schüben - aber immer auf dem Weg zu mehr Leben. Ja, »die Wahrheit wird euch befreien«, sagt Jesus an anderer Stelle zu seinen Jüngern (Joh 8, 32) - lassen wir uns darauf ein!

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. März 2021

 

 

Erbarmen ist nicht nur ein Wort

4. Fastensonntag B 2021                                      Eph 2, 4–10

 

Gott, der reich ist an Erbarmen,

hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren,

in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat,

zusammen mit Christus lebendig gemacht.

 

Barmherzigkeit. Kaum fällt das Wort und schon spüren wir, welche Sehnsucht sie in uns weckt. Sie ist uns sehr willkommen in einer kalten und erbarmungslosen Welt. Wer von uns hat sich noch nie nach Barmherzigkeit gesehnt?

Aber Erbarmen ist nicht nur ein Wort. Es sollte ein Lebensstil sein. Deshalb sollten wir uns  zwei Fragen stellen, damit wir diese Erfahrung des Erbarmens, die auch eine Erfahrung Gottes ist, ernst nehmen:

  1. Wie geht Barmherzigkeit ganz konkret? (Ist es mehr als lieb sein?)
  2. Wie macht Barmherzigkeit lebendig?

Da können uns die großen Erzählungen des Evangeliums sehr behilflich sein, denn sie zeichnen den Weg der Barmherzigkeit auf. Drei große Merkmale bilden sich heraus, die Urerfahrung aller Gläubigen in ihrer Begegnung mit ihrem Gott und die Gründe, warum sie ihn als reich an Erbarmen erleben.

 

  1. Der erste Schritt der Barmherzigkeit heißt »Verständnis für die Überforderung des anderen«.

In biblischen Erzählungen  ist es klar, dass Jesus Verständnis hat für die Überforderung seiner Menschen, auch seiner Jünger. Immer wieder zeigt er dieses Verständnis, wenn Menschen außer Lage sind, mehr zu tragen, mehr zu hören, mehr aufzunehmen. Sie können im Augenblick nicht mehr.

Jesus hat dieses Verständnis, obwohl es ihn etwas kostet. Diese Überforderung der Menschen und der Jünger bedeutet, dass er sein Programm erstmal nicht durchziehen kann, denn er hat »noch vieles« zu sagen. Aber es gibt eben keine Barmherzigkeit ohne diesen ersten Schritt. Fragen Sie nur den Samariter des Gleichnisses. Es kostet ihn Zeit, Öl, Wein und Geld, um dem zusammengeschlagenen Mann zu helfen. Aber während er das tut, kann er seine Reise nicht fortsetzen und seine Pläne nicht durchführen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir alle schon Erfahrungen mit Erschöpfung, Ohnmacht und Überforderung gemacht haben. Es hat sicher Stunden gegeben, in denen wir einfach nicht mehr konnten. Ich bin mir auch sicher, dass wir in solchen Stunden gelegentlich die schmerzliche Erfahrung gemacht haben, dass Menschen kein Verständnis für das zeigten, was wir durchmachten. Und in diesem Moment wussten wir: sie haben auch kein Verständnis für uns.

Sehr oft gibt es kein Verständnis, weil der Andere nur hört, dass unsere Überforderung jetzt sein Problem werden könnte, dass seine Pläne geändert, verzögert oder durchgestrichen werden.

So erzählte mir vor Jahren ein Mann über ein Gespräch mit seinem Chef. Dieser Mann hatte seiner Firma einen millionenschweren Vertrag gebracht, ist dabei aber sehr krank geworden. Jetzt brauchte er eine  Behandlung sowie eine Auszeit. Sofort beklagte sich der Chef über die Probleme, die das für ihn bedeuten würde und welche Auswirkungen das auf den Dienstplan haben würde. Er fragte kein einziges Mal nach dem Wohlergehen seines Mitarbeiters noch nach seiner Prognose. 

Wenn es kein Verständnis für uns gibt, wenn wir in diesen Situationen überwältigt werden, dann können wir nicht gut leben. In diesem Moment hat keiner von uns das Gefühl, dass wir barmherzig behandelt werden.

 

  1. Der zweite Schritt der Barmherzigkeit ist die Geduld.

Jesus sieht zwar die Überforderung seiner Menschen, aber er geht nicht davon aus, dass sie uns definiert. Nur weil wir Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt etwas nicht tragen können, heißt noch längst nicht, dass wir es nie tragen werden.

Aber Geduld hat es so in sich. Ich habe als Jugendlicher mal meine Ungeduld und ihre verheerenden  Folgen in meiner Beziehung zu meinem Vater gebeichtet und erntete dafür den nicht besonders hilfreichen Rat: »Seien Sie doch geduldig!« Meine Reaktion war auch nicht gerade geduldig, als ich den Beichtvater im Frust sagte: »Herzlichen Dank für diese nutzlose Antwort. Wenn ich das schon könnte, würde ich sicherlich nicht Ungeduld beichten.«

Was ich damals brauchte war Hilfe. Wie sieht Geduld aus? Welche Schritte muss ich gehen, um Geduld zu leben? Geduld wird mich immer herausfordern, einem anderen zwei Dinge zu schenken, nämlich Raum und Zeit. Geduld heißt, Menschen den Raum und die Zeit zu schenken, die sie brauchen für Wachstum, innere Prozesse, Reifung, Entfaltung und Entwicklung und für das Heilwerden.

Das ist der zweite Schritt zur Barmherzigkeit. Und wir wissen es, denn wir fühlen uns nicht barmherzig behandelt, wenn jemand uns keinen Raum gibt für das, was in uns noch wachsen und reifen muss. Wie oft erleben wir, dass unseren Tränen, unserer Angst und Traurigkeit nicht der dringend benötigte Raum gegeben wird? Niemand fühlt sich barmherzig behandelt, wenn uns jemand nicht die Zeit gibt, die wir brauchen, um mit dem umzugehen, was noch in uns vorgeht. Allerdings erleben wir oft den unerbittlichen Druck, funktionieren zu müssen. Wenn wir einmal krank, traurig oder erschöpft sind, gibt es einen unbarmherzigen Druck, dass wir so schnell wie möglich wiederhergestellt und einsatzfähig sein müssen.

Der Barmherzige muss in der Lage sein, auf Prozesse zu warten, die nicht beschleunigt werden können. Auf diese Weise kann die Barmherzigkeit einen Menschen lebendig und vital werden lassen. Wer profitiert in solchen Momenten der Not nicht davon, zu hören: »Warum nimmst du dir nicht die Zeit, die du brauchst?«

 

  1. Der dritte Schritt zur Barmherzigkeit ist die Unterstützung und Förderung des Wachsens, das uns größer macht als wir es im Moment sind. 

Dieser dritte Schritt zur Barmherzigkeit liegt in der Verheißung Jesu, den Geist zu senden. Dieser Geist wird kommen und das, was in uns ist, noch vertiefen. Im Johannes-Evangelium spricht Jesus dies folgendermaßen aus:

»Er wird nicht aus sich selbst heraus reden…

er wird von dem, was mein ist, nehmen und es verkünden…«

(Joh 16, 13-14)

Jesus spricht in diesen Augenblicken unseres Lebens kein Misstrauensvotum aus. Seine Botschaft ist nicht: Nun ja, ihr habt nichts, es ist nichts vorhanden und deshalb müssen wir von vorne anfangen.

Ganz im Gegenteil. Jesus spricht sein Vertrauen aus, dass mehr möglich ist  als das, was gerade vorhanden ist. Deshalb schickt er den Geist. Damit will er sagen: was schon da ist, werde ich begleiten, vertiefen, unterstützen und fördern. Ich werde das, was vorhanden ist, was ich vorfinde, aufbauen.

Zu wissen, dass ich unterstützt werde in meinem Verlangen, größer, heiler, liebevoller, gerechter, gesünder oder besser zu werden, lässt mich aufatmen und aufleben.

Es ist aber nicht immer so. Manchmal werden wir einfach als hoffnungslos abgeschrieben. Manchmal hören wir einfach, dass wir uns ändern sollten, aber bekommen keine Unterstützung. Und manchmal wird uns gesagt, so wie wir gerade sind, so dürften wir eigentlich nicht sein. Es ist immer ein unbarmherziger Moment, wenn Menschen sich weigern, mit dem zu arbeiten, was wir zu bieten haben.

Verständnis für Überforderung, Geduld (Zeit + Raum) für nötige  Prozesse des Wachstums und der Entfaltung, und die Unterstützung des Größerwerdens bilden den Weg der Barmherzigkeit.  Das ist das Erbarmen, von dem Gott reich ist. So schenkt er uns einen Raum, in dem sich’s leben lässt.

Die Barmherzigkeit  ist weit mehr als nur jemandem eine Last abzunehmen. Auf Dauer erzeugt das Minderwertigkeit im Empfänger (Ich kann es doch nicht!) und Misstrauen im Geber (Du hast Recht, du kannst es nicht, also nehme ich es dir ab). Gottes Barmherzigkeit will nicht die Minderwertigkeit seiner Menschen, noch will sie sein grundsätzliches Misstrauen über unser Können ausdrücken. Der Gott, der reich an Erbarmen ist, will, dass wir leben können, frei, verantwortlich und kreativ.

 

Erik Riechers SAC, 14. März 2021

 

 

Eine anschwellende Barmherzigkeit

 

In meinem letzten Impuls habe ich die Geschichte der Ennis-Schwestern und ihres Liedes »I will sing you home« erzählt. Doch wie mein geliebter Lehrer oft sagte: »Jede gute Geschichte gebiert andere gute Geschichten«.

Vor ein paar Tagen schickte mir ein Freund ein Video, in dem »I will sing you home« aufgeführt wird. Er schrieb mir: »Das hat mich auf so vielen Ebenen bewegt, und seit ich es gehört habe, rollt es in meinem Herzen herum, Tag und Nacht. Es tröstet und ermutigt mich auf eine Weise, die ich nicht beschreiben kann, aber die ich so tief empfinde. Ich habe keine Worte dafür, mein Freund. Aber ich weiß, dass du sie hast. Also schicke ich es dir, weil ich weiß, dass du es in etwas Schönes für andere verwandeln wirst.«

Auf dem Video hörte ich den Holy Heart Chamber Choir das Lied singen. Dies war ein Projekt, das unter den Zwängen der Corona-Pandemie begann. Die Schüler, die normalerweise im Schulchor mitmachen, waren besorgt, ob sie unter den Einschränkungen der Masken und der sozialen Distanzierung singen könnten. Dennoch waren sie zuversichtlich, dass ihr Chorleiter und Musiklehrer, Mr. Robert Colbourne, einen Weg finden würde. Und sie hatten nicht unrecht.

Zuerst hörte er darauf, was die Herzen seiner Schüler bewegte. Gemeinsam wählten und arrangierten sie dieses Lied, das zu ihnen über Verlust und Einsamkeit, Liebe und Trost und von einem Mut, der uns nach Hause singt, sprach. Wie eine Schülerin es ausdrückte: »Es war ein Lied, das für uns Heimat bedeutet«. Im ersten Moment haben sie für sich selbst gesungen.

Aber die Barmherzigkeit schwillt an und wächst. Schon bald beschlossen der Chor und sein Leiter, dass ihr Gesang geteilt werden sollte, dass das, was sie sangen, andere trösten und stärken könnte. Also beschlossen sie, ein Video für einen Musikwettbewerb zu drehen, der von der Canadian Broadcasting Corporation (CBC) gesponsert wurde.

Aber die Barmherzigkeit schwillt an und wächst. Der Chor beschloss, inklusiver zu sein und eine der Strophen ins Französische zu übersetzen, um so eine Gruppe mit einer anderen Muttersprache stärker an der Botschaft und dem Trost des Liedes teilhaben zu lassen.

Aber die Barmherzigkeit schwillt an und wächst. Als sie in das Lied hineinwuchsen und das Lied in ihnen wuchs, begann sich in ihnen eine größere Inklusivität zu entfalten, und sie wollten für alle sprechen, die von den Gefühlen und Erfahrungen betroffen waren, die sie nur zu gut kannten. Sie wollten jeden nach Hause singen

Also beschlossen sie, die Gehörlosengemeinschaft mit einzubeziehen. Sie luden ein gehörloses Chormitglied, Paula Coggins, ein, mit ihnen zu singen. Der Newfoundland Deaf Choir half den Schülern, die Gebärdensprache zu lernen und sie als eine wirklich ausdrucksstarke Sprache zu schätzen, die den ganzen Körper als Ausdruck einer tiefen Kultur einsetzt.

Auf dem ergreifend schönen Video ihres Auftritts sehen Sie das Ergebnis ihrer Bemühungen.* Sie sehen Paula Coggins, die mit ihnen in Gebärdensprache singt. Sie werden Aufnahmen von Schülern sehen, die Schilder mit den verschiedenen Gründen hochhalten, warum sie singen. Sie werden eine Reihe von Schülern sehen, die Schilder mit einer gemeinsamen Botschaft hochhalten: »Ich singe, denn wenn ich singe, bin ich zu Hause!« Und Sie werden sehen, wie der gesamte Chor die letzte Strophe in Zeichensprache singt.

Eine winzige Gruppe von einsamen, verängstigten, orientierungslosen und isolierten Menschen hat ein Video geschaffen, das unzählige Menschen in ihrer Einsamkeit, Angst, Orientierungslosigkeit und Isolation integriert, einschließt und erreicht. Ein kleiner Anfang wurde zu etwas großem, weil die Barmherzigkeit anschwillt und wächst.  Und das ist die Geschichte hinter der Geschichte.

»Jede gute Geschichte gebiert andere gute Geschichten.« Rosemarie erzählte uns eine Geschichte über Moses, der ein Lied von Gott lernte, und ließ uns mit dem fragenden Impuls zurück: »Haben wir ein Lied für Zeiten der Not?« Ihre Geschichte weckte in mir die Geschichte der Ennis Sisters, drei Frauen, die eine persönliche Geschichte der Tragödie eines Selbstmordes in der Familie in eine Geschichte in Liedform verwandelten. Genauso wie die Barmherzigkeit, eine gute Geschichte schwillt an und wächst. Im Moment schwillt und wächst es in Ihnen, geliebter Leser.

Mein Freund hat mir dieses Video geschickt, weil dieses Lied sein Herz zum Schwingen gebracht hat.  Es hat ihn auch dazu bewegt, etwas mehr zu tun: »Deshalb schicke ich es dir, weil ich weiß, dass du es in etwas Schönes für andere verwandeln wirst.«

Das habe ich gerade getan.

 

Erik Riechers SAC, 12. März 2021

 * https://www.youtube.com/watch?v=CEIFBbHN0PY

 

 

Ich werde dich nach Hause singen

 

»Haben wir ein Lied für Zeiten der Not?« Die Frage, die Rosemarie in ihrem letzten Impuls gestellt hat, ist bei mir hängen geblieben, seit ich sie gelesen habe. Die Zeile, die mich am meisten beeindruckt hat, war, als sie von Gottes Lied für unruhige Zeiten schrieb:

»Für solche Zeiten hat einst Gott Mose ein Lied diktiert. Mose, am Ende seines Lebens und Leitens, musste es aufschreiben und das Volk lehren, das Volk musste es auswendig lernen für Zeiten der Not und Bedrängnis, die auf satte, selbstzufriedene Zeiten zu folgen pflegen.«

Die schiere Lieblichkeit der Szene berührte mich. Was für eine wundersame Liebe ist das, die innehält, um uns ein Lied beizubringen, es auswendig zu lernen und dafür zu sorgen, dass es Teil des Werkzeugkastens des Herzens ist, bereit, wenn die Notwendigkeit entsteht?

Nun bin ich sicher, dass viele von uns von dieser Szene berührt sind. Die Frage ist, ob wir von dieser Szene bewegt werden. Würden wir diesem Vorbild Gottes folgen?

In Neufundland, Kanada, hat ein singendes Schwesterntrio ein solches Lied komponiert. Die Ennis-Sisters schrieben ein Lied mit dem Titel »I will sing you home« (Ich werde dich nach Hause singen). Es wurde aus einer tragischen, schmerzhaften und emotional belastenden Erfahrung in ihrem Leben geboren. Ein junger Cousin von ihnen nahm sich das Leben. Maureen, eine der Schwestern, erzählt:

»Als das mit Steve passierte, war das ein ziemlicher Schock für unsere Familie, und in diesem Winter, als ich durch diese Art von Trauer ging, hatte ich wirklich keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Also schlug mein Schreibpartner Mark Murphy vor, dass wir uns hinsetzen und einen Song schreiben, und so entstand der Song an einem sehr notwendigen Punkt in meinem Leben, an dem ich versuchte, durch die Trauer zu heilen.« * Das war im Jahr 2008.

Seitdem haben viele Hunderte von Menschen dieses Lied gesungen, um durch die Wirren ihrer persönlichen unruhigen Zeiten zu navigieren. Im Jahr 2015 sangen die Ennis-Sisters das Lied als Teil der Gedenkfeier für die gefallenen Soldaten während des 100. Jahrestages der katastrophalen Schlacht von Beaumont-Hamel während des Ersten Weltkriegs. Im Jahr 2019 standen die drei Schwestern am Strand von Juno in der Normandie und sangen ihr Lied zum 75. Jahrestag des D-Day.

Maureen, Karen und Teresa, die Ennis-Schwestern, folgten Gottes Vorbild. Erstens schrieben sie ein Lied für unruhige Zeiten. Zweitens nahmen sie eine zutiefst persönliche Erfahrung und teilten sie mit anderen und lehrten sie ein Lied für ihre eigenen unruhigen Zeiten. Drittens: Unzählige Menschen lernten das Lied auswendig. Man kann sie bei ihren Konzerten, bei diesen Gedenkfeiern, mitsingen sehen, ohne Noten und Liedblätter. Und schließlich bringen die Menschen das Lied in Zeiten der Not hervor. Sie singen es dort, wo Trauer sie einhüllt, Kummer sie überwältigt, Verzweiflung ihr ständiger Begleiter ist und die Rohheit des Lebens einen lindernden Balsam braucht.

Was Gott für Mose tat, taten die Ennis-Sisters für andere in ihrer Welt. Und wenn Menschen tun, was Gott getan hat, glaube ich, dass wir an einem privilegierten Ort stehen, einem heiligen Ort, einem Ort, an dem Gott mit der geliebten Gemeinschaft wohnt.

Und ich glaube, sie haben eine schöne Formulierung gefunden, um den heiligen, heilenden Fluss zu beschreiben, den Gott in längst vergangenen Tagen in Bewegung gesetzt hat. »Ich werde dich nach Hause singen.« Das ist es, was Gott für sein Volk tut, bis zum heutigen Tag. Es ist das, was sein Volk füreinander tut, wenn es ganz nah an seinem großartigen Herzen lebt. So klingt ein solcher Moment in der Lyrik der Ennis Sisters.

Too soon to leave this earth.                             Zu früh, um diese Erde zu verlassen.

How could all your work be done?                      Wie könnte all deine Arbeit fertig sein?

Ash to ash and dust to dust.                              Asche zu Asche und Staub zu Staub.

Seemed to me you’d just begun                        Es schien mir, als hättest du gerade erst begonnen.

 

When grief invades my soul                               Wenn Kummer in meine Seele eindringt,

there's comfort in a prayer, I find.                      gibt es Trost in einem Gebet, finde ich.

Though these candles honor you                          Obwohl diese Kerzen dich würdigen,

They burn for those you left behind.                   brennen sie für die, die du zurückgelassen hast.

Chorus:

I'll sing for you because I need to                    Ich werde für dich singen, weil ich es muss.

Right now this is all I know                             Im Moment ist das alles, was ich weiß.

I’ll sing so we will not forget you                     Ich werde singen, damit wir dich nicht vergessen.

I will sing you home                                        Ich werde dich nach Hause singen.

I will sing you home                                        Ich werde dich nach Hause singen.

 

Know that you will live                                       Wisse, dass du leben wirst

on the lips of those who knew,                         auf den Lippen derer, die wussten,

what it was you had to give                               was du zu geben hattest

and what it was they learned from you.              und was sie von dir gelernt haben.

 

This is my prayer for you.                                  Dies ist mein Gebet für dich.

and maybe someday I will know,                         Und vielleicht werde ich eines Tages wissen,

if it helped your journey home,                          ob es dir auf deiner Reise nach Hause geholfen hat,

or if it helped me let you go.                              oder ob es mir geholfen hat, dich gehen zu lassen.

Chorus

 

We're born unto this earth,                                Wir werden auf diese Erde geboren,

generations one by one.                                    eine Generation nach der anderen.

Ash to ash and dust to dust,                              Asche zu Asche und Staub zu Staub,

there is nothing left undone.                              es bleibt nichts ungeschehen.

Chorus

 

Wir leben im Moment in ziemlich unruhigen Zeiten. Vielleicht könnten wir diese große Tradition aufgreifen.  Vielleicht könnten wir über unseren persönlichen Kummer und Kampf hinausgehen und ihn für andere öffnen. Vielleicht können wir uns gegenseitig sagen: »Ich singe dich nach Hause«. Es ist ein Werk, das Gottes würdig ist.

*CBC News, October 29, 2015

 

Erik Riechers SAC, 10. März 2021

 

 

Haben wir ein Lied für Zeiten der Not?

 

Satt an so vielem waren wir lange - und wären es gern wieder.

Götzen folgten wir - und merkten es nicht.

Selbstsicher planten wir unsere Tage -  und dachten, es gehe immer so weiter.

Wir hatten alles im Griff - nun stehen wir auf schwankendem Boden.

Nichts ließen wir uns sagen - nun kleben wir an jeder Stimme.

Doch: Welche ist richtig? Welcher sollen wir folgen? Wo geht es hin?

Kleine Boote und große Schiffe wanken allesamt. Wir klammern uns an dünne Stäbe: Zahlen, Regelungen, Verordnungen - was gilt heute, was morgen?

Wo ist fester Grund, ein Fels in der Brandung, verlässlich und treu?

Für solche Zeiten hat einst Gott Mose ein Lied diktiert. Mose, am Ende seines Lebens und Leitens, musste es aufschreiben und das Volk lehren, das Volk musste es auswendig lernen für Zeiten der Not und Bedrängnis, die auf satte, selbstzufriedene Zeiten zu folgen pflegen.

So beginnt dieses alte Lied:

Hört zu, ihr Himmel, ich will reden, die Erde lausche meinen Worten. Meine Lehre wird strömen wie Regen, meine Botschaft wird fallen wie Tau, wie Regentropfen auf das Gras und wie Tauperlen auf die Pflanzen. Ich will den Namen des HERRN verkünden. Preist die Größe unseres Gottes! Er heißt: Der Fels. Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade. Ein falsches, verdrehtes Geschlecht fiel von ihm ab, Verkrüppelte, die nicht mehr seine Söhne sind. Ist das euer Dank an den HERRN, du dummes, verblendetes Volk? Ist er nicht dein Vater, dein Schöpfer? Hat er dich nicht geformt und hingestellt? Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen. (Dtn 32, 1-7)

Ausführlich erzählt das Lied weiter die ganze Geschichte des Volkes, einst auserwählt, gerettet und geführt und irgendwann satt und gottvergessen geworden.

Finden wir und hören wir ein solches Lied, das singt

            von Verlässlichkeit und Treue unseres Gottes, der war und ist und sein wird,

            der auf uns wartet wie ein Vater und dem wir uns anvertrauen können?

Und wenn wir selbst ein solches Lied noch kennen -

            singen wir es denen, die es nicht kennen?

In einer Zeit der Krise sagte Simon Petrus zu Jesus: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.« (Joh 6, 68)

Huub Oosterhuis lässt uns singen:

»Sprich du das Wort, das tröstet und befreit und das mich führt in deinen großen Frieden. Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und lass mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.«

Ja, wir haben Worte und Lieder für schwere Zeiten. Üben wir sie wieder in unserem heiligen Frühling!

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. März 2021

 

 

Was für ein Haus ist dies?

3. Fastensonntag B 2021                                      Joh 2, 13-22

 

Alle vier Evangelien erzählen die Geschichte von Jesus, der den Tempel reinigt. Aber während Matthäus, Markus und Lukas die Geschichte gegen Ende des Evangeliums erzählen, in der Zeit, in der die Passion und das Leiden Jesu beginnt, trifft Johannes eine mutige andere Wahl. Er erzählt uns diese Geschichte ganz am Anfang des Evangeliums, als Jesu öffentliches Wirken gerade beginnt.

Was am Anfang einer Geschichte geschieht, weckt eine Erwartung. Wir behalten das Ereignis im Hinterkopf, weil wir sehen wollen, wie sich das Ganze entwickelt. Wenn sich die Geschichte entfaltet, beginnen wir die umfassendere Bedeutung und Kraft des früheren Ereignisses zu verstehen und erkennen, dass es hier mehr gab, als wir vermutet hatten.

Indem Johannes die Reinigung des Tempels an den Anfang der Geschichte stellt, zeigt er uns bereits etwas, das eine unverwechselbare und bedeutende Rolle in der Art und Weise spielen wird, wie Jesus uns durch das Leben begleitet. Die Tempelreinigung ist eine Geschichte der Störung, der Bereitschaft, laut zu sein, wenn andere sich hinter leisen Tönen verstecken, und des Sprechens und Lebens der klaren Wahrheit an Orten, wo Menschen das Entgegenkommen als den Weg des geringsten Widerstands wählen. Wenn wir diese Geschichte am Ende eines Evangeliums lesen, suggeriert sie, dass dies einer der Gründe ist, warum Jesus schließlich verhaftet, verurteilt und hingerichtet wird. Aber indem Johannes sie ganz an den Anfang der Geschichte stellt, sagt er uns, dass dies eine Einstellung zum Leben und zum Glauben ist, die von Anfang an zu Jesus gehört, ein wesentlicher Teil dessen, wer er ist und wie er lebt. So wird sie zu einem wesentlichen Teil dessen, was wir Lehrlinge von unserem Lehrmeister lernen werden.

In dieser Geschichte werden wir vor den Jesus gestellt, der nicht stillschweigend alle beteiligten Parteien beschwichtigt. Er ist bereit und ganz und gar in der Lage, in Angelegenheiten, die ihm am Herzen liegen, konfrontativ zu sein.

Das wiederum wirft die Frage auf, was war ihm so wichtig, dass er Tische umwarf? Was geschah hier, das ihn dazu brachte, sich offen, deutlich und öffentlich damit auseinanderzusetzen? Welchen Schaden oder welche Gefahr sah Jesus hier, die ihn dazu brachte, so zu reagieren?

Der Tempel war als eine Reihe von Höfen angelegt, die immer näher an das Allerheiligste heranrückten. Es gab einen Vorhof für die Heiden, zu dem jeder Zugang hatte. Darauf folgte ein Hof für die Frauen, dann ein Hof für die Männer, dann der Hof der Priester und schließlich das Allerheiligste. Jeder aufeinanderfolgende Vorhof wurde selektiver in Bezug darauf, wer näher an die heiligste Wohnstätte Gottes herankommen durfte.

So war der erste Hof, der Hof der Heiden, der demokratischste, egalitärste Ort im Tempel. Er war für Juden und Nichtjuden gleichermaßen zugänglich, für Männer und Frauen, und sogar die Unreinen durften ihn betreten. So war es der einzige Ort im Haus Gottes für alle Menschen. Für viele war es der einzige Ort im Haus Gottes, weil ihnen aufgrund ihres Glaubens, ihres Geschlechts, ihres religiösen Status oder ihrer rituellen Unreinheit der Zugang zu keinem anderen Hof gestattet war.

Jesu Reaktion auf die Geschäfte, die hier getätigt wurden, hat damit zu tun. Der eine Ort im Tempel, der jeden, der eintreten wollte, aufnehmen sollte, wurde zu einem Ort der Geschäfte und der Marktkräfte. Und eine Sache, die wir alle über Märkte wissen, ist, dass sie immer ein Ort der Trennung werden.

Indem sie ihre Stände hier aufstellen, lassen die Händler ein Gift in den Tempel eindringen: Kannst du es dir leisten, hier zu sein? Wenn wir eine beliebige Straße mit Geschäften und Restaurants entlanggehen, praktizieren wir unbewusst diese subtile Form der Trennung und Ausgrenzung. Wir lesen die Speisekarte, die draußen vor dem Restaurant aushängt, schauen uns die Preise an und wissen dann, ob wir uns diesen Ort leisten können. Die Geschäfte, in denen wir einkaufen, wählen wir stillschweigend nach diesem Kriterium aus: Kann ich mir diesen Laden leisten? Wenn wir das Geld nicht haben, gehen wir nicht hinein. So funktionieren Marktplätze.

Die Armen würden also den Vorhof der Nichtjuden betreten und schnell merken, dass sie es sich nicht leisten können, hier zu sein. Sie hatten kein Geld für die Tieropfer, die für die Reinigungsrituale benötigt wurden. Es ist vergleichbar mit Orten in der Welt, wo Menschen ihre Kinder nicht getauft oder ihre Ehen nicht gefeiert haben, weil sie sich das Stipendium oder die Gebühr nicht leisten konnten. Das ist etwas, das Papst Franziskus zutiefst stört und das er immer wieder in Frage stellt.

Es beunruhigt Papst Franziskus, denn das ist es, was Jesus beunruhigt. Wie konnte der Eingang zum Haus seines Vaters der Ort sein, wo die erste und entscheidende Frage war: Kannst du es dir leisten, hier zu sein? Haben Sie schon einmal ein ziemlich teures Geschäft betreten, um einfach nur zu schauen, und gesehen, wie das Personal Sie mustert und Ihnen den deutlichen Eindruck vermittelt, dass sie daran zweifeln, dass Sie sich ihre Produkte leisten können?

Die erste und entscheidende Erfahrung beim Betreten des Hauses Gottes ist ein uneingeschränktes Willkommen. Jesus sagt: der Eingang zum Haus meines Vaters ist ein Ort, an dem alle willkommen sind. Aber diese erste Erfahrung und Begegnung mit Gott ist nicht elitär. Sie findet in der reichen, chaotischen Mischung der Menschen statt, in jeder Schattierung, in der sie kommen. Das Beste und das Schlechteste, was wir zu bieten haben, sind hier willkommen. Wo Männer und Frauen, Junge und Alte, Reiche und Arme, Sünder und Heilige und alles, was dazwischen liegt, zusammenkommen können und sich willkommen wissen, da ist der Ort, an dem die Begegnung mit Gott beginnt.

Und Jesus scheut sich nicht, dies beim Namen zu nennen, es auszusprechen und zu konfrontieren. Er tut dies offen und öffentlich.

Das ist die Herausforderung unseres Lehrmeisters. Wir schauen nur allzu leicht weg, wenn die Dinge unbequem sind. Wir benennen Ungerechtigkeit nicht so leicht. Denn es gibt einen versteckten Trick in dieser Geschichte. In der Tat hätte Jesus leicht schweigen können, denn er konnte es sich leisten, dort zu sein. Seine Umstände schlossen ihn nicht aus, das Haus des Herrn zu betreten. Deshalb wendet er sich gegen eine Ungerechtigkeit, die ihn nicht direkt betrifft. Er erhebt seine Stimme für andere. Er stößt die Tische für die Ausgeschlossenen um.

Die Kirche wird in diesen Tagen von vielen Problemen heimgesucht, von denen sie viele selbst verursacht hat. Aber das schwerwiegendste Problem, dem wir als Volk Gottes heute gegenüberstehen, ist die Frage, wie wir den Ausgangspunkt für die Begegnung mit Gott setzen. Wenn wir nicht mit unterschiedsloser Liebe und Begrüßung beginnen, verwandeln wir den Eingang zu Gottes Haus zu einem Marktplatz. Wenn die erste Frage lautete: Sind sie moralisch genug, religiös genug, rein genug? dann fragen wir: Kannst du dir diesen Ort leisten?

Religiös elitäre Gruppen praktizieren das bis heute. Sie wollen nur die Menschen aufnehmen, die sie für würdig erachten, die in ihr Bild von »angemessen« passen, die ihre Kriterien erfüllen. Wenn andere nicht das haben, was die elitären Menschen suchen, lassen sie sie unmissverständlich wissen, dass sie es sich nicht leisten können, dort zu sein. Manche bauen Schulen, die nur die Kinder der wohlhabenden Elite aufnehmen. Ich habe gesehen, wie religiöse Gemeinschaften ihre Häuser in Zufluchtsorte umbauen, die sich nur die Wohlhabenden leisten können und die Dienstleistungen anbieten, die sich keine gewöhnliche Frau oder kein gewöhnlicher Mann aus der Arbeiterklasse leisten kann. Ich habe spirituelle Angebote gesehen, die ganz auf die Chefetagen von Unternehmen zugeschnitten sind. Sie wurden geschaffen, um die Mächtigen, die Einflussreichen und die Oberschicht der Geschäftswelt zu bedienen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihrer Agenda zu dienen. Es besteht kein Zweifel, dass man die Prüfung der Tempelkaufleute bestehen muss, um in diese Welt einzutreten.

Ich habe auch den großen einladenden Geist Jesu gesehen, in Gemeinschaften, die deutlich machen, dass Geld kein Hindernis ist, um die beste seelsorgerische Betreuung und geistliche Begleitung zu erhalten. Ich kenne großartige Diener des Evangeliums, die dafür sorgen, dass jeder Mensch die seelsorgerische Betreuung erhalten kann, die er braucht, unabhängig von seiner Fähigkeit zu zahlen. Sie gehen die Extrameile, um sicherzustellen, dass sich niemand unwohl, unerwünscht oder »zweiter Klasse« fühlt, nur weil er nicht genug Geld hat.

Der Ausgangspunkt kann nicht sein, was wir zum Haus Gottes bringen können, sondern wonach wir in diesem Haus suchen.

Das ist der Grund, warum Johannes diese Geschichte an den Anfang seines Evangeliums stellt. Das ist der Ort, an dem alles beginnt. Die Kultur des ersten Willkommens, der ersten Begegnung, des ersten Kontakts: sie wird den Rest der Geschichte bestimmen. Wir müssen den Tempel mit der gleichen Leidenschaft reinigen wie Jesus. Es ist schließlich die Art und Weise, wie wir die Türen zum Haus Gottes für eine wartende Welt öffnen.

 

Erik Riechers SAC, 7. März 2021

 

 

Verzweiflung oder Verheißung?

 

Wir Heutigen tun uns schwer mit dem Wort Verheißung, wenn es um unser persönliches Leben geht. Wir sind gewohnt, so viel mehr Möglichkeiten zu haben als die Menschen in biblischen Zeiten, dass wir schon lange auf der Spur marschieren, sehr viel oder sogar alles selbst in der Hand zu haben und auch regeln zu müssen. Ein Beispiel erleben wir gerade weltweit. Eine Pandemie breitet sich seit über einem Jahr aus und gleichzeitig entwickeln Wissenschaftler in noch nie dagewesenem Tempo Impfstoffe dagegen, die nun schon verabreicht werden können. Das ist außergewöhnlich und wunderbar. Doch stärkt es auch in uns das Gefühl, dass wir uns selbst retten können und müssen und das übertragen wir unbewusst auf alle Bereiche unseres Lebens.

Doch was, wenn es nicht funktioniert? Wenn meine Krankheit nicht heilbar ist? Wenn Menschen mich zutiefst enttäuschen und verletzen und ich dem nichts entgegensetzen kann und machtlos bin? Wenn ein treuer Gefährte von mir ging und ich die Leere mit nichts füllen kann? Bleiben dann nur noch Resignation und Verzweiflung? Oder öffnen sich gerade hier ganz andere Möglichkeiten und Wege, meiner Verheißung auf die Spur zu kommen?

Fortschritt und Säkularisation ließen etwas in uns verloren gehen. Der Mensch der Bibel dagegen sah es klar, nämlich dass der quälende Schmerz Raum und Zeit braucht. Und darin konnte er sich an Gott wenden, dem er das, was ihn bedrängte, ungeschönt ans Herz legte. So wurde es ihm möglich, einen neuen Blick auf seine Verheißung zu finden. Psalm 77 ist ein starkes Beispiel dafür. Der Beter nimmt in seiner Not kein Blatt vor den Mund. Er schreit und klagt, sein Geist ist verzweifelt und dreht sich bei Nacht im Kreis - das kennen wir doch. Und dann fragt er: Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist? Oder hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen? (Ps 77, 10) Und im nächsten Vers hält er inne und sagt zu sich selbst: Das ist mein Schmerz, dass die Rechte des Höchsten so anders handelt? Ich denke an die Taten des HERRN, ja, ich will denken an deine früheren Wunder. (Ps 77, 11-12) Er erinnert sich der Heilsgeschichte seines Volkes und der Treue Gottes und kann sich wieder hineinbegeben in die Gemeinschaft aller Träger der Verheißung von Leben und Zukunft.

So schnell und leicht, wie es hier klingen mag, geht dies jedoch nicht und das weiß jeder, der ehrlich durch Schmerzenszeiten seines Lebens geht. Wie oft hat Gott seine Verheißung an Abraham wiederholt! Wie eindringlich und bis zur Erschöpfung haben die Propheten das Volk Israel an die Verheißung erinnert! Denn der Weg ist lang und oft irritierend. Ja, es braucht langen Atem und treue Gefährten und vielleicht auch den Rat, den Henri Nouwen uns für solche Zeiten gibt: »Klammere dich an die Verheißung«. Den Zugang zu ihr finden wir nicht draußen; es hilft uns nicht, allen möglichen Menschen unsere Geschichte zu erzählen. »Du musst dich der Außenwelt verschließen«, rät Nouwen, »so kannst du durch deinen Schmerz dein eigenes Herz und das Herz Gottes betreten. Gott wird dir die Menschen schicken, mit denen du deine Bedrängnis teilen kannst und die dich der wahren Quelle der Liebe näher bringen.«  Dann erinnert er daran, dass Gott seinen Verheißungen treu bleibt und uns in diesem Leben die Liebe, die wir ersehnen, schenken wird. »Es wird nicht so kommen, wie du es erwartest. Deinen Bedürfnissen und Wünschen wird nicht gefolgt werden. Aber dein Herz wird erfüllt und dein tiefstes Verlangen gestillt sein. An nichts anderes als an diese Verheißung halte dich. Alles andere wurde dir genommen. Klammere dich an diese nackte Verheißung im Glauben. Dein Glaube wird dich heilen.« (aus: Henri J.M. Nouwen, Die innere Stimme der Liebe, 51998)

Wir alle leben, weil eine Verheißung auf uns liegt - uralt und ewig jung. Gehen wir mit ihr und halten sie wach in uns, damit wir uns ihrer erinnern, wenn der Zweifel nagt und Verzweiflung droht.

 

Rosemarie Monnerjahn, 5. März 2021

 

 

Frühlingsmenschen

 

Die Fastenzeit sollte für uns ein Heiliger Frühling sein. Während fast jeder den Charme und die Anziehungskraft dieses Bildes spürt, trägt der Frühling auch eine geistliche Herausforderung und eine geistliche Verantwortung in sich. Er ruft uns auf, ein Volk der Hoffnung zu sein.

Meine Mutter war eine Tochter des Frühlings. An jedem 1. März verkündete sie laut und für uns alle, dass der Frühling offiziell begonnen habe. Diese Erklärung war in der Tat kühn, denn auf den kanadischen Prärien herrschte der Winter noch mit ungebrochener Macht über unser Leben. Die Temperaturen waren kalt, der Wind eisig und der Schnee tief. Außerdem wussten wir alle, dass die Herrschaft des Winters bis in den April und gelegentlich sogar bis in den Mai hinein andauern würde.

Deshalb neckte ich meine Mutter sanft mit ihrer Erklärung des offiziellen Frühlingsbeginns, indem ich auf die vorherrschenden Bedingungen hinwies. Mit ungebrochener Entschlossenheit rezitierte sie dann eine Strophe aus einem Gedicht, das sie als Kind gelernt hatte.

 Und dräut der Winter noch so sehr

Mit trotzigen Gebärden,

Und streut er Eis und Schnee umher,

Es muss d o c h Frühling werden.

Dies ist die erste Strophe eines Gedichtes von Emanuel Geibel (1815-1884). Das Gedicht trägt den Titel Hoffnung

In Hebräer 11,1 lesen wir diesen Satz: »Der Glaube aber ist die Gewissheit dessen, was man hofft, und die Überzeugung dessen, was man nicht sieht.« Und das ist es, was meine Mutter jedes Jahr praktiziert hat. Sie glaubte an wärmere, sanftere Tage, die vor ihr lagen, während die Winterwinde um sie peitschten. Sie war sich eines neuen blühenden Lebens sicher, während Eiszapfen von jedem Baumzweig hingen. Sie war von der Herrlichkeit des Frühlings überzeugt, während unerbittliche Kälte ihre Knochen kühlte. Das ist es, was die Menschen des Frühlings tun: Sie trotzen den momentanen Erfahrungen der winterlichen Jahreszeit und beginnen bereits, anders zu leben, weil sie überzeugt sind, dass neues Leben kommt.

Meine Schwester ist eine solche trotzige Tochter des Frühlings. (Durch die Adern der Frauen meines Clans fließt die größte Kraft). Jeden Frühling wirft sie mit atemberaubendem Trotz ihre Socken ab und läuft barfuß in ihren Sandalen, egal wie oft der Winter mit Schnee zurückkehrt, wie oft die Kälte sich wieder durchsetzt und wie bitter die Winde über die Prärien wehen. Auch ich habe sie im Laufe der Jahre sanft geneckt, aber wenn die Socken einmal ausgezogen sind, gibt es kein Zurück mehr. Das ist es, was die Menschen des Frühlings tun: Sie fangen bereits an, anders zu leben, denn sie sind zuversichtlich, dass neue Jahreszeiten kommen.

Als der überraschende Wintereinbruch hier in Deutschland dieses Jahr kam, ging meine Kollegin barfuß durch den aufgetürmten Schnee in ihrem Garten spazieren. Ein kleiner, humorvoller und fröhlicher Akt des Trotzes angesichts der winterlichen Jahreszeit. Das ist es, was die Menschen des Frühlings tun: Sie weigern sich, sich von der vorherrschenden Erfahrung des Augenblicks diktieren zu lassen, wie sie leben werden. Es gibt eine wilde Ader des Widerstands in ihnen.

Das ist es, was die 40 Tage des Heiligen Frühlings in uns wiederherstellen wollen. Ich schenke Ihnen die Worten einer Hymne, die in meiner Heimat und meinem Heimatland so beliebt ist: »Now the Green Blade Riseth«. Es ist ein Lied der Hoffnung für die geliebte Gemeinschaft, die sich durch die vierzig Tage bewegt. Es ist das Lied all derer, die inmitten der winterlichen Jahreszeit frühlingsgläubig bleiben, die Socken abstreifen und barfuß durch den Schnee gehen. Es ist das Lied des Widerstands für die Menschen der Frühlingszeit.

 

Nun erhebt sich der grüne Halm, aus dem vergrabenen Korn,

Weizen, der in dunkler Erde viele Tage gelegen hat;

Die Liebe lebt wieder, die bei den Toten gewesen ist:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.

 

In das Grab legten sie ihn, die Liebe, die erschlagen worden war,

und dachten, dass Er nie mehr erwachen würde,

In die Erde gelegt wie Korn, das ungesehen schläft:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.

 

Wie das auferstandene Korn kam er zu Ostern wieder,

Jesus, der drei Tage im Grab gelegen hatte;

Schnell von den Toten wird der Auferstandene gesehen:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.

 

Wenn unsere Herzen winterlich sind, trauern oder Schmerzen haben,

kann die Berührung Jesu uns wieder ins Leben zurückrufen,

Felder unseres Herzens, die tot und kahl gewesen sind:

Liebe, sie kommt wieder, wie der Weizen, der grünt und sprießt.*

 * Eine wunderschöne Version mit der englischen Lyrik könne Sie hier hören:

 https://www.youtube.com/watch?v=En28Je8ehDs

 

Erik Riechers SAC, 3. März 2021

 

 

Der Einsamkeit auf der Spur

 

Eine der zunehmenden Plagen und Klagen unserer modernen Welt ist das Leiden an Vereinsamung. Die Pandemie hat diese Not verstärkt und es lohnt sich, das Phänomen der Einsamkeit tiefer zu betrachten.

Eine junge Frau, damals Anfang 20 und aufgrund ihrer sich entfaltenden Treue zu sich selbst und ihren ganz eigenen Begabungen sehr vertraut mit diesem Gefühl, sagte mir vor vielen Jahren: »Mir wird immer klarer, dass wir Menschen allein auf diese Welt kommen und am Ende allein von ihr gehen.« Sie begann zu akzeptieren, dass das Gefühl des Alleinseins zum Leben dazu gehört.

An sie musste ich unwillkürlich denken, als mir in diesen Tagen ein Text von Henri Nouwen begegnete. Er stammt aus einem Buch, das Nouwen selbst sein »geheimes Tagebuch« nannte und während einer sehr schwierigen Zeit seines Lebens schrieb. In großer Not ging er damals selbst gewählt ins Exil und schrieb alles, was er durchmachte und lernte, Schritt für Schritt auf. Natürlich spielte da das Gefühl der Einsamkeit eine bedeutende Rolle und er appelliert aus seinen eigenen Erfahrungen heraus, sich ihrer Quelle zu nähern:

»Immer wenn du dich einsam fühlst, musst du versuchen, den Ursprung dieses Gefühls ausfindig zu machen. Du neigst dazu, entweder vor deiner Einsamkeit davonzulaufen oder dich in ihr niederzulassen.  Wenn du vor ihr davonläufst, verringert sie sich in Wirklichkeit nicht, du verdrängst sie einfach nur für kurze Zeit aus deinem Bewusstsein. Lässt du dich in ihr nieder, verstärken sich lediglich deine Gefühle, und du gleitest in Depressionen.

               Die geistliche Aufgabe, die sich dabei stellt, besteht nicht darin, deiner Einsamkeit zu entfliehen, und auch nicht, sich in sie hineinziehen zu lassen, sondern ihre Quelle ausfindig zu machen, ihrem Grund nachzugehen. Es ist kein einfaches Unterfangen, doch gelingt es dir, den Ort, von dem diese Gefühle ausgehen, irgendwie zu ermitteln, werden sie an Macht über dich verlieren. Das Ermitteln dieser Quelle ist keine intellektuelle Aufgabe, sondern eine Aufgabe des Herzens. Du musst mit deinem Herzen und ohne Furcht nach diesem Ort suchen.

               Diese Suche ist wichtig, denn sie führt dich dazu, etwas Gutes über dich selbst zu entdecken. Das Erleiden deiner Einsamkeit mag im Tiefsten deiner Berufung verwurzelt sein. Du könntest darauf stoßen, dass deine Einsamkeit mit einer Berufung zusammenhängt, voll und ganz für Gott zu leben. Dadurch könnte sich deine Einsamkeit als die andere Seite deines einzigartigen Geschenks erweisen. Sobald du diese Wahrheit in deinem innersten Sein erfahren kannst, wirst du deine Einsamkeit nicht nur als erträglich, sondern sogar als fruchtbar empfinden. Was zuerst als ein Schmerz erschien, mag sich danach als ein - wenn auch schmerzliches - Gefühl erweisen, das dir den Weg zu einem tieferen Wissen von Gottes Liebe eröffnet.« (aus: Henri J.M. Nouwen, Die innere Stimme der Liebe,5  1998)

    Die junge Frau von damals näherte sich ihrer Einsamkeit an, vorsichtig, mit zunehmend weniger Furcht und wachsender Offenheit. Dabei kam sie sich immer mehr auf die Spur und fand schließlich wunderbare, herzensnahe Gefährten.

Sie wurde immer mutiger und authentischer, um frei und in Verantwortung vor Gott und sich selbst ihr Leben immer wieder neu zu wagen. Und sie hat keine Angst mehr vor der Einsamkeit!

 

Rosemarie Monnerjahn, 1. März 2021

 

 

Die Geschichte zweier Verklärungen

2. Fastensonntag B 2021                                      Mk 9, 2-10

 

Jeden zweiten Sonntag der Fastenzeit hören wir diese Geschichte der Verklärung. Das erste, was geschieht, ist, dass unser Auge auf das verwandelnde Licht gelenkt wird, das Jesus umhüllt. Die Geschichte lenkt unseren Blick auf die Herrlichkeit. Doch unser Ohr wird von der Stimme des Herolds aus dem Himmel angezogen. Die Klänge und der Anblick dieser Geschichte bewegen uns in sehr unterschiedliche Richtungen. Denn in dem Moment, in dem die Stimme aus den Höhen des Himmels unser Ohr erreicht, lenkt ihre Botschaft unseren Blick zurück auf die Person Jesu. Außerdem betont die Stimme, was sie in Jesus sieht und liebt, und das ist weder das Licht noch die Herrlichkeit. Es ist das Geliebtsein.

Deshalb dachte ich, dass ich mich heute auch in das Geschehen einmische und Ihren Blick weg von der Mitte der Bühne lenke. Stattdessen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die andere Seite der Geschichte lenken, wo Petrus, Jakobus und Johannes zusammengekauert sind, fasziniert und verwirrt zugleich. Das ist unsere Seite der Geschichte. Charles Dickens schrieb einst einen Roman mit dem Titel: »Eine Geschichte zweier Städte«. Nun, meine Brüder und Schwestern, dies ist eine Geschichte zweier Verklärungen. Gegenüber dem Trio von Jesus, Mose und Elija gibt es eine Gruppe von drei Personen, die ebenfalls allmählich verklärt werden durch das, was sie sehen und hören. Und aus ihrer Mitte heraus spricht Petrus einen wichtigen Satz aus: »Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind«.

Diese Geschichte erzählt uns recht anschaulich, wie Petrus, Jakobus und Johannes zu diesem verwandelnden Moment kamen:

  1. In jener Zeit nahm Jesus Petrus, Jakobus und Johannes beiseite und führte sie auf einen hohen Berg, aber nur sie allein.

Sie stiegen mit Jesus auf den Berg und bewegten sich aus der alltäglichen Erfahrung heraus zu einem privilegierteren Moment auf dem Berggipfel, wo man einen größeren Überblick über das Leben und die Welt hat und ein wenig isolierter von der Hektik der Täler und Ebenen ist.

  1. Und er wurde vor ihnen verwandelt; seine Kleider wurden strahlend weiß, so weiß, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann. Da erschien ihnen Elija und mit ihm Mose und sie redeten mit Jesus.

Plötzlich erscheint der ihnen so vertraute Jesus in einem ganz anderen Licht. Seine ganze Erscheinung verändert sich, und sie sehen ihn von einer Seite, die sie noch nie erlebt haben. Mose und Elia erscheinen prächtig neben ihm, und zum ersten Mal erkennen sie die weite Welt seiner Beziehungen, eine Welt, die deutlich größer ist als die, in der sie bisher mit ihm gewacht und gesprochen und das Brot gebrochen haben. Wie alle transformativen Erfahrungen lässt auch diese sie alte Dinge mit neuen Augen sehen, alte Beziehungen in einem neuen Licht.

  1. Petrus sagte zu Jesus: Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte; denn sie waren vor Furcht ganz benommen.

Petrus übernimmt hier das Reden, aber er spricht im Namen seiner Gefährten und, wenn wir ehrlich sind, auch für uns. Wer möchte einen solchen Moment hinter sich lassen? Wir sind uns der Bedeutung solcher Stunden tief genug bewusst, dass wir wissen, es gibt hier mehr, als wir auf einmal erfassen und aufnehmen können. Wir brauchen mehr Zeit. Wir müssen ein wenig verweilen.

Petrus will drei Hütten bauen, weil er in dieser Erfahrung verweilen und diesen Moment festhalten will.

Immer wieder wird Petrus von Predigern für diese Haltung heftig kritisiert. Ich werde meine Stimme nicht in diesen Chor der Beschwerden einreihen. Schließlich bin ich genau wie er. Jeder Ort, der mich jemals »in seinen Bann gezogen« hat, hat mich dazu gebracht, drei Hütten bauen zu wollen, zu bleiben, zu genießen und auszukosten. An jedem Ort, bei jeder Gelegenheit und in jedem Moment, der mich in seinen Bann gezogen hat, habe ich nicht ein einziges Mal den Drang verspürt, wegzugehen.

Ich bezweifle ernsthaft, dass es die Aufgabe dieses Moments ist, gehen zu wollen. Die Frage könnte besser umformuliert werden: Was werden wir tun, wenn dieser Moment endet? Ist es nicht möglich, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben, und gehört haben, was wir gehört haben, an andere Orte zu gehen, die weniger aufregend und kaum so überwältigend sind, und dennoch das Geliebtsein Christi zu suchen und zu sehen und zu benennen, so deutlich wie die Stimme, die aus den Wolken dröhnt? Ist es möglich, dass wir anderswohin gehen und trotzdem von den weniger überragenden Momenten und weniger dramatischen Orten des Lebens sagen: »Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind«?

Ich kann nicht anders, als Petrus zu mögen. Er ist uns so ähnlich. Sein Instinkt ist unser Instinkt, und unser Instinkt in diesen Momenten der Herrlichkeit ist es, zu versuchen, die Erfahrung einzufangen. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass wir in diesem Moment nicht wirklich wissen, was wir sagen sollen, denn unsere eigene Erfahrung sagt uns, dass diese Strategie schlecht enden wird, wenn wir sie versuchen. So bringen wir Wein aus dem Urlaub mit, aber er schmeckt zu Hause einfach nicht so gut. Wir bringen das Rezept für das Essen, das uns begeistert hat, mit nach Hause und kochen es in unserer eigenen Küche, aber es ist nie wirklich dasselbe. Warum eigentlich nicht? Weil echte Momente der Verwandlung sich immer unseren Einkerkerungsversuchen entziehen. Wir können sie nicht festhalten. Es funktioniert nicht in den Welten unserer Erinnerungen und nicht in unseren Videoclips, Selfies und Facebook-Posts. Welche Hütten wir auch immer bauen, sie können den reinsten, tiefsten Teil der transformierenden Erfahrung nicht festhalten.

Wir müssen uns also an die verwandelnden Momente unseres Lebens erinnern und etwas genauer darüber nachdenken. Erinnern Sie sich an die Momente, in denen Berge zu Augenblicken des Geheimnisses und nicht nur Steinhaufen waren, in denen Frühlingsblüten zu uns von Gott sprachen, in denen das erste Wort eines Kindes so bewegend und bedeutsam war wie die zehn Worte vom Sinai, und ein Blick über den Frühstückstisch auf den Partner und Gefährten zu einem Fest der Offenbarung wurde?

Verweilen Sie dort, so lange Sie können. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit dem Bau von Hütten, sondern saugen Sie den Moment mit Augen und Ohren in sich ein. Werden Sie still vor Dankbarkeit. Dies sind Momente, die denen nicht unähnlich sind, die Petrus, Jakobus und Johannes erlebten. Und darin liegt die tiefe Wahrheit, der Hinweis, der das Geheimnis lüftet: Verklärungen finden nicht auf Bergen statt. Sie finden auch nicht in Parks oder an Straßenecken statt. Sie geschehen in uns.

Ich denke an weniger dramatische Verklärungen in meinem Leben.

Mit einer Gruppe alter Menschen zu sitzen, die nur noch wenige Erinnerungen haben, und zu erkennen, dass Gott jeden von ihnen so sieht, wie er ihn geschaffen hat, als sein vollkommenes Kind. Dies war ein Ort, der nichts von dem Spektakel von Tabor hatte, aber all seine Pracht. Es war ein Ort, an dem ich sagen musste: Rabbi, es ist gut, dass ich hier bin.

Ich saß einmal am Sterbebett einer Frau, die ein letztes Mal ihre Augen öffnete und sagte: Danke, dass du mich nicht allein gelassen hast! Es war traurig, schmerzhaft und wehmütig. Wenn ich mich an diesen Moment erinnere, spüre ich, wie er mich immer noch verwandelt. Und ich kann immer noch sagen: Rabbi, es ist gut, dass ich hier bin.

Ich habe oft in meinem Sessel gesessen und ein gutes Buch gelesen und meine Augen wurden groß und ich wusste, was ich wissen musste, ohne dass ich Worte brauchte. Das Buch fällt mir aus den Händen und ich bin in Frieden. Ist das nicht der richtige Ort, um zu sagen: Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind?

Wie unsere biblischen Gefährten werden auch wir den Berg hinunterkommen und über eine Frage nachdenken: »was das sei: von den Toten auferstehen?« Transformative Berggipfel-Augenblicke des Lebens tun das für uns und lassen uns mit Fragen zurück, die uns immer wieder aus dem Schlummer aufwecken, der unseren Geist zu erdrücken droht. »Was kann dieses Auferstehen von den Toten bedeuten?« ist eine Frage, die uns aus Passivität, Gleichgültigkeit und Erstarrung gegenüber dem Leben, der Liebe und dem Mysterium aufwecken kann. Was kann diese Auferstehung von den Toten bedeuten, wenn wir wieder auf den gewohnten Wegen des Lebens wandeln und wieder unter so vertrauten Gesichtern und an so bekannten Orten verweilen? Werden wir zulassen, dass diese Momente eine tiefe Leidenschaft, ein verzehrendes Feuer in uns wecken, das uns sie in einem neuen Licht sehen lässt? Werden wir zulassen, dass eine Stimme aus der Wolke uns auf das Geliebtsein in der Welt hinweist, jenseits der Alltäglichkeit, die uns abstumpfen kann, so wie sie uns aufgerufen hat, das Geliebtsein zu sehen, jenseits der Herrlichkeit, die uns blenden kann?

Nikos Kazantzakis hat einmal geschrieben: »Gott ist nicht in Klöstern zu finden, sondern in unseren Häusern! Wo immer man Ehemann und Ehefrau findet, dort findet man Gott; wo Kinder und Kleinkram und Kochen und Streit und Versöhnung sind, dort ist auch Gott. Der Gott, von dem ich erzähle, der häusliche, nicht der klösterliche, das ist der wahre Gott.« (Die letzte Versuchung, Seite 70)

Dieser große Erzähler, der unsere Seite dieser Geschichte so gut verstand, möge uns einen letzten Gefallen tun. Hören wir zum Schluss ein Gleichnis aus seiner Feder:

Ein Mann kam zu Jesus und beklagte sich bei ihm über die Verborgenheit Gottes. »Rabbi«, sagte er, »ich bin ein alter Mann. Während meines ganzen Lebens habe ich immer die Gebote gehalten. Jedes Jahr meines Erwachsenenlebens ging ich nach Jerusalem und brachte die vorgeschriebenen Opfer dar.

Jede Nacht meines Lebens habe ich mich nicht in mein Bett zurückgezogen, ohne vorher meine Gebete zu sprechen. Aber . . . Ich schaue zu den Sternen und manchmal zu den Bergen - und warte, warte darauf, dass Gott kommt, damit ich ihn sehen kann. Ich habe Jahre und Jahre gewartet, aber vergeblich. Warum, warum? Mein ist ein großer Kummer, Rabbi! Warum zeigt sich Gott nicht?«

Jesus antwortete, lächelte sanft und sagte: »Es war einmal ein Marmorthron am Osttor einer großen Stadt. Auf diesem Thron saßen 3.000 Könige. Sie alle riefen Gott an, er möge erscheinen, damit sie ihn sehen könnten, aber sie alle gingen mit unerfüllten Wünschen in ihre Gräber.

Dann, als diese Könige gestorben waren, kam ein Bettler, barfüßig und hungrig, und setzte sich auf diesen Thron. ‚Gott', flüsterte er, 'die Augen eines Menschen können nicht direkt in die Sonne schauen, denn sie würden geblendet werden. Wie können sie dann, Allmächtiger, direkt auf dich blicken?

Erbarme dich, Herr, mäßige deine Kraft, wende deinen Glanz ab, damit ich, der ich arm und geplagt bin, dich sehen kann!‘ Dann - hör zu, alter Mann - wurde Gott zu einem Stück Brot, einem Becher mit kühlem Wasser, einem warmen Gewand, einer Hütte und, vorne in der Hütte, einer Frau, die einen Säugling stillte.

‚Ich danke dir, Herr‘, flüsterte er. ‚Du hast dich um meinetwillen erniedrigt. Du bist Brot, Wasser, ein warmes Gewand und meine Frau und mein Sohn geworden, damit ich dich sehen kann. Und ich habe dich gesehen. Ich verneige mich und bete dein geliebtes, viel-Gesichter Gesicht an!‘ «

 

Erik Riechers SAC, 28. Februar 2021

 

 

Warum wir nicht von der Pandemie als Fastenerlebnis sprechen sollten II

 

Fasten ist mehr als auferlegte Enthaltsamkeit

In meinem letzten Impuls habe ich darauf hingewiesen, dass die Fastenzeit, anders als die Pandemie, freiwillig ist und nicht aufgezwungen wird. Wir entscheiden uns für die Fastenzeit, weil wir sie als einen sinnvollen Weg sehen, das wiederherzustellen, was uns verloren gegangen ist. Die Pandemie ist keine Wahl, sondern eine Tragödie, mit der wir gezwungen sind umzugehen.

Während der Fastenzeit wenden wir uns der Praxis des Fastens zu, aber auch hier müssen wir vermeiden, dies mit der auferlegten und erzwungenen Enthaltsamkeit der Pandemie zu vergleichen.

In Jesaja 58, 1-9 weist der Prophet darauf hin, dass Fasten nicht in bloßer Enthaltsamkeit bestehen kann. Einfach das Essen zu verweigern ist ein Hungerstreik, kein Fasten. Der Prophet ist in dieser Sache brutal klar. Fasten muss uns für neue Horizonte des Dienens, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit öffnen. Sonst ist es gottesunwürdig. Das ist nicht das, was Pandemiemaßnahmen tun.

In der Tat ist es eine einfache Lektion für uns zu lernen. Ich habe es unglaublich leicht gefunden, in meinem Leben an Nahrung zu fasten und die Empfänglichkeit meines Herzens nicht ein bisschen zu erweitern. Zu anderen Zeiten habe ich gefastet, aber meinen Geist weiter Wut, Bitterkeit und sogar Selbstsucht verschlingen lassen. Wieder andere Male habe ich gefastet und mich noch mürrischer gefunden, als ich es vor dem Fasten war. Die Worte des Propheten klingen mit feiner Zurechtweisung in meinen Ohren. »Seht, an euren Fasttagen macht ihr Geschäfte und treibt alle eure Arbeiter zur Arbeit an. Obwohl ihr fastet, gibt es Streit und Zank, und ihr schlagt zu mit roher Gewalt.« (Jes 58, 3-4)

Das ist eine kraftvolle, provokative Sprache. »So wie ihr jetzt fastet, verschafft ihr eurer Stimme droben kein Gehör.« (Jes 58,4) Zwei Dinge sind in dieser Aussage impliziert. Erstens sagt sie uns, dass unangemessenes Fasten uns keine Audienz bei Gott verschafft. Zum anderen erinnert sie uns aber auch daran, dass richtiges Fasten als dasjenige definiert wird, das uns ein neues Gehör bei Gott verschafft. Wenn Sie fasten und es bringt Sie nicht näher zu Gott, ist das Fasten fehlgeschlagen.

Meine Freunde, das Fasten kann uns näher zu Gott bringen, indem es uns die Anliegen seines Herzens tiefer bewusst macht. Während wir essen, trinken und Fröhlichkeit praktizieren, ist unser Leben intensiv auf die Sorgen unseres eigenen Herzens, auf unsere persönlichen Vergnügungen ausgerichtet. Fasten schafft Hunger. Die Frage ist: »Welche Art von Hunger wird in uns geweckt?« Nachdem Sie Ihre Schweinekoteletts, Hähnchenschenkel und Würstchen abgelegt haben, hat Ihr Herz dann das gleiche Verlangen, das im Herzen Gottes zu finden ist? Dies sind keine Fragen, die durch die auferlegte Abstinenz der Pandemiemaßnahmen aufgeworfen werden.

Es ist nicht so schwer, auf diese biblische Anfrage eine Antwort zu geben. Was sind die Sehnsüchte des Herzens von Gott? Einfach dies:

»Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen.«

Was ist der Hunger im Herzen Gottes?

»an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen.«

Wenn wir fasten, dann muss das, was im Herzen Gottes brennt, das Sodbrennen der Menschheit werden. Wenn man vom Brot fastet und nie einen Bissen davon über die Lippen der Hungernden kommen lässt, dann hortet man einfach Brot. Wenn Sie auf jeglichen Konsum verzichten und nichts von dem, was Sie gespart haben, denen geben, die nie den Luxus des Fastens haben, weil sie nichts zum Verzichten haben, dann haben Sie nicht nur sich selbst verschont, sondern auch die anderen verleugnet. Keine erzwungene Enthaltsamkeit der Pandemie hat solche Früchte hervorgebracht.

Erlaubt der Fastenzeit, eure Freude zu entfalten. Jesaja verspricht, dass es so sein wird. Wenn wir es zulassen, dass die Fastenzeit die Gier unseres Herzens mit den Bedürfnissen des Herzens Gottes mildert, dann wird »dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach.« Das nenne ich wahre Freude. Doch die Fülle der Freude, die in der Fülle des Fastens zu finden ist, besteht darin, dass sie uns Gehör vor unserem geliebten Gott verschaffen wird. Das ist die letzte Verheißung des Propheten. »Wenn du dann rufst, wird der Herr dir Antwort geben, und wenn du um Hilfe schreist, wird er sagen: Hier bin ich.« Denken wir lange und liebevoll darüber nach, als geliebte Menschen des Herrn. Welchen Bissen könnten wir essen, der unser Herz und unsere Seele so sehr befriedigen würden, wie das Wissen, dass der Herr in jeder Stunde unser Flehen mit seiner Gegenwart beantworten wird?

 

Erik Riechers SAC, 24. Februar 2021

 

 

Warum wir nicht von der Pandemie als Fastenerlebnis sprechen sollten I

 

Einige Leute haben sich über diese Fastenzeit nach einem Jahr der Pandemie beschwert. Ich habe oft Kommentare gelesen, die sagen: »Warum sollten wir in diesem Jahr die Fastenzeit praktizieren, nachdem die letzten11 Monate nichts anderes waren als eine einzige lange und ununterbrochene Fastenzeit?«

Ich verstehe zwar die Frustration, die das letzte Jahr mit sich gebracht hat, und die Unruhe, die damit einhergeht, aber es bestürzt mich, wenn die Pandemie mit der Fastenzeit verglichen wird. Die Fastenzeit zu benutzen, um das Jahr der Pandemie zu beschreiben, ist das schlimmste aller möglichen Klischees, die wir über die Vierzig Tage haben. Diese Frage ist weniger eine Aussage über die Auswirkungen der Pandemie als vielmehr die Offenbarung eines sehr negativen und falschen Verständnisses der Vierzig Tage. Sie suggeriert, dass der einzige Zweck der Fastenzeit darin besteht, durch auferlegte Sanktionen und Praktiken eine Zeit des Elends, der Not und der Unzufriedenheit zu erzwingen. Sie legt uns nahe, dass Leiden und Schmerz der Zweck und das Ziel der Vierzig Tage sind.

Das ist nicht sonderlich überraschend, wenn man bedenkt, wie die Fastenzeit oft praktiziert wird. Sie soll eine heilige Frühlingszeit sein, aber oft wurde sie auf eine übervereinfachte Frage reduziert: Worauf verzichtest du dieses Jahr? Völlig verloren ging dabei die Frage: Was ist der Zweck von all dem? Was wollen wir in dieser Zeit, in der Enthaltsamkeit und Fasten eine sehr reale Rolle spielen, erreichen? Und was ist die Rolle des Fastens (der Enthaltsamkeit) in all dem?

Wenn wir die Fastenzeit als Beschreibung dieser Zeit der Pandemie benutzen, verwenden wir eine billige Karikatur der Fastenzeit. Die Fastenzeit ist aus mehreren Gründen nicht mit der Pandemie vergleichbar. Und diese Unterschiede zu kennen, wird uns helfen, uns an die tiefste und echte Bedeutung der Fastenzeit zu erinnern.

Zunächst einmal ist die Fastenzeit freiwillig und frei gewählt. Anders als die Pandemie wird sie uns nicht auferlegt. Sie wird uns nicht aufgedrängt, sondern frei und bereitwillig aufgenommen. Wir entscheiden uns für die Fastenzeit, weil wir sie als einen sinnvollen Weg sehen, das wiederherzustellen, was uns verloren gegangen ist. Die Pandemie ist keine Wahl, sondern eine Tragödie, mit der wir zurechtkommen müssen.

Zweitens: Die Fastenzeit ist ein bewusster Akt. Die Maßnahmen, zu denen wir während des Jahres der Pandemie gezwungen sind, erfordern keine bewusste Entscheidung meinerseits. Sie werden von außen verkündet, ohne Rücksicht auf meine innere Zustimmung. Der Staat verordnet sie, verlangt sie von uns und zwingt uns, uns daran zu halten. Die Fastenzeit ist eine Bewegung, die aus innerer Entscheidung, Willen und Wunsch entsteht. Ihre Maßnahmen werden bewusst in Anspruch genommen. Wenn ich sie nicht wähle, gibt es niemanden, der meine Einhaltung fordert oder erzwingt. Es gibt keine Strafen, keine Bußgelder, wenn man am Freitag heimlich einen Bissen Schokolade nascht, am Wein nippt oder Fleisch isst.

Drittens: Der Zweck der Fastenzeit ist Erneuerung und Wiederbelebung. Wie ein heiliger Frühling will sie den Fluss wiederherstellen, wo die Dinge zum Stillstand gekommen sind. Wie der Frühling nach der Kälte des Winters den Saftfluss in den Bäumen wieder in Gang bringt, so will der Heilige Frühling die Liebe wieder zum Fließen bringen, wo die winterliche Jahreszeit sie zum Stillstand gebracht hat. Die Maßnahmen der Pandemie haben einen anderen Zweck. Sie versuchen nicht, neues Leben in Gang zu setzen, sondern sind Übungen zur Vermeidung. Sie wollen den Kontakt mit dem, was schädlich ist, vermeiden und nicht den Kontakt mit dem, was lebensspendend ist, erneuern.

Schließlich ist das ultimative Ziel des Heiligen Frühlings die Wiederherstellung der Fülle des Lebens. Jede Übung der Fastenzeit fragt, was wir tun müssen, um den Weg zurück nach Hause zu finden, zu dem Ort, an dem ein volles und sinnvolles Leben möglich ist. Die Maßnahmen der Pandemie sind ihrem Wesen nach nicht wiederherstellend, sondern präventiv. Sie wollen uns vor einer potenziell schädlichen Infektion schützen, die uns schaden kann, aber das ist auch schon alles. Selbst wenn Sie sich nie mit dem Virus anstecken, bedeutet das nur, dass Sie Ihren jetzigen Gesundheitszustand bewahrt haben, aber Sie sind nicht gesünder geworden. Das ist ein entscheidender Unterschied zum Heiligen Frühling. Er will nicht den Winter vermeiden, sondern uns zum Sommer führen. Er will uns nicht die Hölle ersparen, sondern uns in den Himmel führen.

 (Die Fortsetzung folgt)

Erik Riechers SAC, 24. Februar 2021

 

 

»Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge«

 

»Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob« - ein Teil eines Psalmverses, den viele von uns kennen und lieben, der leicht verständlich scheint, über den wir aber auch leicht hinweggehen.

Schauen wir genauer hin. Was hören wir aus dem Mund der Kleinsten? Sie schreien, wenn ihre Bedürfnisse existentiell sind, sie brabbeln vor sich hin, sie versuchen, Laute nachzuahmen, probieren ihre Stimme aus: werden sie größer, plappern sie oft munter und erzählen, was ihnen in den Sinn kommt; sie stellen Fragen über Fragen oder erzählen, was die Phantasie ihnen eingibt. Kinder äußern pur alles, was sie empfinden: Schmerz und Freude, Angst und Spannung, Heimweh und Lust am Leben. Alle inneren Prozesse von Lebendigkeit strömen durch den Mund nach außen. Sie haben ein untrügliches Gespür für das Echte und Wahre, was wir meist aus Rücksicht auf Konventionen und anerzogenen Verhaltensmustern verlernt haben.  Ist es verwunderlich, dass Gott, der alles Leben liebt, dies als Lob aufnimmt? Alles, was lebt und Leben äußert, lobt den Schöpfer allen Lebens. So »schafft« er sich Lob aus all dem, was die Jüngsten ganz natürlich und frei aus ihrem Mund tönen lassen. Wir nennen dies oft unverständlich oder einfach niedlich oder versuchen es zu erklären oder sogar abzuwerten. Für Gott aber wird es zum Lob des Lebens überhaupt, zu seinem Lob als Schöpfer. Denn was die Kleinen äußern, ist existentiell, pur, ehrlich und wahr.     

Dieser Vers steht am Anfang von Psalm 8, der den Schöpfer und die Schöpfung preist und im weiteren Verlauf die Größe und Würde des Menschen hervorhebt.  

»Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob, / deinen Gegnern zum Trotz; / deine Feinde und Widersacher müssen verstummen.« - unerwartet sind die weiteren Worte dieses Verses. Doch bedenken wir: Wenn aus dem Mund der Kinder ganz natürlich das Lob des Schöpfers fließt, dann haben all jene, die das Leben weder würdigen noch lieben, nichts mehr zu sagen. Sie stehen nicht auf der Seite des Urhebers allen Lebens. Wir kennen doch alle Stimmen von Menschen, die alles besser wissen und bewerten, die nicht mehr staunen können, die verlernt haben, ihre Gefühle auszudrücken und sie lieber verdrängen. Wie viele Menschen haben Teile ihres inneren Lebens abgeschnitten. Sie sprechen über das, was »man« hören will. Sie folgen einer Taktik, aber nicht der Vielfalt des Lebens. Es zählt, was ihnen nützt, aber nicht, was wahrhaft dem Leben dient.

Im Matthäusevangelium hält Jesus genau diesen Satz den Mächtigen entgegen: »Als nun die Hohepriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohn Davids!, da wurden sie ärgerlich und sagten zu ihm: Hörst du, was sie rufen? Jesus antwortete ihnen: Ja. Habt ihr nie gelesen: Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob?« (Mt 21, 15-16)

Jeder, der die Kleinsten und das, was sie äußern, wahrnimmt und ernst nimmt, spürt, wie nah er durch sie am wirklichen Leben ist. Keine Stunde, die wir so verbringen, ist vergeudete Zeit - nicht für die Kinder, aber auch nicht für uns. Es ist eine Stunde der Wahrhaftigkeit. Kehren wir mit ihrer Hilfe zur wahrhaftigen Tiefe des Lebens zurück.

 

Rosemarie Monnerjahn, 22. Februar 2021

 

 

Warum wir Wüsten brauchen

1. Fastensonntag B 2021                                      Mk 1, 12-15

 

In jener Zeit trieb der Geist Jesus in die Wüste.

Dort blieb Jesus vierzig Tage lang und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.

Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes

und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!

Mk 1, 12-15

 

Keiner der Evangelisten erzählt die Wüstenerfahrung Jesu so kurz und prägnant wie Markus. Hier werden keine detaillierten Versuchungen beschrieben. Er spricht kein Wort über Steine, die in Brot verwandelt werden sollen, und niemand muss sich vor dem Versucher niederwerfen, um die Reiche dieser Erde zu besitzen. Markus berichtet nicht von der Versuchung, sich von der Zinne des Tempels herunterzustürzen, um die schnelle Reaktionszeit der Engel zu testen.

Diese Kürze der Worte hat einen großen Vorteil. Markus dringt zum Kern der Sache und einer sehr grundlegenden Entscheidung durch. Wie Jesus hören wir die Worte Gottes, die uns offenbaren, dass wir seine geliebten Söhne und Töchter sind. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Wie im Evangelium selbst ist das, was die Stimme des Vaters am Jordan zu uns spricht, der Punkt, an dem die Geschichte beginnt. Wir sind geliebte Menschen, aber ob wir als solche leben wollen, ist eine andere Frage und eine, die uns bis ins Innerste prüft.

Um herauszufinden, ob wir diese Würde als geliebte Söhne und Töchter ausleben wollen, brauchen wir drei Dinge: 1. eine Wüste, 2. wilde Tiere und 3. dienende Boten Gottes.

  1. Eine Wüste

Wir brauchen Orte, an denen wir nicht abgelenkt werden, an denen wir auf das Wesentliche des Lebens zurückgeworfen werden. T.S. Lawrence beantwortete die Frage, warum er die Wüste liebe, mit dem Satz: »Sie ist sauber«. In Wüsten geht es um Fluch und Segen, um Leben und Tod. In Wüsten erleben wir das Leben auf das wahrhaft Wesentliche reduziert. In Wüsten gibt es keine Ablenkungen, keine kurzweiligen Unterhaltungen und keine oberflächlichen Gespräche über Belanglosigkeiten, die uns vergessen lassen, was wir nicht wahrnehmen, anschauen und anpacken wollen.

Wir brauchen solche Orte und Zeiten der Wüste, um herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist, was unsere wahren Überzeugungen sind, was uns wirklich bewegt. Wir brauchen sie, weil sie uns den Ort geben, an dem wir zum Kern der Sache durchbrechen können. In der Wüste wird dieses Streben nach Tiefe nicht länger durch die angenehmen Ablenkungen, die das Leben zu bieten hat, beiseitegeschoben.

  1. Wilde Tiere

In solchen Wüstensituationen leben wir auch »bei den wilden Tieren«. Wilde Tiere fressen, was sie in der Wüste finden. Sie sind auf der Suche nach Beute, und je verwundbarer die Beute ist, desto besser. Sie nutzen die Hilflosigkeit ihrer Beute aus und machen sie zu ihrem Vorteil. Sie machen aus der Not und Schwäche anderer etwas, von dem sie profitieren.

Diese Erfahrung ist uns nicht gerade fremd. Auch in unseren Krisenzeiten gibt es wilde Tiere, die einen Vorteil für sich wittern und diesen gnadenlos ausnutzen. Sie sehen, wenn andere hilflos und ausgeliefert sind und beuten deren Situation für ihre Zwecke aus. Die Bibel hat dafür auch ein anderes Wort: Menschenopfer. Menschenopfer ist die Bereitschaft, andere Menschen zu opfern, damit ich besser leben kann.

Wir brauchen diese Erfahrung mit den wilden Tieren, um zu prüfen, was wir wirklich sein wollen: Wollen wir uns zu ihnen gesellen? Wollen wir genauso kalt und berechnend unseren Vorteil suchen, egal was es andere kostet? Ist uns das Schicksal anderer gleichgültig, solange wir selbst ungeschoren davonkommen?

Die Verlockung ist groß. In der großen Flüchtlingskrise unserer Zeit gibt es Menschen, die sich mit Leib und Seele für geschundene Menschen einsetzen. Es gibt aber auch andere, die sich als Schleuser betätigen und dieses große menschliche Leid ausnutzen, um sich zu bereichern. In der Pandemie gibt es Menschen, die sich unermüdlich um andere kümmern, aber gleichzeitig auch Menschen, die nur an ihren eigenen Vorteil denken, die verlangen, sich vorzudrängeln und zuerst geimpft zu werden, ohne Rücksicht auf die Menschen um sie herum, die mehr leiden und weitaus mehr gefährdet sind als sie selbst. Es gibt keinen Mangel an Wildtieren in unseren Wüsten.

  1. Dienende Boten Gottes

Es wird erzählt, dass die Engel Jesus in der Wüste dienten. Das ist auch unsere Erfahrung in Zeiten der Wüsten-Not. Menschen werden von Gott gesandt, um dem Leben zu dienen, das mittellos, gefährdet und ausgesetzt ist. Es gibt wilde Tiere, die uns treten, wenn wir schon am Boden sind. Es gibt auch dienende Boten Gottes, die uns aus dem Staub aufrichten, damit wir nicht auf der Strecke bleiben. Es gibt wilde Tiere, die ihre Freude über das Missgeschick anderer kaum zurückhalten können, und es gibt dienende Boten Gottes, die unser Leid und unseren Schmerz teilen. Es gibt wilde Tiere, die das Leid anderer zum Anlass nehmen, um zu triumphieren (denken wir an solche Sätze wie »Ich hab's ja gewusst« oder »Ich hab's dir ja gesagt«). Aber es gibt auch dienende Boten Gottes, die Hilfe leisten und Schmerzen lindern, um einen Menschen wieder ins Leben zu bringen.

Und hier sind wir mit der dritten Möglichkeit einer Wüstenerfahrung konfrontiert: Was für ein Mensch will ich sein? Denn der geliebte Sohn oder die geliebte Tochter Gottes ist kein wildes Tier und sollte sich auch nicht als solches verhalten. Das geliebte Kind ist ein dienender Bote Gottes, ein Heilsbringer, ein Beschützer der Unerfahrenen und ein Tröster der Bedrängten.

Was Markus uns sagt, ist grundlegend: Was für Menschen wollen wir sein? Und nur in der Wüste werden wir wirklich testen, welche Art von Antwort in uns schlummert.

Ich hoffe und bete, dass wir uns diese Anweisung Gottes zu Herzen nehmen werden. Gibt es jemanden unter uns, der nicht die schmerzliche Erfahrung gemacht hat, die sich in einem Sprichwort meines Heimatlandes widerspiegelt: Wenn es hart auf hart kommt, wirst du entdecken, wer deine wahre Freunde sind? Nun, wenn wir in der Wüste sind, werden wir entdecken, wer unsere wahren Freunde sind, aber auch, ob wir selbst aus dem Stoff echter, liebender, dienender Freundschaft geschnitten sind. Es geht nichts über eine Wüste, um uns von unseren Selbsttäuschungen zu befreien.

Erik Riechers SAC, 21. Februar 2021

 

 

»Heiliger Frühling«

 

Gern beobachte ich bei mir und mit anderen jedes Jahr, was die ersten Anzeichen des Frühlings sind und wie sie auf uns wirken. Das Licht nimmt zu, die Tage werden länger und die Schatten schon merklich kürzer. Die Sonne gewinnt an Kraft; manchmal kann man sich schon im Februar in ein geschütztes Sonneneckchen setzen und die Wärme genießen. Ganz allmählich kommt auch mehr Farbe in die Welt – die Zaubernuss ist eine sehr frühe Botin des Gelb und was folgt noch alles. Vogelstimmen erfreuen uns am Morgen, große Züge von Wildgänsen machen sich am Nachmittag laut bemerkbar auf ihrem Zug nach Norden.

Alles Zeichen von Leben, neuem Leben, wieder erstarkendem Leben! Es lockt uns hinaus, wir spüren den Wunsch nach Entschlackung und mehr Leichtigkeit, nach Aufbruch und Neuanfang.

In der Antike gab es den Brauch des »heiligen Frühlings«, »ver sacrum« genannt: in der Frühlingszeit geborene, inzwischen erwachsen gewordene junge Männer wurden bei den antiken Italikern ausgesandt oder auch ausgestoßen, um neues Land zu erobern und dort einen neuen Stamm zu gründen. Auch hier also: mehr Leben, neuer Lebensraum, Zukunftsmöglichkeiten, zugleich Abschiednehmen und mutig neu beginnen.

In der frühen Kirche sprach man von unserer Fastenzeit als dem »heiligen Frühling«. Da ist es von Bedeutung, das Wort »heilig« zu bedenken. Heilig in der Bibel ist nur der Heilige, Gott selbst. Nichts ist heilig aus sich selbst heraus, sondern nur durch die Berührung mit der Heiligkeit Gottes. Wo der Schatten des Allerheiligsten hinfällt, da ist die Schönheit der Heiligkeit zu finden.

Die 7 Wochen vor Ostern sollen alle Zeichen des Frühlings tragen, so wie sie es in unseren Breiten jetzt zunehmend auch draußen tun, und zwar als heilige Zeit des Aufbruchs in neues Leben, wenn und weil wir sie durchschreiten in Berührung mit Gott und in Beziehung zu ihm. Gott liebt das Leben in allen Facetten und wir können diese Vorbereitungszeit zu einer heiligen Zeit machen, indem wir all dem Raum geben, was wir in der Frühlingszeit in der Natur wahrnehmen und lieben. Wir können sie zu einer heiligen Zeit machen, wenn wir uns selbst neu in der Beziehung zu Gott wahrnehmen, in uns selbst eintreten und schauen, was Gott in uns hinein gelegt hat. »Werde das, was du von Gott her bist« könnte einen Frühling aufbrechen lassen: mehr Lichtblicke, wo wir so vieles düster sahen; mehr Wärme, wo wir kalt mit uns und anderen umgingen; mehr Farbe, wo wir uns schon so an Eintönigkeit gewöhnt hatten, dass wir es kaum noch erkannten; mehr Stimmen und Musik, wo wir unsere Ruhe haben wollten; mehr Lebendigkeit in uns und mit anderen, wo wir uns gelangweilt anödeten.

Ja, dazu wird es gut und notwendig sein, auf Gewohnheiten zu verzichten, die uns so lange von all dem abgehalten haben. Doch das ist ja der  Zauber des Frühlings, wo das tote alte Laub durchstoßen wird von den spitzen Trieben der Tulpenzwiebeln und den jungen Trieben der Stauden. Von innen heraus wächst Neues und das Alte darf getrost vergehen. Wie viel Leben steckt in uns - helfen wir ihm behutsam und beharrlich, zu sprießen und irgendwann zu blühen.

Lassen wir es uns neu gesagt sein: Gott ist ein Liebhaber des Lebens – es ist etwas Heiliges, das Leben zu lieben. So lasst uns eintreten in den heiligen Frühling.

 

Rosemarie Monnerjahn, 19. Februar 2021

 

 

Wie komme ich von hier wieder nach Hause?

 

Diese Frage ist das Thema unserer Brunnentage im Jahr 2021 und auch unseres Shea-Kurses. Nur zwei Monate nach Beginn des Jahres hören wir, wie das Thema bei so vielen Menschen tiefe Resonanz gefunden hat. Der Grund dafür ist einfach genug: Wir fühlen uns alle ein wenig verloren.

Die tiefste Auswirkung der Sünde, dieses Leben unter unserem Niveau, ist die Entfremdung. Dies ist ein bemerkenswertes Wort in der deutschen Sprache, denn es enthält in sich die Idee von einem Dasein, wo ich nicht heimisch, nicht zugehörig und unbekannt bin.

Es beschreibt perfekt unsere Erfahrung des Verlorenseins: wie Außenstehende oder Exilanten zu leben, weit weg von dem, was Heimat für uns ist und bedeutet, und wie Fremde uns zu fühlen in dem Leben, das wir uns selbst ausgesucht und geschaffen haben. Wir kennen das schreckliche Gefühl, wie Außenseiter zu leben, die auf das schauen, wonach wir uns sehnen, zu dem wir aber keinen Zugang finden. Wir erleben es in jeder Beziehung, die wir kennen: den Gott unseres Lebens wie einen Fremden behandeln; entfremdet sein von der Welt, die uns umgibt, erhält und trägt; verbannt von unseren Brüdern und Schwestern, nah und fern, leben; und sogar dass wir uns selbst fremd werden.

Für viele, wenn nicht die meisten Menschen, wird die Fastenzeit als die Zeit wahrgenommen, in der wir uns auf diese Entfremdung konzentrieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das wahr. Doch der Heilige Frühling ist präziser und passender beschrieben als unser jährliches Innehalten, um die Frage zu stellen, die aus der Asche der Entfremdung aufsteigt: Wie komme ich von hier wieder nach Hause? Wie kommen wir zurück in die Heimat und an das Herdfeuer unseres Herzens?

Der Aschermittwoch bietet eine erste Antwort auf diese Frage. Sechsmal wird Jesus über einen verborgenen Ort sprechen (krypto oder kruphaoi).

Wenn du Almosen gibst,

soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut,

damit dein Almosen im Verborgenen (krypto) bleibt;

und dein Vater, der auch das Verborgene (krypto)

sieht, wird es dir vergelten.

(Mt 6, 3-4)

 

Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer,

schließ die Tür zu;

dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen (krypto) ist!

Dein Vater, der auch das Verborgene (krypto) sieht,

wird es dir vergelten.

(Mt 6, 6)

 

Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt

und wasche dein Gesicht,

damit die Leute nicht merken, dass du fastest,

sondern nur dein Vater, der im Verborgenen (kruphaoi) ist;

und dein Vater, der das Verborgene (kruphaoi) sieht,

wird es dir vergelten.

(Mt 6, 17-18)

Gehen wir an den geheimen, den verborgenen, Ort. Jesus ist darauf bedacht, dass wir das richtig machen. Ob Almosengeben, Beten oder Fasten, alles lobenswerte Praktiken in der Fastenzeit, keine von ihnen wird uns nach Hause führen, wenn sie nicht aus unserem geheimen Ort geboren werden und aus ihm fließen.

Das ist der erste Ort, an den wir gehen müssen, um unseren Weg nach Hause zu finden. Es hat eine reiche Tradition im Erzählen des Evangeliums. Jesus verwendet es in dem Gleichnis vom Vater und seinen verlorenen Söhnen. Der jüngste Sohn beginnt die Heimreise erst, nachdem diese Zeile gesagt wurde: »Da ging er in sich…« Das ist der geheime Ort. Erst dann kommen seine rettenden Erinnerungen zum Vorschein und er sagt: »Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen und ich komme hier vor Hunger um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.«

Wenn wir in uns gehen, finden wir, was er entdeckt, die Erinnerung an einen Vater, der seine Diener besser behandelt als alles, was er bei seinen jetzigen Arbeitgebern erlebt hat. Er erinnert sich an ein Haus aus Brot, während er in einem Schweinestall hungert. Er erinnert sich, dass es ein Zuhause gibt, in das er zurückkehren kann. Woran er sich erinnert, schenkt ihm den ersten Schritt zur Antwort auf die Frage: Wie komme ich von hier aus wieder nach Hause?

Was auch immer wir in diesem Heiligen Frühling tun wollen, wir sollten hier beginnen, am geheimen Ort unseres Herzens, in dem Raum, in dem wir zu uns selbst kommen, nicht abgelenkt und verstellt durch äußere Erscheinungen und Auftritte, die wir anderen zuliebe aufführen. Das ist der Weg, der zur Entfremdung führt. Wir sollten uns darauf konzentrieren, nach Hause zu kommen, so dass wir sagen können: »Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen.«

Ich erinnere uns alle an eine Wahrheit, die wir in diesem Jahr oft sprechen und die in der Fastenzeit besonders wichtig ist. »Der Weg nach Hause ist lang, hart und kompliziert. Aber man muss ihn nicht alleine gehen.«

So wünsche ich uns allen zusammen einen guten Heimweg.

Erik Riechers SAC, Aschermittwoch, den 17. Februar 2021

 

 

Leben mit Zusage

 

Hier bei uns im Rheinland sind viele Menschen in diesen Tagen traurig, weil Karneval in der Pandemie nicht stattfindet. Sie vermissen die Ausgelassenheit, das Miteinanderfeiern, -tanzen und -singen. Viele trösten sich mit der geliebten Musik dieser Zeit, tauschen Bilder vergangener Karnevalszeiten aus und planen für die Zukunft.

Doch immer hält das Leben eine unglaubliche Palette von Schattierungen bereit und so gibt es in diesen Tagen auch Trauer tieferer Art. Vor mir liegt eine Todesanzeige: aus meinem Bekanntenkreis starb eine fast 94-jährige Frau. Ihre Familie spricht darin von Liebe und Dankbarkeit über ein erfülltes Leben und ein friedliches Sterben.

Über dieser Anzeige steht eine Zusage, die mein Herz berührte, weil ich sogleich spürte, mit welcher Haltung diese Familie auf das Leben ihrer Mutter und Großmutter schaut und wie sie durch diese Trauerzeit geht:

»Fürchte dich nicht,

               denn ich habe dich erlöst;

ich habe dich

               bei deinem Namen gerufen;

du bist mein!«                                        (Jes 43)

 

Über dem Leben der alten Frau steht - über den Tod hinausweisend - dieser Zuspruch. Hier trauert eine Familie angesichts des endgültigen Abschieds von einem geliebten Menschen in dem tiefen Glauben und Vertrauen, dass dieser Frau genau das gesagt wurde, was Jesaja im Exil als Gottes Wort an sein Volk ausspricht.

Sei nicht bang, sorge dich nicht, mach dir keine furchtsamen Gedanken vor dem, was vor dir liegt.

               Denn ich selbst habe dich bereits ausgelöst, du bist frei.

Du bist schon gerufen, von mir.

               Du, bei deinem Namen habe ich dich gerufen, DU bist gemeint.

Vergiss nicht: Du gehörst zu mir.

Welch grenzenloses Angebot von Heimat und Zugehörigkeit! Du musst nicht mehr herumziehen und eine Bleibe suchen: Mein bist du, immer schon. Komm heim!

Was auch immer das Herz eines jeden von uns beschwert, ob unsere Lebensetappe gerade leicht ist oder mächtige Brocken vor uns liegen: Diese Zusage gilt auch uns. Hören wir sie wieder neu, saugen wir sie auf in unser Herz und gestalten unser Leben daraus. Damit wir frohen Sinnes durch diese und alle Tage gehen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. Februar 2021

 

 

Einer für alle, alle für einen

6. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 40-45

 

»Ich stecke meine Nase nie in den Brei anderer Leute. Das ist nicht mein Brot und Butter; jeder für sich, und Gott für uns alle.« Miguel de Cervantes lässt Don Quijote in seinem Meisterwerk diese Worte sprechen. Das Zitat spiegelt eine Haltung wider, die wir in verschiedenen Formen und Verkleidungen in unserem Leben, in unseren Beziehungen und in unserer Gesellschaft kennen lernen.

Alexandre Dumas lässt seine Musketiere Athos, Porthos, Aramis und d'Artagnan dagegen etwas ganz anderes sagen angesichts der Prüfungen, Abenteuer und Herausforderungen, die das Leben zu bieten hat: »Un pour tous, tous pour un.« (Einer für alle, alle für einen)

Auch dieses Wort spiegelt eine Haltung wider, aber diesmal geht es um das Zusammenstehen und nicht um das Auseinanderstehen.

Diese beiden Worte sind nie weit weg von unseren Herzen, wenn wir mit einer Krise konfrontiert sind und eine Wahl treffen müssen. Wenn Wellen von Flüchtlingen an unseren Grenzen frieren, können wir sagen: »Das hat nichts mit uns zu tun«, oder wir können sagen: »Wir können das gemeinsam bewältigen.« Diese beiden Worte spiegeln den Kampf um die Vorherrschaft über das menschliche Herz wider. Jetzt, wo ein Impfstoff zur Verfügung steht, gibt es Menschen, die der Meinung sind, dass sie, sobald sie geimpft sind, frei von den Einschränkungen des Einsperrens sein sollten, unabhängig davon, wie es anderen in der Gesellschaft geht. Der Kampf um genügend Impfstoff führt dazu, dass einige Länder einfach sicherstellen, dass sie genug für ihre Bevölkerung haben, während andere Länder sich Sorgen machen, dass Entwicklungsländer genauso viel Zugang zum Impfstoff haben wie ihre eigenen Bürger.

Im heutigen Evangelium sehen wir, wie die Mentalitäten dieser beiden Worte miteinander ringen. In den Gesetzen, die das Leben der Aussätzigen regeln, sehen wir eher die Denkweise von Don Quijote. Es ist die Denkweise der Trennung und Distanz. Wir trennen uns von dem, was für uns unangenehm, gefährlich oder lästig ist. Solange wir bekommen, was wir brauchen, was kümmert uns das Schicksal der anderen?

Jesu Art zu denken und zu handeln spricht dagegen eher von der Haltung der Musketiere. Diese Begegnung zwischen Jesus und den Aussätzigen ist eine Erzählung gegen die Mentalität des Trennungs- und Distanzdenkens zugunsten von Köpfen und Herzen, die in Begriffen der Solidarität denken und fühlen.

Alle Figuren in dieser Erzählung, sowohl die Aussätzigen als auch die Gesunden, sind zunächst von der Denkweise der Trennung und Distanz geprägt. So kommen sie auf eine vereinfachte Formel: Die Kranken sollten sich von den Gesunden fernhalten.

Viele würden argumentieren, dass diese Formel nicht vereinfachend ist, sondern lediglich gesunder Menschenverstand. Diese Sichtweise ist nur möglich, wenn man zu den Gesunden zählt. Werfen Sie einen genaueren Blick auf Levitikus 13:45-46. Dort steht, dass der Aussätzige zerrissene Kleider tragen soll, um sich von den gepflegten Kleidern der Gesunden abzuheben. Der Aussätzige soll sein Haar locker herabhängen lassen, um sich äußerlich deutlich von der gepflegten Erscheinung der Gesunden zu unterscheiden. Der Aussätzige soll separat leben, nicht unter den Gesunden. Der Aussätzige hat seine Behausung außerhalb des Lagers, damit die Gesunden ihr Leben in Ruhe weiterführen können. Selbst ein Kind würde erkennen, dass der Geist des »Einer für alle, alle für einen« in diesen Vorschriften des »gesunden Menschenverstands« nicht vorherrscht.  All die Verpflichtungen, Einschränkungen und Opfer werden von den Kranken verlangt. Von den Gesunden wird nichts verlangt.

So sollte sich die Geschichte im Evangelium entfalten. Aber Jesus weigert sich, etwas mit einer Denkweise zu tun zu haben, die sich von anderen Menschen trennt und distanziert, denn das zerstört die menschliche Solidarität. Jesus geht den entgegengesetzten Weg.

  1. Jesus hatte Mitleid mit ihm.

Jesus selbst ist nicht krank und nicht betroffen von den Folgen der Entfremdung, des Verlustes und der Isolation, die der Aussatz mit sich bringt. Sein Leben ist unversehrt. Doch obwohl er in einer Welt des Heils lebt, berührt und bewegt das gebrochene Leben des Aussätzigen seine Welt.

  1. »Er streckte die Hand aus«.

Sobald Jesus dies tut, überbrückt er die trennende Distanz, die zwischen seiner Welt und der des Kranken besteht. Jesus durchbricht die Grenzen der Trennung und Distanz, die die Regeln aufgestellt haben. In dem Moment, in dem er seine Hand ausstreckt, macht er seine eigene Regel.

  1. »Er berührte ihn«.

Noch einmal kehren wir zu einem beliebten Thema des Markus zurück: die Berührungen. Durch die Berührung kommen die Welten, Erfahrungen und Menschen, die voneinander getrennt bleiben sollten, miteinander in Kontakt und es entsteht ein Ort der Berührung, wo vorher nur Leere den Raum zwischen uns ausfüllte.

4.»Und er sagte: Ich will – werde rein!«

Hier hören wir ein klares Bekenntnis Jesu: Er offenbart seine Motivation. Er sagt nicht: »Ich kann«, sondern »Ich will«. Er will diesen Menschen wieder gesund machen, ihm ein Zuhause und einen Herd geben, und deshalb nimmt er die mühsame Anstrengung dieser Schritte auf sich, die alle entfallen würden, wenn er sich nur auf die Denkweise der Trennung und Distanz verlassen würde.

Das sind die vier klaren Schritte, um die Denkweise von Trennung und Distanz zu überwinden. Aber es geht Jesus nie allein um die Ablehnung der negativen Denkweise, sondern um die Annahme einer lebensspendenden Denkweise. Für ihn geht es immer um die Vorherrschaft über das menschliche Herz, und darum pflegt und fördert er eine andere Denkweise. Er schaut auf die Menschen, auf die Beziehungen, die sie miteinander und mit Gott haben, und betont, was uns bindet und eint, was wir gemeinsam haben.

Leider ist diese Denkweise nicht einfach zu erreichen. Wir üben immer das, was wir schon können. Wir sind es gewohnt, in den Kategorien der Konkurrenz zu denken und zu handeln. Und wenn diese Konkurrenzdenkweise uns im Griff hat, dann identifizieren wir uns mit den physischen, psychologischen und sozialen Vorteilen, die wir haben und die uns von anderen abheben. Dann gewinnt  der Satz »Ich stecke meine Nase nie in den Brei anderer Leute. Es ist nicht mein Brot und Butter; jeder für sich und Gott für uns alle« die Vorherrschaft über unsere Herzen.

Das wiederum führt uns tief in die Welt des Vergleiches. Wir können dann sagen: »Ich habe eine bessere Gesundheit, bin intelligenter und habe mehr Geld als die anderen«. Aber es funktioniert auch umgekehrt: »Leider habe ich eine schlechtere Gesundheit, bin weniger intelligent und habe weniger Geld als der andere«. Die Welt des Vergleiches lässt uns ständig pendeln wir zwischen »es geht mir besser« und »es geht mir schlechter«. Wir schwanken zwischen Mitleid mit denen, die weniger haben und Neid mit denen, die mehr haben. So oder so, in beiden Fällen ziehen wir uns vom anderen zurück. Die klare Botschaft ist: »Das bin ich nicht.« Am Ende haben wir klare Grenzen gezogen, geboren aus der Denkweise von Trennung und Distanz, eine Denkweise, die Jesus mit größter Anstrengung umkehren möchte.

Wenn wir uns dieser Geschichte nähern, tun wir dies aus der Rolle des Gesunden. Wir gehen also davon aus, dass der Aussätzige einer ist, dem es schlechter geht als uns. Wenn wir mit ihm in Kontakt kommen, könnten seine Umstände, seine Situation, sein Zustand, ansteckend sein, das heißt, wir könnten selbst betroffen sein. Und schon ist die Strategie des Rückzugs, der Abgrenzung und der Distanzierung in vollem Gange. In einem Anflug von Frömmigkeit bitten wir vielleicht sogar den schützenden Gott, uns aus ihrer Notlage zu befreien.

Jesus schaut nicht auf die Krankheit, sondern auf den Menschen, der diese Krankheit zu tragen hat. Die Krankheit verbindet uns nicht miteinander, denn wir sind keine Aussätzigen. Aber die Denkweise Jesu fragt nach dem Menschsein und nicht nach den Krankheiten, die Menschen zufällig haben. Was bindet und eint uns? Was ist der gemeinsame Grund, auf dem jedes Leben ruht? Wir alle haben Wert, Würde und Sinn. Wir sind alle geliebt und gewollt. 

Erst wenn diese Denkweise unser separatistisches Denken ersetzt, wird wahres Mitgefühl geboren werden.

Denn wahres Mitgefühl ist eine tief empfundene Erkenntnis, dass wir das teilen, was allen Menschen gemeinsam ist. Wert, Würde und Sinn zu haben, geliebt und gewollt zu sein, ist die Welt, die wir alle teilen. Wenn wir diese Welt nicht finden können, werden wir nie aufrichtig sagen können »Einer für alle, alle für einen«. 

Dann gehen wir die vier Schritte Jesu:

  1. Wir haben Mitleid und lassen unsere heile Welt berühren und bewegen von den gebrochenen Lebensverhältnisse der Anderen
  2. Wir strecken die Hand aus und überbrücken die trennende Distanz. Wir durchbrechen die Grenzen der Trennung und Distanz, die unsere geerbten Auslegungen und ihre Handlungsweisen aufgebaut haben
  3. Wir berühren das Leben anderer und kommen in Berührung mit den Welten, Erfahrungen und Menschen, die ursprünglich von uns getrennt bleiben sollten.
  4. Und wir sagen »Ich will es«. Auch wir können ein klares Bekenntnis ablegen, dass wir nicht bereit sind, die anderen auf die Strecke zu lassen, um uns selbst zu retten.

Markus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese tiefe Wahrheit. Die Erfahrung des anderen ist auch meine Erfahrung. In seinem Stück »Der Kaufmann von Venedig« lässt William Shakespeare Shylock an diese gemeinsame Menschlichkeit appellieren: »Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?«

Wir sollten nicht übersehen, dass diese biblische Erzählung in Ironie endet. Der Aussätzige, der immer verkünden musste, dass er unrein ist, ist nun der Mann, den Jesus bittet zu schweigen. Er tut dies nicht. Stattdessen nutzt er jede Gelegenheit, um anderen von dem zu erzählen, der ihn sah, seine Hand ausstreckte, ihn berührte und ihm sagte, dass er seine Heilung wünsche. »Der Mann aber ging weg und verkündete bei jeder Gelegenheit, was geschehen war.«

Doch nun, da Jesus den Ruf hat, ein Heiler zu sein, geschehen zwei Dinge.

  1. Er darf sich in keiner Stadt mehr öffentlich zeigen
  2. Er darf sich nur an einsamen Orten aufhalten.

Das ist die Ironie, denn laut Levitikus ist dies normalerweise das Schicksal der Aussätzigen.

  1. Sie dürfen sich in keiner Stadt öffentlich zeigen
  2. Sie können sich nur außerhalb der Stadt an einsamen Orten aufhalten.

Wie kommt es zu dieser ironischen Wendung? Es ist ganz einfach. Wo immer Menschen nur an das denken, was sie brauchen oder wollen, ohne Rücksicht auf die Kosten anderer, da wird das Wohl der anderen geopfert, auch wenn der andere Jesus von Nazareth ist. Roy T. Bennett hat Recht, wenn er in seinem Buch »Das Licht im Herzen« schreibt: »Die meisten von uns müssen lernen, Menschen zu lieben und Dinge zu benutzen, anstatt Dinge zu lieben und Menschen zu benutzen.«

 

Erik Riechers SAC, 14. Februar 2021

 

 

Wie schauen wir auf die Welt?

 

Es gibt Tage, an denen ich die Einschränkungen dieser Zeit besonders stark empfinde - weniger als Erschwernis, sondern mehr noch als Verarmung. Dann bin ich versucht, diese Brille über alle meine Erfahrungen zu legen. Immer wieder jedoch werde ich aufgescheucht durch die Erkenntnis, dass das Leben mehr ist als all das, was die gegenwärtige Situation bedrückend macht. Den Anstoß dazu schickt mir – so empfinde ich es manchmal – der »Himmel«: in Form eines Gesprächs oder durch eine Radiosendung oder eine Geschichte, auf die ich gestoßen werde. So entdeckte ich vor kurzem die Rätseldichterin und Lyrikerin Erika Beltle. Sie hatte im 2. Weltkrieg ihren späteren Mann Theo kennengelernt, der bald eingezogen wurde. Der Briefwechsel der beiden durch die Zeit des Krieges hindurch wurde vor Jahren veröffentlicht. So schreibt sie in einem Brief Anfang 1942:

»Lieber Theo, … Heute wünschte ich mir einmal wieder, dass Empfindungen nicht immer erst in Gedanken gekleidet werden müssen, um vom anderen aufgefasst zu werden, sondern dass sie sich unmittelbar übertragen könnten. Der Weg vom Herzen über den Kopf ist so umständlich, und das Wesentliche geht dabei verloren. Ich bin heute sehr fröhlich gestimmt und möchte am liebsten zwitschern wie die Vögel. Trotz Krieg und tausend Teufel ist das Leben schön! Vielleicht liegt es daran, dass ich so etwas wie eine Ordnung, eine Richtung für mein künftiges Leben geplant habe. Man möchte ja denken, ein fast nach Stunden verplanter Weg habe etwas Zwangartiges und würde beengen oder bedrücken, aber gerade das Gegenteil ist der Fall: er macht mich innerlich frei. Weil ich Freiheit immer mit einem Glücksgefühl verbunden erlebe, habe ich heute ein solches. ...  Erika«

(Erika und Theodor Beltle, Für Dich will ich leben: Ein Briefwechsel aus dem Zweiten Weltkrieg, 2009)

 

»Trotz Krieg und tausend Teufel ist das Leben schön!« - wie ist es ihr möglich, mitten im Krieg so etwas zu schreiben?

Nun, sie steht in einer guten Verbindung zu sich selbst.  Sie nimmt sich selbst wahr und so entdeckt sie den Schatz in sich, lernt ihr eigenes Herz kennen, in dem viel mehr lebt, als Worte ausdrücken können. Weil sie sich ernst nimmt, kann sie aus ihrem Inneren heraus leben und gestalten und das bedeutet in ihrer Situation  - sie ist knapp 21 Jahre alt, als sie dies schreibt – Pläne für ihr Leben zu schmieden – trotz allem Grausamen und Schrecklichen und Ungewissen! Und sie macht eine grandiose Entdeckung: dies befreit sie innerlich. Und sie beobachtet sehr genau: diese eigene innere Freiheit zu fühlen bewirkt ein Glücksgefühl - im Januar 1942!

Für mich ist dies ein außergewöhnliches Zeugnis für das, was wir schon oft besprochen haben: wahres Leben fließt von innen nach außen. Es lässt sich nicht konsumieren. Darum können die Gedanken der jungen Frau von damals für uns heute, besonders in diesen Monaten der Minimierung von vielen Facetten des Konsums,  Hilfe und Anstoß sein, neu uns selbst zu entdecken. Wir sind alle unterschiedlich stark belastet von dem, was diese Pandemie uns aufzwingt. Doch wir sind frei zu wählen, wie wir auf das Leben schauen und was von dem, was in uns steckt und sich sehnt nach Ausdruck, leben darf. Wir könnten es hegen und pflegen wie ein Gärtner, wir könnten es teilen miteinander und langsam vorstoßen zu glücklichen Momenten - trotz einer Verlängerung des Lockdown.

Und für Tage, in denen ich wieder überladen von viel Schwerem bin, lege ich mir ein Gedicht aus Erika Beltles späteren Jahren zur Seite:             

Gärten der Nähe

Abgetrieben bin ich
wie ein Boot
vom Land deiner Seele.

Vollbeladen
schwankt es
in Meeresweiten.

Aber ich werfe
Stück um Stück
Ballast über Bord

und strebe
zum Ufer zurück,
denn nur,

wer leicht wie ein Falter,
findet die Gärten
der Nähe,

darin du weilst.

               (aus: Erika Beltle, Gesammelte Gedichte - Ausgewählte Werke Band II, 2008)

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. Februar 2021

 

 

Schlecht erzählte Geschichten

 

Erst vor ein paar Tagen habe ich begonnen, ein neues Buch von Pádraig Ó Tuama und Glenn Jordan zu lesen. Das Buch befasst sich mit Brexit, Grenzen und Zugehörigkeit und wendet sich dem Buch Ruth zu, um eine Geschichte zu hören und zu beherzigen, die das Potenzial hat, unsere Augen für ganz andere Horizonte der Hoffnung und Heilung zu öffnen. Ich werde sicherlich in späteren Betrachtungen auf dieses Buch zurückkommen.

Was mir aber von Anfang an aufgefallen ist, ist die Betonung dessen, was passiert, wenn wir nur schlecht erzählte Geschichten hören. Das ganze Getöse um die Brexit-Kampagne wird als »stumpfe Geschichten, die schlecht erzählt werden, um Veränderungen voranzutreiben« beschrieben. Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt, sei es durch die AFD in Deutschland oder Donald Trump in den USA. Komplexe Realitäten werden so weit vereinfacht, dass wir eine Karikatur der Realität haben, in der wir leben. Die Helden und Schurken werden mit fundamentalistischem Eifer eingeteilt und jede Nuance oder Tatsache, die die Geschichte verkompliziert, wird sofort ignoriert, abgetan oder verunglimpft.

Das ist kein bloßer Zufall. Es taucht überall in der Geschichte und in der Welt auf, wo Menschen nicht in der Lage sind, mit Komplexität umzugehen. Wenn die vielschichtigen, zutiefst komplexen Realitäten des wirklichen Lebens zu schwer zu ertragen sind, dann verbiegen, verdrehen und verzerren manche Menschen alles, damit es in eine viel schwarz-weißere Version und Vision der Realität passt. Das ist die Atmosphäre, in der schlecht erzählte Geschichten geboren werden.

Was wir brauchen, sind gut erzählte Geschichten, die uns dehnen, auch wenn wir uns nicht gerade dehnen möchten. Hier ist, was Pádraig Ó Tuama schreibt:

»Geschichten haben die Kraft, uns mit uns selbst zu konfrontieren. Wenn eine Geschichte gut erzählt ist, bringt sie einige unserer Gewohnheiten durcheinander und fordert bisher Unbekanntes heraus. Geschichten haben unerwartete Drehungen und Wendungen. Geschichten finden Helden in seltsamen Ecken. Geschichten enthüllen etwas über das Verhalten von Menschen, die bisher als untadelig galten. In Geschichten fühlen wir uns zu mehreren Charakteren hingezogen, verorten uns in diesem und jenem. Geschichten enthalten unsere Projektionen und Vorurteile, und wenn wir Glück haben - hören wir die Geschichte oft genug, so dass einige dieser Projektionen und Vorurteile zu einer neuen Vorstellung überredet werden.« *

In der Tat brauchen wir solche Geschichten, aber wir brauchen auch zwei weitere Komponenten. Wir brauchen Geschichtenerzähler, die diese gut erzählten Geschichten lebendig werden lassen und die hartnäckig genug sind, uns Geschichten zu erzählen, die wir genau dann hören müssen, wenn wir sie nicht hören wollen. Wir brauchen also Geschichtenerzähler mit beträchtlichem Mut, denn gut erzählte Geschichten werden niemals einfach mit dem Strom schwimmen und die vorherrschende Weisheit des Status quo bestätigen.

Außerdem brauchen wir talentierte Geschichten-Hörer. Es erfordert eine beträchtliche Fähigkeit, die Geschichte zu hören, mit der man nicht von vornherein einverstanden ist. Es erfordert auch die Gabe des Mutes, die Bereitschaft, sich auf diese vielfältigen Charaktere einzulassen und mit ihnen zu ringen, die an unseren Vorstellungen rütteln und unsere Sichtweise auf die Welt erweitern.

Ich erinnere mich, dass ich John Shea einmal gefragt habe, was das sichere Zeichen für eine schlecht erzählte Geschichte ist. Seine Antwort hat sich in mein Herz eingebrannt. »Eine schlecht erzählte Geschichte wird dich an jeden Ort führen, an den du schon immer gehen wolltest.« Sie wird uns zu Großgrundbesitzern führen, aber kaum zu der Frau am Brunnen. Sie wird uns zu Supermodels, Berühmtheiten und Machteliten führen, aber kaum zu einer Witwe, die zwei Pfennige in den Opferstock legt. Die schlecht erzählten Geschichten werden uns zu den reichen und mächtigen Männern und Frauen führen, die die Schicksale von Millionen lenken, aber sie werden uns nicht zu Ruth führen.

Lasst uns in diesen Tagen auf der Hut sein. Der lange Weg dieser Pandemie hat uns ermüdet und zermürbt. Das macht uns anfälliger für schlecht erzählte Geschichten. Aber auch jetzt ist die Welt voll von guten Geschichten und großartigen Geschichtenerzählern. Dieses Buch, das ich gerade lese, ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Ich glaube auch, dass die Welt voller großartiger Geschichten-Hörer ist, einschließlich der 7000 von Ihnen, die viermal pro Woche zu »Bleiben Sie behütet« kommen. Pádraig Ó Tuama fragt in der Einleitung: »Können wir durch eine Geschichte, deren Ursprung wir nicht kennen, in einer Art narrativer Kreativität gehalten werden?« *

Ich glaube, wir können.

* Borders and Belonging:

The Book of Ruth: A Story for our Times,

Pádraig Ó Tuama and Glenn Jordan

Erik Riechers SAC, 10. Februar 2021

 

 

Mehr Leben kann herrlich sein - »ganz schön schwer«!

 

In der gestrigen Predigt legte Erik aus, was in den wenigen Versen über die Heilung der Schwiegermutter des Simon an Hilfen und Lebensunterweisungen für uns steckt. Wahrscheinlich ging es Ihnen wie mir: Sie staunten. Und dann begannen Sie daraus zu schöpfen - eigene Erfahrungen erinnernd und auf Kommendes schauend. Das alles setzte aber voraus, dass Sie diese Predigt wirklich in ihrer Fülle gelesen haben, ohne Abkürzungen, ohne »Kenne ich schon«, ohne frühzeitigen Abbruch.

Das ist eine Herausforderung, die uns immer wieder begegnet im Leben: uns wird ein Angebot zum volleren und reicheren Leben gemacht, zu mehr Heil und Freude. Doch wie gehen wir mit diesem Angebot um? Leider geschieht es immer wieder, dass wir uns nicht darauf einlassen. Manchmal hören wir nicht richtig hin, nehmen ein Angebot nur oberflächlich wahr und stoßen gar nicht vor zu dem Schatz, der für uns darin stecken könnte. Oft sind wir ungeduldig: dann ist uns ein Gottesdienst zu lang, ein Artikel zu ausführlich, ein Mensch, der mit uns redet, zu ausufernd und wir steigen aus, noch bevor wir richtig eingestiegen sind. Es gibt aber auch Herausforderungen, auf die wir uns zwar einlassen, die wir aber Stück für Stück zerlegen: Ja, das kann ich hören, aber es ist so schwierig - ja, aber was würde das bringen - ja, aber damit komme ich nicht durch, . . . ja, aber. . . , ja, aber! Dann bleiben wir innerlich stehen, beharren auf dem, was wir schon kennen, sitzen gewissenmaßen fest und versuchen dies zu rechtfertigen. Ich glaube, dies meint Psalm 1, wenn er davor warnt, auf dem Weg der Sünder zu stehen und im Kreis der Spötter zu sitzen. Er lädt den Menschen ein,  sich auf die Lebensunterweisung Gottes einzulassen, beharrlich, geduldig, stetig: Selig wird hier genannt, der »sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.« Die Weisung des Herrn ist das Wort, das der Mensch, der selig genannt wird, an sich heranlässt und an dem er Gefallen findet. Aber das allein reicht nicht. Beständig ist es in seinem Sinn; am Tag wird er manches anders betrachten als in der Nacht, doch er bleibt dran und schöpft daraus für sein Leben: »Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, es wird ihm gelingen.« Herrlich kann dann das Leben werden, und das hebräische Wort kabod für herrlich bedeutet etwa: ganz schön schwer!

Warum also würden wir, wenn sich uns eine Quelle zum Leben auftut, sie leichtfertig übergehen? Wäre es nicht ein Frevel an uns selbst?

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. Februar 2021

 

 

Ein Ort der Berührung

5. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 29-39

 

Als ich vor einigen Tagen aus meinem Fenster schaute, sah ich ein mir bekanntes älteres Ehepaar vorbeigehen. Es ging nur langsam voran, denn seit geraumer Zeit versinkt die Frau allmählich in die Demenz. In diesem Moment ließ sie ihre Handschuhe auf den Boden fallen. Ihr Mann bückte sich und hob sie auf. Sichtlich verärgert warf er sie in den Korb an der Vorderseite ihres Rollators, schrie sie an, sie solle vorsichtiger sein, und ging dann frustriert davon. Diese kleine Szene beunruhigte mich für den Rest des Tages.

Es ist eine Szene, die sich in diesen langwierigen Tagen der Pandemie in vielerlei Hinsicht auf vielen Ebenen wiederholt. Es ist nicht unerwartet. Angesichts ständiger und andauernder Krisen werden wir müde, verlieren unsere Geduld, unsere Perspektive und manchmal auch unsere Nerven. In solchen Momenten zeigen wir uns nicht von unserer besten Seite. Diese nicht enden wollenden Tage können uns so sehr zermürben, dass wir das Gefühl haben, keine Ressourcen mehr zu haben, um mit der nicht enden wollenden Geschichte, die zu unserer Krise geworden ist, umzugehen. Wir leiden unter der Krankheit der erschöpften Seele.

Das heutige Evangelium kann uns eine sanfte Führung durch diese unruhige Zeit bieten. Die Geschichte, die wir heute hören, ist die Fortsetzung einer Geschichte, die letzten Sonntag begann. Es ist eine Geschichte, die sich durch einen kompletten Sabbat-Tag im Leben Jesu schlängelt. Auf der Reise durch diesen Sabbat geht es um eine große Wiederherstellung. Während Jesus durch diesen Tag geht, erzählt uns Markus in drei Episoden, wie der Lehrmeister dem Sabbat seinen tiefsten Sinn und Zweck zurückgibt.  Zuerst hören wir, wie Jesus die Tiefen des authentischen Glaubens und der Anbetung durch die Austreibung des unreinen Geistes in dem Mann in der Synagoge wiederherstellt (Folge 1). Dann hören wir zwei weitere Episoden dieser fortlaufenden Erzählung. Da ist die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, so dass Feiern und Festlichkeit wieder möglich wird (Folge 2). Darauf folgt die Heilung der Menschen vor den Toren der Stadt nach Sonnenuntergang am Sabbat (Folge 3).

Es ist die zweite Episode der Heilung der Schwiegermutter von Petrus, der ich mich zuwenden möchte.

Und sogleich verließen sie die Synagoge und gingen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und des Andreas.

Die Schwiegermutter des Simon aber lag mit hohem Fieber im Bett; und sogleich erzählten sie ihm von ihr.

Und er trat herzu, nahm ihre Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr, und sie bewirtete sie.

 

Es wird Sie sicher nicht überraschen, wenn ich Ihnen gleich zu Beginn sage, dass hinter dieser Geschichte mehr steckt als wir zuerst ahnen. Subtil eingewoben in das Geflecht dieser Geschichte ist ein Weg nach vorne, durch Krise und Erschöpfung hindurch. Dieser Weg gibt Antwort auf die Frage, die in unserem krisengeschüttelten Leben brennt: Was können wir also tun?

Erlauben Sie mir, Ihnen sieben Schritte innerhalb der Geschichte zu enthüllen.

 

1. Erzähle die Geschichte, die nicht offensichtlich ist.

»Sie erzählten ihm von ihr.« Sobald Jesus das Haus der Brüder Simon und Andreas betritt, erzählen sie ihm von den Leiden und der Not der Schwiegermutter des Simon. Das ist ein sehr guter Ansatzpunkt.

Wir müssen die Geschichten von Not und Gnade in unserem allzu konkreten Leben den Menschen erzählen, die sie nicht kennen oder nicht wahrnehmen können, wenn wir nicht davon sprechen. Wir müssen die Geschichten der Menschen in unserem Leben erzählen, die vor Fieber brennen. Wir müssen die Geschichten der Menschen erzählen, die für den Außenstehenden aus den Augen und aus dem Sinn sind. Ohne diese Erzählung kennt Jesus nicht das Drama, das sich in einem anderen Raum desselben Hauses abspielt. Ohne dieses Geschichtenerzählen können wir die Dramen nicht kennen, die sich in den anderen Räumen im Leben und in den Herzen unsere Mitmenschen abspielen. Geschichtenerzählen öffnet die Türen zu verborgenem Leid, das sonst für immer ungesehen bleiben würde. Doch sobald es diese Tür öffnet, führt es zu Solidarität, Kameradschaft und einem unmittelbaren Hilfsangebot.

Öffne einen neuen Horizont in der Stunde der Krise!

 

2. Erzähle die Geschichte ohne unnötige Verzögerung:

Jesus braucht sie auch nicht aus den Lehrlingen herauszuziehen. »Und sogleich erzählten sie ihm von ihr.« Es gibt kein Zögern, kein Warten auf einen besseren, angemesseneren oder günstigeren Moment, kein Herumreden. Soziale Nettigkeiten und Konventionen sind schön und gut, aber wie oft machen sie uns zu schüchtern und zögerlich, um über das zu sprechen, was wirklich vor sich geht, sowohl in unseren Häusern als auch in unseren Herzen? Ich habe das in den Jahrzehnten der geistlichen Begleitung oft erlebt. Manche Menschen sitzen da und reden über alle möglichen Dinge, bevor sie die Geschichte erzählen, die sie überhaupt erst durch meine Tür gebracht hat. Noch schlimmer sind die zurückhaltenden Spielchen, die wir miteinander treiben, indem wir eine Notlage, die unser Herz plagt, andeuten, ohne die Geschichte direkt zu erzählen. Wir lassen genügend Hinweise in unseren Worten, Gesten und unserer Körpersprache fallen, in der Hoffnung, dass andere die Spur aufnehmen und uns fragen werden, was uns wirklich bedrückt.

Nicht so diese Gefährten Jesu. Sie erzählten ihm »sogleich« von ihr. Das gibt Jesus die Möglichkeit, sofort zu handeln, sofort ein Angebot der Hilfe und der Heilung zu machen.

In der Stunde der Krise, zögert die Hoffnung nicht hinaus!

 

3. Wähle die Annäherung an den Anderen.

»Und er trat herzu…«. Diesem einfachen Schritt widmet die Geschichte nicht einmal einen ganzen Satz. Aber es ist dennoch ein Schritt, und von nicht geringer Bedeutung. Eine Geschichte zu hören ist noch längst nicht dasselbe als von einer Geschichte bewegt zu werden. Wir können auch still zuhören, unser Mitgefühl ausdrücken und dann schnell das Thema wechseln. Wir können von Orten des Leidens hören, ohne sie je aufzusuchen. Wir können die Geschichten von leidenden Menschen hören, ohne einen Drang zu verspüren, sie zu besuchen.

Jesus entscheidet sich, auf diese Frau zuzugehen. Das ist eine echte Wahl, eine bewusste und überlegte Entscheidung. Um das zu tun, geht er in einen anderen Raum des Hauses. Das ist die klassische Bewegung, die wir üben müssen, sich von dem Ort, an dem die Geschichte erzählt wird, zu dem Ort zu bewegen, an dem die Geschichte stattfindet. Das erfordert, dass wir uns in andere Räume bewegen als die, in denen wir uns gerade befinden. Wir sind aufgerufen, die Räume zu verlassen, in denen wir uns bereits eingerichtet haben, die ein warmes und bequemes Gefühl vermitteln. Wenn wir das tun, werden die Orte ihres Unbehagens zu den Orten unseres Unbehagens. Wir nähern uns dem anderen in seinem Leiden und seiner Not, indem wir die Räume des Lebens betreten, in denen sich Leiden entfaltet. Das ist authentische Barmherzigkeit, denn echte Barmherzigkeit ist nicht ein Gefühl, sondern die Bereitschaft, in das Chaos des anderen einzutreten.

Machen wir uns auf, um in der Stunde der Krise Präsenz und Hilfe anzubieten!

 

4. Schaffe einen Ort der Berührung.

In dieser Geschichte erzählt uns Markus, dass Jesus, nachdem er sich Simons Schwiegermutter genähert hatte, »ihre Hand nahm«. Wie bei vielen Handlungen in biblischen Geschichten ist das leichter gesagt als getan. Der nächste Schritt zur Heilung ist die Berührung. Besser gesagt, es geht darum, einen Ort der Berührung zu schaffen. Die kalte Berührung heilt nichts und niemanden. Die heilende Berührung erfordert einen Raum, in dem sich eine zweifache Handlung entfalten kann.

Der erste Teil ist das, was Jesus tut. Es ist die Handlung des Gebenden, das Angebot der Verbindung, das zeigt, dass er keine Angst hat, dem zu begegnen und das zu berühren, was einen anderen plagt. Zu berühren, wie Jesus es in dieser Geschichte tut, ist bereits ein Akt des Erzählens, denn es enthüllt der leidenden Person, dass wir bereit sind, mit ihr in Kontakt zu kommen. Außerdem zeigt es die Bereitschaft, sich mit allen Teilen ihres Lebens zu verbinden und nicht nur mit ihren schönsten Momenten. Wir sind berufen, die Begleiter all ihrer Stunden zu sein, nicht nur ihrer schönsten Stunden. Jeder kann die attraktiven, ansprechenden, schönen und charmanten Menschen der Welt umarmen und küssen. Wir freuen uns normalerweise darüber. Aber nur Franz von Assisi kann den Aussätzigen umarmen und küssen. Er tut dies aus demselben tiefen Ort der Seele heraus, aus dem auch Jesus handelt.

In hartnäckig andauernden Krisen müssen wir die hässlichen Stellen, die aussätzigen Stellen, die fiebrigen Stellen im Leben unserer Brüder und Schwestern berühren. Dieser Ort der Berührung zeigt unseren Brüdern und Schwestern, dass wir keine Angst vor all dem haben, was ihre persönliche Geschichte ausmacht, dass wir nicht das herauspicken, was attraktiv ist, und den ganzen Rest vernachlässigen. Einen anderen so zu berühren bedeutet, einander zu zeigen, dass wir keine Schönwetterfreunde sind. Zugleich schenkt es den Betroffenen die Gabe der Ermutigung. Wenn wir nicht gemieden werden wegen dem, was uns schwächt, dann haben wir weniger Angst, zu zeigen, was uns schwächt. 

Der andere Teil des berührenden Erlebnisses ist das, was Simons Schwiegermutter tut. Sie zieht sich nicht zurück. Sie lässt sich berühren. Wann haben Sie sich das letzte Mal in Ihrer Not berühren lassen? Wann haben Sie das letzte Mal zugelassen, dass ein anderer Sie in einer Stunde berührt, in der es Ihnen nicht so gut ging? Ich habe einmal versucht, eine Frau in einem Krankenhaus zu besuchen, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sie weigerte sich jedoch, mich sie besuchen zu lassen. Durch ihren Ehemann drückte sie ihre Dankbarkeit für mein Angebot aus, lehnte es aber jedes Mal ab. Dieses Hin und Her von Angebot und Ablehnung zog sich über Monate hin. Fast ein Jahr später, nachdem sie sich erholt hatte, kamen wir zu einem Gespräch zusammen. Das erste, was sie tat, war sich zu bedanken für meine wiederholten Angebote sie zu besuchen. Doch gleich darauf fügte sie hinzu. »Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.«  Worauf ich traurig bemerkte: »Ich verstehe das, aber jetzt brauchst du kaum noch einen Ort der Berührung.«

Wir müssen einen Ort der Berührung schaffen. Dies wird oft geschehen müssen. Eine Lieblingshymne von mir trägt den Titel: »The Touching Place« (Der Ort der Berührung). Sein Refrain erzählt wunderschön von der Mission, die uns in den Knochen stecken muss:

Dem Verlorenen zeigt Christus sein Angesicht,

den Ungeliebten schenkt er seine Umarmung,

zu denen, die vor Schmerz oder Schande weinen

macht Christus, mit seinen Freunden, einen Ort der Berührung.

Die Strophen dieses Liedes benennen eine Unzahl von Menschen, deren Bedürfnis nach Berührung wir spüren müssen. Wir müssen für die Menschen fühlen, die wir meiden, die uns fremd erscheinen, die einen Verlust erleiden oder nie einen festen Platz hatten. Wir müssen das Bedürfnis nach einem Ort der Berührung spüren in den Frauen und Männern, die fürchten, dass ihr Leben ohne Sinn und Zweck ist, für Eltern, die ihr Kind verloren haben, für Frauen, die von Männern geschändet wurden, und für den Säugling, für den es keine Brust gibt. Wir müssen den Wunsch verspüren, mit Christus einen Ort der Berührung für die Müden zu schaffen, für die, die keine Ruhe finden, für diejenigen, die vom Leben verwirrt, von Zweifeln geplagt, einsam im Herzen und ängstlich vor Neuanfängen sind.

Berühre die Wunden in der Stunde der Krise!

 

5. Leihen wir anderen unsere Kraft.

So wichtig es auch ist, einen Ort der Berührung zu schaffen, das reicht nicht aus. Der nächste Schritt für Jesus wird beschrieben als er »richtete sie auf.« Hier wird uns eine sanfte Warnung gegeben. Die Bereitschaft, eine Person zu berühren, ist nicht dasselbe wie die Bereitschaft, sie aufzurichten.

Was Jesus tut, ist einfach. Er fügt seine Kraft zu der der Frau hinzu. Er lässt einen Teil seiner Kraft durch seine Berührung fließen, so dass sie daraus schöpfen kann und dann beginnen kann, wieder ins Leben hineinzugehen. Die Bereitschaft, einen anderen aufzurichten, spricht Bände über das Herz. Es sagt dem anderen, dass wir ihn auf halbem Weg nicht im Stich lassen werden. Wir sind verlässliche Begleiter auf dieser Reise. Wir richten sie auf, um unsere hartnäckige Weigerung zu demonstrieren, jemand zurückzulassen. Nur weil einer unserer Gefährten gestolpert und gefallen ist, heißt das nicht, dass wir bereit sind, ihn den Kräften der Dunkelheit und des Elends zu überlassen. Wir erwarten von unseren Gefährten nicht, dass sie an irgendeinem Punkt unseres gemeinsamen Abenteuers alleine gehen müssen, dass sie es alleine schaffen sollten.

Jesus berührt nicht einfach diese Frau und geht dann weg. Genau das ist die Lektion. Wie der Lehrmeister müssen wir das, was wir in der Stunde der Krise berühren, auch bereit sein zu stärken.

 

6. Heile an den gewöhnlichen Orten des Lebens.

Wo können wir das alles tun? Gleich im ersten Satz dieser Episode der Sabbatgeschichte werden wir daran erinnert, dass wir nicht mehr in der Synagoge sind, in einem heiligen Raum. Jetzt sind wir in einem gewöhnlichen Haus. Dies ist ein bodenständiger Ort, an dem eine kranke Frau lebt, und leidet und fiebert. »Und sogleich verließen sie die Synagoge und gingen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und des Andreas.«

Alles, was Jesus für und mit dieser Frau tut, geschieht an den gewöhnlichen Orten ihres Lebens. Er erwartet nicht von ihr, dass sie einen exotischeren Ort, einen heiligeren Raum, aufsucht, um Heilung zu finden. Wo sie lebt, wird sie geheilt. Wo sie leidet, wird sie aufgerichtet.

Doch in dem Moment, in dem wir der Führung Jesu folgen, beteiligen wir uns an der Stärkung einer entkräfteten Gnadenerzählung und stellen wir sie wieder her. Anstatt heilige Orte zu suchen, müssen wir lernen, die Orte zu heiligen, an denen wir uns befinden. Sorgen wir dafür, dass wir nicht unser ganzes Leben damit verbringen, nach einem besonderen Ort zu suchen, an dem Gott uns berührt. Sorgen wir stattdessen dafür, dass wir jeden Ort zu etwas Besonderem machen, indem wir ihn für das Potenzial und die Kraft Gottes öffnen. Machen wir das Zuhause, das Herdfeuer und das Krankenbett heilig!

 

7. Stelle das Leben wieder her und somit die Dienstbereitschaft und die Freude.

Die Erzählung endet mit der sanften Zeile: »Da wich das Fieber von ihr, und sie bewirtete sie.«

Deshalb ist diese Episode entscheidend für die Geschichte der großen Wiederherstellung des Sabbats. Die Wiederherstellung des Lebens wird immer zur Wiederherstellung der Dienstbereitschaft führen. Diese Frau war erschöpft von einem Fieber, das ihre Kraft und ihren Lebenswillen verzehrte. Jetzt ist sie in der Lage, wieder ins Leben hineinzugehen. Sie hat wieder die Kraft und den Willen, zum Wohlergehen der Menschen unter ihrem Dach beizutragen. Sie ist wieder in der Lage, aktiv am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen.

Das wiederum führt zur Wiederherstellung der Freude, einem entscheidenden Element des gesamten Sabbatlebens. Die Gastfreundschaft, die sie anbietet, die Tische, die sie deckt, sind nicht die niederen Aufgaben von Bediensteten, sondern die liebevolle Fürsorge von Gastgebern. Sie ist maßgeblich daran beteiligt, einen Ort des Willkommens, des Feierns und der Zugehörigkeit zu schaffen, weil sie von den fiebrigen Ketten befreit wurde, die ihre Kraft fesselten und sie an Passivität banden.

So sollten wir dafür sorgen, dass am Ende alle diese Schritte zu diesem Ziel führen. Es reicht nicht aus, nach der Krise nur erleichtert zu sein. Sobald wir sie überwunden haben, sollten wir die Dienstbereitschaft und die Freude wiederherstellen und neu beleben.

 

John Keats schrieb einmal: »Berührung hat ein Gedächtnis«. Ob wir uns berühren und wie wir uns berühren, schafft bleibende Erinnerungen. Wir werden sie nicht vergessen, wenn diese Tage vorbei sind. Ich möchte Sie mit einer letzten Geschichte verlassen, dem Gegenstück zu der, mit der ich begonnen habe.

Sie wird von Michael Leetch erzählt. Er lebt mit seiner Frau Vickie zusammen, mit der er über vierzig Jahre verheiratet ist. Sie befindet sich jetzt in einem fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer-Krankheit. Hören Sie sich einen kurzen Auszug aus dem an, was er über das Aufstehen am Morgen mit ihr schreibt.

»Wir gehen unsere vertraute Liturgie der Hygiene und des Anziehens durch, Vickie zuerst. Das dauert ungefähr so lange wie eine Frühmesse mit einem Priester und einem Messdiener, die es richtig machen wollen, auch wenn niemand zuschaut. Wir umarmen uns, bevor wir nach unten gehen, und ich sage: ‚Das hast du gut gemacht, Süße‘, und sie sagt: ‚Danke‘, zwei Worte, die sie sich immer gemerkt hat, und ich erinnere mich an den Spruch von Meister Eckhart: ‚Wenn das einzige Gebet, das du in deinem ganzen Leben sagst, ein Dankeschön ist, dann ist es genug.‘ «*

Das ist ein Ort der Berührung, ein Zuhause, das geheiligt wurde. Und, wie wir feststellen dürfen, sogar im Griff der Alzheimer-Krankheit wird an zwei Worte erinnert. In der Tat, »Berührung hat ein Gedächtnis«.

*Michael Leetch,

»Life is all about getting up in the morning« 

Erik Riechers SAC, 7. Februar 2021

 

 

»Und die Leute blieben zu Hause«

 

In den letzten 10 Monaten waren die meisten von uns sicher mehr im Internet unterwegs als je zuvor. Denn Kommunikation ist möglich auf diesen Wegen und immer wieder erfreuen wir uns an Bildern und Texten, die uns weitergeleitet werden. So wurde mir ein Gedicht geschenkt, dessen Ursprung im Internet kontrovers diskutiert wurde und das wohl nicht aus einem Roman des 19. Jahrhunderts stammt, sondern von einer Amerikanerin, die lange Zeit in der Palliativmedizin gearbeitet hat,  Catherine "Kitty" O'Meara. Sie war traurig und beunruhigt im Frühjahr 2020 und hatte Angst um ihre früheren Kollegen. Sie wollte ihren Freunden helfen, und als bei ihr Sorge und Traurigkeit wuchsen, riet ihr Mann ihr zu schreiben. So setzte sie sich einfach hin, schrieb ihre Gedanken nieder und veröffentlichte das Gedicht auf Facebook; das hatte sie auch vorher schon getan. Doch nie hatte sie eine solche Resonanz gehabt. Lesen Sie selbst: 

                                Und die Leute blieben zu Hause

und lasen Bücher

und hörten zu

und ruhten

und übten

und machten Kunst

und spielten

und lernten neue Wege des Seins

und stoppten

und lauschten tiefer

jemand meditierte

jemand betete

jemand tanzte

jemand traf seinen Schatten

und die Leute begannen differenziert zu denken

und die Leute heilten

und in der Abwesenheit von Menschen

die in ignoranten Weisen lebten

gefährlich, bedeutungslos und herzlos,

begann sogar die Erde zu heilen

und als die Gefahr vorüber war,

und die Menschen einander fanden,

trauerten sie um die Toten

und sie trafen neue Entscheidungen

und träumten von neuen Visionen

und schufen neue Lebensweisen

und heilten die Erde ganz,

genauso wie sie selbst geheilt waren.

 

Woran liegt es, dass diese Worte seit Monaten eine solche Wirkung haben?

Zwei Gedanken kommen mir dazu.

Wir sind berührt davon, dass und wie eine Frau hier zum Ausdruck bringt, was in ihr vorgeht. In der Zeit, in der die Pandemie in den USA immer katastrophaler wurde, fand sie Worte und sprach sie in die Welt hinaus.

Zweitens sind ihre Worte durch und durch positiv in ihrer schlichten rhythmischen Folge. Sie spricht von Leben und von Lebensmöglichkeiten, die ergriffen und von innen heraus entfaltet werden. »Die Leute« lassen sich nicht (mehr) unterhalten und von außen bestimmen, sondern indem sie zu Hause bleiben, beginnen sie frei zu handeln, selbst tätig zu werden, kreativ und vielfältig. Weil wir das nicht mehr gut können, klagen seit Monaten so viele darüber, dass die Tage sich nicht mehr unterscheiden und sie mehr oder weniger dahin fließen. Aber das muss nicht so sein. Wir könnten üben . . . und lernen . . . und lauschen . . . und beten.

Dieses Gedicht ist aus Sehnsucht nach Leben und Heil entstanden - und diese Sehnsucht steckt in vielen von uns. Geben wir ihr Raum!

 

Rosemarie Monnerjahn, 5. Februar 2021

 

 

Raum für Gott

 

Neulich in einem ernsten Gespräch über schwierige Lebensthemen fiel der Satz: »Aber wir dürfen nicht vergessen: wir haben bei allem auch den lieben Gott an unserer Seite!«

Das Gegenüber hielt inne und es entstand eine lange Stille. Und dann brach es langsam aus ihm heraus. Wie hatte er sich abgemüht! Was hatte er alles versucht und getan! Doch statt dass es leichter wurde, schienen immer mehr Probleme zu entstehen. Er war ein gläubiger Mann - und ihn erschreckte dieser Gedanke. Nein, es war nicht der Gedanke selbst, sondern wie fern er ihm gewesen war. Er selbst hatte dauernd versucht, alles im Blick zu behalten; er hatte sich gesorgt bis weit in die Zukunft hinein, sich innerlich abgestrampelt. »Wie konnte ich das vergessen?«, fragte er sich, leise murmelnd, »wieso habe ich gedacht und gefühlt und gesorgt, als läge alles allein an mir?«

Dies geht mir seither nicht aus dem Sinn. Warum habt ihr kein Vertrauen? Warum ist euer Glaube so klein? Mit diesen Fragen wurden schon die Jünger Jesu konfrontiert. Sie reagierten mit Erschrecken, Bestürzung, Staunen. Sie mussten es üben, so wie wir es üben müssen. Vieles liegt in unseren Händen, aber nicht alles. Das sollte uns nicht frustrieren, sondern es darf uns ermutigen, das Unsere zu tun und Gott das Seine zu überlassen. Dann mag statt endloser Sorge Dankbarkeit in unseren Herzen wachsen über so vieles, was gelingt im Miteinander von Gott und seinen Menschen.

Der kurze Psalm 67 verleiht unserem vertrauensvollen Bitten mit zugleich dankbarem Herzen Ausdruck:

Gott sei uns gnädig und segne uns.

Er lasse sein Angesicht über uns leuchten,

damit man auf Erden deinen Weg erkenne,

deine Rettung unter allen Völkern.

Die Völker sollen dir danken, Gott,

danken sollen dir die Völker alle.

Die Nationen sollen sich freuen und jubeln,

denn du richtest die Völker nach Recht

und leitest die Nationen auf Erden.

Die Völker sollen dir danken, Gott,

danken sollen dir die Völker alle.

Die Erde gab ihren Ertrag.

Gott, unser Gott, er segne uns!

Es segne uns Gott!

Fürchten sollen ihn alle Enden der Erde.

In der Bibel gilt die Furcht des Herrn als Anfang der Erkenntnis, die Achtung seiner Lebensunterweisung gilt als weise. Denn: Er ist mit uns unterwegs, komme was kommt, bis zum Ende aller Tage.

 

Rosemarie Monnerjahn, 3. Februar 2021

 

 

Die grandiose Niederlage

 

Kürzlich habe ich Frederick Buechners Buch »The Magnificent Defeat« (Die grandiose Niederlage) wieder gelesen. Es ist eine Sammlung von Predigten dieses mittlerweile 94-jährigen amerikanischen Theologen, Romanciers und Pastors. Meine Lieblingspredigt in diesem Werk gibt dem Buch seinen Namen, seine homiletische Reflexion über Jakob, der mit Gott am Jabbok ringt.

In dieser Predigt weist Frederick Buechner darauf hin, wie oft Jakob die Siege und Erfolge seines Lebens durch Betrug und seine Bereitschaft, locker mit den Regeln umzugehen, erreicht hat. Er wird reich, vermehrt seinen Wohlstand ständig, hat zwei Frauen und eine Vielzahl von Kindern. Er gedeiht auf jeder Ebene, die für uns Menschen von Bedeutung ist.

Nach zwanzig Jahren im Exil beschließt er, nach Hause zurückzukehren. Kurz bevor er die Grenze zurück in seine Heimat überquert, erlebt er eine verblüffende Umkehrung seines Glücks und erleidet eine Niederlage gegen einen Fremden. Seine Siegesserie ist zu Ende.

In derselben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Kinder und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihn nicht besiegen konnte, berührte er sein Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. Er sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Er entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Er fragte ihn: Wie ist dein Name? Jakob, antwortete er. Er sagte: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel - Gottesstreiter - ; denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Er entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Jakob gab dem Ort den Namen Peniël - Gottes Angesicht - und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen. Die Sonne schien bereits auf ihn, als er durch Penuël zog; er hinkte an seiner Hüfte.

Genesis 32:22-31

An diesem bezeichnenden Moment in seinem Leben, einem Wendepunkt, erlangt Jakob nicht den größten und überwältigendsten Triumph seines Lebens. Stattdessen erleidet er das, was Frederick Buechner als »Die grandiose Niederlage« beschreibt!

Aber dann fährt Buechner fort und stellt eine faszinierende Frage: Warum klammert sich Jakob, der gerade eine so schwere Niederlage erlitten hat, mit solcher Heftigkeit an den Gegner, der ihm diesen schmachvollen Untergang zugefügt hat? Warum beharrt er darauf: »Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest!« Normalerweise entfernen wir uns gerne und flott von denen, die uns geschlagen haben und versuchen, die ganze Episode so schnell wie möglich zu  vergessen.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich Buechners Antwort vor mehr als 35 Jahren las. Und ich teile seine Worte mit Ihnen, in der Hoffnung, dass sie Sie bewegen werden, wie sie mich bewegt haben, und dass Sie sie lieben lernen, wie ich sie lieben gelernt habe.

»Die Dunkelheit hat sich gerade soweit verzogen, dass er zum ersten Mal das Gesicht seines Gegners schemenhaft erkennen kann. Und was er sieht, ist etwas Schrecklicheres als das Gesicht des Todes - das Gesicht der Liebe. Es ist groß und stark, halb zerschlagen vor Leid und heftig vor Freude, das Gesicht, vor dem ein Mann die ganze Dunkelheit seiner Tage flieht, bis er endlich ausruft: ‚Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.‘ Nicht einen Segen, den er nun durch die Kraft seiner List oder die Macht seines Willens haben kann, sondern einen Segen, den er nur als Geschenk haben kann.

Macht, Erfolg, Glück, wie die Welt sie kennt, bekommt der, der hart genug dafür kämpft; aber Frieden, Liebe, Freude, sind nur von Gott. Und Gott ist natürlich der Feind, den Jakob dort am Fluss bekämpft hat, und den wir alle auf die eine oder andere Weise bekämpfen - Gott, der geliebte Feind. Unser Feind, weil er, bevor er uns alles gibt, alles von uns verlangt; bevor er uns das Leben gibt, verlangt er unser Leben - unser Selbst, unseren Willen, unseren Schatz.

Werden wir sie geben, Sie und ich? Ich weiß es nicht. Erinnern Sie sich nur an den letzten Blick, den wir auf Jakob werfen, der gegen die große Feuersbrunst der Morgendämmerung nach Hause humpelt. Erinnern Sie sich an Jesus von Nazareth, der auf gebrochenen Füßen aus dem Grab in Richtung Auferstehung taumelte und an seinem Körper die stolzen Insignien der Niederlage trug, der Sieg ist, die großartige Niederlage der menschlichen Seele durch die Hand Gottes.«

Bei dieser Pandemie haben wir hart gekämpft, um einen großen und überwältigenden Sieg über das Corona-Virus zu erringen. Zum größten Teil ist uns dieser Triumph entgangen. Trotz unseres Geldes und unserer Technologie, den Dingen, denen wir am meisten vertrauen, haben wir eine lange Reihe von Niederlagen erlitten. Wir haben viele ärgerliche und frustrierende Rückschläge auf dem Weg zur Heilung erlitten, die nun am Horizont erscheint. Selbst wenn wir es endlich geschafft haben, werden wir uns immer noch mit den anhaltenden und bleibenden menschlichen, spirituellen, psychologischen, medizinischen und wirtschaftlichen Problemen auseinandersetzen müssen, die durch die Pandemie entstanden sind, wahrscheinlich über Jahre hinweg. Wir werden von dieser Pandemie wegkommen, aber wir werden humpelnd davongehen.

Vielleicht ist dies unsere »grandiose Niederlage«. Vielleicht ist dies unser Jabbok, wo wir jenes Quäntchen Bescheidenheit lernen können, das uns als Männer und Frauen des Glaubens, die mit Gott unterwegs sind, ausmacht. Wir haben es geschafft, Impfstoffe gegen den Virus herzustellen, aber wir können nicht das herstellen, wonach wir uns in diesen Stunden der Einsamkeit, der Isolation, der Angst, des Leidens und der Ungewissheit am meisten sehnen. »Macht, Erfolg, Glück, wie die Welt sie kennt, bekommt der, der hart genug dafür kämpft; aber Frieden, Liebe, Freude, sind nur von Gott.«

 

Erik Riechers SAC, 1. Februar 2021

 

 

Autorität üben

4. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 21–28

 

Die heutige biblische Erzählung ist ziemlich dramatisch. Unreine Geister schreien lauthals in der Synagoge herum und zerstören, was eher eine ruhige Erfahrung sein sollte. Denn die Menschen haben sich an einem Sabbat in einer Synagoge versammelt, um Gott zu loben und zu beten. Wenn wir sonntags in die Kirche gehen, erwarten auch wir nicht, dass sich hier hohe abenteuerliche Dramen abspielen. Aber es gibt keine Räume, auch diese nicht, die immun sind vor der Gegenwart Jesu und der Wallung, die sie mit sich bringt.

Jesus lehrt gerade in der Synagoge, als ein Mann mit einem unreinen Geist schreit:

Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret?

Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen?

Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes.

Der Raum und die Zeit hindern Jesus nicht. Heilige Zeiten und heilige Räume haben ihre eigenen Regeln, aber wenn es um Menschen und ihr Heil geht, dann sind die Regeln sekundär.

In biblischen Erzählungen sind unreine Geister, wie Dämonen, die Mächte, die wir selbst stark machen. Wir machen sie stärker als sie sind durch die Art, wie wir sie betrachten.

  1. Diese Mächte erscheinen in unserem Leben. Sie werden von alleine nicht weg gehen und sind auch nicht leicht zu beseitigen.
  2. Wir machen sie stärker als sie sind durch die Art, wie wir sie betrachten. Wir sehen sie als unüberwindbar, als unbesiegbar.
  3. Dann machen wir sie stärker als sie sind durch unseren Umgang mit ihnen. Die Sichtweise, die uns diese Mächte als unbesiegbar ansehen lässt, führt dazu, dass wir dann sagen: »Es nutzt es eh nichts.« Wir wählen die Resignation.
  4. Die Resignation führt uns zu drei klassischen Haltungen:
    • Vermeidung (wir gehen dem Problem aus dem Weg)
    • Verleugnung (wir machen so, als ob es kein Problem gäbe)
    • Verdrängung (wir schieben es beiseite mit Arbeit, Unterhaltung und Ablenkung.

Und diese drei Momente sind die Art und Weise, wie wir mit Dämonen verhandeln.

  1. Und schon haben diese Mächte freie Hand zu tun, was sie wollen, weil wir jeden Widerstand als zwecklos bezeichnen. Sie gewinnen nicht, indem sie uns im Kampf besiegen, sondern weil wir nie zum Kampf erschienen sind.

Noch schlimmer, viele Formen der Resignation können wir sogar theologisch stärken und rechtfertigen. Die traditionelle Lehre sagt: Meide alles, was unrein ist, seien es Speisen, Menschen oder Orte. Gehe auf Distanz, komme damit nicht in Berührung. Schütze so deine Reinheit und deine Heiligkeit.

In dieser erstaunlichen Erzählung gibt es jetzt eine unerwartete Wende. Der unreine Geist, der es gewohnt ist, andere zu schockieren, ist selbst schockiert. Da Jesus der Heilige Gottes ist (wie sie ihn selbst benennen), müsste er alles vermeiden, was unrein ist. Das ist die geerbte Auslegung für diese Stunde: Trennung und Distanz. Darum ist der unreine Geist fassungslos, als er in Jesus eine andere Strategie wittert. »Bist du gekommen, um uns zu vernichten?« Unreine Geister und Dämonen haben ihre Erwartungen an uns, genau wie wir unsere Erwartungen an sie haben. Wir haben die Erwartung, dass wir machtlos sind und gegen sie nichts bewirken können. Sie haben die Erwartung, dass wir nach diesen Spielregeln immer weiter machen werden.

Darum hat dieser unreine Geist die Erwartung, dass Jesus ihm sagen wird: »Mit dir werde ich nichts zu tun haben«. Aber die Antwort Jesu erfüllt diese Erwartung nicht:

Er bringt ihn zum Schweigen. Im Urtext steht sogar: Ich lege dir einen Maulkorb um. Jesus verhandelt nicht mit unreinen Geistern und Dämonen. Hier gibt es keine Strategie der Resignation:

  1. Keine Vermeidung (Jesus geht dem unreinen Geist nicht aus dem Weg, sondern geht auf ihn zu)
  2. Keine Verleugnung (Jesus verschließt seine Augen nicht und macht weiter, als ob nichts wäre)
  3. Keine Verdrängung (Jesus schiebt es nicht beiseite, indem er andere Heilungen übernimmt, Predigten hält oder sich mit anderen, angenehmeren Themen ablenkt)

Und er vertreibt ihn. ER ist nicht bereit, irgendetwas, was seinem Vater gehört, was zum Licht und Leben Gottes gehört, den unreinen Geistern zu überlassen. Jesus erkennt den furchtbaren Preis der Vermeidungstaktik von Trennung und Distanz: Dann müsste er diesen Mann den unreinen Geistern überlassen.

Die Leute in der Synagoge rufen aus: »Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht: Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl.«

Die neue Lehre ist Engagement und Eliminierung, nicht Vermeidung.

Die Haltung Jesu ist klar. Er hat die Absicht, Menschen von allem zu befreien, was sie im Griff haben, wovon sie besessen sind. Er will sie befreien von allem, was sie bedrängt, plagt und terrorisiert. Und die Auswirkungen auf die Menschen, die Jesus und seine Art des Umgangs mit Menschen und unreinen Geistern miterleben, sind positiv und befreiend.

Das kann auch für uns befreiend sein. Wir kennen auch Mächte in uns, die uns im Griff haben. Sie nehmen einen Platz in uns ein und wir fühlen uns machtlos sie zu vertreiben. Wir haben Stellen in unserem Denken und Fühlen, wo wir so verknotet sind, dass wir innerlich, und manchmal äußerlich, gelähmt sind. Wir haben Angst vor dem, was uns bedrückt und vor dem, was wir als jenseits unserer Kräfte liegend einschätzen, um es zu lindern. Unsere einzige Strategie ist es auszuweichen.

Aber dann sehen wir jemanden, der nicht zurückschreckt, jemanden, der dem Unheiligen entgegentritt und Autorität über es ausübt, um Menschen zu stärken und Lebenssituationen zu verbessern. Wir erkennen, dass es eine andere Art zu denken und zu handeln gibt, über unsere alten, gewohnten Strategien, über unsere geerbten Auslegungen hinaus. Die inneren Knoten des Denkens und Fühlens werden aufgeschnürt. Was uns bisher in Schach hielt, ist losgelassen. Wir sind frei, anders zu denken und zu handeln. Wir beginnen damit zu experimentieren, Autorität über das auszuüben, was uns als Menschen bedrückt.

Wir können auch Autorität über das auszuüben, was uns und andere bedrückt. Viele Wege stehen uns offen:

 

  • Manchmal bieten wir nur allgemeine Hilfe an.
    • Manchmal stellen wir unsere spezifischen Ressourcen zur Verfügung.
    • Manchmal holen wir uns Unterstützung hinzu.
    • Manchmal gehen wir als Gefährten mit, die geplagten Menschen zur Seite stehen, während sie neue Wege wagen.
    • Manchmal beten wir einfach.
    • Manchmal beten wir zusätzlich zu anderen Möglichkeiten.

Dabei ist wichtig, dass wir nicht eine erlernte Hilflosigkeit und Resignation ewig weiter üben. Wir sollten immer wieder suchen, was wir als nächstes tun können und dabei unseren Mut und unsere Kreativität einbringen.

Wir engagieren uns für die Verbesserung von Menschen und Situationen, die in Not sind. Das ist die Sendung, die uns in den Knochen steckt. Wir haben Autorität. Jesus hat uns den Weg gezeigt. Wir folgen ihm nach, indem wir Autorität üben.

 

Erik Riechers SAC, 31. Januar 2021

 

 

Bette dich ein!

 

Die bei uns nun schon gut 10 Monate andauernde Pandemie mit all ihren Herausforderungen macht inzwischen viele Menschen »mürbe«. Sie fühlen sich zunehmend angeschlagen und erschöpft. Die Vorsicht und extreme Zurückhaltung bei Kontakten quälen. Die Unsicherheit darüber, wie lange es noch dauern mag, macht müde und verzagt - oder leichtsinnig und rücksichtslos. Gerald Hüther, Neurobiologe, schreibt in seinem jüngsten Newsletter: »Viele Menschen, auch manche Politiker, sind verunsichert und ratlos und versuchen nur noch, irgendwie durchzuhalten. Verzweiflung und Resignation machen sich breit. Es ist keine gute Stimmung im Land, die Nerven liegen blank. Toleranz, Umsicht und Weitsicht schwinden dahin, der Humor ist uns auch vergangen, und wer etwas Unpassendes sagt, macht sich verdächtig und wird bekämpft.«

Jeder einzelne kann seine ganz eigene Geschichte der Betroffenheit erzählen. Wer gern unterwegs ist und um diese Zeit normalerweise schon einige Unternehmungen und Reisen geplant und gebucht hat, tut sich schwer, ohne solche Perspektiven in die nächsten Monate zu schauen. Wessen Familie weit verstreut lebt, leidet darunter, immer noch nicht zusammenkommen zu können. Wer seinen Lebensunterhalt verdient in einer Branche, die immer wieder schließen muss, hat existentielle Ängste. Wer in einer Pflegeeinrichtung lebt, fühlt sich zunehmend verloren und vergessen. Überängstliche Menschen trauen sich gar nichts mehr, Ungeduldige können es nicht abwarten, wieder normal zu leben, Unvernünftige tun es sowieso.

Wir laufen Gefahr, immer mehr nur mit uns selbst beschäftigt zu sein. Dabei könnte diese Pandemie uns etwas in besonderer Weise lehren: Deine Geschichte ist eingebettet in die Geschichte der Gemeinschaft, in der du lebst. Dein ICH gehört zu einem größeren WIR. Mehr als sonst wird uns doch bewusst, wie sehr meine Art zu handeln Konsequenzen hat für die Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen. Wann konnten wir dies je so deutlich erkennen wie in diesen langen Monaten? In der kanadischen Provinz Nova Scotia zum Beispiel leben die Menschen so verantwortungsbewusst in dieser langen Krise, dass es immer wieder Tage ohne eine einzige Neuinfektion gibt – das spornt die einzelnen an, weiter gut für sich und die anderen zu sorgen und dankbar das an Gemeinschaft zu leben, was aufgrund der niedrigen Zahlen wieder möglich ist. Jedes Ich ist eingebettet in ein Wir!

Die narrative Theologie lehrt uns eine zweite Einbettung: Die Geschichte eines jeden Wir gehört zu der großen Geschichte. Es gibt eine Geschichte Gottes mit uns Menschen, die alles übersteigt und in die alles eingebettet ist – jedes Wir und jedes Ich. Warum sonst würde Gott seinem Volk sagen:

»Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft« (Dtn 6,4)

Warum würde Jesus auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot antworten:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mt 22, 37-39)

Liebe dich und entfalte deine ureigene Geschichte. So sei unterwegs mit den anderen, liebe sie und schreibe mit ihnen eure Geschichte. Und bedenke: alles ist eingebettet in die große Geschichte des EINEN Gottes.

Für mich bedeutet dies: Meine Geschichte ist wertvoll, einzigartig und wichtig, für mich, für die Gemeinschaft und als Teil der gemeinsamen Geschichte. Sie ist aber auch aufgehoben in dem großen Ganzen der Geschichte Gottes mit seinen Menschen, die nur ER überblickt und in seinen Händen hält. Da bette ich mich gern ein – nimmt es mir doch auch den Druck, alles selbst machen zu müssen. Es nimmt mir den Irrglauben, alles hinge von mir ab. Und es stärkt die Zuversicht, dass alles einen Sinn hat.

Den Blick so zu weiten macht auch diese lange Krise lebbar.

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. Januar 2021

 

 

Ich erhebe meine Stimme

 

Am 11. November 2018 habe ich eine Predigt in der Koblenzer Synagoge zur Reichspogromnacht gehalten. Damals habe ich folgende Worte gesprochen:

Als ich als junger Student aus Kanada nach Deutschland kam, kam ich aus einem Land, das bis vor kurzem überzeugt war, dass es kein Problem mit Antisemitismus hat. Und ich bewunderte ein Land, das sich so intensiv mit seiner Geschichte auseinandersetzte. Heute wächst Antisemitismus weltweit, auch in Deutschland. Vor einigen Wochen hielt Rabbi Jonathan Sacks eine Rede in The House of Lords zum Thema von Antisemitismus. Er schickte mir den Text, aus dem ich wenige Zeilen zitieren möchte:

»Antisemitismus, oder jeglicher Hass, wird gefährlich, wenn drei Dinge passieren. Erstens: wenn er sich von den Rändern der Politik zu einer Mainstream-Partei und ihrer Führung bewegt. Zweitens: wenn die Partei sieht, dass ihre Popularität in der breiten Öffentlichkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird. Und drittens: wenn diejenigen, die aufstehen und protestieren, dafür verunglimpft und beschimpft werden. Alle drei Faktoren existieren jetzt in Großbritannien. Ich hätte nie gedacht, dass ich das in meinem Leben noch erleben würde. Deshalb kann ich nicht still bleiben. Denn es sind nicht nur die Juden, die in Gefahr sind. Es ist auch unsere Menschlichkeit.«

Leider existieren sie nicht nur in Großbritannien, sondern in der ganzen Welt.

An diesem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust bin ich beunruhigt und traurig, dass die Worte von Jonathan Sacks heute noch prophetischer geworden sind. Wir alle haben die Bilder gesehen, als in Washington das Capitol gestürmt wurde von Trump Anhängern. Aber was mir nachgeht ist der Antisemitismus, der dort sich offen und unverhüllt zeigte. Ein Demonstrant trug ein T-Shirt mit der Botschaft »Camp Ausschwitz« und darunter den Satz »Work brings freedom«, eine Anspielung auf »Arbeit macht frei«.

Auch in Deutschland gibt es solche öffentlichen antisemitischen Parolen zu sehen. Eine besonders hinterhältige und verabscheuungswürdige Taktik, die heute angewandt wird, sind T-Shirts mit »6MWE«. Das ist die Abkürzung für »Six million wasn’t enough« (Sechs Millionen waren nicht genug). Sie wurden ein Jahr zuvor in Berlin bei einer Demonstration gesehen.

Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die so denken (wenn man das noch als Denken bezeichnen darf), überrascht mich nicht, aber die Tatsache, dass sie in aller Öffentlichkeit so auftreten und es kaum einen Protest gibt, das schockiert mich. Wie Rosemarie es mir so treffend sagte: »Das ist auch ein Virus«. Leider ist Antisemitismus auch eine Pandemie.

Und wie die Corona-Pandemie, hat sie die besten Chancen sich zu verbreiten, wenn Menschen es gleichgültig ist, wie sie handeln. Maskenverweigerer, Menschen, die trotzdem Partys halten und keine der Abstandsregeln einhalten, sind Menschen, denen es egal ist, was mit ihren Mitmenschen passiert. Und wenn Gleichgültigkeit sich weit genug verbreitet hat, dann kann jeder Virus sich auch verbreiten.

Elie Wiesel, selbst ein Überlebender der Schoah, hat es treffend und warnend formuliert:

»Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist,

sondern Gleichgültigkeit.

Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit,

sondern Gleichgültigkeit.

Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung,

es ist Gleichgültigkeit.

Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses,

es ist das Ende eines Prozesses.«

 

Diese Gleichgültigkeit lässt Antisemitismus in unserer Mitte Platz nehmen. Als Rabbi Sacks 2019 im House of Lords seine Rede gegen Antisemitismus hielt, hat er bildlich gezeigt, wie salonfähig dieser krankhafte und krankmachende Hass werden kann.

»Ich bin gerade von einer Konferenz in Warschau zurückgekehrt. Es ist eine Stadt, die ich nicht gut kenne. Und ich war erschüttert, als ich entdeckte, dass das Warschauer Ghetto, das zwischen November 1940 und Mai 1943 existierte, ziemlich genau im Zentrum der Stadt lag. Mit seinen 9 Fuß hohen Mauern, die von Stacheldraht gekrönt waren und 400.000 Juden beherbergten, muss seine Existenz jedem in Warschau bekannt gewesen sein.

Und dort wurden die Juden systematisch ausgehungert und versklavt. Im Sommer 1942 wurden 254.000 von ihnen per Zug in den Tod durch Gas in das Vernichtungslager Treblinka geschickt. Im April und Mai 1943 begannen die Deutschen mit der Zerstörung des Ghettos und der Ausrottung der Bevölkerung. 300.000 von ihnen wurden durch Kugeln oder Gas getötet. 92.000 starben durch Typhus und Verhungern.

Dies geschah in aller Öffentlichkeit im Zentrum einer der großen Städte Europas und niemand protestierte.«

 

Nehmt dies zur Kenntnis, ihr Hassprediger, Neonazis, Rassisten, Antisemiten, Rechtsextremisten und alle, die sie beherbergen oder unterstützen:

Ich protestiere. Ihr sollt mein Schweigen nicht als Verbündeten haben.

Ihr werdet euer Haus des Hasses nicht mitten in meiner Stadt bauen.

Ich erhebe meine Stimme und nenne das Böse, das in unserer Mitte steht.

Ich erhebe meine Stimme, um im Namen meiner jüdischen Schwestern und Brüdern im Angesicht des geistlosen, bissigen Hasses zu sprechen.

Ich erhebe meine Stimme gegen diejenigen, die meinen, es sei modisch, lustig oder akzeptabel, Symbole zu tragen, die die Folter, den Tod und die Ausrottung unserer Mitbürger feiern.

Ich erhebe meine Stimme gegen all jene, die das Andenken an die Schoah und die Erniedrigung ihrer Opfer verharmlosen und verhöhnen.

Ich erhebe meine Stimme gegen diejenigen, die die Überlebenden der Schoah beleidigen und verunglimpfen, die bereit sind, ihren Schmerz auch heute noch zu vertiefen.

Sie sind meine Brüder und Schwestern.

Ihr Vertreter des Unmenschlichen, ich sehe euch und nenne euch beim Namen, egal ob ihr euch im Schatten herumschleicht oder unverblümt auf dem öffentlichen Platz spazieren geht. Ich werde eure giftige Gegenwart nicht verharmlosen. Eure Grausamkeit, euer Hass und eure Bigotterie können mein Herz nicht in Gleichgültigkeit verwandeln.

Ich erhebe meine Stimme. »Denn es sind nicht nur die Juden, die in Gefahr sind. Es ist auch unsere Menschlichkeit.«

 

Erik Riechers SAC, 27. Januar 2021, Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

 

 

Gehen gegen die Angst

 

Er war jung - und er war ein ängstlicher Typ. Seine Ausbildung hatte er gut abgeschlossen. Jetzt sollte er sich um eine gute Arbeitsstelle kümmern. Aber das ging ihm zu schnell. Er spürte eine andere Herausforderung. Und sie kam tief aus seinem Inneren. Es war da eine Lust in ihm, einfach für einige Wochen aufzubrechen und loszuziehen, pilgern wollte er hier in seinem Heimatland, das er doch so wenig kannte. Der Gedanke wuchs in ihm, nahm Form an; dagegen meldeten sich bald andere Stimmen: Wovon willst du leben? Wie kannst du das finanzieren? Wie wirst du durch einen solchen Sommer kommen mit deinen Allergien?

Er vertraute sich seinem Onkel an und der hörte wirklich zu. Er nahm die Sehnsucht seines Neffen wahr - es war die Sehnsucht eines Pilgers. Immer wieder stärkte er diese Sehnsucht, damit sie nicht unter seiner Ängstlichkeit erstickte. Mehr brauchte er nicht zu tun. Er war im Herzen an seiner Seite.

Und der junge Mann wählte einen äußeren Weg, fuhr ins Herz Deutschlands und brach von dort auf.

Auf seinem Rücken trug er alles Notwendige mit sich, in seiner Tasche ein wenig Geld, in seinem Herzen Angst und Freude und die Worte seines Onkels: »Ich freue mich, wenn ich von dir höre und ich helfe dir, wenn du etwas brauchst.«

Sein Weg hatte begonnen. Es war Sommer und manchmal übernachtete er im Wald. Er wurde mutiger und nach ein paar Tagen, als er gegen Abend durch ein Dorf kam, erwiderte ein freundliches Paar in einem Garten seinen Gruß und fing ein Gespräch mit ihm an. Bereitwillig ließ er sich darauf ein und es endete mit der Einladung, in ihrem Garten sein Nachtlager aufzuschlagen.

Von nun an fragte er immer wieder Menschen am Weg, ob er für eine Nacht ihren Garten nutzen könnte. Und es war meistens möglich.

Freude wuchs in ihm und langsam eine Erkenntnis: Wenn ich es immer wieder neu wage zu gehen, gegen meine Ängste, und einfach weiter gehe, so mache ich jeden Tag gute Erfahrungen. Ich komme voran und die meisten meiner Sorgen treten überhaupt nicht ein.

Vertrauen wuchs in ihm - Vertrauen in sich selbst und in die Menschen, denen er begegnete.

Als sein Onkel mir von dieser Pilgerreise seines Neffen erzählte, war der noch unterwegs. Sein Onkel sprach davon mit Stolz, aber auch mit Rührung. Ab und zu rief sein Neffe kurz an, der junge Mann, der das Wagnis unternommen hatte, gegen seine Angst aufzubrechen. Er hatte kein spektakuläres Ziel gewählt in einem exotischen Land - und doch erkundete er ein zuvor noch eher unbekanntes Terrain: sich selbst.

Können auch wir immer wieder aufstehen gegen unsere Ängste, einen neuen Tag betreten und neue Handlungsweisen wagen? Ich hoffe es sehr.

Möge ihm und uns der altirische Segen gelten:

Gott behüte euch auf dem Weg durch euer Leben.

Gott wärme euch, wenn Angst euch frieren lässt.

Gott stärke euch, wenn Zweifel an euch nagt.

Gott ermutige euch, wenn Sehnsucht euch bewegt.

Gott halte euch, wenn Schlaf euch umhüllt.

Gott durchflute euch, wenn Liebe euch hoffen lässt.

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. Januar 2021

 

 

Hierher! Mir nach!

3. Sonntag B 2021                                      Mk 1, 14–20

 

Jesus verkündet ein höchst beunruhigendes Geheimnis. »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.«

Das klingt zwar sehr tröstlich, ist aber eigentlich dazu gedacht, uns alle hellhörig zu machen. Denn wenn das Reich Gottes da ist, dann ist die Zeit des Abwartens vorbei. Und wenn die Zeit des Abwartens vorbei ist, dann ist die Zeit der Veränderung gekommen. Und es ist nicht wenig, was sich verändern muss. Wir müssen unsere Art zu denken, zu sehen und zu beurteilen ändern. Wir müssen unser Handeln und unser Verhalten ändern. Die Wege, die wir gehen, werden sich ändern müssen und wir werden auch einige Richtungen nicht mehr wie früher einschlagen können.

Das Reich Gottes bedeutet seinen Einbruch in unsere Welten. Es ist das Eindringen unseres Gottes, der das vollste Potential unseres Lebens und unserer Liebe zur Entfaltung bringen möchte. Das Reich Gottes ist das Eintreten unseres Gottes in unsere Beziehungen zu Gott, zur Schöpfung, zu unseren Nächsten und zu uns selbst, um ihre Fülle aufblühen zu lassen.

Diese Bewegung in das Reich Gottes, in dieses volle, reiche, sich entfaltende Leben, wie Gott es immer für uns vorgesehen hat, wird nicht geschehen ohne eine der Grundregeln, die die Geschichte der Berufung, die wir heute hören, verkündet. In der biblischen Erzählung sagt Jesus zuerst: »Hierher! Mir nach!«. Es ist ein Imperativ, ein Befehl und nicht nur eine bloße Aufforderung. Dieses Wort ist mit einem Gefühl der Dringlichkeit erfüllt. Es gibt eine Not in der Welt und eine Sendung im Herzen Jesu, die nicht auf sich warten lassen. Das erinnert an Jesus im Johannesevangelium. Da sagt er zu Lazarus, der noch im Grabe liegt: »Auf! Raus!«. Es gibt immer eine Dringlichkeit in Gott, uns aus den Orten des Todes herauszurufen, sei es auf dem Friedhof oder an den Orten des alltäglichen Lebens, die zu den Friedhöfen unserer Seelen zu werden drohen.

Sofort nach diesem »Hierher! Mir nach!« aus dem Mund Jesu, folgt eine Handlung seitens der Jünger: das »Zurücklassen« (griechisch = aphetes). Andreas und Simon lassen ihre Netze zurück. Jakobus und Johannes lassen ihren Vater und die Tagelöhner im Boot zurück. Es gibt kein Hingehen in das Reich Gottes, ohne die Bereitschaft etwas zurückzulassen, um sich auf etwas Neues einzulassen, das noch vor uns liegt.

Wie werden wir die Kunst und das Handwerk des Zurücklassens, um voranzukommen, praktizieren?

Ich bezweifle, dass wir Fischernetze, Familienmitglieder und Kollegen zurücklassen werden, auch wenn das für einige von uns vielleicht noch der Ruf ist. Dennoch gibt es innerhalb der wohldefinierten Konturen unseres Lebens mehr als genug Beispiele dafür, wie sich unser Leben und unser Lieben in ungesunde und unerwünschte Muster entwickelt haben. Es gibt Beziehungen die dazu gedacht waren, Zusammengehörigkeit und Gleichheit zu fördern und zu erforschen, die zu Dominanz und Unterordnung verkommen. Manchmal sind wir in Wut gefangen anstatt von der Liebe befreit. Gelegentlich kommt es zu ungesunden Auseinandersetzungen und sogar zu Rachegelüsten. Feindschaften entstehen und Herzen werden vergiftet. Wie sollten sie uns je dorthin führen, wo Leben zu finden ist?

Deshalb darf ein anderer Teil der Geschichte nicht ignoriert werden: »Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«  Wir werden nicht in das Reich hineingehen und auf Gottes Wunsch eingehen, dass wir in seiner vollen, reichen Entfaltung des Lebens leben, wenn wir unsere eingeschlagenen Wege nicht ändern. Das jedoch wird nicht geschehen, wenn wir uns weigern, auf diesen Wegen umzukehren, die uns von dieser Fülle wegführen. Auf dem falschen Weg zu sein, ist nicht tödlich. Auf dem falschen Weg zu bleiben, sobald wir wissen, dass er uns nicht ins Leben führen kann, ist fatal.

All das ist notwendig, weil der Ruf des Herrn, der Ruf des Reiches Gottes, ein Ruf für das Leben der Welt ist. In der ehrwürdigen Welt der Rabbiner heißt dieser Ruf »Tikun olam«, die Reparatur der Welt. Diese Idee der Weltverbesserung war tief verbunden mit der Hoffnung eines Messias, der in die Welt einbrechen würde.

Dieser Ruf Jesu ist der Ruf eines Messias, der in unsere Welt einbricht. Es ist ein Aufruf aus der Passivität heraus, in der wir die Welt und ihre Qualen an uns vorbeiziehen lassen, während wir unsere persönlichen Interessen verfolgen, in der Hoffnung, dass zumindest wir es schaffen, über die Runden zu kommen. Das ist eine Haltung, die wir »zurücklassen« müssen.

Gleichzeitig ist es ein Aufruf, sich zu engagieren, uns von den Zuschauertribünen auf den Spielplatz zu begeben und uns die Hände schmutzig zu machen. Es gibt keine Umkehr, wenn wir nur unsere Meinungen ändern. Umkehr bedeutet, dass wir unsere Handlungen ändern müssen, die Art und Weise, wie wir in der Welt leben, die Art und Weise, wie wir uns durch unsere Welt bewegen. Es ist nicht unsere primäre Aufgabe, diese Welt zu vermeiden oder zu verurteilen, sondern sie ganz zu machen, sie besser zu machen. Wir sollten die Welt reparieren: Tikun Olam.

Möglichkeiten, die Welt zu reparieren und zu verbessern, gibt es reichlich. Wenn wir sie nutzen wollen, müssen wir Menschen zu Wächtern der Liebe werden. Die Wächter halten Ausschau nach den Orten, an denen Liebe nicht nur möglich, sondern gefordert ist: Rassismus, Grausamkeit, Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz, die Vernachlässigung der Armen in unserer Mitte, das Ignorieren der Notlage von Migranten usw. Ohne Wächter der Liebe werden wir diese Orte nicht erkennen als das, was sie in Wahrheit sind: die Orte, die unsere Liebe am dringlichsten bedürfen.

Ein Wächter der Nacht zu sein erfordert einige ziemlich grundlegende Fähigkeiten:

1. Es erfordert Mut:

Die Orte, an denen die neu definierende und lebensverändernde Liebe des Reiches Gottes gebraucht wird, werden wahrscheinlich nicht an den Orten unserer Bequemlichkeit zu finden sein.

2. Es erfordert Kreativität:

Die Orte, an denen die Lebensmehrung des Reiches Gottes notwendig ist, sind Orte, die davon noch nicht berührt  sind. Deshalb wird es keine festen und fertigen Strategien geben. Wir werden sie uns ausdenken müssen, vor Ort, auf der Flucht, aus dem Stegreif.

3. Es erfordert Ausdauer:

Denn das Auftauchen des Gottesreichs und sein unnachgiebiges Verlangen nach der Fülle des Lebens wird nie eine einmalige Erfahrung sein. Hinter jeder Ecke wird ein neuer Ort auftauchen. In jeder Nische des Herzens, in jedem Winkel unserer Beziehungen, sei es in unseren Familien, in der Gesellschaft, in der Kirche, auf dem Markt oder am Arbeitsplatz, werden neue Bedürfnisse entstehen, diese Welten zu reparieren.

Es gibt ein bewegendes Gospel-Lied mit dem Titel: »There is a balm in Gilead«. (Es gibt einen Balsam in Gilead). Die biblische Inspiration dieses Liedes stammt aus zwei Stellen im Buch des Propheten Jeremia:

 

Die Sänger dieses Liedes sehen Jesus und das Reich Gottes als diesen Balsam und verkünden:

There is a balm in Gilead     (Es gibt einen Balsam in Gilead,)

To make the wounded whole.    (um die Verwundeten heil zu machen.)

There is a balm in Gilead     (Es gibt einen Balsam in Gilead,)

To heal the sin-sick soul.      (um die sündenkranke Seele zu heilen.)

 

Jesus verkündet das Reich Gottes als Balsam, aber es bleibt ein höchst beunruhigendes Geheimnis. »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.«

Wenn wir die Welt reparieren, die Verwundeten heil machen und die sündenkranke Seele heilen wollen, dann müssen wir aufstehen und nach Gilead gehen. Wir müssen uns erheben und das Reich Gottes annehmen, diese Lebensart, die Gott immer für diese Welt und seine Menschen vorgesehen hat.

 

Erik Riechers SAC, 24. Januar 2021

 

 

Vinzenz Pallotti: Der Mann der Beharrlichkeit

 

In meinem letzten Impuls sprach ich von Vinzenz Pallotti als dem Mann, der blieb. Allerdings wusste Pallotti auch ganz genau, dass der Kampf eines Lebens sehr lang wird. Darum bittet er uns nie zu vergessen, dass egal wie viele Barrieren uns in den Weg gestellt werden, nichts den Stimmen von Millionen von Gläubigen im Weg stehen kann, die nach Gottesverhältnissen in dieser Welt rufen.

Ich bin immer wieder inspiriert von der ersten Generation von Bürgerrechtskämpfern, die mit Martin Luther King Jr. marschierten, protestierten, gewaltfreien Widerstand übten und dafür physische Gewalt, Gefängnis und manchmal den Tod im Kauf nahmen. Am 17 Juli 2020 starb John Lewis an Krebs. Er war ein Mitstreiter der ersten Stunde in der Bürgerrechtsbewegung. Einige Wochen vor seinem Tod schrieb er: 

»Verliert euch nicht in einem Meer der Verzweiflung. Seid hoffnungsvoll, seid optimistisch. Unser Kampf ist nicht der Kampf eines Tages, einer Woche, eines Monats oder eines Jahres, es ist der Kampf eines ganzen Lebens.«

Er war 80 Jahre alt, er das schrieb. Er war 23 Jahre alt, als er sich Martin Luther King anschloss. Er wusste, wovon er redete. Es wird keine neue Welt geben ohne Frauen und Männer der Beharrlichkeit.

Gelegentlich höre ich, dass die intuitive Vision, die Pallotti hatte, vertrat und mit anderen teilte, eben nur Worte sind. Eben nur Worte! Was sollte das heißen? Wann waren das letzte Mal Worte nicht wichtig? Wann war das letzte Mal, dass große Menschen nicht Worte eingesetzt haben, um Herzen zu bewegen und Richtungen zu weisen? Wann war das letzte Mal, dass ein Mensch keine Worte gebrauchte, um seine tiefsten Gefühle und Überzeugungen zu verkünden? Wann war das letzte Mal, dass Worte nicht ermächtigend sein können?

Diese Propheten des Unheils werden wir immer unter uns haben. Sie setzen Angst als eine Waffe ein. Sie wollen nicht, dass wir es wagen zu hoffen, dass es etwas Besseres geben kann als das, was sie uns auftischen (und natürlich leiten und kontrollieren wollen).

Sie sagen uns:

Ihr seid im Dunkeln.

Ihr habt keine Stimme.

Ihr seid machtlos.

Ihr könnt keine Welt erneuern,

keinen Hunger stillen,

keinen Frieden stiften,

keine Gerechtigkeit erzeugen.

In Vinzenz Pallotti haben wir jemanden, der unseren Wert und unsere Würde vor Gott nicht nur beschreibt, sondern darauf setzt. Hier ist einer, der uns sagt: Seid stolz, Berufene zu sein. Seid stolz, dass Gott euch erwählt hat, euch schickt, euch solches Vertrauen schenkt. Denn er glaubt, dass ihr das könnt.

Darum ist Beharrlichkeit so wichtig. Denn sie zeigt uns, dass Gott auch auf unsere Ausdauer setzt. Auch heute, in dieser Krise, in dieser Pandemie, können wir handeln. Wir könnten unsere Leidenschaft für Gott immer wieder neu entfachen, denn »unser Kampf ist nicht der Kampf eines Tages, einer Woche, eines Monats oder eines Jahres, es ist der Kampf eines ganzen Lebens.«

Wir sind von Gott Berufene. ER schickt uns in alle Städte und Dörfer, wo er selbst hinwollte. Gott hat Vertrauen, dass wir dort das bewirken können, was er bewirken kann.

Erik Riechers SAC, 22. Januar 2021, Gedenktag Vinzenz Pallottis († 1850)

 

 

Präsenz ist das Programm

Vinzenz Pallotti: Der Mann, der blieb

 

Es ist das Jahr 1835. Eine Cholera Epidemie richtet Verwüstung in der Stadt Rom an. Viele verließen die Stadt, ergriffen die Flucht um sich selbst zu retten. Aber nicht Vinzenz Pallotti. Er blieb. Er war präsent in der Stunde des Leidens und des Sterbens seiner Mitmenschen.

Er hatte keine medizinische Lösung für Cholera, aber er blieb, weil er die Macht hatte, seelische, menschliche und auch körperliche Linderung anzubieten. Er hat keinen Impfstoff entdeckt, aber er blieb, weil er kreative Wege finden konnte, Lebensmittel zu organisieren für die verwahrlosten Menschen, die nirgendwo hätten hin fliehen können. Er konnte nicht verhindern, dass viele Kinder zu Waisen wurden, aber blieb, um ihnen Unterkunft und Bildungsmöglichkeiten zu geben, damit sie ein Willkommen in einer brutalen und ungerechten Welt finden konnten. Und lange nachdem die Cholera Epidemie beendet war und die Menschen zur Stadt zurückkehrten, arbeitete er noch mit Kraft, um Menschen beizustehen, die an den Nebenwirkungen und Auswirkungen dieser verheerenden Seuche weiter leiden mussten.

Was können wir aus dieser Geschichte aus dem Leben Vinzenz Pallottis lernen? Präsenz ist das Programm.

 Nicht nur seine Worte, Ideen und Visionen haben uns etwas zu sagen, sondern auch sein Leben. Vinzenz Pallotti erinnert uns, dass es eine Aufgabe gibt für uns als Christen, der wir nicht ausweichen dürfen: Wir sind berufen, Leben zu gestalten. Wir sind berufen, als mündige Christen selbst Lösungen zu suchen und Verantwortung zu tragen. Wir sind berufen, die Begeisterung und die Liebe, die in uns sind, wach und am Leben zu erhalten. Aber das geht nicht, wenn wir nicht an Ort und Stelle erscheinen, wo die Menschen sind. Präsenz ist das Programm. Darum müssen auch wir bleiben.

Vinzenz Pallotti war überzeugt, dass Gott uns die Kraft gegeben hat, die Verhältnisse dieser Welt zu ändern.

Diese Kraft Gottes gibt uns den Mut, nach neuen Ufern aufzubrechen. In der unerbittlichen Wildnis von Brutalität, Gewalt und Unmenschlichkeit haben wir die Möglichkeit sowie die Macht, unseren Mitmenschen Leben anzubieten. Diese Ur-Berufung zur Mitgestaltung gibt uns ungeahnte Kraft, die Verhältnisse der Welt zu ändern und so zu gestalten, dass sie nach Reich Gottes aussehen. Präsenz ist das Programm. Darum müssen auch wir bleiben.

Wir können Armut tilgen. Wir können Frieden und Gerechtigkeit als Neuland entdecken. Wir können Brot backen, brechen und teilen, bis alle genug haben. Wir können unsere Kirche heilen. Wir können das Antlitz der Erde erneuern. Präsenz ist das Programm. Darum müssen auch wir bleiben.

Zu oft sind wir gelähmt, weil wir nicht alles lösen  oder erlösen können. Dann fixieren wir uns auf das, was wir nicht erreichen können. Pallotti dagegen war überzeugt, dass alles, was wir geben können, zählt. Ich habe von ihm gelernt: Du kannst nur gestalten, was gegeben ist. Das aber verlangt mir etwas ab, was alle Überlegungen über optimale Bedingungen nie von mir fordern: Ich muss erscheinen. Präsenz ist das Programm. Darum muss ich bleiben.

 

Erik Riechers SAC, 20. Januar 2021

 

 

Fragen

 

Ich möchte zu den Menschen gehören,

die sich nicht zufrieden geben

mit schnellen Antworten und

pragmatischen Lösungen.

Sie suchen und fragen.

Hören sie gutgemeinte,

ach so vernünftige Ratschläge,

spüren sie tief in sich

eine andere Stimme.

Sie haben den Mut

- und die Sehnsucht -,

ihr zu folgen, um sich selbst

treu zu bleiben.

Sie gehen ihren Weg.

Sie hinterfragen die Oberfläche.

Sie ertragen Durststrecken.

Sie entdecken Heiliges.

 

Ein großer und vielseitiger Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war wohl solch ein Mensch: Hans Arp. Ich liebe seine Skulpturen; doch nachdenklich machen mich seine »Fragen«:

Fragen

Ihr dummen kleinen Tage

kommt euch denn nie

ein Sterbenswörtchen von Erlösung

über eure gemalten Lippen?

Kniet ihr denn nie mehr

vor einem Kreuz?

Ihr dummen kleinen Tage

ihr kennt nur Kommen und Gehen.

Wisst ihr denn nicht

dass euch jeden Augenblick

die heilige Unendlichkeit anblickt?

 

Diese Fragen lassen mich innehalten und führen mich auf eine alte Spur:

Selig der Mensch, der an der Weisung des Herrn Gefallen hat,

über sie nachsinnt bei Tag und bei Nacht.

Und neu bete ich Psalm 1.

 

Rosemarie Monnerjahn, 18. Januar 2021

 

 

Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.

2. Sonntag B 2021                                        1 Sam 3, 3–10.19

 

Ich nahm einmal an einer Fortbildung für Seelsorger teil. Es ging um seelsorgliche Gesprächsführung. Es war einfach nur furchtbar. Hochtrabende Worte ohne Lebensinhalt wurden gepaart mit methodologischen Schritten von entsetzlicher klinischer Kälte. Und nicht einmal sprachen wir von den Menschen, geschweige von ihren Seelen. Nein, sie sprachen zu uns nur über Klienten. 

Ein älterer Kollege, ein evangelischer Pfarrer, gab irgendwann auf zuzuhören, schlug ein Buch auf und war ins Lesen vertieft. In der Mittagspause ging ich zu ihm und fragte ihn nach seiner Lektüre. Er hielt das Buch hoch und ich las den Titel: Gemeinsames Leben. Ein Buch von Dietrich Bonhoeffer. Dann teilte er mit mir eine Passage aus dem Buch:

»Es gibt auch ein Zuhören mit halben Ohren, in dem Bewusstsein, doch schon zu wissen, was der Andere zu sagen hat. Es ist das ungeduldige, unaufmerksame Zuhören, das den Bruder (oder Schwester) verachtet und nur darauf wartet, bis man endlich selbst zu Worte kommt und damit den Andern los wird. Das ist keine Erfüllung unseres Auftrages, und es ist gewiss, dass sich auch hier in unserer Stellung zum Bruder (oder Schwester) nur unser Verhältnis zu Gott widerspiegelt. Es ist kein Wunder, dass wir den größten Dienst des Zuhörens, den Gott uns aufgetragen hat, nämlich das Hören der Beichte des Bruders (oder der Schwester), nicht mehr zu tun vermögen, wenn wir in geringeren Dingen dem Bruder  (oder Schwester) unser Ohr versagen. Die heidnische Welt weiß heute etwas davon, dass einem Menschen oft allein dadurch geholfen werden kann, dass man ihm ernsthaft zuhört, sie hat auf dieser Erkenntnis eine eigene säkulare Seelsorge aufgebaut, die den Zustrom der Menschen, auch der Christen findet. Die Christen aber haben vergessen, dass ihnen das Amt des Hörens von dem aufgetragen ist, der selbst der große Zuhörer ist und an dessen Werk sie teilhaben sollen. Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.« (Dietrich Bonhoeffer: Gemeinsam leben)

Danach sagte er nur noch: »Wahres Zuhören ist ein Abenteuer des christlichen Lebens.«

 

In großen Momenten des Lebens und der Erzählung wird in uns ein einseitiger Wunsch geweckt: Wir wollen jemanden finden, der uns so zuhört. Was seltener geschieht, ist, dass wir uns wünschen, dieses zuhörende Herz für andere zu sein. Die Klage lautet: Keiner hört mir zu. Das ertränkt die Frage: Wem höre ich zu?

In der Lesung aus dem Buch Samuel wird erzählt, wie der junge Prophet von seinem alten Meister Eli lernt, wie er auf Gott hören sollte. Das ist ein wichtiges Thema für das geistliche Leben. Was wir völlig ignorieren, ist der letzte Satz der Erzählung.

Samuel wuchs heran

und der Herr war mit ihm

und ließ keines von all seinen Worten zu Boden fallen.

(1 Samuel 3, 19)

 

Hier will uns Gott beibringen, wie wir auf das Wort der anderen hinhören sollten, damit auch sie heran- wachsen können: Auch wir sollten darauf achten, dass keines von ihren Worten auf den Boden fällt!

Schauen wir das feine Bild etwas genauer an. Wenn wir etwas tragen, sind wir nicht immer vorsichtig, dass es nicht auf den Boden fällt. Das ist auch nicht nötig. Aber bei gewissen Dingen schon! Wo achten wir, dass sie nicht auf den Boden fallen? Bei Dingen, die zerbrechlich, fragil, unersetzlich und unseren Herzen kostbar sind. Sie verdienen und genießen unseren besonderen Schutz und Fürsorge. Wenn das, was wir tragen, grob, unbedeutend, leicht ersetzbar und wegwerfbar ist, dann ist unser Umgang damit oberflächlicher, unvorsichtiger und unachtsamer. Das wahrhaft Kostbare ändert unsere Haltung. Dann sind wir vorsichtig, achtsam, fürsorglich und schützend.

Beobachten wir mal, wie ein Säugling in andere Hände gelegt wird: vorsichtig, achtsam, fürsorglich und schützend. Niemand macht sich diese Mühe und übt diese Vorsicht, wenn wir in einer gruppendynamischen Übung einen Tennisball von Hand zu Hand reichen. Denn wir erkennen sofort, wo das Zerbrechliche, Fragile, Unersetzliche und Kostbare liegt, und es nicht im Tennisball.

Um gut hinzuhören, müssen wir zu einer tieferen Erkenntnis kommen. Das Zerbrechliche, Fragile, Unersetzliche und Kostbare im Herzen der Menschen liegt in ihren Worten. Unsere Worte drücken die innerlichsten Teile unseres Seins aus, sie offenbaren Facetten unseres tiefen Herzens und sind damit delikat und leicht zerbrechlich.

Am leichtesten lernen wir das, wenn wir jemandem etwas Intimes, Privates und Heiliges anvertrauen möchten. Wie lange dauert es, bis wir den Mut haben, jemanden die Worte anzuvertrauen, die über diese Teile unseres Lebens sprechen? Und was passiert, wenn wir es dann doch wagen, aber Spott, Schmähung oder Hohn dafür ernten? Das ist der Augenblick, wo unsere Worte auf den Boden fallen gelassen werden.

Weil unsere Worte ein Teil von dem, wer wir sind und was uns ausmacht, in sich tragen, sind sie dem Herzen Gottes kostbar und des Schutzes würdig. Sie dürfen nicht auf den Boden fallen, denn ihre Zerbrechlichkeit spiegelt die Zerbrechlichkeit des menschlichen Herzens. Deshalb sollten die Worte der Menschen uns kostbar und des Schutzes würdig sein.

Hören verlangt drei Schritte in der Bibel:

-  wahrnehmen (präsent sein)

-  aufnehmen (integrieren)

-  mitnehmen (daraus Leben gestalten)

Damit ist wahres Hören zugleich ein Werk der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit bedeutet, dass wir uns in das Chaos eines anderen Menschen freiwillig und bewusst begeben, gerade dann, wenn wir es leicht vermeiden könnten.

Und das ist immer, was beim wahren Hören geschieht. Es reißt uns aus Welten, die wir bevorzugen würden. Samuel würde lieber sich ausruhen und erholen, als dreimal aus dem Schlaf gerissen zu werden, dreimal von seinem Lager aufstehen zu müssen.

Hören auf den anderen Menschen reißt uns aus sehr angenehmen und wohltuenden Welten, in denen wir Ruhe, Kraft und Geborgenheit spüren und genießen. Wenn ich auf einen anderen höre, gehe ich freiwillig und bewusst in eine Welt des Chaos, das mir den Schlaf rauben kann, mich erschöpfen kann, mich überfordern kann. Hören ist ein Eintreten in eine Welt des Schmerzes, der Sorge, der Verlassenheit, der Angst und der Hoffnungslosigkeit, die meine nicht ist, und meine nicht unbedingt werden muss.

Authentisches Hören wird bedeuten, dass ich mich auf Themen einlasse, die nicht meine sind und die ich leicht vermeiden könnte, wenn ich einfach nicht zuhöre. Wir kennen diese Wahrheit und fürchten uns davor. Warum gehen wir nicht ans Telefon, wenn gewisse Telefonnummern auf dem Display auftauchen? Warum meiden wir die Begegnung und das Gespräch mit manchen Menschen? Und wenn wir uns auf das Chaos des anderen durch das Zuhören eingelassen haben, wie oft stöhnen wir und sagen: »Oh Gott, wenn ich das bloß nicht gehört hätte?« Manchmal halten wir die Hände über die Ohren und sagen: Ich will das nicht hören, voll wissend welches Chaos auf der anderen Seite des Zuhörens auf uns wartet.

Gott ließ keinen der Worte Samuels auf den Boden fallen. Gott ist barmherzig und steigt in unser Chaos ein. Zuhören ist ein Werk, das Gottes würdig ist. Doch fällt es uns meistens recht schwer, an diesem Werk teilzunehmen.

Was passiert, wenn Kinder uns etwas erzählen, was ihnen wichtig ist und wir sie auslachen oder belächeln, weil wir das, was sie gesagt haben, als unbedeutend abtun?

Gott lässt keines dieser Worte auf den Boden fallen.

Was passiert, wenn wir die tiefsten Überzeugungen anderer Menschen verspotten, wenn wir das, was anderen heilig ist, verhöhnen und despektierlich uns darüber äußern?

Gott lässt keines dieser Worte auf den Boden fallen.

Wir sehen, was passiert, wenn Menschen ihre Worte auf Twitter und Facebook teilen und sie nachher schikaniert, wüst beschimpft und sogar bedroht werden.

Bonhoeffer hatte recht: »Die Christen aber haben vergessen, dass ihnen das Amt des Hörens von dem aufgetragen ist, der selbst der große Zuhörer ist und an dessen Werk sie teilhaben sollen.« Hier müssen wir eine grundlegende Entscheidung des Glaubens treffen. Werden wir Schwestern und Brüder in ihrem Schmerz und Leid zurücklassen, weil wir uns vor ihrem Chaos zu sehr fürchten? Oder werden wir bewusst und frei uns dafür entscheiden, dass wir das wahrnehmen, aufnehmen und mitnehmen, was in ihrem Leben passiert? Nur wenn wir diese Fragen stellen und klären, werden wir wirklich wissen, ob Worte auf den Boden fallen oder aufgefangen werden.

 

Erik Riechers SAC, 17. Januar 2021

 

 

Die Kraft, die richtigen Fragen zu stellen

 

Nachdem wir uns nun schon länger in der Corona-Krise befinden, wächst die Tendenz, nach einer Lösung zu suchen und die Konsequenzen zu ignorieren. Je länger die Krise anhält, desto intensiver wird die Suche nach Antworten. Es gibt Stimmen, die fordern, dass Impfstoffe ohne ordnungsgemäße Prüfung zugelassen werden sollen. Es gibt andere, die neue Maßnahmen ergreifen, härter oder weicher, ohne jeglichen Hinweis auf die möglichen Folgen. Auf der Suche nach einer schnellen Lösung ist man bereit, die Suche nach den richtigen Fragen aufzugeben. Das Verlangen nach schnellen Lösungen macht uns immer mehr bereit, brennende Fragen als lästige Unannehmlichkeiten abzutun. So neigen wir, sobald wir eine Lösung gefunden haben, dazu, die richtigen Fragen zu ignorieren, wie: Ist das der richtige Weg? Ist dies die einzige Lösung für unser Problem oder nur die schnellste? Welche Folgen wird dieser Weg haben und wer wird den Preis dafür zahlen?

Wenn wir ausschließlich an Antworten und Lösungen interessiert sind, beginnen wir uns immer mehr vom Geschichtenerzähler Gottes, dem Jesus der Evangelien, zu entfernen. Sein Lehrstil hängt nicht vom Auswendiglernen von Antworten ab, anders als die subtile Suggestion unserer Katechismen. Statt Menschen, die sich bei seinen Vorträgen Notizen machen, ist Jesus daran interessiert, Hörer des Wortes zu finden und zu fördern. Und Hörer des Wortes lernen die Kunst und das Handwerk, echte Zuhörer zu werden. Jesus lädt die Hörer des Wortes ein, die Geschichten Gottes zu erforschen und zu einem Schluss zu kommen. Er wird ihr Denken leiten, ohne ihnen zu sagen, was sie denken sollen.

Die Geschichten Gottes und die Geschichten des Glaubens sind keine guten Lehrmittel für Menschen, die vereinfachende Antworten suchen. Der Geschichtenerzähler Gottes bietet keine schnellen, einfachen und patentierten Lösungen für das Geheimnis des Lebens. Stattdessen ist er gekommen, um uns einzuladen, ihn auf eine Reise mit großen Abenteuern zu begleiten. Aber Abenteuer sind unangenehme Dinge für diejenigen, die sich nur um Lösungen kümmern: Sie bringen uns dazu, mit unseren Annahmen zu ringen, zwingen uns, unsere bequemen einseitigen Bilder von uns selbst zu konfrontieren, treiben uns dazu, mit Gott zu ringen und führen uns zu der demütigen Realität, dass es jemanden gibt, der größer ist als wir selbst, und sogar Dinge, die größer sind als unsere persönlichen Anliegen. Sobald das geschieht, beginnen wir, die richtigen Fragen zu stellen. Wie Abraham Joshua Heschel schreibt: »Wir sind Gott näher, wenn wir Fragen stellen, als wenn wir glauben, die Antworten zu kennen.«

Das ist echter Glaube, und das ist harte Arbeit. Wir leben in einer Welt, in der wir gerne darüber reden, frei zu sein, aber dann wollen, dass uns jemand sagt, was wir denken und tun sollen. Wir lieben es, uns für Freidenker zu halten, die die alten, abgenutzten Geschichten der Vergangenheit durchbrochen und hinter sich gelassen haben. In Wirklichkeit haben wir Geschichten, die reich an Schichten von Sinn und Zweck sind, genommen und durch billige Pseudo-Geschichten ersetzt. Wir nahmen großartige biblische Geschichten, die uns zwangen, über einfache Antworten hinauszugehen, und ersetzten sie durch triviale Geschichten der Bequemlichkeit, immer ordentlich in ihren Schwarz-Weiß-Darstellungen und immer ohne Komplikationen.

Der Geschichtenerzähler Gottes ist in unserer Welt unterwegs und tut auch heute noch das, was er in den Tagen des Evangeliums getan hat: Er stellt alle geerbten Annahmen, Ideen, Auslegungen und Konzepte auf den Kopf, die wir für unantastbar halten. Er hofft, uns zu dem Glauben von Mosche zu bewegen, den Elie Wiesel in seinem Buch Nacht beschrieben und bewundert hat.

»Und warum betest du zu Gott, wenn du weißt, dass man seine Antworten nicht verstehen kann?«

Der Synagogendiener antwortet: »Damit er mir die Kraft gebe, richtige Fragen zu stellen.«

Ich denke, das ist eine sehr gute Idee inmitten unserer Krise. Denn wenn wir zu Gott um die Kraft beten, ihm die richtigen Fragen zu stellen, wer weiß, welche erstaunlichen und unerwarteten Lösungen sich dann ergeben könnten?

 

Erik Riechers SAC, 15. Januar 2021

 

 

Was erschreckt dein Herz?

 

In der Silvesternacht hat eine Freundin von mir ihre Mutter verloren. Als ich einige Tage später die Nachricht davon erhielt, war ich tief betrübt über ihren Verlust. Ich setzte mich hin, um ihr einen Kondolenzbrief zu schreiben, und ich feierte eine Messe der Auferstehung für ihre Mutter.

Im Laufe des Tages vertiefte sich meine Traurigkeit. Meine Freundin war bei der Beerdigung meiner Mutter vor neun Jahren dabei und auch bei der Beerdigung meines Vaters vor etwas mehr als einem Jahr. 8000 km trennen Vallendar von Edmonton, und das macht es für mich unmöglich, daran teilzunehmen. Aber es erschreckt mein Herz, dass ich dieses Zeichen der Herzensnähe nicht erwidern kann, um diese wesentlichste Form der Anwesenheit in der Stunde der Trauer für eine gute und treue Freundin zu praktizieren.

Es ist eine so einfache Handlung, zu einer Beerdigung zu gehen und Freunde in der Zeit der Trauer zu unterstützen. Wie die meisten einfachen Handlungen nehmen wir sie als selbstverständlich hin. Aber während wir das tun, vergessen wir oft diejenigen unter uns, für die es nicht möglich ist, an dem teilzunehmen, was wir als selbstverständlich ansehen. Wie Jesus Sirach sagt: »An einem Tag voll guter Dinge vergisst man Schlechtes, aber an einem Tag voll schlechter Dinge wird man sich nicht an das Gute erinnern.« (Sirach 11, 25) Es ist die Nonchalance dieses Vergessens am Tag voller guter Dinge, die mich mit jedem Jahr mehr beunruhigt.

Diese Erfahrung machen in diesen Tagen viele Tausende von Menschen, die Angehörige und Freunde durch die Verwüstungen des Corona Virus verloren haben. Sie waren oft nicht in der Lage, ihre geliebten Menschen in ihrem Sterben zu besuchen und zu begleiten, und oft durften sie ihren Verlust auf eine tiefe und notwendige Weise nicht betrauern. In Orten wie Bergamo, Italien, durften Hunderte von Menschen nicht einmal an den Beerdigungen ihrer Familienmitglieder teilnehmen.

Und das erschreckt mein Herz. Wenn die Pandemie endet und der Tag voller guter Dinge zurückkehrt, werden wir allmählich wieder zu den normalen Routinen unseres Lebens zurückkehren. Werden wir dann die Tage der Not und das, was sie uns zu lehren versuchten, wieder vergessen? Werden wir dann all jene vergessen, für die die Tage voll schlechter Dinge nicht automatisch enden, wenn solche Tage für uns enden?

Denn Jesus Sirach sagt auch folgendes: »Während er sagt: Ich habe Ruhe gefunden, nun werde ich von meinen Gütern essen, weiß er nicht, wie viel Zeit noch verstreichen wird, und er wird sie anderen hinterlassen und sterben.« (Jesus Sirach 11, 19). Das ist eine alte Geschichte in der biblischen Erzähltradition. Lukas greift sie auf, wenn er uns von einem Mann erzählt, der alles andere vergisst, sobald er gesegnet wird von einer unerwartet großen Ernte. »So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann werde ich zu meiner Seele sagen: Seele, nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freue dich! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann das gehören, was du angehäuft hast?« (Lukas 12, 18-20)

Ich mache mir Sorgen, was mit den Menschen geschehen wird, die die schwersten Verluste erlitten haben. Wenn wir zur unerwarteten Ernte des Segens kommen, werden wir dann alles andere vergessen, um größere Scheunen zu bauen, und keinen Gedanken an diejenigen verschwenden, die das Andenken und das Leben ihrer verstorbenen Lieben würdigen möchten? Werden wir in unserer Zeit der reichlichen Fülle, in der es möglich ist, uns auszuruhen, zu essen, trinken und uns zu freuen, mit ihnen die Zeit und den Raum des Trauerns teilen? Werden wir, während das Leben für so viele weitergeht, zulassen, dass es an denen vorbeifließt, für die es nicht einfach so weitergehen kann wie bisher?

Würde es sich lohnen, eine Pandemie zu überleben, nur um als kälterer, grausamerer und egozentrischerer Mensch herauszukommen als zuvor? »Euer Herz erschrecke nicht!« (Joh 14, 1). Das ist ein direkter und guter Rat von Jesus selbst. Aber es gibt Zeiten, in denen es gut ist, wenn unser Herz erschreckt wird, damit wir in die nächste Zeile übergehen können. »Glaubt an Gott und glaubt an mich!« Ich bezweifle, dass der Scheunenbauer an Gott oder das Leben oder sonst etwas dachte, während er sein unerschrockenes Herz genoss. Und dann geschieht etwas Schreckliches. Wir wachen auf mit der furchterregenden Erkenntnis, dass der Horizont unserer Sorgen genauso breit ist wie unsere Schulterblätter.

 

Erik Riechers SAC, 13. Januar 2021

 

 

Bitte um Segen im Alleinsein

 

Vor einigen Jahren nahm ich in einer wunderschönen neugotischen kleinen Kirche in Irland ein Lesezeichen der dortigen Benediktinerinnen mit. Der Gebetstext und die Gestaltung gefielen mir sehr. Ich entdeckte das schöne kleine Blatt neu, als dieses neue Jahr begann. Und die Worte fingen an, ganz neu zu mir zu sprechen. Einiges an Erfahrungen und Nöten, die Menschen mir in den vergangenen Monaten erzählt und auch beklagt hatten, schwang mit.

Konnte das Gefühl, allein zu sein, vor der Pandemie mit vielerlei Aktivitäten überspielt werden, so sind viele von uns seit Monaten schmerzhaft damit konfrontiert und können oder wollen ihm auch nicht mehr ausweichen.

Ich lade Sie ein, die Situation ehrlich anzuschauen und ins Gebet zu nehmen. Das kann unseren Blick wandeln, weg von der Sicht eines Mangels hin zur Wahrnehmung einer Gnade.

 

Ich lebe allein

Sei an meiner Seite, o Herr,

denn ich bin allein.

Ich brauche deine Gegenwart in mir,

Nacht und Tag, um mein Zuhause zu teilen,

um mich zu leiten auf meinem Weg.

 

Bewahre mich sicher vor Gefahr;

fülle mein Herz mit Freude.

Gib mir deinen Frieden, dein Geschenk,

das du mit denen teilst, deren Herzen

verwirrt oder verzweifelt sind.

 

Und sogar wenn der Schatten

des Kreuzes auf meinen Weg fällt,

sehe ich dein österliches Sonnenlicht

durch die Dunkelheit.

 

Ich lebe allein, lieber Herr,

aber ich bin sicher,

dass dein Blick immer auf mir ruht

wie auf einem einzigen Kind.

 

Verweile in mir, lieber Herr,

damit ich in dir lebe.

 

Amen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 11. Januar 2021

 

 

Ich liebe die Welt zu sehr, um zuzulassen, dass deine Sünde dich definiert und das letzte Wort ist.

Taufe des Herrn B 2021                                        Mk 1, 7-11

 

Kürzlich hatte ich eine höchst unangenehme Begegnung mit zwei Menschen, die an der Vorstellung Anstoß nahmen, dass sie Sünder sein könnten. Wie fast jedes Gespräch dieser Art im Laufe der letzten dreißig Jahre war auch dieses eine völlige Zeitverschwendung. Wo es keine Nuancen gibt, kann es nur Karikaturen geben. Können wir einen Weg finden, über die Realität der Sünde so zu sprechen, dass wir den biblischen Geschichten und unserem Leben gerecht werden?

Ich glaube, dass ein Moment aus der Taufe des Herrn uns helfen kann. Es ist der Moment, als Jesus aus dem Wasser aufsteigt. Unmittelbar geschehen drei Dinge: der Himmel öffnet sich, der Geist kommt auf Jesus herab und eine Liebe spricht zu ihm von Liebe und Zugehörigkeit. Es ist ein entscheidender Moment.

Wenn wir in das Wasser hinabsteigen, wissen wir, dass wir eine Reinigung brauchen. Etwas haftet an uns, klammert sich an uns, von dem wir uns befreien möchten. Es ist ein tiefer Moment in der Erkenntnis der Sünde. Wilhelm Bruners definiert Sünde auf diese Weise: Unter unser Niveau zu rutschen. Das ist einfach und doch dezidiert biblisch. Wenn Menschen sündigen, rutschen sie unter ihr persönliches Niveau, leben nicht mehr so, wie sie gerne leben würden. Es geht darum, dass wir an uns selbst scheitern, dass wir nicht nach einem Maßstab leben, von dem wir wissen, dass er für uns wirklich passend und angemessen ist.

Dennoch ist es fast unmöglich geworden, dieses Gespräch über das Abrutschen unter unser Niveau zu führen, weil wir dazu neigen, in die Extreme zu verfallen. Das eine Extrem ist die völlige Verleugnung der Erfahrung der Sünde. Doch Sünde ist ein Teil unserer Erfahrung. Wir handeln nicht immer aufrichtig, gerecht oder mit Würde. Unsere Liebe ist oft mangelhaft. Das zu leugnen ist zwecklos, denn wir sind oft bestürzt, enttäuscht und entmutigt, wenn solche Momente auftreten. Wir wissen, dass wir nicht immer das sind, was wir sein wollen und wozu wir berufen sind.

Aber das andere Extrem ist zu glauben, dass diese Momente uns definieren. Zu sündigen bedeutet, unter unser Niveau zu rutschen. Aber es ist kein Ausdruck dessen, wer wir sind. Wenn wir sündhaft handeln, sagen wir oft: Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Wir wissen oft nicht, was uns dazu getrieben hat, etwas zu sagen oder zu tun, und wollen uns meist nicht mit diesen Momenten identifizieren. Denn sie definieren uns nicht. Die Sünde ist nicht unsere Norm, sondern der Moment, in dem wir unter diese Norm rutschen. Sie ist meist nicht Ausdruck unserer tiefsten Überzeugung, nicht die Art und Weise, wie wir lieber handeln würden, nicht die Art und Weise, wie wir normalerweise leben würden.

In dem Augenblick wo Jesus aus dem Wasser gestiegen ist, wurde alles weggewaschen, was nicht wirklich zu uns gehört. Und alles, was wirklich von Bedeutung ist, bleibt. Die Sünden werden weggewaschen, nicht das Herz und der Verstand und die Seele eines Menschen. Das Wasser des Jordan trägt die Sünden der sterblichen Männer und Frauen weg, es trägt nicht ihre Würde, Güte, Freundlichkeit und liebevolle Fürsorge weg.

Wenn wir unter unser Niveau rutschen, geben wir es zu, waschen uns rein und kehren zu diesem Niveau zurück. Wenn wir aus dem Wasser aufsteigen, wird die Sünde reingewaschen sein, aber der Himmel wird immer noch offen sein. Alle Kommunikationslinien mit Gott werden offen bleiben, ein Gespräch wird immer noch möglich und sogar erwünscht sein.

Wenn wir unter unser Niveau rutschen und zu ihm zurückkehren, werden die reinigenden Wasser wegtragen, was nur eine Zeit lang an uns klebte, aber sie werden uns nicht den Geist Gottes rauben. Der Geist wird immer noch auf uns herabkommen, der Herr und Geber des Lebens wird immer noch in uns leben und sich bewegen und in uns atmen. Wir werden immer noch seine inspirierende Gegenwart kennen und von ihr bewegt werden.

Wenn wir unter unser Niveau rutschen und nach Erneuerung suchen, wird das Wasser die Gebrochenheit unserer Beziehungen abspülen, aber nicht die Beziehungen forttragen. Die Stimme Gottes wird immer noch von Liebe und Zugehörigkeit zu uns sprechen. Wir werden immer noch als ein Kind unseres Gottes angesehen und genannt werden, und wir werden immer noch Geliebte genannt werden. Unser Gott wird sich an uns erfreuen, an uns Gefallen finden und über uns jubeln.

Das Ignorieren der Sünde wird uns selbstgerecht und arrogant machen. Wir werden anfangen zu denken, dass alles, was Gott uns gibt, auf strenger Gegenseitigkeit beruht und dass Gott es uns schuldet, weil wir nichts Unehrenhaftes an uns haften haben. Es wird uns nicht erlauben, die barmherzige und gnädige Liebe unseres Gottes zu erfahren, der das Wort spricht, die Begegnung sucht, die Verlorenen liebt, auch wenn wir selbst wissen, dass wir auf nichts davon Anspruch haben und dass wir keinen Anspruch darauf erheben können, so großartig oder überzeugend gehandelt zu haben, dass wir würdig wären, dass er unter unser Dach kommt.

Die Übertreibung der Sündenerfahrung führt dazu, dass wir unsere schwächeren Momente mit unserem Niveau gleichsetzen. »Wo aber die Sünde zugenommen hat, ist die Gnade überreich geworden.« (Römer 5, 20). Wenn wir wie Jesus aus dem Wasser kommen, kehren wir zum echten Niveau unseres Lebens zurück. Nadia Bolz-Weber hat einige schöne Worte geschrieben, die nur ein Mensch schreiben kann, der wie Jesus tropfend aus dem Jordan kommt:

»Gottes Gnade wird nicht definiert als Gott, der uns vergibt, obwohl wir sündigen. Gnade ist, wenn Gott eine Quelle der Ganzheit ist, die mein Versagen ausgleicht. Meine Fehler verletzen mich und andere und sogar den Planeten, und Gottes Gnade für mich ist, dass meine Gebrochenheit nicht das letzte Wort ist … es ist, dass Gott sogar aus meiner eigenen Scheiße etwas Schönes macht. Bei der Gnade geht es nicht darum, dass Gott Menschen und fehlerhafte Wesen erschafft und dann ganz verletzt tut, wenn wir unweigerlich versagen, und dann wie ein Held einspringt, um uns Gnade zu gewähren - als würde er sagen: "Oh, es ist okay, ich werde der Gute sein und dir vergeben." Es ist Gott, der sagt: "Ich liebe die Welt zu sehr, um zuzulassen, dass deine Sünde dich definiert und das letzte Wort ist. Ich bin ein Gott, der alle Dinge neu macht.”« *

Auf der anderen Seite eines jeden Ausrutschers unter unser Niveau wartet jemand auf uns. Es gibt immer einen Weg nach Hause. Es gibt immer einen Weg zurück zum Gespräch, zur Inspiration und zur liebevollen Beziehung mit unserem Gott.

*Pastrix: The Cranky, Beautiful Faith of a Sinner & Saint

 

Erik Riechers SAC, 10. Januar 2021

 

 

»Es ist noch genug Zeit.«

 

Eine der Herausforderungen für uns alle in diesen langen Monaten ist die Erprobung der Geduld.

Schon im letzten Frühjahr hörte ich: »Das wird ja hoffentlich bald vorbei sein mit dem Lockdown! Dann können wir wieder normal leben.« Als ich anmerkte, dass uns der Virus auch über den Sommer begleiten werde, erntete ich nur hochgezogene Augenbrauen.

Wie so vieles wird dies durch die Pandemie enthüllt und aufgedeckt, doch es ist nicht neu. Mir scheint schon seit langem, dass Geduld immer seltener eine Tugend von uns Heutigen ist. Das wird genährt nicht nur aus Erfahrungen im Straßenverkehr oder an Kassen und Schaltern, an denen sich Menschenschlangen bilden können und wir immer wieder Austricksen, Drängeln oder wenigstens Meckern erleben. In allen Lebensbereichen können wir dies an uns selbst und an anderen beobachten.

Wir werden krank und Heilung braucht Zeit - wir aber müssen und wollen schnell wieder auf den Beinen sein.

Wir wollen Erfolg im Beruf - aber bitte schnell!

Statt auf ein langfristiges Ziel hin zu sparen, nehmen wir lieber einen schnellen Kredit auf.

Wir konsumieren vermeintliche Lösungen, statt geduldig zu üben, von innen nach außen zu leben.

Geduldig abzuwarten ohne zu resignieren, mit langem Atem auszuschreiten, fällt uns schwer. Wir sorgen uns, wenn wir uns für unsere Kinder oder Freunde eine gute Entwicklung wünschen und sie auszubleiben scheint. Wir helfen und tun, was wir können, aber nichts scheint zu fruchten. Wie ungeduldig können wir dann werden!

Da stieß ich vor Tagen auf einen für unsere Zeit ungewöhnlichen Dialog. Der eine sorgt sich sehr um einen jungen Mann, dessen Herz von Hass und Trauer erfüllt ist, und spricht:

»‚Sein Herz aber ist voll Hass auf den Mörder seines Vaters, und es ist eine verdammte Kette, die niemand sprengen kann. Nicht einmal Du, der Du Dich für diese verfluchten, tollwütigen Hunde hast kreuzigen lassen.‘ ‚Die Welt ist noch nicht zu Ende‘, sagte Christus abgeklärt. ‚Die Welt ist kaum über den Anfang hinaus, und im Himmel wird die Zeit mit Milliarden von Jahrhunderten gemessen. Man braucht nicht den Glauben zu verlieren, Don Camillo. Es ist noch genug Zeit, es ist noch genug Zeit.‘«

Ja, hier sprechen Don Camillo und Jesus miteinander in dem 1957 erschienenen Roman »Don Camillo und Peppone«  von Giovanni Guareschi.

»Es ist noch genug Zeit.« Wann haben wir dies zuletzt gehört? Haben wir es je gehört und ernstgenommen? Dabei ist dieser Satz wie Balsam auf unsere gehetzten Seelen. Er nimmt uns so viel Druck und legt uns ans Herz:

Es wird Wandlung geschehen. Verheißungen werden sich erfüllen. Wege werden gegangen. Reifen und Wachsen dürfen sein.

Wir sind nicht fertig und wir haben genug Zeit.

Und wir sind Teil einer viel größeren Geschichte. Unsere je eigene Geschichte hat Bedeutung, unser Handeln hat Folgen, aber es hängt nicht alles von uns ab und es muss nicht alles sogleich geschehen. »Menschsein braucht Zeit« sagte einst Columban der Ältere.

Sie ist uns gegeben, also atmen wir durch!

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. Januar 2021

 

 

Der Liebling

 

Wanderer, du siehst müde aus. Die Enttäuschungen deines Lebens sind in dein Gesicht geätzt. Entmutigung hat die Farbe und die Freude aus deiner Seele gezogen. Du solltest nicht so weiterreisen. Geh nicht an mir vorbei. Möchtest du dich nicht eine Weile zu mir setzen und dich an meinem Feuer wärmen? Ich bin nur ein einfacher Geschichtenerzähler, aber du bist willkommen, mein Brot und meine Gesellschaft zu teilen. Komm, setz dich! Während du isst, werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen.

Vor vielen Jahren, als die Welt noch viel jünger war, sich aber schon alt fühlte, ging ein junger Mann auf die Felder, um seinen Großvater zu besuchen.

Er fand ihn auf einem fein geschnitzten Holzstuhl sitzend und ein Kamel bestaunend. Alle nannten dieses Kamel einfach »den Liebling«, denn es war bekannt, dass es einen besonderen Platz im Herzen des alten Patriarchen hatte.

Der alte Mann schaute auf, als sein Enkel sich näherte, und lächelte. Selbst jetzt, nach all den Jahren und zum Manne herangewachsen, fühlte der junge Mann, wie eine Welle der Ehrfurcht über ihn hinwegfegte und Ehrfurcht die Orte seines tiefen Herzens berührte. Denn sein Großvater war einer der legendären 3 Pilger des Sterns. Seit er sich erinnern konnte, hatte er die Geschichte gehört, wie sein Großvater und seine beiden Freunde dem Stern folgten und das Kind des Lichts fanden. Nachdem die drei Sternpilger nach Hause zurückgekehrt waren, fuhren sie fort, große und bewundernswerte Beiträge des Lernens für das Land zu leisten, aber nichts, was sie danach taten, war mit der großen Reise, die sie unternommen hatten, zu vergleichen. Sie waren Legenden, und sein Großvater war einer von ihnen.

Der junge Mann lächelte seinen Großvater an und sagte: »Du bist gekommen, um 'den Liebling' wieder zu bewundern? Warum zieht dich dein Herz so oft hierher, Großvater, zu diesem einen Kamel? Du hast doch sicher wertvollere Besitztümer als dieses alte und abgenutzte Kamel?«

Allein dieser Gedanke ließ den alten Mann erschrecken. »Ich habe viele Besitztümer, die teurer sind als dieses Kamel, aber keines, das wertvoller ist. Es war mit mir auf der Sternenreise und hat immer einen Platz in meinem Herzen.«

Sein Enkel lächelte. »Es ist schon gut, Großvater. Ich habe dich nur ein wenig geneckt. Wir alle wissen, warum es dein Liebling ist, denn es erinnert dich an das größte Abenteuer deines Lebens.«

Der alte Freund des Himmels und intime Vertraute der Sterne runzelte die Stirn und rutschte leicht im Stuhl hin und her. »Es ist kein Souvenir meiner Sentimentalität. Es war eine Lehrerin einer großen Lebenslektion für mich und meine Gefährten.«

Sofort, instinktiv, setzte sich der Enkel auf den Boden, schlug die Beine übereinander und beugte sich vor, um begierig eine Geschichte von diesem geliebten Großvater zu hören, wobei er sein Kinn in die Hände stützte. Das ist wirklich die einzige Art, eine Geschichte zu empfangen, Wanderer. Der Enkel hatte dies getan, seit er gehen konnte und er hatte es nicht ein einziges Mal bereut, sich die Zeit genommen zu haben, eine von Großvaters Geschichten zu hören. Und auch hier enttäuschte der Großvater nicht.

»Als wir Bethlehem erreicht und das Kind gefunden hatten, betraten wir das Haus von Miriam und Josef. Ich habe oft davon gesprochen, aber keine Erzählung hat meinem Herzen je gerecht werden können. Wir traten aus dem Haus, aber wir sprachen kein Wort miteinander. Da war Freude, oh ja, aber nur in der Stille. Die Worte kamen erst viel später.

Doch unsere stille Betroffenheit währte nicht lange, denn bald durchbrach eine Frau unsere Stille. Wir hatten sie dafür bezahlt, sich um unsere Kamele zu kümmern, sie zu striegeln und zu füttern. Sie hatte den Auftrag schlecht und halbherzig erledigt, denn sie war viel mehr daran interessiert, uns zu belauschen, als ihrem Lohn gerecht zu werden. Wir waren noch tief in die Erfahrung des Findens, des Sehens und Begegnens eingetaucht, als wir sie sahen. Wir waren so voller Freude, dass wir sie am liebsten umarmt hätten, aber sie begann zu reden. Ihre Worte waren durchsetzt mit dem abscheulichsten und verderblichsten aller Gifte, der Entmutigung. Es wird durch das Ohr gespritzt, aber es erreicht immer das Herz.

‚So viel Aufhebens um dieses Baby? Und Geschenke von solchem Wert in die Hände von Bauern gelegt, die ihren wahren Wert nicht kennen oder schätzen?  Ihr solltet nicht diejenigen sein, die eure Knie beugen. Die beiden sollten euch huldigen. Dieses Kind ist eines von Tausenden wertloser Bauern, und Ihr füllt die Köpfe seiner Eltern mit der dummen Idee, dass er irgendein König sein sollte? Wie sein niedriggeborener Vater wird er über Sägemehl herrschen und froh sein, wenn man ihm überhaupt Münzen für seine Arbeit zuwirft. Was für eine idiotische Verschwendung einer Reise. Ihr werdet als drei törichte Männer in die Geschichte eingehen, die von den Sternen getäuscht wurden, die ihr nicht richtig zu deuten wusstet.’

Bei aller Weisheit, die ich mir in meinen langen Jahren angeeignet habe, habe ich noch nie ein so schmerzhaftes Schweigen erlebt wie dieses. Ich war so betrübt, dass ich keine Worte finden konnte. Die ganze Freude und Ehrfurcht meines Herzens verwelkte unter dem Angriff. Es war das, was ich in einem solchen Moment von knochentiefer Heiligkeit und ergreifender Schönheit am wenigsten erwartet hatte. Meine Begleiter sahen so betroffen und entsetzt aus, wie ich mich fühlte.

Genau in diesem Moment, als die Frau weiterhin ihre giftigen Worte über unsere Freude ausspuckte, wurde mein Kamel meine Lehrerin. Mit seinem linken Hinterbein versetzte es der Frau einen kräftigen Tritt in den Hintern, der sie zehn Meter durch die Luft fliegen ließ. Wir rannten ihr zu Hilfe, weil wir befürchteten, dass sie schwer verletzt worden war. Aber wir fanden sie nur mit blauen Flecken vor, mehr in ihrer Würde als an ihrem Körper verletzt. Und in diesem Moment begannen wir drei zu lachen.

Wir haben gelacht und gelacht. Wir lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen. Wir lachten, bis uns die Seiten wehtaten. Am Ende saßen wir alle auf dem Boden, während eine Welle des Lachens nach der anderen über uns rollte. Wir landeten alle auf dem Rücken und starrten in den Himmel. Und dann sahen wir ihn. Den Stern. Er hat für mich nie heller geleuchtet als in diesem Moment.

Wir hatten ihn schon einmal aus den Augen verloren, als wir in Jerusalem waren, und waren überwältigt vor Freude, als wir sein Licht wiederfanden. Aber dieses Mal war es anders, in vielerlei Hinsicht mächtiger. Wir hatten den Stern, unsere Freude, diese tiefste Erfahrung unseres Herzens durch die nörgelnden, abschätzigen Worte der Frau aus den Augen verloren. Wir ließen unsere Herzen von einer Person vergiften, die nicht hören konnte, was wir gehört hatten, nicht sehen konnte, was wir bereits mit unseren eigenen Augen gesehen hatten, und nicht staunend innehalten konnte vor dem, was wir angeschaut und unsere Hände berührt hatten. Unfähig, die Großartigkeit dieses Ortes und dieser Stunde zu würdigen, versuchte sie, unsere Freude mit Dingen von völliger Bedeutungslosigkeit, mit engstirnigen Vorurteilen und Kleinherzigkeit zu ersticken. Ihre entmutigenden Worte hatten es fast geschafft, uns von einer tiefen Zufriedenheit abzulenken, die wir bereits besaßen.

In diesem Moment hat uns mein Kamel gerettet. Es wurde meine Lehrerin. Was nützt es, vollkommene Freude und Sinn zu finden, wenn man sie nicht vor denen schützen kann, die selbst keine haben und andere an ihrem Elend, ihrer Härte und Kaltherzigkeit teilhaben lassen wollen? Mein Kamel warf sie aus dem Kreis der Heiligkeit und Ehrfurcht und zeigte mir, dass man solchen Menschen nicht erlauben darf, an den heiligen Orten unserer Herzen und unseres Lebens zu bleiben. Seitdem war es immer mein Liebling.«

Nun Wanderer, bleibe noch eine Weile bei mir. Denn die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende.

Fünfundvierzig Jahre später erzählte dieser Enkel seinen eigenen Enkelkindern von diesem Moment mit seinem Großvater. Als sich die Geschichte dem Ende zuneigte, erzählte er seinen großäugigen Enkelkindern zwei Dinge. Komm näher, lehne dich zu mir, Wanderer, denn ich möchte nicht, dass der Nachtwind meine Worte stiehlt, bevor sie dein Ohr erreichen können. Zuerst schwor er, dass er das Licht des Sterns in den Tränen seines Großvaters schimmern sah. Und dann erzählte er ihnen dies: Als er mit neu gewonnenem Respekt zu »dem Liebling« hinüberblickte, zwinkerte ihm das Kamel zu.

Und weißt du, was die Ur-Ur-Enkel des Sternenpilgers taten, als sie das hörten, Wanderer? Sie lachten und lachten und lachten, bis auch sie sich auf den Rücken rollten und den Himmel sahen.

Nun, Wanderer, sag mir ehrlich: Schmeckt das Brot nicht besser, wenn es mit einer Geschichte gebuttert wird? Brennt das Feuer nicht heller und wärmt es nicht tiefer, wenn es von einer guten Geschichte genährt wird? Es war gut von dir, mein Brot, meine Gesellschaft und meine Geschichte mit mir zu teilen, Wanderer. Du siehst schon ein bisschen weniger müde und weniger entmutigt aus. Meine Güte, wenn ich mich nicht täusche, sehe ich ein Funkeln des Sterns in Deinen Augen.

 

Erik Riechers SAC, 6. Januar 2021

 

 

Gehen wir behütet

 

Schwellen

können Hürden sein.

Es hilft, wenn andere

mit mir darüber steigen,

mich an die Hand nehmen,

mich vielleicht sogar tragen.

Und dann?

Ich kann hier nicht verharren.

Von hinten drängt es,

von vorn zieht es mich.

In der Ferne kann ich nichts

erkennen.

Das macht mich

zaghaft.

Doch stehen zu bleiben

oder sogar

liegen zu bleiben

geht nicht -

das macht mich leblos.

Also ein erster Schritt, ein zweiter,

ein dritter . . .

in meinem Tempo.

Der Weg entsteht.

Ich spüre haltenden Grund.

Ich sehe Menschen rechts und links.

Der Himmel wird hell.

Und jemand flüstert mir zu:

»Geh ruhig! Der dich behütet,

schläft nicht!«

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. Januar 2021

 

 

Worte, die Feuer in unseren Herzen entfachen können

2. Sonntag der Weihnachtszeit                                             Joh 1, 1-18

 

Dieser Prolog ist wie ein Handbuch des Johannes-Evangeliums - es steht alles hier in diesem poetischen Juwel. Doch eben weil er ein poetisches Juwel ist, tun wir uns schwer. Die Sprache ist schwer zu verstehen, weil sie nicht klar, deutlich und geradeheraus ist.

Gebrochene Herzen, zerschlagene Beziehungen, von einem Menschen verwundet zu werden, verraten zu werden, belogen zu werden. Selbst alles versuchen, um eine Beziehung zu retten und zu merken, dass es vergeblich war. Versuchen Sie jetzt darüber klar, deutlich und geradeheraus zu erzählen. Als ob alles im Leben mit der Präzision eines Lexikons zu beschreiben wäre!

Johannes erzählt eine Geschichte der wahren Freundschaft ohne Romantisierung. Denn Romantisierung nimmt weder die Liebe noch die Liebenden ernst. Und ich möchte Ihnen helfen, seine Geschichte zu verstehen mit Hilfe einer anderen Erzählung.

In seinem Buch »Das Schicksal ist ein mieser Verräter« erzählt John Green von zwei Jugendlichen, die sich unter schwierigen Umständen kennenlernen. Augustus ist siebzehn und leidet  an einem Knochentumor. Sein Freund ist 16 Jahre alt und hat einen Gehirntumor.

Ich möchte eine Szene herausheben als Hilfe, den Prolog des Johannes besser zu  verstehen. Hier spricht Isaac von seinem Freund Augustus bei seiner Beerdigung. Es geht um einen Besuch seines Freundes bei ihm im Krankenhaus nach einer Operation. Sie rettet ihm das Leben, aber dabei verliert Isaac ein Auge.

»Ich war blind und mein Herz war gebrochen und ich wollte nichts tun und Gus platzte in mein Zimmer und rief: ‚Ich habe wunderbare Neuigkeiten!‘ Und ich sagte: ‚Ich will jetzt eigentlich keine wundervollen Neuigkeiten hören‘, und Gus sagte: ‚Das sind wundervolle Neuigkeiten, die du hören willst‘, und ich fragte ihn: ‚Gut, was ist es?‘, und er sagte: ‚Du wirst ein gutes und langes Leben voller großartiger und schrecklicher Momente leben, die du dir noch gar nicht vorstellen kannst!‘«

So beschreibt John Green auf seine Art, was Johannes im Prolog uns sagen will. Gott ist ein echter Freund, der in unser Leben einbricht und nicht nur auf Einladung hin. Er kommt unerwartet, mit wunderbaren Neuigkeiten, auch dann wenn wir nicht in der Stimmung sind, sie zu empfangen.

Außerdem sagt uns der Prolog nicht nur, dass Gott mit zerbrochenen Beziehungen umgehen kann, sondern zeigt uns auch wie.

 

  1. Das Problem in der Beziehung wird erkannt und eine kostspielige Handlung der Liebe wird unternommen.

Johannes beschreibt diesen Augenblick, wenn er sagt, dass wir Menschen Gott und seine Botschaft genauso wenig aufnehmen wollten wie Isaac seinen Freund Augustus und seine Botschaft aufnehmen wollte.

»Ich war blind und mein Herz war gebrochen und ich wollte nichts tun« ist ein Zustand, den wir alle kennen. Und trotzdem wird in diesen Zustand eingebrochen, immer eine kostspielige Handlung, sei es für Gott oder für die Menschen. Das steckt in den poetischen Worten »Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst« sowie in dem Wort »Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.« Das Problem in der Beziehung zu erkennen ist schon nicht einfach, aber die Handlung über den Widerstand und das Desinteresse hinaus ist die wahre Kunst, und  unser Gott beherrscht sie. Wenn wir zu viel Zeit damit verbringen, den schrecklichen Zustand zu verkünden, in dem Gott sein Volk vorgefunden hat, verbringen wir zu wenig Zeit damit, zu verkünden, dass er mehr als fähig ist, mit uns umzugehen, unabhängig von dem Zustand, in dem wir uns gerade befinden.

 

  1. Die Initiative ist beziehungsorientiert und persönlich.

Als Augustus seinem Freund die guten Neuigkeiten überbringen wollte, platzte er in Isaacs Zimmer. Er hat ihm keinen Brief geschrieben. Er hat auch nicht telefoniert oder, noch schlimmer, eine Nachricht über die sozialen Medien geschickt. Er arbeitet beziehungsorientiert und persönlich. Er erscheint selbst. Johannes erzählt es so: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.« In den Versen 14-18 haben wir also eine Beschreibung des Lebens Jesu, als das Wort »unter uns wohnte«, »sein Zelt unter uns aufschlug« oder »mit uns häuslich wohnte«. Das Zelt der Gegenwart war das Symbol für Gottes Begleitung seines Volkes auf seiner 40-jährigen Wanderung durch die Wüste. Das Leben Jesu, die göttliche Gegenwart in menschlicher Gestalt, offenbart also die beziehungsorientierte und persönliche Art Gottes vollständiger als je zuvor. Johannes ist der Geschichtenerzähler, der uns zeigt, dass Jesus uns zeigen kann, was Gott wirklich im Sinn hat und, was noch wichtiger ist, in seinem Herzen trägt. »Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.« (Joh 1,18)

 

  1. Der Erfolg ist nicht garantiert. Es handelt sich um ein offenes Angebot. Ablehnung ist eine Option.

Die erste Reaktion von Isaac auf die Botschaft seines Freundes war:  »Und ich sagte: ‚Ich will jetzt eigentlich keine wundervollen Neuigkeiten hören‘.« Wenn wir Liebe wagen, gehen wir davon aus, dass sie dann automatisch Erfolg haben muss. Aber Liebe ist ein Angebot, das immer abgelehnt werden kann, sonst müssten wir nicht davon reden, die Liebe zu wagen. Risiko ist immer mit eingeschlossen in Liebesgeschichten. Und Johannes schreibt keine romantisierte Form der Liebesgeschichte zwischen Gott und seinen Menschen. Er schreibt: »Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.« Johannes ist wie ein Romanschriftsteller, der den Schmerz unerwiderter Liebe schildert: Einsamkeit, Isolation und Zurückweisung. Angesichts einer bedürftigen Welt kommt Jesus als Gottes Wort mit einem Geschenk, das alle Sehnsucht stillt, aber das liebevolle Angebot wird auch abgelehnt. Auch göttliche Liebesgeschichten müssen nicht ein glückliches Ende nehmen.

 

  1. Die Handlung der Liebe ist bedingungslos. Gott wartet nicht ab, bis die »Schuldigen« zeigen, dass sie sich geändert haben.

Augustus hört wörtlich von seinem Freund Isaac, dass er gar nicht offen ist für seine Botschaft. »Ich war blind und mein Herz war gebrochen und ich wollte nichts tun.« Der Satz bleibt wahr, auch nachdem sein Freund in seinem Krankenzimmer erscheint. Augustus wartet nicht ab, bis Isaac seine Meinung ändert oder seine Laune besser wird. Es geht ihm nicht um seinen Beliebtheitsgrad, sondern um eine Botschaft, die sein Freund dringend braucht, damit er sich nicht in Trauer und Hoffnungslosigkeit verliert.

Johannes bewundert dieselbe Hartnäckigkeit in Gott: »Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.« Was Gott nicht davon abgehalten hat, im Raum unseres Schmerzes aufzutauchen, genauso wenig wie es Augustus aufgehalten hat.

 

  1. Die Initiative Gottes ist ein liebevolles Angebot, das zeigt, dass die Motivation das Wohlergehen des »Anderen« ist.

Die wunderbaren Neuigkeiten, die Augustus ankündigt, zeigen, dass es ihm um das Wohlergehen seines Freundes geht. Wenn Menschen uns sagen »Ich habe wunderbare Neuigkeiten«, wird nachher herausgestellt, dass sie befördert worden sind, einen begehrten Platz an der Universität bekommen haben, eine hervorragende Note oder die ersehnte Stelle bekommen haben. Aber Augustus zeigt, dass es ihm nicht um sich selbst geht. »Du wirst ein gutes und langes Leben voller großartiger und schrecklicher Momente leben, die du dir noch gar nicht vorstellen kannst!« Was wir nicht aus dem Auge verlieren sollten, ist dass Issac diese Geschichte erzählt über einen Freund, der selbst den Krebs nicht überlebt.

Wenn Johannes uns erzählt »In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, wir haben seine Herrlichkeit geschaut, aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade«, dann hören wir seine Version von »Du wirst ein gutes und langes Leben voller großartiger und schrecklicher Momente leben, die du dir noch gar nicht vorstellen kannst!«

Johannes Freundschaftsgeschichte zeigt nicht nur die Art und Weise, wie Gott uns ein guter und engagierter Freund ist, sondern auch, dass er ein Gott ist, der zum Leben kommt mit einer Perspektive ganz anders als unsere. Gott freut sich für uns, wie Augustus für Isaac, weil wir die Möglichkeit haben, das Leben auf neue Art und Weise zu erfahren. Und Gott wagt es, uns dies zu sagen aus demselben Grund, warum Augustus es seinem Freund Isaac sagt: weil er nicht von dieser Lebensrealität verschont geblieben ist, sondern mitten drin steckt, wie wir auch. Gott schlägt sein Zelt direkt neben unserem auf. Gott selbst leidet an dem Schmerz unerwiderter Liebe: Einsamkeit, Isolation und Zurückweisung. Er zeigt uns, dass die Liebe ihm Wege öffnete, damit umzugehen. Und diese Wege stehen auch uns offen.

 

Erik Riechers SAC, 3. Januar 2021

 

 

Gehen unter seinem Namen

 

Jeder Tag ist ein Anfang, etwas Neues, nie Dagewesenes; doch am ersten Tag eines neuen Jahres empfinden wir dies ganz besonders. Wir nehmen diese Schwelle stärker wahr und - je älter wir werden - auch das, was wir über diese Schwelle tragen an Leid und Freude, an Traurigkeit und Hoffnung, an Ängstlichkeit und Zuversicht, an Dankbarkeit und Enttäuschung. Ganz schön schwer!

Ja, so ist Leben, nicht erst seit der Pandemie. Über genau dieses unser Leben aber sagt Gott Gutes! Er segnet es! Auf dem langen und beschwerlichen Weg durch die Wüste, der oft aussichtslos schien, sprach er diesen Segen in einer Weise aus, die wir bis heute lieben und über das neue Jahr stellen:

Der HERR sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden.

So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen und ich werde sie segnen.

Das Gute, das Gott den Seinen zusagt, hat ein dreifaches Gesicht: Schutz, Gnade und Frieden. Heil wird zugesagt. Das ist ein Segen, der direkt aus Gottes Namen fließt: Ich bin da. Wenn der Weg dunkel wird: Ich bin da. Wenn Krisen dich schütteln: Ich bin da. Wenn du gebrechlich wirst: Ich bin da. Wenn du dich verloren fühlst: Ich bin da. Ich sehe dich, ich behüte dich, ich schaue auf dich. Mein Name liegt auf dir.

So gesegnet können wir weitergehen, auch heute, wenn wir die Schwelle vielleicht wie eine Hürde empfinden und uns nur zögernd vortasten. Diesem Namen können wir unseren Namen anvertrauen.

Dann können wir vielleicht mit Andreas Knapp betrachten:

 

Name

 

Dein Name

nicht Schall und Rauch

sondern Klang und Bild

ein gutes Omen

unverwechselbarer Schriftzug

Buchstaben des Lebens

 

dein Name

von der Liebe erfunden

zärtlich geflüstert

kein einsames Echo

sondern Widerhall des Herzschlags

Passwort zu dir

 

dein Name

Lebenslinie in SEINER Hand

unvergänglicher eingraviert

als in granitesten Grabstein

Lieb-Kose-Name

unaufhörlich

                               Andreas Knapp, Weiter als der Horizont

                             

Ein gesegnetes neues Jahr!

 

Rosemarie Monnerjahn, 1. Januar 2021

 

 

Die Windeln des Willkommens

 

Als Jesus zur Welt kam, erschienen Engel den Hirten und schickten sie auf die Suche nach dem Retter. Damit sie ihn erkennen, gaben sie den Hirten folgende Anweisung:

 

Und das soll euch als Zeichen dienen:

Ihr werdet ein Kind finden,

das, in Windeln gewickelt,

in einer Krippe liegt.

 

Im Buch des Propheten Ezechiel gibt es ein Wort, dass die Bedeutung der Windeln uns näherbringen kann.

 

Bei deiner Geburt, als du geboren wurdest,

hat man deine Nabelschnur nicht abgeschnitten.

Man hat dich nicht mit Wasser abgewaschen,

nicht mit Salz eingerieben,

nicht in Windeln gewickelt.

(Ez 16:4)

 

Ezechiel beschreibt eine Geburt der ganz anderen Art. Hier ist ein Bild des Volkes Israel, das ohne Windeln auf die Welt gebracht wird. Das ist eine Metapher für das Ausgesetztsein, für das Ausgeliefertsein an andere. Und es ist ein furchtbares Bild für ein schutzloses Leben, das sich selbst überlassen ist, von Anfang an im Stich gelassen. Denn die in der Bibel beschriebenen Windeln bestanden aus einem Tuch, das mit Stoffbinden zusammengebunden wurde. Nach der Geburt eines Säuglings wurde die Nabelschnur durchtrennt und abgebunden, dann wurde das Kind gewaschen, mit Salz und Öl eingerieben und anschließend in Windeln gewickelt. Diese Stoffstreifen sollten das neugeborene Kind warm halten und dafür sorgen, dass seine Gliedmaßen gerade wachsen. Windeln stehen für einen warmen Schutz in einer kalten Welt. Sie sprechen von liebevoller Fürsorge und einer wertschätzenden Bereitschaft, dieses Leben zu schützen und ihm zu dienen.

 

John L. Bell schrieb vor Jahren ein wunderschönes Lied über die Suche nach dem Kind.

 

Ich suchte ihn in feinsten Kleidern gehüllt,

wo Geld spricht und Status wächst;

aber Macht und Reichtum wählte er nie:

es schien, dass er in Armut lebte.

 

Ich suchte ihn an dem sichersten Ort,

fern von Verbrechen oder billiger Schande;

aber Sicherheit kannte sein Gesicht nicht:

es schien, er lebte in Gefahr.

 

Ich suchte ihn dort, wo die Scheinwerfer blenden,

wo sich Menschenmassen sammeln und Kritiker starren;

aber niemand kannte seine Anwesenheit dort:

Es schien, er lebte im Verborgenen.

 

Dann, in den Straßen, hörten wir das Wort

das um alles in der Welt absurd erschien:

dass diejenigen, die sich keine Geschenke leisten konnten,

Christus, den Herrn, unterhielten.

 

Und so, anders als wir es geplant hatten,

unter den Ärmsten des Landes,

taten wir, was nur wenige verstehen mögen:

wir berührten Gott in der Hand eines Babys.

 

Und das ist der Grund, warum Lukas dieses Detail der Windeln verwendet. Der Sohn Gottes kommt in eine kalte Welt, ausgesetzt der Gefährdung, der Armut und der Verborgenheit. Aber wir sollten die Welt nie in zu dunklen Tönen malen. Denn es gibt auch in dieser Welt Menschen, die das Kind beschützen, behüten und liebevoll aufnehmen. Das sind die Menschen, die alles neue Leben von Gott in Windeln wickeln. 

 

Und es kann sicher nicht schaden, sich daran zu erinnern, wer die Menschen waren, die die Windeln zur Verfügung gestellt haben. Mögen wir uns zu ihnen zählen lassen.

 

Erik Riechers SAC, 30. Dezember 2020

 

 

Vor Kinderaugen

 

In diesen weihnachtlichen Tagen oder auch, nach alter Tradition, 12 Heiligen Nächten bis Dreikönig, sind mir die Geschichten von Selma Lagerlöf eine feine Begleitung. Zeitlos weiten sie den Blick von der Heiligen Nacht in unser Leben hinein und gehen so mit mir durch diese Zeit. Eine dieser Erzählungen ist »Ein Weihnachtsgast«:

Der kleine, schon in die Jahre gekommene Ruster ist ein armer Notenscheiber und Flötenspieler. Es gab für ihn die guten Kavaliersjahre, wo er und andere musizierten und ein munteres Leben führten, doch das ist lange her. Als Weihnachten naht, taucht er auf dem prächtigen Gutshof eines früheren Kameraden, des Violinspielers Liljekrona auf - mit nichts außer seiner Flöte, Feder und Branntwein. Widerstrebend wird er aufgenommen; die Hausherrin findet ihn zudem eine Zumutung für die Kinder.  Er stört die Festvorbereitungen, die alle hier so lieben und auf den Zauber der Weihnacht hin arbeiten lassen. Schließlich verlässt er am Nachmittag des Heiligabend mit gekränktem Stolz das Anwesen - der Knecht soll ihn im Schlitten zu einem anderen Hof bringen.

Doch bei Liljekrona und seiner Familie stellt sich kein Weihnachtszauber ein. Der Geiger zieht sich von seiner Familie zurück und spielt in seinem Zimmer so wild auf seiner Geige, dass seiner Frau Angst wird. Währenddessen zieht Ruster durchs Schneegestöber von Haus zu Haus - niemand nimmt ihn auf. »Da sah er mit einem Male sich selbst. Er sah, wie jämmerlich und verkommen er war, und er begriff, dass er den Menschen verhasst sein musste. Mit mir ist es aus, dachte er.« Und wie er sein Leben so anschaut, wird er plötzlich sehr demütig und er glaubt an sein Ende in dieser Kälte und Dunkelheit an diesem Weihnachtsabend.

Erst als er auf einmal in Licht und Wärme aufgenommen wird, erkennt er, dass er wieder in Liljekronas Haus ist - dorthin war der Knecht müde zurückgekehrt, ohne dass es Ruster wahrgenommen hatte. Der Hausherr  hier tobt sich weiter mit der Violine aus, seine Frau aber ist verwandelt; Mitleid erfüllt sie und dann vertraut sie Ruster ihre Knaben an, während sie noch letzte Arbeiten in der Küche erledigt. Mit Kindern jedoch ist der Mann völlig unerfahren: »Er scheute sich beinahe vor ihnen und wusste nicht, was er sagen sollte, das fein genug für sie war.« Und dann nimmt er das, was er kennt, seine Flöte. Und über die Töne kommen sie zu den Noten und darüber zum ABC. Doch Ruster ist nicht zufrieden mit sich. »Er wälzte die alten Gedanken, die er im Schneesturm gehabt hatte, in seinem Kopfe. Hier war es gut und behaglich, aber mit ihm war es doch auf jeden Fall aus. Er war verbraucht. Er würde fortgeworfen werden. Und urplötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.« Da tritt Liljekronas Frau vor ihn - voller Verständnis, voller Zuversicht und mit dem Angebot, in Zukunft ihre Kinder zu unterrichten. Sie ermahnt ihn, den Kindern in die Augen zu schauen, doch er traut sich nicht und sagt dies auch. »Da lachte Liljekronas Frau hell und froh auf. ‚dann sollen Sie sich an sie gewöhnen, Ruster. Sie sollen dieses Jahr als Schulmeister bei uns bleiben.‘ «

Dieses Lachen dringt bis zu Liljekrona. Als er aus seinem Zimmer kommt, kann er kaum fassen, was er  sieht und was seine Frau da gerade ausgemacht hat und er versteht ihren Mut nicht und er fragt, was Ruster wohl versprochen hat. »‚Ruster hat nichts versprochen. Aber er wird sich vor mancherlei in acht nehmen müssen, wenn er jeden Tag kleinen Kindern in die Augen sehen soll. Wäre es nicht Weihnachten, hätte ich dies vielleicht nicht gewagt, aber wenn unser Herrgott es wagte, ein kleines Kindlein, das sein eigener Sohn war, unter uns Sünder zu setzen, dann kann ich es wohl auch wagen, meine kleinen Kinder versuchen zu lassen, einen Menschen zu retten. «

Ergriffen zuckt Liljekronas Gesicht - wie immer, wenn er etwas Großes hört. Und er küsst die Hände seiner Frau.

Jetzt wird Weihnachten wahrlich gefeiert!

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. Dezember 2020

 

 

Die Komplexität eines authentischen Lebens

Heilige Familie  B 2020                                 Lk 2, 22-40

 

 

Normalerweise, wenn wir an das Kommen des Kindes denken, erwarten wir eine ziemlich einfache und unkomplizierte Geschichte. Sie sollte uns froh machen, trösten und das Herz erwärmen. Jedoch haben sehr viele Menschen diese Weihnachtszeit mit gemischten Gefühlen gefeiert. Trauer vermischte sich mit Freude. Viele Erwartungen wurden nur minimalistisch erfüllt oder gar nicht. Was sich mischt, ist harte Realität und hartnäckige Hoffnung, die kalten Fakten des Lebens und die nicht zu löschende Sehnsucht des Glaubens. 

Heute hören wir eine biblische Geschichte, die genauso kompliziert und vielschichtig ist. Der Grund dafür ist einfach: Die Realität der menschlichen Erfahrung ist immer komplex. In dieser Geschichte vom Kommen des Kindes sehen wir die Erfüllung einer Verheißung der Erlösung und gleichzeitig eine Vorhersage von Zeiten der Schwierigkeiten und des Schmerzes. Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Hier gibt es keine Flucht vor der Realität. Hier haben wir die lebensnahe Geschichte des Evangeliums. Und wir können daraus drei Lebensunterweisungen für gemischte Erfahrungen mitnehmen.

 

Sprich nicht schlecht von armen und kraftlosen Anfängen

Es ist leicht, die Zeichen der Armut in der Geschichte zu übersehen, aber sie sind da. Weil Maria und Josef arm sind, können sie sich kein Lamm leisten, um es als Opfer in den Tempel zu bringen. Deshalb haben sie keine andere Wahl, als die Option zu wählen, die den Armen offensteht: »ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben«. Allein die Tatsache, dass sie diese Opfergaben bringen, ist bereits ein demütigendes öffentliches Bekenntnis zu ihrem sozialen und wirtschaftlichen Status. Die ständige Frustration und Demütigung, die so viele ihrer Landsleute auch erfahren haben, weckte sicherlich das Verlangen, dass Gottes Verheißung der Erlösung erfüllt werden sollte.

An dieser Stelle treten Simeon und Hanna in die Geschichte ein, zwei Menschen, die die Armut und Einfachheit dieses jungen Paares weder lächerlich machen noch verunglimpfen. Stattdessen sehen sie etwas in ihrer gegenwärtigen Lage, ja, in dem, was sie schon besitzen, das nicht nur realistisch und fokussiert ist, sondern auch großzügig und umfassend. So oft erleben wir in unseren Krisensituationen  Sarkasmus, Ironie, Herablassung, Unheilspropheten und Besserwisserei. Hier aber sind zwei, die warme Worte für arme und kraftlose Anfänge finden. Denn so fangen alle Geschichten Gottes an.

 

Gönne anderen das Leben, das du selbst ersehnst

Lukas sagt uns, dass Simeon ein Mann war, auf dem »der Heilige Geist ruhte«. Das Geist-Gewobene in ihm lässt Simeon eine bemerkenswerte Offenheit zeigen. Intuitiv spürte er den Drang, den Tempel zu besuchen, und er nahm es als Führung des Geistes. Simeon sieht nicht nur das Baby, sondern erkennt die Bedeutung des winzigen Lebens, das er in seinen Armen hält. In einer Flut von Worten, die Simeons Gedanken und Gebete aus unzähligen Jahren zusammenfassen, spricht er die Worte dessen aus, was wir heute das Lied Simeons nennen.

Wenn  wir Menschen lange und hart bedrängt werden, kann der Wunsch unseres Herzens zu klein werden. Dann wollen wir die Befreiung von dem, was uns hier, heute und im Augenblick bedrückt. Dann kann es passieren, dass wir es auch nur für uns wünschen und gönnen. Simeon dagegen sieht Gottes Heil als etwas, das den ganzen Erdkreis umfasst. Nicht nur sein Volk und seine Menschen sollten Gottes Heil sehen und erfahren, sondern alle Völker.

Wie oft geht es in Krisen darum, einen Vorteil gegenüber dem Feind zu erlangen. Aber Simeon sieht, dass Gott inklusiv und nicht parteiisch ist. Gott möchte die Welt nicht in Gewinner und Verlierer aufteilen, sondern jeden an dem Gewinn teilhaben lassen. Seine Erlösung ist für die ganze Welt. Hier steht Simeon in einer Tradition so alt wie Genesis. Denn die Verheißung Gottes an Abraham besagt, dass durch seine Nachkommen alle Völker der Welt gesegnet werden würden. Diese Großzügigkeit ist eine Frucht des Geistes, der in uns wohnt und auf uns ruht. Die Herrlichkeit Israels wird sich in dem Maße verwirklichen, wie Israel ein Mittel zum Segen für die Nationen ist. Das war Simeons Vision von Jesu Leben und Wirken. 

 

Sprich Segen, der die tiefsten Realitäten des Lebens berührt, anstatt sie zu vermeiden

Simeon segnet dann Jesu Eltern. Aber sogar sein Segen ist kompliziert, denn mit dem Segen kommen Worte der Warnung, der Vorhersage, des Konflikts, der Spaltung, der Opposition, (Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.) und für Maria persönlicher Verlust und Leid. (Dir selber aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.)

Simeons Segen ist alles andere als eine Beschönigung der Realität, ein Übertünchen der Risse mit blindem Optimismus und sentimentaler guter Laune. Simeons Segen stellt sich der Realität, dass dort, wo die Liebe Gottes auf die Sündhaftigkeit des Menschen trifft, Leid die unvermeidliche Folge ist. Der Segen kommt aus dem Wissen, dass der Weg, den Gott gewählt hat, darin besteht, mit dem Leiden der Welt umzugehen, indem er diejenigen begleitet, die leiden, als einer, der mit uns leidet.

Eine andere bemerkenswerte Person, Anna, kommt dann hinzu. Eine Frau, die einen enormen Verlust erlebt hatte, sich aber weigerte, der Bitterkeit und dem Groll nachzugeben und Sinn und Erfüllung im Gebet und Fasten Tag und Nacht fand! Sie war ein Mensch des Glaubens und der Hoffnung, der auf eine bessere Zukunft blickte. Auch sie war offen, um die Bedeutung dieses Kindes zu erkennen, und teilte ihre Freude über diese Entdeckung mit all denen, die auf die »Erlösung Jerusalems« warteten. Anna hatte so viel verloren, doch statt verbittert oder nachtragend zu sein, fand sie Erfüllung.

Das sind die komplexen Schritte durch alle Krisenzeiten, die uns befähigen, der Bitterkeit des Geistes nach einem großen Verlust zu widerstehen.

John Shea hat einen langen, liebvollen Blick auf die Realität im Lied des Simeon geworfen. Mögen seine Worte, die auch komplex und gemischt sind, uns helfen, nicht nur Weihnachten zu feiern, sondern die kommenden Tage gut zu bewältigen.

 

Das Lied von Simeon (Lukas 2, 29-32)

 

Wenn ich das Lied des Simeon singe,

beneide ich ihn um seinen Platz in der Heilsgeschichte.

Seine alten Augen sehen das Kind der Verheißung,

seine Ohren hören das Säuglingsgeschrei des Retters.

Dies macht es ihm möglich

in Frieden zu scheiden,

Abschied zu nehmen von seinem Leben.

Simeon hält das Kind der Verheißung in seinen Armen

und singt davon, dass das Leben so voll geworden ist,

dass mehr davon nicht gebraucht wird.

Vollendung ist angekommen.

 

Wie viele wollten schon sagen können:

»Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden«?

 

Ich denke an einen Freund, der starb,

während seine Kinder noch jung waren.

An seinem Krankenbett

war er aufgewühlt und unfähig zu sprechen.

Ich fragte ihn,

ob er besorgt war um seine Frau und Kinder.

Er nickte.

Ich sagte ihm, dass sie ihn vermissen würden, aber es würde ihnen gut gehen.

Er hob seine Hand

und kreuzte den Zeigefinger mit dem Mittelfinger,

das Zeichen für »Hoffentlich!«

Kein Lied des Simeon für ihn.

 

Wir wissen, wie tief das Feilschen in uns liegt –

Eltern beten, dass sie noch am Leben bleiben,

bis das Kind verheiratet oder das Enkelkind geboren wird.

Wir hegen in uns die Hoffnung, dass eine Zeit kommen wird,

wenn wir bereit sein werden.

Wir werden an einem Festmahl teilgenommen haben,

das unseren Hunger so sättigt,

dass mehr nicht gebraucht wird.

Dann wird unsere Faust sich öffnen

und wir werden unseren festen Griff loslassen,

mit dem wir das Leben festhalten.

Wir werden uns ohne Bedauern ergeben

und die Last unserer Tage niederlegen.

Möge es so sein!

 

Aber ich bin mir nicht sicher.

Für viele von uns,

für mich,

gibt es vielleicht keine endgültige Lösung während des Lebens,

keine Kulmination unserer Bemühungen.

Wir könnten unerfüllt sterben, mit unerledigter Arbeit,

mit anderen, die ohne uns weitermachen.

 

Aber wenn es eine Möglichkeit gibt,

die Worte des Simeon zu unserem letzten Lied zu machen,

müssen wir uns als Diener radikalisieren.

Es ist der Diener, der scheidet:

Alle anderen hören lediglich auf.

Wenn wir unser Leben verschenkt haben,

haben wir den Geist vielleicht gut genug kennengelernt,

um seine Entfaltung in uns

und in denen, die wir lieben,

zu umarmen.

Vielleicht haben wir den Geist gut genug kennengelernt,

um dem größeren Geheimnis zu vertrauen,

das uns verbindet über die Trennungen hinaus.

 

Unsere Erbschaft des Dienstes wird uns erhalten,

wissend, dass der Eine, dem wir gedient haben,

treu ist

auf Weisen, die wir uns nicht vorstellen können.

 

Erik Riechers SAC, 27. Dezember 2020

 

 

Im Kind fängt Gott von vorne an

Weihnachtstag 2020

(Für Julia, Lukas und Johannes)

 

»Denn uns ist ein Kind geboren« (Jes 9,5). Wenn wir das hören, dann können wir schon über Gott fragen: ‚Hat er sie noch alle?’ Denn auch nur ein kurzer Blick auf die schmerzhaft gebrochene Welt um uns herum sagt uns, dass das allerletzte, was wir im Augenblick gebrauchen könnten, ein Kind ist.

Wir hören täglich genau das Gegenteil von Politikern und Wirtschaftsexperten. Die sagen uns: Wir brauchen mehr Truppen, um uns vor dem Terror zu schützen, nicht ein Kind. Wir brauchen geniale Menschen, die neuen Technologien entwickeln, damit wir wieder Spitzenreiter in der globalisierten Weltwirtschaft werden, aber nicht ein Kind. Wir brauchen heldenhafte Menschen, die uns neue Welten eröffnen. Wir brauchen Unternehmer, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. In einer solchen Welt warten wir schon lange auf den Engel, der ankündigt: »Fürchtet euch nicht… Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren«. Aber wie wagt es Gott, uns dann zu sagen: »Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt«!

Gott gibt einen ganz eigenen Weg vor. Das überraschend Neue am Evangelium besteht genau darin, dass Gott klein und verletzlich und ausgerechnet auf diese Weise unter uns fruchtbar wurde. Er bevorzugt es, als Kind in die Welt zu kommen. Die drei Grundhaltungen vor dem Kind, die wir in Bethlehem lernen und uns zum Segen und Heil werden, werden in Kana und auf dem Kalvarienberg, in Jerusalem und Jericho wieder von uns verlangt.

Erstens, ein Kind verlangsamt uns. Ein Kind bremst das normale Tempo unseres Lebens ab. Diese Wahrheit ist uns schmerzlich klar. Kinder können mit Erwachsenen nicht Schritt halten. Sie können nicht so schnell gehen wie wir. Geistig können sie sich nicht mit unsere Schnelligkeit messen. Kinder brauchen mehr Zeit zum Lernen. Sie sind langsamer im Verstehen, brauchen viel mehr Zeit sich vorzubereiten, um sich neu einzustellen. Deshalb, wenn wir uns liebend auf ein Kind einlassen wollen, dann müssen wir uns dessen Schritttempo anpassen.  

Und genau darin werden wir gesegnet. Wenn wir uns auf ein Kind einlassen, dann wird unser Leben abgebremst und verlangsamt, bis wir uns auf neue Ebenen der Erfahrung, des Genusses und der Erforschung einlassen können. Nicht Kinder rasen an Wundern vorbei, sondern Erwachsene. Die Kinder braucht man nicht daran zu erinnern, die Schönheit und die Großartigkeit des Lebens zu merken; das brauchen wir als Erwachsene. Wenn ihre Fragen wie Kaskaden auf uns herunterfallen, dann haben wir den Beweis, dass sie die Welt wirklich sehen, bewundern und auf sich wirken lassen können. Ihre Wissbegierde lässt das Staunen hervorbringen, und das Staunen ist der Anfang allen Glaubens.

Darum ist uns ein Kind gegeben. Gott will uns verlangsamen, damit die wichtigsten Begegnungen, die Fülle und das wahrhaft Bedeutsame des Lebens nicht spurlos an uns vorbei gehen. Im Kind bremst er uns aus, damit wir unser Leben überhaupt mal wahrnehmen können, unsere Ausrichtung mal merken, die Bewegung oder Bewegungslosigkeit unseres Lebens in den Blick nehmen können und uns auf die brennenden Fragen einlassen können. Was in Bethlehem seinen Anfang nimmt, wird aber im Leben und Wirken Jesu durchgezogen. In Bethlehem lernen wir eine Grundhaltung des Glaubens. Wie werden wir sonst die Lilien des Feldes, die Vögel am Himmel, die arme Witwe, den verlorenen Sohn, die innerlich verblutende Frau, den verunsicherten Zachäus oder die trauernde Martha wahrnehmen, wenn wir an allen Orten der Gottesbegegnung vorbei rennen? Um voll und ganz zu leben, brauchen wir den Schritt und das Tempo eines Kindes. Wenn wir langsamer treten wollen, dann sollten wir das Kind willkommen heißen. Dafür ist es uns gegeben.

Zweitens, ein Kind entfesselt unsere Großzügigkeit. Kinder sind nicht unsere Partner. Sie können keinen gleichen und effektiven Beitrag zur Familie, zum Staat und zur Gemeinschaft leisten. Sie brauchen viel mehr als sie geben können. Sie brauchen unsere materiellen Ressourcen, denn sie können ihr Leben nicht selbst unterhalten. Sie brauchen mehr Bestätigung, denn sie sind im Selbstbewusstsein und Mut noch nicht stark genug. Sie müssen lange aus dem Becher unserer Liebe, unserer Geduld und unserer Kraft trinken. Sie brauchen mehr Zeit. Schlicht und einfach, wir können Kinder nicht lieben, wenn wir diesen Ansprüchen nicht nachkommen. Und gerade diese Ansprüche schmieden den Kern unserer Großzügigkeit.

In diesem Sinne sind Kinder die ersten Lehrer unserer Großzügigkeit. Für die meisten Eltern fängt ein Leben des selbstlosen Dienstes nicht vor dem Ehe-Altar, sondern vor dem Taufbecken an. In dem Augenblick, wo ihnen ein Kind geboren wird, sind sie sofort in der Schule der Großzügigkeit eingeschrieben. Ohne einen vielseitigen Großmut können Kinder nicht geliebt noch erzogen werden. Sie bringen uns dazu, die Knauserigkeit, mit der wir mit Zeit und Liebe umgehen, zu übersteigen, um mehr und immer wieder mehr davon anzubieten und bereitzustellen. Die Selbstbeschäftigung lässt nach und die Sorge um das Kind wächst.

Deshalb wird uns ein Kind gegeben. Im Kind fängt Gott von vorne an. Er dehnt unsere Herzen, damit Platz wird für eine größere, eine göttliche, Großherzigkeit. So arbeitet er mit uns von der Krippe bis zum Kreuz. Wir brauchen großzügige Herzen, wenn wir die Netze am Ufer liegen lassen wollen und den letzten Euro in den Opferstock werfen wollen. Nur großzügige Herzen können die andere Wange hinhalten, die nächste Meile mitgehen und die Verfolger segnen. Kein Schritt des Weges mit Christus kann ohne ein großzügiges Herz begangen werden. Darum wird uns ein Kind geben, weil im Kind Gott von vorne anfangen will.

Letztlich, ein Kind mildert unseren Zorn. Das heißt nicht, dass Kinder nie die Ursache unseres Zornes sind. Wahrhaftig, Kinder können uns zur Weißglut bringen, und zwar mit unheimlicher Leichtigkeit. Flecken auf den gerade gereinigten Teppich, Innenraumgestaltung mit Farbstiften, nicht erledigte Hausaufgaben, nicht aufgeräumte Zimmer, usw. Sie sorgen schon dafür, dass sich nicht nur unsere Herzen, sondern auch unser Blutdruck erheben.

Und doch auch in der Stunde des Zornes können sie uns retten. In der Begegnung mit ihrer Verwundbarkeit fangen wir an, von den Quellen unseres Mitleids zu schöpfen. Die Verletzlichkeit öffnet uns neue Zugänge zu längst vergessener Zärtlichkeit. Ihre Verwundbarkeit macht sie schutzlos und leicht verletzbar und das durchbricht unsere sonst gepanzerten Herzen. Diese Verletzlichkeit der Kinder macht uns offen für eine Liebe, die unseren Zorn, unsere Rechthaberei und sogar unseren Trieb zur Gewalt übersteigt.  Ihre Wehrlosigkeit lässt uns schützend über ihnen stehen und beruhigt unsere Wut. Die Hilflosigkeit der Kinder lockt Hilfe und Trost aus uns heraus. Wenn wir Kindern, die klein von der Statur, der Stärke und der Lebenskraft sind, gegenüber stehen, dann wandeln sich unsere Herzen in Barmherzigkeit und Milde, wo früher nur Ungeduld und Zorn herrschten.

Gott brachte uns in äußerster Verwundbarkeit ein neues Leben. Er kam als kleines, ganz von der Fürsorge und vom Schutz anderer abhängiges Kind zu uns. Im Kind fängt Gott von vorne an. Wenn Gott wie ein kleines Kind in die Welt kommt, kann Gott nicht gehen und nicht sprechen; erst muss ihm das jemand beibringen. Da fängt die Geschichte von Jesus an, der Menschen braucht, damit er groß werden kann. Gott sagt: »Ich will schwach sein, damit ihr mich lieben könnt. Was für eine bessere Möglichkeit gäbe es, euch zu helfen, meine Liebe zu erwidern, als ganz schwach zu werden, damit ihr für mich sorgen könnt?« Gott wird zum stolpernden Gott, damit er ganz auf unsere Liebe angewiesen ist. Der Gott, der uns liebt, ist ein Gott, der verwundbar wird, von Menschen abhängig in der Krippe, abhängig von ihnen am Kreuz; ein Gott, der grundsätzlich fragt: »Bist du für mich da?«

Wir verbringen so viel Zeit, uns vor Schmerz, Verrat und Verletzung zu schützen, dass wir unsere Herzen hinter Panzerglas gestellt haben. Aber hier ist der Gott, der sein Herz in Windeln wickelt. In Bethlehem wird uns ein Kind gegeben, weil die Verwundbarkeit der Weg zur Liebe und zum Leben ist.

So ist immer der Weg Jesu, von der Krippe seiner Geburt bis zum Zeigen seiner Wunden nach der Auferstehung. In seinem Fleisch lernen wir unablässig, dass Gott in ihm einen ganz eigenen Weg vorgibt, den Weg, wo wir offen und ohne Angst in unserer Verwundbarkeit leben. In Jesus sehen wir einen Menschen, der die Bedürfnisse von den kleinsten Kindern wahrnimmt und der für Lazarus weint. Hier ist ein Mensch, der sich nicht scheut, vor uns Blut zu schwitzen, der seine Angst uns nicht verschweigt und uns offen zugibt, dass sein Herz zu Tode betrübt ist. Hier ist einer, der um der Liebe willen für die Wunden des Lebens empfänglich ist.

Eine neue Mutter sagte mir mal: »Alles, was ich in meinem Leben getan und geleistet habe, hat mich nicht auf diese Begegnung vorbereitet.« Es ist nicht zu spät. Wir können noch ein bisschen kleiner werden, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Das Kind ist geduldig. Wir haben uns wahrscheinlich auf etwas anderes vorbereitet, es ganz anders vorgestellt: das macht nichts.

So schließe ich mit einem Gedicht meines Lehrers John Shea. Auch hier können wir die einzig richtige Antwort auf die gute Botschaft der Menschwerdung von einem Kind lernen.

 

Sharon’s  Weihnachtsgebet

Sie war fünf,

kannte die Tatsachen und sagte sie auf

mit langsamer Feierlichkeit,

überzeugt, jedes Wort sei eine Offenbarung.

Sie sagte

sie waren so arm, sie hatten nur Brote mit Erdnussbutter

und Marmelade zu essen und sie waren weit von zu Hause

weggegangen ohne sich zu verirren.

Die Frau ritt auf einem Esel, der Mann ging zu Fuß,

und das Baby war im Bauch der Frau.

Sie mussten in einem Stall bleiben mit einem Ochsen und

einem Esel (hihi), aber die drei reichen Männer fanden sie,

weil ein Stern das Dach beleuchtete.

Hirten kamen und man konnte die Schafe streicheln,

aber nicht füttern.

Dann wurde das Baby geboren.

Und weißt du, wer er war?

 

Ihre Augen wurden groß.

            Das Baby war Gott.

 

Und sie sprang in die Luft, wirbelte herum, tauchte ins Sofa

und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.

Was die einzig richtige Antwort ist

auf die gute Botschaft der Menschwerdung.

 

Ich wünsche Ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.

 

Erik Riechers SAC, 25. Dezember 2020

 

 

Die überraschende Fülle

 

Egal, wie sehr wir uns bemühen, wir können die Möglichkeiten der Geschichten Gottes und der Geschichten des Glaubens nicht ausschöpfen. Sie werden uns mit ihren reizvollen Einsichten überraschen, die jedem Versuch trotzen, sie auf geerbte Auslegungen zu beschränken. Und sie werden uns zum Nachdenken bringen, wenn wir es am wenigsten erwarten. Sie werden uns zum Nachdenken bringen, wenn wir es am wenigsten wollen.

Denise Levertov bietet uns in ihrem Buch A Door in the Hive einen weiteren Blick auf die Begegnung zwischen Gabriel und Maria. In einer Zeit, in der wir in unserer Freiheit und Fähigkeit, einander so zu begegnen, wie wir es uns wünschten, stark eingeschränkt sind, ist es umso wichtiger, das tiefste Potenzial zu entdecken, das solche Begegnungen bieten. Auf diese Weise werden wir sie nicht als selbstverständlich ansehen, wenn die Tage der ungehinderten Begegnungen zurückkehren. 

 

Verkündigung

‘Sei gegrüßt, Raum für den uneingeschränkten Gott‘

Aus der  Agathistos Hymne, Griechenland

 

Wir kennen die Szene: der Raum, unterschiedlich eingerichtet,

fast immer ein Rednerpult, ein Buch; immer

die große Lilie.

 

Angekommen mit feierlicher Erhabenheit der großen Flügel,

der engelhafte Botschafter, stehend oder schwebend,

den sie anerkennt, ein Gast.

 

Aber uns wird von sanftem Gehorsam erzählt. Keiner erwähnt

Mut.

 

Der zeugende Geist

drang nicht ohne Zustimmung in sie ein.

 

Gott wartete.

 

Sie war frei

zu akzeptieren oder abzulehnen, eine Wahl, die

integraler Bestandteil des Menschseins ist.

____________________

 

Gibt es nicht Verkündigungen

der einen oder anderen Art

in den meisten Leben?

 

Einige nehmen unfreiwillig

große Schicksale auf sich,

führen sie in mürrischem Stolz aus,

verständnislos.

 

Häufiger

wenden wir uns ab

von diesen Momenten,

wenn Straßen aus Licht und Sturm

aus der Dunkelheit in einem Mann oder einer Frau sich öffnen,

 

mit Angst, mit einer Welle der Schwäche, aus Verzweiflung

und mit Erleichterung.

Das gewöhnliche Leben geht weiter.

Gott schlägt sie nicht nieder.

Aber die Pforten schließen sich, der Weg verschwindet.

__________________

 

Sie war ein Kind gewesen, das spielte, aß und schlief

wie jedes andere Kind - aber anders als die anderen,

weinte nur aus Mitleid, lachte

in Freude, nicht im Triumph.

Mitleid und Intelligenz

verschmolzen in ihr, untrennbar.

 

Berufen zu einem Schicksal,  bedeutsamer

als jedes andere in der ganzen Zeit,

hat sie nicht gezögert,

 

sondern nur gefragt

 

ein einfaches, ‘Wie kann das sein?’

und ernsthaft, höflich,

nahm sie die Antwort des Engels zu Herzen,

den erstaunlichen Dienst, der ihr angeboten wurde:

 

Unendliches Gewicht und Leichtigkeit

in ihrem Schoß zu tragen;

neun Monate der Ewigkeit zu tragen

in verborgener, endlicher Innerlichkeit;

in schlankem Gefäß des Seins,

die Summe der Kraft zu halten -

im engen Fleisch,

die Summe des Lichts.

 

Dann zur Geburt bringen,

in die Luft hinausschieben, ein Menschen-Kind

das braucht, wie jedes andere,

Milch und Liebe,

 

das aber Gott war.

 

Das war der Moment, von dem niemand spricht,

als sie noch ablehnen konnte.

 

Ein Atemzug, der nicht geatmet wurde,

Geist,

angehalten,

wartend.

 __________________

 

Sie rief nicht: 'Ich kann nicht. Ich bin nicht würdig.'

noch: "Ich habe nicht die Kraft dazu.“

 Sie fügte sich nicht mit knirschenden Zähnen,

 wütend, genötigt.

 Tapferste aller Menschen,

 die Zustimmung erleuchtete sie.

 Der Raum füllte sich mit dem Licht ihrer Zusage,

 die Lilie glühte darin,

 

und die schillernden Flügel.

 

 Zustimmung,

 unvergleichlicher Mut,

 öffnete sie ganz und gar.

 

Erik Riechers SAC, 23. Dezember 2020

 

 

Vielleicht

 

Gestern, am 4. Adventssonntag,  stand im Mittelpunkt die große Szene der Verkündigung Gabriels an Maria. Sie begleitet uns durch diese letzten hoch-adventlichen Tage. Denn wir kennen es schon: Nicht nur der Funken einer einzigen Auslegung sprüht auf, wenn wir eine biblische Geschichte betrachten.  So wie ein Hammerschlag auf einen Felsen Funken verursacht, ermöglicht nach Rabbinischer Lehre ein Schriftvers viele Auslegungen.

 

Darum schenken wir Ihnen heute einen anderen Blick auf Maria (und auf uns), die die Verheißung des Engels gehört hat - Zusage und Zumutung zugleich!

 

 

Vielleicht

wenn ich ganz still werde

höre ich die Sprache der Sterne

im Blau der Nacht.

Vielleicht

wenn ich ganz ruhig werde

höre ich das Wort der Sehnsucht

im Dämmern des Morgens.

Vielleicht

wenn ich ganz Ohr werde

höre ich die Melodie des Schweigens

am helllichten Tag.

Vielleicht

wenn ich dich einlasse, Engel,

und du mich berührst

mit dem Flügel des Himmels

vielleicht

weckst du mein ja

vielleicht wächst dann das Wunder.

Vielleicht. Jetzt?

Komm!

 

»Für Gott ist nichts unmöglich.«

 

                              Hildegard Nies (Laacher Messbuch 2009)

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. Dezember 2020

 

 

Wie ein Ja zu Gott entstehen kann

4. Adventssonntag B 2020          Lukas 1, 26–38

 

Wenn wir diese Geschichte hören, gibt es die Tendenz, uns auf das Ergebnis zu stürzen. Dann betonen wir das »Ja«. Der Eindruck kann entstehen, dass Marias Zustimmung die automatische Antwort auf Gabriels Gruß war. Was will sie denn sonst dem Engel sagen? Aber tatsächlich entsteht dieses »Ja« nach einem komplexen Austausch zwischen den beiden.

Es gibt drei Augenblicke im Gespräch zwischen Gabriel und Maria.

Gabriel grüßt Maria und in ihr werden Fragen geweckt, die zum inneren Ringen und zur Auseinandersetzung führen.

Gabriel verkündet Maria die Botschaft Gottes für sie und Maria stellt Fragen, die zur Nachfrage der äußeren Umstände und Abläufe führen.

Gabriel erklärt Maria im Allgemeinen, wie Gott mit ihr wirken möchte und sie überlegt alles gut, bis es in eine Zusage mündet.

 

Was aus diesem dreifachen Austausch entsteht, ist keine ausgemachte Sache. Während Matthäus über Maria spricht in seinem Evangelium, so ist sie bei Lukas eine Frau, die für sich selbst denkt und für sich selbst spricht. Sie erscheint als eine große Frau und nicht als eine hilflose kleine Magd.

 

Gabriel grüßt Maria und in ihr werden Fragen geweckt, die zum inneren Ringen und zur Auseinandersetzung führen.

Der erste Schritt dieses Gespräches ist Marias Reaktion, nicht auf die Anwesenheit des Engels, sondern auf seine Ansprache (V. 29). Maria wird nicht durch die Tatsache beunruhigt, dass ein Engel in ihrem Haus erschienen ist, sondern durch die Worte, die er zur Begrüßung spricht. Was hier als »erschüttert« gegeben wird, verwässert die Kraft des griechischen diatarassō. Das Wort bedeutet eine gründliche, tiefe und Leben umfassende Beunruhigung. Dieses Gefühl spiegelt sich in der Intensität der inneren Debatte Mariens  wider. Wir wissen nicht, was die Bilder und Worte in Gabriels Gruß in Maria ausgelöst haben. Vielleicht denkt sie darüber nach, wie jung und unerfahren sie ist. Vielleicht weckt Gabriels Gruß Gefühle, unvorbereitet zu sein. Vielleicht spürt sie, wie arm und unbedeutend sie ist in den Augen der Welt. Was wir jedoch bei Lukas wissen, ist, dass sie sich Zeit nimmt, um gründlich selbst nachzudenken. Sie prüft all die verschiedenen Dinge, die hinter dieser merkwürdigen Begegnung stecken könnten und wohin sie möglicherweise führen könnten.

 

Gabriel verkündet Maria die Botschaft Gottes für sie und Maria stellt Fragen, die zur Nachfrage der äußeren Umstände und Abläufe führen.

Wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bevor Gabriel fortfährt. Nur weil wir eine Geschichte schnell lesen können, bedeutet es nicht, dass sie schnell abläuft. Aber irgendwann kommt der Moment, in dem der Engel sieht, dass Maria bereit ist, mehr zu hören. Dann beginnt er seine Ankündigung vorzulegen. Auch diesmal steigt Maria erneut ins Gespräch ein, aber diesmal geht sie zu einer Nachfrage der äußeren Umstände und Abläufe über. Es lohnt sich, hier den Kontrast zu Zacharias‘ Frage aus der vorherigen Geschichte zu beachten. Wie Maria war auch er »beunruhigt«; aber wo er fragt »wie werde ich es wissen?«, ist ihre Frage die viel praktischere »wie wird es geschehen?«  Diese Antwort mit ihrer impliziten Bereitschaft, weiter zu überlegen, deutet darauf hin, dass eine neue und anders fokussierte Phase der Klärung begonnen hat.

Dr. Edith Eva Eger beschreibt diese Phase durch zwei Fragen, die Menschen im KZ gestellt haben. Manche fragten: Warum? Das nennt sie die lähmende Frage, denn sie führt zur Passivität, während wir auf eine Antwort warten, die wir vermutlich nicht bekommen werden. Sie wählt die Frage: Was jetzt? Diese Frage sucht das, was wirklich wesentlich ist, nämlich die Gestaltungsmöglichkeiten, die zu einer Zukunft führen könnten.

 

Gabriel erklärt Maria im Allgemeinen, wie Gott mit ihr wirken möchte und sie überlegt alles gut, bis es in eine Zusage mündet.

Auch jetzt erfolgt nicht sofort ein »Ja«. Gabriels Erklärung als Antwort auf Marias Fragen wirft erneut einige ernste Fragen auf, mit denen sich Maria auseinandersetzen muss - vor allem, wenn man ihren Status als verlobte Frau, die vorgesehene Art der Empfängnis und die im Gesetz festgelegte Strafe für Verletzungen der Verlobung bedenkt. Wie würden ihr Verlobter, ihre Familie und ihre weitere Gemeinschaft reagieren? Welche möglichen Schicksale erwarteten sie? Könnte Gott wirklich in und durch ein so unwahrscheinliches und prekäres Szenario am Werk sein? Kein Wunder, dass sie sich die Zeit nehmen muss, um zu schauen, nachzudenken und abzuwägen, damit sie zu einer wohlüberlegten Entscheidung kommen kann. So schnell wird ein »Ja« zu Gott nicht geboren. In diesem Fall führt ihr Nachdenken sie dazu, die Frage zu bejahen - sie überwindet die Angst vor den wahrscheinlichen Risiken und bietet sich freiwillig als Partnerin in Gottes vorgeschlagenem Plan an. Aber selbst wenn ihre Überlegungen sie zu einer anderen Antwort geführt hätten, wäre es immer noch derselbe tiefe und informierte Akt der Selbstbestimmung gewesen.

Vor Jahren sah ich auf einem Auto einen Aufkleber mit dem Satz: God said it. I believe it. That settles it. (Gott sagte es. Ich glaube es. Damit ist die Sache erledigt.) So wird Glauben oft dargestellt. Und in solch einem Verständnis haben Fragen, Überlegungen, Zweifel und Auseinandersetzungen nichts zu suchen.

Aber der Weg des Glaubens ist der Weg, den Maria in dieser Erzählung geht. Auf dem Weg des Glaubens geht es nicht nur um die Frage »Was muss ich schnell und bedingungslos bejahen?«. Wir müssen erkennen, wann wir innehalten und überlegen müssen, bevor wir zum nächsten Schritt übergehen. Anstatt Fragen als Zweifel zu betrachten, sollten wir erwägen, welche Art von Fragen oder Perspektiven nützlich sind, wenn wir versuchen, eine Situation zu verstehen und eine Entscheidung über eine angemessene Handlung zu treffen. Die absolute Klarheit, mit der wir gelegentlich versuchen, die Glaubensfragen zu beantworten, stellt eher die Frage, ob Glaube nur etwas ist, um mehr Sicherheit zu gewinnen. Vielleicht sind Glaubenserfahrungen auch gegeben, damit wir wachsen und leben können in all den Lebenssituationen, wo es keine definitiven Antworten gibt.

So schnell wird ein »Ja« zu Gott nicht geboren. Und wenn dieses »Ja« zu schnell und gedankenlos über unsere Lippen kommt, dann kann es sein Potential nicht entfalten, dann wird es nicht das sein, was es für uns sein sollte. Denn hier sollten wir eine Verheißung Gottes in uns tragen und unser Leben um die Forderungen dieser Verheißung zentrieren. Wir sollten »Ja« sagen zu dem, was in unserem Herzen ist: der Atem Gottes, der die Menschheit belebt. Wenn ein »Ja« zu Gott so geboren wird, dann ist es ein Aufruf zur tiefsten Berufung, zu glauben, dass wir im Kern der Dinge für und durch die Liebe gemacht sind.

 

Erik Riechers SAC, 20. Dezember 2020

 

 

Ein jeder ist dort geboren

 

In diesem Jahr vermissen viele von uns eine Reise zu einem ihrer Sehnsuchtsorte. Es gibt Orte, die unserer Seele gut tun, an denen wir die Erfahrung machen, dass wir mit uns im Frieden sind und auftanken können. Die Mehrheit der Menschheit hat kaum eine Chance zu solch einer Unternehmung. Doch viele kennen die Sehnsucht nach heiligen Orten - wenigstens einmal im Leben würden sie sie gern besuchen und große Strapazen des Pilgerns auf sich nehmen.

Das ging mir gestern morgen durch den Sinn, als ich Psalm 87 betete. Er nennt zu Beginn die heiligen Berge; sie sind in der Bibel immer wieder Orte der Gotteserfahrung, der Begegnung mit dem Mysterium, dem ganz Anderen, dem HEILIGEN, und die Erfahrungen sind verschieden.

Dann hebt der Sänger des Psalms einen Berg hervor: Zion. Er ist vom Herrn gegründet wie alle anderen, aber ihn liebt er vor allen anderen. Unter uns Menschen könnte dies zu einem Wettstreit führen, zu einer Rangordnung, zum Trennen zwischen Dazugehören und Nicht-Dazugehören. Aber nicht bei Gott! Das Herrliche an dieser Stadt Gottes ist, dass jeder dazugehört - und zwar in einer Weise, die mit den tiefsten Fragen des Menschseins zu tun hat, dem Woher und Wohin: Von Zion wird es heißen: »Ein jeder ist in ihr geboren.«

In diesem kleinen Psalm wird ein großes Sehnsuchtsbild besungen. Woher auch immer wir kommen - einmal werden wir durch Zions Tore treten und erkennen: Hier kommen wir her. Hier gehören wir hin. Hier entspringt alles, was uns leben lässt.

Wahrhaft ein Grund zum Tanzen!

 

Der HERR liebt seine Gründung auf heiligen Bergen, die Tore Zions mehr als alle Stätten Jakobs.

Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes: Ich zähle Rahab und Babel zu denen, die mich

erkennen, auch das Philisterland, Tyrus und Kusch: Diese sind dort geboren.

Ja, über Zion wird man sagen: Ein jeder ist in ihr geboren. Er, der Höchste, gibt ihr Bestand!

Der HERR zählt und verzeichnet die Völker: Diese sind dort geboren.

Und sie werden beim Reigentanz singen: All meine Quellen entspringen in dir.

 

Rosemarie Monnerjahn, 18. Dezember 2020

 

 

Wir tragen die Maske

 

In Deutschland beginnt heute eine neue und harte Abriegelung des Landes. Ähnlich ist es in vielen Teilen der Welt. Es gibt viel zu beklagen und keinen Mangel an Menschen, die bereit sind, sich zu beschweren. Niemand hat auf ein solches Weihnachten gehofft, aber das ist das Weihnachten, das wir haben werden.

Unter den strengeren Einschränkungen, die den Kirchen hier auferlegt wurden, müssen wir uns nun mit zwei Aspekten auseinandersetzen, die sich direkt auf die Art und Weise auswirken, wie wir die Weihnachtsliturgien miteinander feiern. Erstens ist es uns nicht erlaubt, unsere geliebten Weihnachtslieder zu singen, während wir Gottesdienst feiern. Zweitens müssen wir während der gesamten Zeit, in der wir in der Kirche sind, eine Maske tragen.

Von den beiden Einschränkungen bekommt der Gesang die ganze Aufmerksamkeit und es fließen Ströme von Tinte in Kommentaren darüber. Aber für mich ist die zweite, das Tragen der Maske, die beunruhigendere Einschränkung. Das ist für mich kein Problem als Sicherheitsmaßnahme für die öffentliche Gesundheit, auch nicht bei der Feier der Eucharistie. Was mich beunruhigt, ist, dass wir sehr selektiv gegen das Maskentragen vorgehen. Wenn sie aus Stoff sind, beschweren sich die Leute laut und ausgiebig und behaupten sogar, dies sei eine Verletzung ihrer persönlichen Freiheit. Aber wenn die Masken nicht aus Stoff genäht sind, sondern aus dem menschlichen Widerwillen gewebt sind, Leben und Gefühl, Geschichte und Wunde zu teilen, dann sind wir bemerkenswert still über die Auswirkungen des Maskentragens.

Können wir ehrlich behaupten, dass dies das erste Weihnachtsfest ist, an dem wir eine Maske tragen werden? Sitzen wir in unseren Kirchenbänken oder an unseren Weihnachtstischen mit offenen Herzen und durchsichtigen Gesichtern? Hat keiner von uns je das Bedürfnis verspürt, seine wahren Gefühle, das, was wirklich in uns vorgeht, zu verbergen, um die anderen bei Laune zu halten, oder in Schach zu halten? Hat keiner von uns die äußere Maske der Weihnachtsfreude getragen, um die tiefe und quellende Traurigkeit in uns zu verbergen? Hat keiner von uns bei den Zusammenkünften der Verwandtschaft und Sippe Begeisterung vorgetäuscht, um die tiefere Hoffnung zu verbergen, dass alles einfach schnellstens vorbei sein möchte? Macht Weihnachten unsere Gespräche automatisch offener? Das sind die Masken, die wir an fast jedem Weihnachten und darüber hinaus tragen.

Paul Laurence Dunbar schrieb ein brillantes und wunderschönes Gedicht mit dem Titel »Wir tragen die Maske«. Mögen seine Worte uns die Chance geben, über die Masken nachzudenken, die wir tragen und die kein staatlicher Erlass fordern oder erzwingen kann.

Die Maske tragen wir, die lügt,

die Wang' verbirgt, das Auge trübt, -

so zahlen wir für Menschenlist:

das Herz zerbricht, doch Lächeln sprießt

und unser Worte Schwall betrügt.

 

Warum soll denn versteh'n die Welt,

welch' Tränen sie und Seufzer zählt?

Sie soll nur seh'n uns als vergnügt,

und nur maskiert.

 

Wir lächeln, aber, o großer Christus, unser Schrei -

aus tief gequälter Seele fließt;

wir singen, doch wie hart der Steg

auf dem wir gehn, wie lang der Weg!

Mach' nur, dass dies die Welt nicht spürt:

Wir sind maskiert!

 

Wenn die Pandemie endet und die Masken fallen, werden wir dann tatsächlich mehr von uns selbst den anderen zeigen?

 

Erik Riechers SAC, 16. Dezember 2020

 

 

Zeugnis geben für das Licht

 

In unseren Breiten gehen wir in die dunkelste Woche des Jahres. An ihrem Anfang steht jedoch oder ganz bewusst eine Lichtheilige: Santa Lucia (13.12.) aus Syrakus auf Sizilien, als Märtyrerin gestorben zu Beginn des 4. Jahrhunderts.

Wenig wissen wir von ihr, aber wie so oft: in Legenden erzählte das Volk weiter, was es an ihr so liebte und bewunderte, etwa dass sie Mitchristen im Schutz der Dunkelheit Lebensmittel in ihre Verstecke brachte. Sie brauchte beide Hände zum Tragen der Speisen; um also im Finstern den Weg zu finden, soll sie sich einen Lichterkranz auf den Kopf gesetzt haben.

Besondere Liebe erfährt sie seit langem in Schweden. So kam es, dass Selma Lagerlöf 1921 eine eigene Legende schrieb, »Die Legende des Luziatags«. In ihr lernen wir die kalte und gierige Frau Rangela kennen, die ihren Hof an der Mündung einer Bucht hatte, die sie mit einer Zugbrücke sicherte und von allen, die diese Abkürzung nehmen wollten statt eines Tagesmarsches um die ganze Bucht herum, unbarmherzig Wegzoll erhob. Wie es dazu kam, dass eine junge Verwandte den reichen verwitweten Herrn Eskil auf der nahe gelegenen Burg heiratete und sich um die acht Halbwaisen kümmerte, ist lesenswert. Diese junge Frau Luzia war nun in allem das Gegenteil ihrer Tante. Von Kindheit an liebte sie die Geschichten der heiligen Luzia, die sie zu ihrer Schutzpatronin erkoren und als Vorbild in ihrem Herzen trug. So half sie in fast kindlicher Zugewandtheit in ihrem Boot Pilgern über die Bucht und begann damit, den Zorn der Unbarmherzigen zu erregen, die nun intrigant gegen Luzia tätig wurde. Doch diese junge Frau ließ sich nicht von ihrer Güte abbringen. Ja, es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, als im Herbst sich ihre Keller und Scheunen außergewöhnlich füllten, während sie immer wieder hörte, wie viele Menschen im Land hungerten und alles verloren hatten nach Kriegszügen und Plünderungen. Eine lange Abwesenheit ihres Mannes im späten Herbst schließlich nutzte sie, um ihr Herzensanliegen mit Hilfe aller Diener in die Tat umzusetzen. Wo sie noch Überlebende fand, versorgte sie sie mit allem, was sie brauchten, um durch den Winter zu kommen. »Solange sie noch Gaben übrig hatte, fuhr Frau Luzia den Vänerstrand entlang, und es war ihr auf dieser Fahrt so froh und leicht ums Herz wie nie zuvor. Denn so wie es nichts Schwereres gibt, als still und untätig zu bleiben, wenn man von fremdem, schwerem Unglück erzählen hört, so bringt es jedem, der ihm auch nur in allergeringstem Maße abzuhelfen versucht, das größte Glück und süßeste Ruhe.« Erleichterung und Freude breitete sich in allen aus, als sie am Vorabend des Luziatages wieder in der heimischen Burg zusammensitzen. Doch alles kippt: ihr Mann kommt frühzeitig zurück, voller Zorn über die Verschwendung, bestens informiert durch die böse Frau Rangela.

Es ist bezaubernd zu lesen, wie die verängstigte und verzweifelte Luzia dank und mithilfe ihrer Schutzpatronin, die strahlend vom Himmel einbricht, ein unmögliches Ultimatum ihres Mannes einhalten kann und sich letztendlich alles zum Guten wendet. Ja, Eskil verspricht, in den Dienst zweier edler Damen zu treten: »Die eine davon ist meine Gattin, die andere die heilige Luzia von Syrakus, der ich in allen Kirchen und Kapellen, die ich auf meinen Gütern habe, Altäre errichten will, sie bittend, dass sie bei uns, die wir in der Kälte des Nordens schmachten, jenen Funken und Leitstern der Seele brennend erhalten möge, der da heißt Barmherzigkeit.« *

Am Ende schreibt Selma Lagerlöf: »Am dreizehnten Dezember zu früher Morgenstunde, wenn Kälte und Finsternis Gewalt über Värmland hatten, kehrte noch in meiner Kindheit die heilige Luzia von Syrakus in alle Häuser ein, die zwischen den Bergen Norwegens und dem Gullspangålf zerstreut lagen. Sie trug noch, wenigstens in den Augen der Kinder, ein Kleid weiß von Sternenlicht,… Und ich wünschte, dass sie nie aufhörte, sich in den Heimstätten Värmlands zu zeigen.« *

Jeder von uns kann Zeugin und Zeuge für das Licht werden - wie Frau Luzia im dunklen Schweden, wie Santa Lucia einst in Syrakus, wie vor langer Zeit und bis heute lebendig der Täufer, von dem das Evangelium gestern sagte:                   

»Ein Mensch trat auf, von Gott gesandt; sein Name war Johannes. Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht.« (Joh 1, 6-8)

Die Finsternis ist da - bezeugen wir das Licht!

* »Die Legende des Luziatags« in: Selma Lagerlöf, Die schönsten Legenden

 

Rosemarie Monnerjahn, 14. Dezember 2020

 

 

Gott kann man nicht so leicht abschütteln

3. Adventssonntag B 2020          Jes 61, 1-11

 

Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat

Wenn Sie in dieser Adventszeit auf irgendeine Stimme hören, dann hoffentlich auf diese. Denn Jesaja erhebt seine Stimme, damit die Rede von Gott und seinen Menschen einen neuen Klang bekommt. Und dieser Klang hat es verdient, dass wir über ihn sagen: Es kommt mir zu Ohren.

Mit dem für ihn typischen Elan lässt Jesaja verlautbaren, wie der Geist Gottes in seinen Menschen wirkt und was dieser Geist in ihnen bewirkt. Mehr als alles andere betont Jesaja, dass dieser Gott sich nicht schämt, unser Gott zu sein. Ganz im Gegenteil. Er erhebt einen Anspruch auf unser Leben, und keinen unerheblichen. Dieser Gott will teilhaben an unserem Leben, aber nicht auf irgendeine Art und Weise. Salbung ist sein Stil. Durch sie bezeugt er sein beständiges und persönliches Interesse an uns. So macht er seinen Anspruch geltend. Denn Rufen, Erwählen, Beschenken, Bereichern und Belohnen kann Gott hinbekommen, ohne uns berühren zu müssen. Aber nicht Salben. Salben geht nicht ohne Berührung und Kontakt.

Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat.

Berührung ist unvermeidlich, wenn Salbung stattfindet. Deshalb kann der, der salben will, keine Berührungsängste haben. So kommt die erste feine Note in Jesaja zum Vorschein. Distanz ist nicht Gottes Ding.

Die Salbung weckt aber sofort ein zweites Bild in uns, nämlich das Bild des Öls. Ohne Öl geht Salben nicht, und nur Öl genügt. Denn Öl trägt in sich das tiefste Sinnbild von der Art und Weise, wie Gott uns berührt und was diese Berührung mit uns macht.

Erstens, geht das Öl uns unter die Haut. Es wird von uns aufgesaugt, in uns aufgenommen. Öl dringt in unsichtbare Ebenen unseres Körpers und wird ein Teil von uns. Öl ist nicht wie Wasser, das über die Oberfläche gleitet und dann wieder abperlt.

Zweitens, Öl lässt eine Spur zurück. Wir brauchen uns nur an den letzten Ölfleck auf Hemd, Bluse oder Tischdecke zu erinnern. Öl glänzt auf der Haut, nicht wie Wasser, das trocknet und dann spurlos verschwunden ist.

Drittens, Öl ist schwer zu entfernen. Es klebt an Haut und Stoff. Wir können es nicht leicht abwischen. Mit Glück, Seife, Lösungsmittel und kräftigem Schrubben kann es nur mit Mühe entfernt werden. Wasser dagegen trocknet von selbst.

Darum bringt diese Salbung des Geistes einen neuen Klang zu unserer Gottesbeziehung, der wie Öl hinunter geht.

Erstens, wie Öl geht uns Gott unter die Haut. Die Berührung unseres Gottes ist keine oberflächliche Erfahrung. Sie dringt tief in uns hinein. Die Berührung unseres Gotts wird ein Teil unseres Lebens. Wir können zwar jedes äußerliche Zeichen der Gottesbeziehung entfernen (und verleugnen), jede Form von Gebet, Gottesdienst und Kirche abstreifen, aber Gott bleibt ein Teil unseres Lebens. Die Kraft seines Geistes wirkt unsichtbar weiter in uns.

Und weil Gott uns unter die Haut ging, wird Heil zu unserer Lebensbotschaft. Wir können gebrochene Herzen heilen, die Ketten, mit den Menschen gefesselt werden, sprengen und Schwestern und Brüdern ein Gnadenjahr gönnen anstatt eine Höllenerfahrung für sie zu sein. Das mag zwar unter unserer Haut liegen, aber es ist alles in uns.

Zweitens, wie Öl lässt Gott Spuren zurück. Und diese Spuren zeigen sich, wenn wir sie weder erwarten noch ahnen. Da gibt es die Tränen, die aufquellen lange nachdem wir uns als abgebrüht aufgegeben haben. Wir kennen Reue, die aufkommt, nachdem wir uns der Gleichgültigkeit verschrieben haben. Wir spüren Sehnsucht, obwohl wir uns als gesättigt abgeben. Unruhe plagt uns, obwohl wir schwören würden, dass wir voll und ganz zufrieden sind.

Eine sehr erschöpfte, enttäuschte und frustrierte Mutter erzählte mir von ihrer Tochter und den schier endlosen Strapazen, die sie mit ihr hatte seit fast 10 Jahren. Drogensucht und Entziehungskuren wechselten sich in regelmäßigen Abständen ab. Und jetzt war sie fertig. Sie sagte: »Das war’s für mich. Es ist mir so etwas von egal. Sie macht mir nichts mehr aus. Das alles berührt mich nicht mehr und lässt mich nur noch kalt.«

Ich habe lange zugehört, bevor ich sagte: »Irgendwie habe ich mir Gleichgültigkeit als weniger anstrengend vorgestellt.« Dann haben wir beide gelacht, bevor wir dann über die Spuren sprachen, die die Liebe Gottes in und durch diese Mutter zurückgelassen hat.

Es kommt schon vor, dass wir uns als abgebrüht, verletzt, irritiert und genervt fühlen gegenüber Gott und seinem Leben in uns. Trotzdem sehnen wir uns nach Heil, und nicht nur für uns selbst. Wir wollen immer noch die Bruchstücke unserer Herzen wieder zusammenfügen. Egal gibt es nicht. Jedes Mal, wenn wir uns über Brutalität, Ausschluss, Korruption oder sonstige Schändungen der menschlichen Würde empören, sehnen wir uns nach Gerechtigkeit. Wie die Mutter geben wir vor, dass es uns alles so etwas von egal geworden ist. Aber Gleichgültigkeit sieht anders aus.

Drittens, wie Öl ist die Erfahrung Gottes schwer zu entfernen. Gott klebt an uns, lässt uns nicht los und schreibt uns nicht ab. Die Berührung Gottes ist nicht oberflächlich. Er hängt an uns fest mit erstaunlicher Leidenschaft. Nicht einmal der Tod kann seinen Griff auf unsere Herzen lockern.

Die Stimme des Propheten erhebt sich und ein neuer Klang ertönt, auch in unserer Zeit. Vielleicht gerade für unsere Zeit. Wir sind nämlich ganz andere Töne gewöhnt. Es klingen alte Töne aus Erzählungen von einem Gott, der uns wegen jeder Übertretung des Gesetzes verpönt oder verdammt. Oder wir hören den Nachklang von Lehren über einen Gott, der nur zimperlich mit uns in Berührung kommt, als ob wir Aussätzige (Sünder) wären. Wir haben oft genug Stimmen gehört, auch in der Kirche, dass wir nicht gut genug sind, dass wir schwach, unzureichend, beschränkt und unfähig sind.

Aber der Geist des Herrn liegt unter unserer Haut. Seine Spuren sind in uns zu finden. Es steckt mehr Leben, Kraft, Güte, Leidenschaft und Liebe in uns als andere ahnen. Meistens steckt mehr Gott in uns als wir selbst ahnen.

Dieser Gott ist in uns. Er kann aus uns nicht herausgeholt, heraus geprügelt oder heraus gepredigt werden.

Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat.

Das sind mal ganz andere Töne, aber es ergibt einen deutlich schöneren Klang, denn es klingt nach Leben.

Wenn Sie in dieser Adventzeit auf irgendeine Stimme hören, dann hoffentlich auf diese.

 

Erik Riechers SAC, 13. Dezember 2020

 

 

»Jubel und Freude stellen sich ein, Kummer und Seufzen entfliehen«

 

Jubeln werden die Wüste und das trockene Land, jauchzen wird die Steppe und blühen wie die Lilie. Sie wird prächtig blühen und sie wird jauchzen, ja jauchzen und frohlocken. Die Herrlichkeit des Libanon wurde ihr gegeben, die Pracht des Karmel und der Ebene Scharon. Sie werden die Herrlichkeit des HERRN sehen, die Pracht unseres Gottes. Stärkt die schlaffen Hände und festigt die wankenden Knie! Sagt den Verzagten: Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott!

Jes 35, 1-4

Diese Worte wurden gesprochen zu einem Volk im Exil – heute sind sie uns gesagt!

Wir kennen Wüstenorte und Wüstenzeiten. Da glauben wir manchmal, nicht mehr durchzukommen. Wo gibt es eine Perspektive? Reicht unsere Kraft? Sie droht zu versiegen und jede Stabilität ist dahin.

Wir halten irgendwie durch mit immer schlafferen Händen und wankenden Knien.

Wir brauchen Bilder zum Überleben.

Wir brauchen Hoffnungsbilder.

Wir brauchen Lebensbilder.

Woher kommen sie? Wer erzählt uns davon?

Wer malt sie uns ins Herz?

Lachen, ja jauchzen, blühen – unvorstellbar! So unvorstellbar wie den Israeliten im babylonischen Exil!

Aber lassen wir mal – nur für heute – unsere Bedenken, unseren negativen Blickwinkel, unsere selbstgemachten Einschränkungen los. Lassen wir uns ein auf die Bilder: ein Land, in dem es grünende Bäume gibt und Menschen vom Ertrag leben können; das Karmelgebirge mit seinen Zedern und Weinbergen; die prächtige, fruchtbare Ebene Scharon, damals wie heute das Bild für Fruchtbarkeit in Israel. Das alles gibt es, bis heute, weil Menschen Visionen hatten und dafür tätig wurden: sie pflanzten Bäume und Rebstöcke, sie legten Gärten und Plantagen an.

Sie glaubten den Bildern und Möglichkeiten mehr als dem Augenschein des dürren, trockenen Landes.

Und wir? Wir sollten nicht kleinmütig und phantasielos hoffen, dass nach der Krise alles wieder so wird wie es war. Lassen wir uns von Jesaja zu Größerem locken. Lasst uns träumen, wie wir besser leben, tiefer schöpfen und ganz neu gestalten könnten.

Damit es auch von uns einmal heißen kann: »Ewige Freude ist auf ihren Häuptern, Jubel und Freude stellen sich ein, Kummer und Seufzen entfliehen.« (Jes 35, 10)

 

Rosemarie Monnerjahn, 11. Dezember 2020

 

 

Was macht das Warten mit mir?

 

Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, über Juda und Jerusalem geschaut hat. Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Nationen. Viele Völker gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom Zion zieht Weisung aus und das Wort des HERRN von Jerusalem. Er wird Recht schaffen zwischen den Nationen und viele Völker zurechtweisen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg. Haus Jakob, auf, wir wollen gehen im Licht des HERRN.

Jesaja 2, 1-5

Mit diesem Text (und ganz bewusst in dieser Adventszeit der Pandemie) wird eine Frage uns ans Herz gelegt. Was macht das Warten mit mir? Denn Warten kann sehr verschiedene Auswirkungen in uns Menschen haben.

Wie gehe ich mit Warten um? Nehme ich die Zeit des Wartens, um in mir die Leidenschaft zu nähren, pflegen, fordern und fördern, die sagt;

»Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs.

Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen.«?

 Das ist die Reaktion des wartenden Volkes Israel auf die Vision des Jesaja. Denn es heißt:

Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, über Juda und Jerusalem

geschaut hat.

Die Frage bleibt: Ist das unsere Reaktion? Haben wir Lust, Berge zu bewältigen, um dem Geschauten zu begegnen? Haben wir Lust das Haus aufzusuchen, im dem sich leben lässt? Wollen wir Wege lernen? Wollen wir Schritte wagen? Oder verführt uns das Warten zu Bequemlichkeit, Lustlosigkeit und Desinteresse?

Jesaja ruft uns dazu auf, auf etwas ganz Anderes, ganz Großes zu warten. Sonst werden wir nur noch kleine Lösungen zu kleinen Problemen erwarten.

Was erwarten wir am Ende aller Tage? Oder was erwarten wir nach dieser Pandemie?

  • Das Erhöhte? (Das Haus auf der Spitze des Berges)
  • Das tiefgegründete Zuverlässige? (Das Haus festgegründet)
  • Den Weitblick? (Das Haus ragend über alle Hügel)
  • Große Bewegung? (alle Völker strömen)
  • Ein neuer Aufbruch? (Viele Nationen pilgern)
  • Ein entwaffnender Friede? (wo Schwerter zu Pflugscharen und Speere zu Sicheln geschmiedet werden)
  • Ein neuer Lebensstil? (wo Kriegskunst gar nicht mehr gelernt wird)

Nichts davon muss sein! Wir können auch einfach auf die Pizza warten. Wir können auf Feierabend warten. Wir können auf den Ruhestand warten, auf das Ende der Pandemie oder auf den nächsten Urlaub.

Darum die Frage: Was macht das Warten mit mir? Hoffentlich erweckt es in uns allen eine Erwartung und eine Vision, die größer ist als die bloße Wiederherstellung des Vorherigen.

 

Erik Riechers SAC, 9. Dezember 2020

  

 

 

Sehnsucht

 

Die Tage des Advent sind reich gefüllt mit Worten, die unsere Sehnsucht ausdrücken oder überhaupt wecken wollen. Wir modernen Menschen sind meist recht pragmatisch; wir wollen realistisch sein und uns nicht kindlichen Träumen hingeben. Uns optimal einzurichten in unserem Leben und das Beste für uns herauszuholen gilt sogar als klug.

Da lobe ich mir den Advent mit seinen Fragen: Was, wenn es mehr gibt zwischen Himmel und Erde? Was, wenn der Himmel sich öffnete? Wonach sehne ich mich wirklich? Können die Alten Träume haben und die Jungen Visionen - wie es Joel so schön beschreibt?

Lassen wir solche Fragen zu? Sie könnten über uns hinausführen und von dort unser Heute verändern. 

Hanns Dieter Hüschs »Utopie« kann da Hilfe und Begleitung sein:


Ich seh ein Land mit neuen Bäumen.
Ich seh ein Haus mit grünem Strauch.
Und einen Fluss mit flinken Fischen.
Und einen Himmel aus Hortensien seh ich auch.

Ich seh ein Licht von Unschuld weiß.
Und einen Berg, der unberührt.
Im Tal des Friedens geht ein junger Schäfer,
Der alle Tiere in die Freiheit führt.

Ich hör ein Herz, das tapfer schlägt,
In einem Menschen, den es noch nicht gibt,
Doch dessen Ankunft mich schon jetzt bewegt.
Weil er erscheint und seine Feinde liebt.

Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erlebe,
Das ist die Welt, die nicht von unsrer Welt.
Sie ist von fein gesponnenen Gewebe,
Und Freunde, glaubt und seht: sie hält.

Das ist das Land, nach dem ich mich so sehne,
Das mir durch Kopf und Körper schwimmt,
Mein Sterbenswort und meine Lebenskantilene,
Dass jeder jeden in die Arme nimmt.

                                            Hanns Dieter Hüsch, in: Das Schwere leicht gesagt

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. Dezember 2020

 

 

Der bescheidene Anfang

2. Adventssonntag B 2020          Mk 1,1-8

 

Das heutige Evangelium stellt uns vor die Frage unserer Bereitschaft. Angebote des neuen Lebens, egal wie hinreißend und anziehend sie auch sein mögen, sind ziemlich nutzlos, wenn es keine Bereitschaft gibt, sie anzunehmen. Was braucht es, bis wir bereit sind, die nötigen Wege der Veränderung zu gehen?

Nun, sehr oft wird uns diese Bereitschaft unnötig schwer gemacht. Sie wird dargestellt in Bildern, die zwar sehr romantisch sind, aber gleichzeitig sehr gefährlich. Die Bereiten sind dann die Menschen mit glühenden Augen und strahlenden Gesichtern. Sie schauen mutig in die Zukunft und sagen ein deutliches »Ja« zu der Herausforderung, die bevor steht. Ein bisschen zu viel Schmalz und deutlich zu wenig Sinn für die Realität des Glaubens.

Die Menschen, die zu Johannes in die Wüste strömen, sind aus anderem Holz geschnitzt. Diese Erzählung fokussiert sich stark auf ihre Sehnsucht nach der Vergebung der Sünden. Hier wird die Sehnsucht als weit verbreitet beschrieben:

»Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus;

sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan von ihm taufen.«

 Manche biblische Kommentare sehen hier die Angst vor dem Weltuntergang am Werke. Die Menschen strömen zu Johannes in der Hoffnung, dass er sie vor dem Untergang bewahren kann. Aber eine solche Beschreibung ihrer Motive lässt ihre Sehnsucht nach der Vergebung der Sünden als unaufrichtig erscheinen, als ein letzter verzweifelter Versuch, sich selbst zu retten.

Eine solche Bereitschaft ist nicht so edel als die Menschen mit glühenden Augen, die ohne Zweifel in die Zukunft marschieren. Wenn sie auch nicht so schön ist, sie ist real und authentisch. Es gibt eine Bereitschaft, die aus Frustration und Unzufriedenheit fließt. Sünde bedeutet, dass wir unter unser Niveau rutschen, so dass eine Störung entsteht in der Beziehung zwischen uns und Gott, zwischen einander und auch in der Beziehung zu uns selbst. Daraus erwächst ein anderes Bild der Sehnsucht nach Vergebung.

Aber meistens läuft es so ab. Eines Tages wachen Menschen auf und entdecken, dass sie ein ungelebtes Leben führen, dass es kein »Leben« in ihrem Leben gibt. Sie finden keine Leidenschaft und Freude, keinen Sinn mehr in dem, was sie tun oder in dem, was aus ihnen geworden ist. Sie schleppen sich durch den Alltag und erfüllen ihre Pflicht, aber an tiefen Orten ihrer Seele wissen sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Unter der Oberfläche, die sie nach außen zeigen, wissen sie, dass etwas nicht mehr stimmig ist. Auch wenn sie sich weiterhin um Geld und Status bemühen, wird die Belohnung nicht hergeben, was versprochen worden ist.

Das ist der Zustand der Sünde, denn hier wissen wir, dass wir unter unser Niveau gerutscht sind. Hierfür sind wir nicht geschaffen worden. Der Fluss des Lebens und der Liebe ist ausgetrocknet, und wir möchten aussteigen. Die tiefste Sehnsucht nach Befreiung findet erst statt, wenn wir merken, dass wir im Gefängnis sind.

Das sind die Menschen, die Johannes in der Wüste aufgesucht haben. Diese Menschen, die Unzufriedenen und Verzweifelten, wagen sich aus den Städten und Dörfern in die Wüste. Sie kommen zu Johannes mit der brennenden Hoffnung, dass sich noch etwas ändern kann. Das macht sie bereit. Schon Hölderlin wusste: »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«

Die Menschen wissen nicht im Detail, was alles geschehen muss, aber sie erkennen den ersten Schritt, wenn sie ihn sehen. Verzweifelte Frauen und Männer riskieren ihre Zukunft, weil ihre Vergangenheit unerträglich geworden ist. Innerlich fühlen sie sich tot. Sie spüren, dass sie durch ihre eigene Hand sterben.

Der erste Schritt ist abstreifen, reinigen und loslassen. Die Strömung des Jordans wird alles wegtragen, was sie in der Lage sind freizusetzen. Aber sie können nicht weitermachen wie vorher. Wie Paulus es im Philipperbrief formulierte: »Ihr Weg führt unausweichlich ins Verderben.« (Phil 3,19)

Das ist der erste Schritt, aber nicht der letzte. Genau das macht Johannes klar, wenn er sagt:

»Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich;

ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren.

Ich habe euch nur mit Wasser getauft,

er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.«

 

Einer wird noch kommen, der »stärker ist«, der mehr Macht hat. Er wird uns den Geist geben für unser neues Leben. Dieses Leben wird beginnen, wenn wir die Weisheit des Lehrmeisters umsetzen und integrieren. Hier stehen wir erstmals auf der Kippe, bereit, offen und willig.

Das ist der erste Schritt, aber nicht der letzte. Wie Winston Churchill es so treffend sagte bei einer Rede beim Lord Mayor’s Luncheon, in London am 10. November 1942:

»Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.«

Das können wir auch von der gesamten Adventszeit und dem langen Weg zur Umkehr sagen: Diese Tage sind nicht das Ende. Sie sind nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber sie sind, vielleicht, das Ende des Anfangs.

 

Erik Riechers SAC, 6. Dezember 2020

 

 

»Gott hat sein Volk besucht«

 

In diesen Wochen verschärft sich das Leben in der Pandemie für viele. Das Gestalten der adventlichen Zeit mit vielen gewohnten äußerlichen Mitteln fällt zum großen Teil weg – was bleibt, ist oft Leere, Unruhe, manchmal Aufbegehren und viel Frust.

Mir wird umso wichtiger, was einst ein alter Levit, der monatelang zum Schweigen verurteilt war, angesichts der Geburt seines Sohnes sagte: »Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen«. (Lk 1, 68) Während seine alte Frau Elisabeth das so unerwartete Kind austrug, war er stumm – und diese Zeit wurde für ihn fruchtbar. Einiges reifte in der Stille; er ging in die Tiefe. Und als das Kind, »Johannes ist sein Name«, geboren war, konnte er aussprechen, was er gefunden hatte: Gott hat sein Volk besucht und er hat ihm Erlösung geschaffen.

Der alte Levit Zacharias hatte erfahren, dass Gott wirkt, dass wir geschehen lassen können, weil die Erlösung bereits geschaffen ist. Gott ist bereits gekommen und hat sein Volk besucht.

Was wir vermeintlich für die adventliche Stimmung brauchen, lenkt uns meist so sehr ab, dass wir diese Botschaft noch nicht einmal wahrnehmen. Darum bin ich sogar dankbar für die Stille dieser Wochen.

Darf nicht in uns sein, was Dietrich Bonhoeffer in düstersten Zeiten und existentieller Not so ins Gebet brachte:

In mir ist es finster,

aber bei dir ist das Licht.

Ich bin einsam,

aber du verlässt mich nicht.

Ich bin kleinmütig,

aber bei dir ist Hilfe.

Ich bin unruhig,

aber bei dir ist der Friede.

In mir ist Bitterkeit,

aber bei dir ist die Geduld.

Ich verstehe deine Wege nicht,

aber du weißt den Weg für mich.

 

Gott hat seinem Volk Erlösung geschaffen. Er ist da. Lassen wir ihn wirken in uns.

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. Dezember 2020

 

 

Was muss sich ändern?

 

In der Adventszeit hören wir oft eine Stelle aus dem Lukas Evangelium.

 »Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! 5 Jede Schlucht soll aufgefüllt und jeder Berg und Hügel abgetragen werden. Was krumm ist, soll gerade, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. 6 Und alle Menschen werden das Heil Gottes schauen.« (Lukas 3, 4-6)

Was hören wir aus diesem Text heraus? Überwiegend hören wir eine Botschaft, die uns sagt: Ihr müsst euch ändern. Wir hören Botschaften wie »Reißt euch zusammen«, »Verbessert euch«. Wir sind überzeugt, dass es hier darum geht, dass wir unsere Leben in Ordnung bringen sollten.

Die Erzählung selbst sagt etwas anderes. Erstmal sind wir nicht diejenigen, die sich ändern müssen. Aber wir gehen automatisch davon aus, denn das ist unsere geerbte Auslegung.

Aber diese Geschichte erzählt uns, dass etwas anderes sich zuerst ändern muss. Die Straßen müssen geändert werden, denn sie sollten begradigt werden. Die Schluchten müssen aufgefüllt werden und die Berge und Hügel abgetragen. Unebene Pfade müssen zu ebenen Wegen geändert werden.

Wenn das Staunen sich mal legt, denn das haben wir weder gehört noch erwartet, merken wir eine tiefe Einsicht unseres Gottes bezüglich der Wandlung seiner Menschen. Die Bedingungen und Verhältnisse um uns Menschen müssen geändert werden, damit der Herr einen Weg zu uns hat. Die Situationen, in der wir uns befinden, müssen sich ändern, damit die Zärtlichkeit Gottes uns erreichen kann. Diese Dinge müssen sich ändern, damit die sanfte Stimme Gottes uns erreichen kann, die sagt: »Du bist mein geliebtes Kind, an dem ich mein Gefallen gefunden habe.« 

Alles, was zwischen uns und Gott steht, muss sich ändern, damit wir hören und annehmen, was Gott eigentlich von uns will: Komm, tanz mit mir! Wenn wir uns auch ändern wollen, wenn wir verwandelt werden wollen, wie sollte das gehen, wenn die Zärtlichkeit und liebevolle Worte, die uns verwandeln könnten, uns gar nicht erreichen können? Wenn wir zu blockiert sind, zu abgeschnitten oder sogar zugeschüttet sind, wie sollte das Wort, das tröstet und befreit, uns berühren können.

Natürlich sollten wir in diesen Adventstagen die Umkehr ernst nehmen, aber sie ist nicht so einfach, wie wir es oft behaupten. Sehr oft haben wir die Umkehr auf einen Willensakt, einen Akt der Selbstdisziplin reduziert. Aber Umkehr ist in erster Linie ein Akt der Antwort auf eine Begegnung mit einem liebenden und barmherzigen Gott. Umkehr ernst zu nehmen bedeutet, ernst zu nehmen, was ein solcher Prozess erfordert. Oft wollen wir, dass Menschen sich verändern und verbessern, aber wir erkennen nicht, was sie davon abhält. Dasselbe gilt für uns selbst, wenn wir uns darüber ärgern, dass wir eine Veränderung zum Besseren scheinbar nicht schaffen. Für uns selbst und für andere muss sehr oft ein Weg vorbereitet werden, bevor der Herr zu uns kommen kann. Wenn wir Jesus in einer lebendigen Begegnung treffen, können wir zu einer intimen Begegnung mit unserem Abba bewegt werden. Danach ist alles möglich.

 

Erik Riechers SAC, 2. Dezember2020

 

 

 

Wenn die Propheten einbrächen

 

Es gibt nur wenige Menschen, die besser geeignet sind, uns in und durch den Advent zu führen als die Propheten. Heute führt uns Nelly Sachs zu diesen wunderbaren Gefährten auf unserer Reise, ohne zu verbergen, dass sie auch die anspruchsvollsten Begleiter auf dieser Reise sind.

 

Wenn die Propheten einbrächen

durch Türen der Nacht,

die Sternenstraßen gezogen in ihren Handflächen

golden aufleuchten lassend -

 

für die längst im Schlaf versunkenen -

 

Wenn die Propheten einbrächen

durch Türen der Nacht

mit ihren Worten Wunden reißend

in die Felder der Gewohnheit,

ein weit Entlegenes hereinholend

für den Tagelöhner

 

der längst nicht mehr wartet am Abend -

 

Wenn die Propheten einbrächen

durch Türen der Nacht

und ein Ohr wie eine Heimat suchten -

 

Ohr der Menschheit

du nesselverwachsenes,

würdest du hören?

Wenn die Propheten

mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen

wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:

Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis

wer will den Sterntod erfinden?

 

Wenn die Propheten aufständen

in der Nacht der Menschheit

wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,

Nacht der Menschheit

würdest du ein Herz zu vergeben haben?

 

                                               Nelly Sachs

 

Rosemarie Monnerjahn, Erik Riechers SAC, 30. November 2020

 

 

Ein Wort, das nicht vergeht

1. Adventssonntag B 2020          Mk 13, 24-37

 

Der erste Text dieser Adventszeit kann sehr beunruhigend wirken. Die ganze Welt ändert sich. Alles, was als zuverlässig gilt, kommt plötzlich ins Wanken. Die Sonne scheint nicht, der Mond erhellt nicht mehr unsere Nächte. Sterne, die unsterblichen Bewohner des Himmels, werden vertrieben.

Wir sind so beschäftigt mit diesem Teil der Geschichte, dass wir dann zwei tröstliche Stellen ignorieren.

Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum!

Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.

und

Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.

 

Ich lenke unsere Aufmerksamkeit zu dem ersten Satz. »Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.« Hier lehrt uns Jesus, wie wir Gott in unserem Leben, auch in Zeiten der Turbulenz, erkennen können. Für uns Menschen wird der unsichtbare Gott erfahrbar auf die gleiche Weise wie der Feigenbaum den unsichtbaren Sommer erfährt: durch die Wandlung. John Shea sagt dazu: »Niemand hat den Sommer gesehen, doch seine Gegenwart wird durch den knospigen Baum verkündet. Niemand hat Gott gesehen, und doch wird seine Gegenwart durch den verwandelten Menschen verkündet.« (Stories of God p. 165). Wir werden Gott erfahren und durch seine Gegenwart verwandelt werden, so wie ein Baum durch den Sommer verwandelt wird.

Bei Wandlung geht es allerdings um Bewegung. Immer können wir Wandlung an diesem Kriterium erkennen, nämlich, dass etwas in Bewegung kommt. Meistens ist es allmählich und oft kaum spürbar. Aber darum geht es nicht bei der Wandlung, die Gott in uns bewirken möchte. Es geht nicht um die Geschwindigkeit, sondern um die Stetigkeit. Es geht nicht darum fertig zu sein, sondern um das Entfalten. Es geht nicht um den sofortigen Erfolg, sondern um die Empfänglichkeit. Die Frage der Wandlung ist die Frage des Advents. Und die Frage lautet nicht: Bist du schon da? Nein, die Frage lautet: Bist du schon unterwegs?

Bei der Wandlung geht es immer um Bewegung, und zwar um eine Bewegung von Unheil zu Heil. Weil Menschen mich oft nach ein paar hilfreichen Indizien für diese Sommer-Wandlung unseres Gottes fragen, schenke ich Ihnen, was ich für meine Studenten skizziert habe. Die Wandlungsbewegungen, in denen wir Gott erkennen, gehen

von Nicht-Erlösung zur Erlösung;

          von Nicht-Ganzheitlichkeit zur Ganzheitlichkeit 

          von Apathie (Teilnahmslosigkeit) zur Liebe und Empathie;

          von Angst zur Freiheit;

   von Einsamkeit zur Gemeinschaft;

          vom Diabolischen (das alles durcheinander wirbelt) zum Frieden;

          von Gewöhnlich zu Außergewöhnlich;

          von Trott zum Feiern;

          von Kargheit zum Blühen;

         von kein Hochzeitsgewand zum Hochzeitsgewand (das biblische Sinnbild dafür, dass wir bereit sind, das zu tun, was die Stunde von uns verlangt).

Schauen wir immer wieder in dieser Adventszeit, wo und wann das in unserem Leben geschieht, werden wir deutlich spüren, wo Gott in uns am wirken ist wie Sommer in einem Feigenbaum.

 

Und danach kommt der zweite tröstliche Satz:

Himmel und Erde werden vergehen,

aber meine Worte werden nicht vergehen.

 Was sind das für Worte, die nicht vergehen werden? Das sind die Worte der Liebe, der Hoffnung und der Ermutigung, die die Sommer-Wandlung unseres Gottes bewirken. Sie sind nicht die analytischen Worte, die die Liebe erklären, sondern erzählerische Worte. Die Erzählungen Gottes sprechen unvergängliche Worte über die Orte, Zeiten und Menschen, die die Liebe für uns verkörperten und offenbarten. Diese Geschichten Gottes sind verwandelnd.  Sie ermöglichen es uns, die Gegenwart Gottes zu erfahren und verwandeln uns in dieser Gegenwart wie ein Baum verwandelt wird durch die Gegenwart des Sommers.

Der heutige Text beschreibt eine Zeit der Unsicherheit. Alles scheint auseinanderzufallen. Es scheint keinen zuverlässigen Boden mehr zu geben. Was kann ein Mensch gegen so viel Hass und Dummheit in der Welt tun?  Sollten wir wachsam sein? Ja. Sollten wir vorbereitet sein? Natürlich! Sollten wir behutsam sein? Ohne Frage!  Aber wir halten uns auch an das ewige Wort, das immer Liebe ist, die Quelle unseres Mutes und die Quelle unserer Hoffnung. Dieses Wort kann die Sache sein, auf die wir hoffen, wenn wir uns in Unruhen befinden.

In dieser Adventzeit leben viele von uns in Zeiten der Prüfung. Es gibt Ängste um Geld, Ängste vor Stress, es gibt Ängste vor Süchten und Krankheiten. Manche sorgen sich um ihre Kinder, andere um ihre Eltern. Und gerade zu dieser Jahreszeit steigen die alten Geschichten unseres Lebens häufiger auf. Die Sonne und der Mond müssen nicht verblassen, damit wir das Gefühl haben, dass alles erschüttert wird. Vielleicht leben wir mit Trauer, oder wir machen uns Sorgen um einen Job oder eine persönliche Verletzung, ob öffentlich oder privat. In all diesen Fällen gilt: Seien Sie vorbereitet, seien Sie wachsam, seien Sie weise, aber halten Sie auch an dem Wort fest, das immer Liebe ist. Es allein wird uns verwandeln können.

 

Erik Riechers SAC, 29. November 2020

 

 

Ein neuer Blick

 

Es liegt nun schon fast 20 Jahre zurück, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben den Klarinettisten Giora Feidman erlebte. Es war an einem hochsommerlichen Sonntagnachmittag vor dem Schloss Engers.

Wie viele andere war ich sehr früh da. Ich fand einen guten Platz; viele Menschen gingen noch ein bisschen spazieren, einige kauften sich etwas zu trinken – es war entspannend und schön, Zeit zu haben. Nicht weit vor mir ließ sich eine Familie mit zwei erwachsenen Töchtern nieder. Die beiden waren immer wieder lebendig im Gespräch mit ihrer Mutter, der schon ältere Vater wirkte eher abseits. Er beteiligte sich nicht an den Gesprächen der Frauen oder sie bezogen ihn nicht mit ein. Er stand immer wieder auf und kam mit einem Glas Bier zurück. Irgendwann sah ich, dass die Töchter eher peinlich berührt zur Seite ihres Vaters blickten, aber sie sprachen nicht miteinander. Dies wiederholte sich einige Male.

Fast unmerklich ertönte auf einmal zart von hinten, wie es bei Giora Feidman zu Beginn eines Konzerts guter Brauch ist, Klarinettenmusik. Der Meister bewegte sich langsam durch die Mitte nach vorn, allmählich wurden alle still, das Konzert begann. Und bald war er bei der Musik angelangt, wegen der ich gekommen war: Klezmer Musik. Mit seinem Instrument erzählte der Künstler Geschichten - mal witzig und fröhlich, mal ernst und melancholisch - die ganze Spannbreite des Lebens breitete er vor uns aus und es war so lebendig, so bewegend, dass ich manchmal am liebsten aufgesprungen wäre und mich dazu bewegt hätte.

Da fiel mein Blick auf die Töchter vor mir. Sie waren etwas unruhig und schauten immer wieder nach links, zu ihrem Vater. Als der seinen Kopf ein wenig zur Seite drehte, sah ich es auch: Ein Strom von Tränen floss durch die tiefen Furchen seiner Wangen. Er versuchte nicht, sie wegzuwischen oder zu verbergen. Er ließ sie einfach laufen.

Die jungen Frauen schauten ihn und einander immer wieder an, aber nun war der Blick anders. Sie sahen ihn mit anderen Augen. Nichts mehr von peinlichem Distanzieren - sie waren berührt. Sie gaben ihrer Mutter ein Zeichen und sie nickte. Es breitete sich vor mir eine Andacht aus, eine Ehrfurcht vor dem, was Giora Feidman in diesem Mann zum Klingen gebracht hatte.

Nie vergesse ich die Tränen in den tiefen Wangenfurchen, aber auch nie die Veränderung, die sich in den Frauen vollzogen hatte.

 

Rosemarie Monnerjahn, 27. November 2020   

 

 

Liebe ist da!

 

Nicht bloß eingeschränkt fühlen wir uns seit Monaten, sondern verarmt. Wir reden von Einsamkeit und Kälte. Aber dies ist nie die ganze Wirklichkeit – auch jetzt nicht. Lassen Sie sich ein auf Gedanken, die uns eine andere Realität zeigen und ans Herz legen, eine Wirklichkeit, der wir uns »nur« zu öffnen brauchen:

»Sowie mehr und mehr Liebe in die Welt freigelassen wird, findet ein wunderbares Heilen statt. Es ist wie Salbe, die auf Wunden aufgetragen wird, heilend und ganz machend. Liebe beginnt in jedem Einzelnen. Sie beginnt in dir und sie wächst wie ein Samen, sie bricht aus und enthüllt große Schönheit und Ganzheit. Das ist es, was jetzt geschieht. Viele Seelen spüren, dass ihnen etwas widerfährt, aber sie sind verwirrt und realisieren nicht, was es ist. Sie suchen ohne einen Schlüssel, aber sie hoffen, einen zu finden, der ihnen zeigt, was gerade geschieht. Andere Seelen fühlen eine Regung, aber sie fürchten sich vor dem, was sie fühlen, denn es ist neu, es ist fremd und unbekannt und sie versuchen es abzustellen. Nichts wird diese Freilassung der Liebe stoppen können. Es ist wie mit dem Geist in der Flasche; einmal befreit, kann er nicht wieder hinein gesteckt werden. Er kann nicht versteckt oder ignoriert werden. Schrittweise beginnt er, sich in jedem zu offenbaren. Er ist gekommen, um zu bleiben.«  *

Unser Gott ist Liebe und die Liebe ist in uns. Geben wir uns ihr hin und lassen sie fließen durch uns: wärmend, zugewandt und kreativ, lebendig und wachsend.

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. November 2020

* Eileen Caddy

 

 

Ein Volk für das gelobte Land geschaffen

 

»O, fly and never tire,

Fly and never tire,

Fly and never tire,

There’s a great camp-meeting in the Promised Land.«

 

(»O, fliege und werde nie müde,

Fliege und werde nie müde,

Fliege und werde nie müde,

Es gibt ein großes Camp-Treffen im Gelobten Land.«)

 

Dies ist Teil der Inschrift, die Barack Obama an den Anfang des ersten Bandes seiner Memoiren gesetzt hat und die passenderweise den Titel »A Promised Land«  (Ein Gelobtes Land) trägt.

Als ich mich hinsetzte und anfing, das Buch zu lesen, war ich von vielen Dingen beeindruckt. Die Schönheit seines Sprachgebrauchs, die schlichte Anmut und die warme Menschlichkeit des Mannes sind ein willkommener Genuss. Ebenso wie seine erstaunliche Ehrlichkeit über seine Errungenschaften und seine Schwächen. Hier ist ein Mann, mit dem ich gerne eine Tasse Kaffee trinken würde.

Doch der bisher tiefste Eindruck des Buches ist der Grund dafür, dass ich mich auch gerne mit Barack Obama hinsetzen und mit ihm beten würde. Hier ist ein Mann, der aus dem Stoff echter biblischer Hoffnung geschnitten ist.

Was mich zutiefst inspiriert, ist, dass er so gelebt hat, wie der Psalmist gebetet hat: »Aber ich werde die Hoffnung am Leben erhalten.« Psalm 71:14. Vier Jahre lang musste er mit ansehen, wie alles, wofür er arbeitete, von seinem Nachfolger angegriffen, aufgehoben oder annulliert wurde. Alles, wofür er gearbeitet und gekämpft hatte, war plötzlich nicht mehr wichtig: Sein ausgeprägter Ton des Mitgefühls wurde durch Selbstverherrlichung ersetzt; seine maßvolle und durchdachte Reaktion auf Krisen wich einem impulsiven Narzissmus; sein konsequenter Ruf nach Einheit wurde zugunsten von sozialer Spaltung, Rassismus und weißer Vorherrschaft aufgegeben; seine angeborene Freundlichkeit und sein grundlegender menschlicher Anstand im großen gesellschaftlichen Diskurs wurden durch Twitter-Polemik und alternative Fakten ersetzt; das Gemeinwohl wurde für persönliche Bereicherung, Vetternwirtschaft und niedrigste Korruption beiseite geworfen. Das Land, das er führte und das er so liebte, wurde in die dunkelste Krise gestürzt, verfassungsrechtlich, moralisch und physisch.

Ich habe in meinem Leben Momente der Verzweiflung und des Zweifels erlebt, in denen ich weit weniger verheerende Rückschläge erlitten habe als diese. Doch hier ist ein Mann, der das größte Bild beschwört, das die biblische Geschichte zu erzählen hat, nämlich, dass wir auf dem Weg ins Gelobte Land sind. Was erwünscht, aber noch nicht erreicht ist, der Ort, nach dem wir uns sehnen, den wir aber noch nicht erreicht haben, ist nicht verloren. Wir sind auf dem Weg, auch wenn wir durch die Wüstenjahre wandern.

Wir haben in dieser Zeit der Pandemie Enttäuschungen und Rückschläge erlitten. Wir haben Verluste erlebt, und manchmal haben wir das Gefühl, dass all diese Einschränkungen, Regeln und Maßnahmen vielleicht vergeblich sind. Aber wir sind die Kinder der Verheißung und müssen die Hoffnung auch während der langen Strecken der Wüstenreise am Leben erhalten.

Der Gospel Spiritual »The Gospel Train« (vor allem die umwerfende Version, gesungen von Jessye Norman und Kathleen Battle *) hilft mir immer wieder, meine Seele wieder auf die Hoffnung auszurichten.

The Gospel train is coming
I hear it just at hand
I hear the car wheels a- moving
And a-rumbling through the land

Der Zug des Evangeliums kommt

Ich höre es fast schon da.

Ich höre die Wagonräder sich bewegen.

wie sie rumpeln durch das Land.

Refrain:

Get on board, little children
Get on board, little children
Get on board, little children
There's room for many-a-more

Kommt an Bord, kleine Kinder,

Kommt an Bord, kleine Kinder.

Kommt an Bord, kleine Kinder.

Es gibt Platz für viele mehr.

 

I hear the bell and whistle

She's coming round a curve

She's loosened all her steam and brakes

Straining every nerve

Ich höre die Glocke und Zugpfeife.

Er kommt um eine Kurve.

Er hat all seinen Dampf und seine Bremsen gelockert,

jeden Nerv angestrengt.

Refrain

The fare is cheap and all can go
The rich and poor are there
No second class on board this train
No difference in the fare.

Der Fahrpreis ist günstig und alle können gehen.

Die Reichen und Armen sind da.

Keine zweite Klasse an Bord dieses Zuges,

Kein Unterschied im Fahrpreis.

Refrain

She's nearin' now the station
Oh, sinner, don't be vain
But come and get your ticket
And be ready for this train.

Sie nähert sich jetzt dem Bahnhof.

Oh, Sünder, sei nicht eitel.

Aber komm und hole dir dein Ticket

Und sei bereit für diesen Zug.

Refrain

Also kommen Sie an Bord. Und halten Sie die Hoffnung am Leben, bis wir dieses gute und weite Land des Gottes betreten, der uns Verheißungen macht und seine Verheißung hält.

Erik Riechers SAC, 23. November 2020

 

*   https://www.youtube.com/watch?v=txWQZQbr_ag

 

 

Weil es würdig und recht ist

Christkönig A 2020   Mt 25,31-46

 

Die Welt, in der sich Könige bewegen, trennt meistens sehr scharf zwischen reich und arm, mächtig und ohnmächtig, oben und unten. Diese Kriterien spielen eine große und wichtige Rolle in der Welt der Mächtigen und der Reichen. Nun aber stellt uns Jesus einen König nach seinem Herzen vor. Sofort geschieht etwas Merkwürdiges, wenn er kommt.

Und alle Völker werden von ihm zusammengerufen werden,

und er wird sie voneinander scheiden,

wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet.

Dieser König wird sie voneinander scheiden: es wird eine Trennung geben. Aber nicht nach diesem typischen königlichen Maßstab. Er ist zwar ein König, sagte Jesus, aber er handelt wir ein Hirte, der Schafe von Böcken scheidet. 

Der Maßstab, nach dem dieser Hirten-König die Trennung vornimmt, wird erst später in der Erzählung erklärt. Er trennt sie nach der Art, wie sie ihn in der Vergangenheit behandelt haben. Nicht Herkunft, Habe oder majestätische Willkür, sondern, worüber wir selbst großen Einfluss üben, nämlich unsere Art zu leben vor Gott und miteinander, spielt hier die entscheidende Rolle.

Wenn das das Maßstab ist, dann gibt es eine Schwierigkeit, denn beide Gruppen geben zu, dass sie den König nie gesehen haben und deshalb nicht wussten, dass er es war, den sie so behandelten.

 

Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?

Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?

Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

Die Antwort des Hirten- Königs ist bezeichnend:

Amen, ich sage euch:

Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder Schwestern getan habt,

das habt ihr mir getan. 

Derjenige, »der in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm« und sich »auf den Thron seiner Herrlichkeit« setzt, identifiziert sich voll und ganz mit den geringsten Menschen. Diese Herrlichkeit ist nicht das, wofür wir es halten. Denn dieser König identifiziert sich mit dem Gegenteil von allem, was wir für königlich und majestätisch halten: Schmerz, Leid, verwundet, arm, gering, missachtet sein: dort ist er gegenwärtig.

Die Gerechten erkennen ihn nicht, aber sie tun was nötig, was richtig, ist. Sie tun es, weil es schlicht und einfach »würdig und recht« ist. Das ist der Schüssel zu dieser Erzählung, denn auch die andere Gruppe wird sagen: Wann haben wir dich in diesen Situationen je gesehen? »Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?«

Jedoch gehen sie unterschiedlich mit dem unerkannten Hirten-König um. Die Gerechten sagen: »Wir haben dich nicht gesehen. Wir haben diesen Mensch im Gefängnis gesehen und haben einfach getan was nötig war. Wir haben diesen hungrigen Menschen gesehen und haben einfach getan, was richtig war. Wir haben diese Kranke gesehen … und haben getan, was die Liebe, die Güte und die Menschlichkeit uns abverlangt haben.«

Die zweite Gruppe sagt: »Wenn wir gewusst hätten, dass du es bist, dann wären wir sofort zur Stelle gewesen. Wenn wir gewusst hätten, dass es der König ist, dann hätten wir alles für ihn getan.« Mit anderen Worten, diese zweite Gruppe handelt nach einem typischen königlichen Maßstab.

In typisch königlicher Weise fällen sie ihr Urteil über die Welt. Nicht der Hirten-König dieses Gleichnisses, sondern die Verfluchten teilen die Welt auf in Lager: Die Welt, in der sie leben, trennt zwischen reich und arm, mächtig und ohnmächtig, oben und unten: der königliche Maßstab ist ihre Parole. Ihr Problem ist, dass sie es mit einem König zu tun bekommen, der sich nicht daran hält.

In der Welt der zweiten Gruppe gilt die Regel: für Könige, für die Reichen, die Mächtigen und Bedeutsamen tun wir solche Dinge, aber sonst nicht. Sie trennen die Welt in die, für die es sich lohnt sich ins Zeug zu legen, und die, wo die Mühe sich nicht lohnt. Eiskalte Berechnung ist das Thema. Ihre Handlung wird bestimmt von kaltem Kalkül: wer ist bedeutend und wer ist es nicht. Die Hungrigen, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken und Gefangenen interessieren sie nicht, sondern lediglich nur hungrige, dürstende, fremde, nackte, kranke und gefangene Könige.

Die Gerechten sind nicht berechnend. Wo immer Menschen leiden, da wollen sie helfen, lindern, dienen. Sie fragen nicht, wer hat es verdient und wer nicht. Die wahre Trennung, die in diesem Text vorkommt, liegt in der Denkweise der zweiten Gruppe. Sie haben die Welt in die Bedeutenden und Unbedeutenden aufgeteilt. In dieser Welt leben sie.

Hier begegnen wir einer alten, tiefen Wahrheit der biblischen Erzählungen: Nicht Gott unternimmt die große Trennung. Wir erschaffen unsere eigenen Trennungen und dann leben wir in der Welt, die wir geschaffen haben

 

Erik Riechers SAC, 22. November 2020

 

 

Von Wärme und Sich-Bergen

 

Draußen wird es dunkler und kälter; die Pandemie verstärkt für viele dieses Novembergefühl und in der Tat frösteln mehr Menschen und fühlen sich allein und verloren.

Lassen Sie uns dagegen Geschichten der Wärme und Geborgenheit erzählen:

Ich sehe ein neugeborenes Kind vor mir, eingehüllt in eine handgestrickte Decke aus Wolle. Die weise Hebamme hat die Mutter sensibilisiert: Dieses Kind kommt aus einer schützenden Wärme von gut 36° C in diese viel kühlere Welt. Die junge Mutter kümmert sich nun Tag und Nacht darum, dass ihr Kind von Wärme umgeben ist. Das Wolltuch ist immer dabei, wenn sie es durch die Wohnung trägt. Gewissenhafte Sorge treibt sie an und ich denke an das Wort beim Propheten Jesaja: »Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, ohne Erbarmen sein gegenüber ihrem leiblichen Sohn?« (Jes 49, 15)

Die mütterliche Sorge ist eine göttliche Sorge, die wärmende Hülle hat etwas Himmlisches.

Und mir geht durch den Sinn, wo ich Wärme spenden könnte und es gar nicht im Blick habe. Wie viel Kälte  ist in der Welt, weil wir gar nicht merken, dass auch wir »wollene Decken« ausbreiten und eine warme Atmosphäre schaffen könnten. Aber wir nehmen sie nicht zur Hand, kein warmes Wort kommt über unsere Lippen.

Blicken wir nochmals auf das Bild des einhüllten Neugeborenen. Die warme Decke ist nicht bloß über das Kind gelegt, sondern es ist darin eingehüllt, eingewickelt. Auch dazu hatte die Hebamme einen weisen Hinweis. Denn dieses Einwickeln hilft nicht nur, die Wärme zu halten, sondern dass das Kind ganz bei sich bleibt. Es gerät nicht so leicht »außer sich«, wenn es unruhig wird. Es ist auch dann geborgen in der wärmenden Hülle. Und wenn es »in Not« gerät, hungrig wird, ist die Mutter nicht weit.

Wir leben seit langem in einer Gesellschaft des Entborgenseins. Wo finden Kinder eine bergende Hülle? Sie haben kein warmes Nest, keine Riten, die Geborgenheit schenken – stattdessen werden sie zugestopft mit kaltem Konsum.  Wenn sie als Jugendliche dann die Probleme unserer Welt und ihrer Zukunft an sich heranlassen, schützen sie sich durch Gleichgültigkeit oder entwickeln fast panische Ängste, denn sie haben nicht erfahren,  dass sie sich bergen dürfen, dass es Wärme und Geborgenheit gibt – in und trotz allem.

So lädt mich der Blick auf das warm eingehüllte Kind ein, mich meines eigenen Geborgenseins zu erinnern – komme, was kommt. Der Beter des 2. Psalms sagt am Ende, nachdem er ehrlich über die Realitäten der Welt gesprochen hat: »Selig alle, die bei ihm sich bergen!«

Mögen wir gerade in diesen dunklen Tagen immer wieder innehalten und Ausschau halten nach dem, der uns Wärme schenkt und bei dem wir uns bergen können – komme was kommt! Denn es gilt noch immer: »Ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände«. (Jes 49, 15-16)

 

Rosemarie Monnerjahn, 20. November 2020

 

 

Im Exil leben

 

Vor kurzem sprach mich eine junge Schülerin an und fragte mich, ob sie mich für ein Religionsprojekt in der Schule interviewen könne. Obwohl ich normalerweise sehr zurückhaltend bin, solche Interviews zu führen, stellte sich dieses als eine angenehme Überraschung heraus. Sobald sie anfing, ihre Fragen zu stellen, war ich von ihrem Interesse an den biblischen Geschichten angetan. Sie fragte mich nicht einfach nur nach meinem Leben, sondern ganz konkret nach der Rolle, Bedeutung und Wirkung der biblischen Geschichten in meinem persönlichen Leben.

Die Frage, die mir am meisten auffiel, war diese: »Was ist die härteste persönliche Erfahrung Ihres Lebens, bei deren Bewältigung Ihnen die biblischen Geschichten geholfen haben?« Wenn ich von ihrer Frage ein wenig überrascht war, so war sie von meiner Antwort sicherlich verblüfft. »Die biblischen Geschichten haben mich am meisten darüber gelehrt, wie man im Exil lebt. Das Leben im Exil ist die härteste Erfahrung meines Lebens.«

Israel lebte für weite Teile seiner Geschichte im Exil. Jakob lebte 21 Jahre im Exil, bevor er nach Hause gehen konnte. Die Tora ist reich in ihrer Erzähltradition, die uns lehrt, wie wir diejenigen unter uns behandeln sollen, die im Exil leben, die Ausländer und die Fremden. Propheten schrieben aus dem Exil. Psalmisten sangen aus dem Exil. Und nichts davon ist einfach oder bequem.

Die biblischen Geschichten haben mich gelehrt, dass die Erfahrung des Exils eine Erfahrung der Anpassung ist. Man lernt, sich anzupassen, eine neue Sprache zu sprechen, neuen Bräuchen zu folgen und mit völlig anderen Perspektiven und Denkweisen umzugehen. Durch die biblischen Geschichten lernt man, einen Beitrag zu leisten, die Menschen und die Kultur, die einen aufgenommen hat, zu beachten und zu respektieren, um das Land und das Leben seiner Bürger mit aufzubauen. Dabei wurden Daniel und Mordechai meine Freunde und meine Gefährten

Zugleich ist das Exil ein Prozess der Treue. Die biblischen Geschichten haben mich gelehrt, meinem Erbe inmitten einer anderen dominanten Kultur treu zu bleiben. Sie haben mich gelehrt, wie wichtig es ist, zu meinen tiefsten ersten Lieben und kostbaren Lebensweisen zu stehen, die mich gefördert, genährt und getragen haben. Während wir im Exil leben, ist es ein ständiger Kampf, das kostbare Erbe unserer Ursprünge nicht aufzugeben, zu vergessen oder zu vernachlässigen. Das ist besonders schwierig an einem Ort, an dem niemand anderes dieses Erbe teilt oder versteht. So habe ich gelernt, mit dem Psalmisten zu singen: »Vergesse ich dich, Jerusalem, so erlahme meine Rechte! Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich nicht an dich gedenke, wenn ich Jerusalem nicht über meine höchste Freude setze!« (Ps. 137, 5-6)

In all den Jahren, die ich im Exil gelebt habe, habe ich vor allem eine Lektion gelernt, die tief in der biblischen Geschichte verwurzelt ist: Das Exil ist ein Ort der Gebrochenheit und Unvollständigkeit. Wie alle Exilanten der Bibel vor mir, werde ich nie wirklich als Teil des Volkes und der Kultur, in der ich mich befinde, voll akzeptiert werden. Exilanten mögen willkommene Gäste sein, akzeptiert und gut behandelt, aber auf der tiefsten Ebene bleiben sie immer Außenseiter, Ausländer, »nicht von hier«. Mein Akzent, das Schmunzeln über meine wiederholten Fehler beim Sprechen der deutschen Sprache, meine kulturellen Vorlieben und meine oft abweichende Perspektive werden oft zu Erinnerungen an mein Exil. Ich lebe und arbeite seit 15 Jahren in diesem Land, aber sobald ich von der vorherrschenden Meinung abweiche, wird es sofort der Tatsache zugeschrieben, dass ich ein Ausländer bin.

Die junge Studentin war von meiner Antwort tief betroffen. Dann sagte sie: »Wissen Sie, Sie müssen nicht einmal Ihre Familie oder Ihr Heimatland verlassen, um sich wie im Exil zu fühlen. Man muss nur nicht rein passen oder sich anpassen, und schon ist man im Exil!«

Sie hat völlig Recht. Und all den Menschen, die in ihren eigenen Familien, Kulturen und Heimatländern im Exil leben, kann ich die drei großen Lektionen aus den biblischen Geschichten wärmstens empfehlen:

Wachsen Sie in die Welt Ihres Exils hinein und leisten Sie einen Beitrag. Bleiben Sie gleichzeitig Ihrer Seele, den heiligsten Momenten und Überzeugungen Ihres Lebens treu. Und lernen Sie, in einer gebrochenen und unvollständigen Erfahrung zu leben, ohne sich davon überzeugen zu lassen, dass Sie ein gebrochener und unvollständiger Mensch sind.

Die junge Studentin bedankte sich bei mir und beendete das Gespräch mit einem schönen Kompliment: »Es ist mir egal, was die Leute darüber denken, wie Sie Deutsch sprechen. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass Sie es verstanden haben, zu meinem Herzen zu sprechen.« Und das, wiederum, lässt mich im Exil ein bisschen zu Hause sein.

 

Erik Riechers SAC, 18. November 2020

 

 

»Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte«

 

Wir Menschen lieben Bilder - uralte Höhlenzeichnungen zeugen schon davon. In unserer Zeit scheinen wir süchtig danach geworden zu sein. Lange Zeit konnten nur ausgebildete Fotografen Bilder aufnehmen und entwickeln. Die meisten von uns erinnern sich noch gut, dass wir Urlaubsfilme ins Labor schickten und sehnsüchtig auf die fertigen Fotos warteten. Heute hat fast jeder seine Bilder in der Tasche dank unserer Smartphones. Wir halten Augenblicke oft schneller fest, als wir sie in unser Herz aufnehmen können und teilen sie miteinander: Gipfelblicke und  Meeresbrandung, Sonnenuntergänge oder exotische Märkte, Klettersteige, Strandbilder, besonders viele herbstliche Heimatbilder in diesen ruhigen Wochen  - was haben wir nicht schon alles auf diese Weise gesammelt.

Wenn wir uns später die Zeit nehmen, noch einmal in unsere Aufnahmen einzutauchen - vielleicht in einem Album -, machen wir oft diese Erfahrung, die ich aus meiner Erleben schildere: wenn ich zum Beispiel Fotos betrachte von einer sehr intensiven Israelreise vor Jahren, dann führt mir das Bild eine bestimmte damalige Situation vor Augen, mein inneres Auge aber sieht mehr. Ich sehe auf einmal das Gesicht des Beduinenjungen, der nahe dabei stand, als ich die Ziegenherde fotografierte.  Oder wenn ich das Gruppenfoto betrachte, sehe ich hinter den lächelnden Gesichtern die eine oder andere traurige Geschichte, die ich beim gemeinsamen Pilgern kennengelernt habe. Ich bin froh um die Erinnerungsbilder, sie helfen mir, aber sie zeigen nicht die ganze Wirklichkeit.

Ja, Bilder können sogar die Wirklichkeit verstellen, schön färben und verfälschen.

Unsere ganze Welt der sozialen Medien ist voll von Bildern, die zeigen, wie Menschen gesehen werden wollen. Millionen junger Menschen posten sich selbst auf Facebook und Instagram und genauso viele klicken sich begierig durch diese Bilderflut, warten auf Zustimmung, lassen sich bewerten und beurteilen andere.

Wie gehen wir mit Bildern um? Was können sie und was nicht? Sagen sie wirklich mehr als 1000 Worte?

Seit langem schon halten wir markante Momente unseres Lebens mit Bildern fest. Haben Sie schon einmal ein Foto gesucht für die Todesanzeige eines geliebten Menschen? Wir möchten gern ein schönes Foto, aber es soll ehrlich und authentisch sein, diesen Menschen zeigen, wie er war, etwas Typisches von ihm zum Ausdruck bringen.  Er soll gesehen werden, wie wir ihn kannten und liebten. Wie viel Mühe kostet es, ein solches Bild zu finden, und am Ende ist es doch nur eine Annäherung.

Neugeborene werden viel fotografiert. Schon am zweiten Tag kommen Profis in die Klinik, um perfekte Bilder zu machen. Zuhause erleben die Eltern fast stündlich Momente, die so einzigartig und neu sind, dass sie sie festhalten und in die Kreise der Familien und Freunde schicken. Das ist sehr schön und beglückend, und doch geht mir nach, was eine junge Mutter in dieser Zeit sagte: »Nun haben wir schon so viele Bilder gemacht, aber es ist immer nur ein Teil. Kein Bild zeigt unser Kind so, wie es ist. Das Bild ist immer nur ein Miniausschnitt - unser Kind ist viel mehr!«

Dieses nachdenkliche Innehalten der jungen Frau führt mich zu dem Wort der Schrift, dass wir uns kein Bildnis machen sollen von Gott, das wir dann als Kultbild verehren und Gott darauf festlegen und greifbar machen. (Dtn 5,8)

Sollten wir dies nicht auch bedenken für Menschenbilder? Denn wir halten Bilder in der Hand und haben Bilder im Kopf und schreiben die Menschen darauf fest. Wir sahen eine hochgezogene Augenbraue und prägen uns das Bild eines arroganten Menschen ein. Wir nahmen ein müdes Gesicht wahr und kategorisieren den Menschen als alt oder matt oder energielos. Wir sind beeindruckt von einem strahlenden Gesicht und glauben, das ganze Leben dieses Menschen sei leicht.

Ja, Bilder sind gut, wichtig und bereichernd. Aber schreiben wir die Wirklichkeit nicht fest auf ein Bild, das immer nur einen Moment zeigt, von einer Episode erzählt. Bleiben wir offen und weit: hinter jedem Bild steckt eine viel größere Geschichte!

Ein Menschenleben ist eben mehr als 1000 Bilder.

 

Rosemarie Monnerjahn, 16. November 2020

 

 

Keine gute Miene zum bösen Spiel

33. Sonntag A 2020   Mt 25, 14–30

 

Das heutige Evangelium erweckt in uns eine automatische und selbstverständliche Deutung. Wir sind es gewöhnt, diese Geschichte als eine Warnung vor der Verschwendung unserer Talente zu interpretieren. In dieser Interpretation sehen wir den dritten Diener als den Sündenbock, als denjenigen, der falsch handelt, die Situation nicht richtig einschätzt und deshalb das Vertrauen seines Meisters verschwendet und seine Erwartungen enttäuscht.

Aber so selbstverständlich diese Auslegung für uns geworden ist, sie hinkt mächtig. Diese Auslegung geht ausschließlich von unserem heutigen Verständnis von Wirtschaft und Welt aus. Sie ignoriert die Welt, in der Jesus diese Geschichte ursprünglich erzählt hat. Ebenso wichtig ist, dass sie das Leben des Geschichtenerzählers selbst ignoriert, nämlich die Situation, in der Jesus sich befindet, während er die Geschichte erzählt.

Wir haben diese Geschichte mit den Annahmen der modernen Wirtschaftstheorie gelesen. In unserer Welt ist Reichtum etwas, das durch Arbeit und Investitionen vermehrt werden kann, ja vermehrt werden sollte. Noch mehr, wir bewundern solchen Gewinn und sehen ihn als legitim und richtig an. Das sind die Annahmen, die ich Jahre lang zum Text gebracht habe. Das war auch nicht verwunderlich, denn sie sind auch die unhinterfragten Annahmen der Welt, in der ich mein ganzes Leben lang verbracht habe. Darin liegt das Problem. Nicht, dass ich meine Annahmen hatte, sondern dass ich sie nicht hinterfragt habe.

Denn Jesus und seine Zuhörer haben nie in der Welt meiner unhinterfragten Annahmen gelebt. Sie lebten in einer Gesellschaft, die auf der Landwirtschaft basiert war. In ihrer Welt war Reichtum keine unbegrenzte Möglichkeit, die durch harte Arbeit und kluge Investitionen vermehrt und vervielfacht werden konnte. In ihrer Welt war Reichtum ein begrenztes Gut. Es gab nur eine bestimmte Menge an Reichtum, die in der Welt verteilt war. Wenn also eine Person plötzlich mehr davon hatte, bedeutete das, dass eine andere Person automatisch weniger davon hat.

In der Welt Jesu sind die »Gewinne« der ersten beiden Diener auf die Verarmung eines anderen Menschen zurückzuführen. Wir sehen diese Weltanschauung in dem Gleichnis selbst. Es wird in der Antwort des Meisters in V. 28 und V. 29 wiederholt und eskaliert.

»Nehmt ihm also das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben werden und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.«

Wenn ich das jetzt zitiert hätte aus dem Wirtschaftsprogramm einer politischen Partei, würden wir das so lässig hinnehmen?

Der dritte Diener sagt. »Sieh her, hier hast du das Deine«: Er gibt dem Meister, was ihm gehört, nicht was er von anderen weggenommen hat, damit dem Mann, der sowieso schon Überfluss hat, nicht noch mehr gegeben wird.

Wir sollten auch den Vorschlag des Meisters nicht ignorieren, denn er ist durchdrungen von Korruption und Fehlverhalten. »Du hättest mein Geld auf die Bank bringen müssen, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten.«  Die ersten beiden Diener spielten prompt nach den Regeln, die ihr Herr aufgestellt hatte, und zahlten ihm das Geld mit Zinsen zurück. Aber Wucher war im Volk Israel ausdrücklich verboten.

Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Gläubiger benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Zins fordern.

Exodus 22: 24

 

Nimm von ihm keinen Zins und Wucher! Fürchte deinen Gott und dein Bruder soll neben dir leben können. Du sollst ihm weder dein Geld noch deine Nahrung gegen Zins und Wucher geben.

Levitikus 25: 36-37

 

Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen nimmt.

Deuteronomium 23:20.

Dies alles gibt uns eine ganz andere Perspektive auf den dritten Diener. Anstatt ihn als einen Mann der mangelnden Initiative zu sehen, einer, der Talente verschwendet, sehen wir jetzt einen Mann, der sich vor der Machtpolitik seines Herrn zutiefst fürchtet. Trotz dieser Furcht weigert er sich, das Spiel mitzuspielen. Er wird nicht zum Komplizen der Machenschaften seines Herrn werden. Er ist nicht bereit mitzumachen, denn Mitmachen bedeutet, andere auszubeuten, um für sich selbst einen Gewinn zu erzielen. Trotz des Gruppendrucks (die beiden anderen Diener spielen mit) und obwohl ihm Strafe angedroht wird, weil er in seiner unerhörten Unverfrorenheit es wagt, die Erwartungen seines Herrn nicht zu erfüllen, gibt er nicht nach.

Stattdessen entlarvt er den Herrn und seine Lebensweise als falsch und nennt die Korruption des Mächtigen: »Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mensch bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast.« Nur Diebe, Ausbeuter und korrupte Menschen ernten, was andere gesät haben und sammeln sich die Früchte der Arbeit anderer ein. In Wirklichkeit spricht dieser Diener der Macht die Wahrheit ins Gesicht. Er leidet auch unter den Folgen, wie es so oft bei  Whistleblowers vorkommt. Er erinnert uns daran, dass eine solche Haltung kostspielig sein kann.

Die ganze Geschichte spiegelt die Haltung und die Situation des Erzählers, Jesus. Er spielt auch nicht mit. Er weigert sich, an einem religiösen System teilzunehmen, das korrupt ist  und nennt die Korruption beim Namen. Er spricht den Mächtigen nicht nach dem Mund, sondern wagt es, ihnen die Wahrheit unverblümt und schonungslos zu sagen. Und er wird dafür bestraft. Wenn er bereit gewesen wäre, mit den religiösen, politischen und gesellschaftlichen Mächten seiner Zeit gemeinsame Sache zu machen, hätte er ein deutlich einfacheres Leben gehabt und wäre sicherlich von diesen Mächten als einen »tüchtigen und treuen Diener« gelobt worden.

Der dritte Diener wird uns als Beispiel für die Haltung Jesu vorgeführt. Er kann uns etwas bieten, worüber wir im Zusammenhang mit Konflikten und unseren Herangehensweisen an sie nachdenken können:

Er spricht zu uns von der Notwendigkeit, Zeugnis von den zugrunde liegenden Ungerechtigkeiten in einem System oder einer Situation abzulegen, auch wenn alle anderen bereit sind, mitzumachen, um voranzukommen. Aber auch wenn das uns das Leben schwer macht.

Allerdings, und vielleicht noch wichtiger, sollte uns diese Geschichte wachsamer machen für die Weltanschauungen, Annahmen und Vorurteile, die wir in uns tragen. Wir bringen sie mit (oft unbewusst) zu dieser Geschichte und zu allen anderen Lebensgeschichten. Meine Welt und meine Erfahrungen sind nicht maßgebend für die ganze Welt und alle Erfahrungen. Eine andere Perspektive ergibt eine andere Auslegung. Und unterschiedliche Verständnisse werden uns herausfordern, auf unsere eigenen Annahmen und Perspektiven zu achten, wenn wir versuchen, eine bestimmte Konfliktsituation zu lesen.

Wir bringen viele solche Annahmen zur gegenwärtigen Krise mit. Wenn Konjunkturpakete eins nach dem anderen verabschiedet werden, zeigt es einen magischen Glauben an die Kraft des Konsums. Wenn bei einem Lockdown  kleine Sportvereine geschlossen werden, während Multi-Millionär-Fußballspieler weiter verdienen dürfen, zeigt dies, dass auch heute wir bereit sind, von den kleinen zu nehmen, damit andere im Überfluss leben können. Die Annahme der Gesellschaft, dass die Wirtschaft nur angekurbelt werden muss und dann wird alles wieder gut, ist dominant. Könnte oder würde unser Verständnis dieser Zeit der Krise anders ausfallen, wenn wir nicht nur durch unsere gewohnten speziellen Linsen schauen würden? Gibt es andere Perspektiven und Interpretationen des Lebens und der Krise, die es wert sein könnten, sie stattdessen zu versuchen und sie aufzunehmen?

Es ist sehr viel leichter, das Gleichnis als eine Lektion über den Einsatz unserer Talente zu lesen als einen Aufruf, aus Systemen auszusteigen, die menschenverachtend und ausbeuterisch sind. Aber dieses Gleichnis beginnt mit den Worten: »Mit dem Himmelreich ist es wie…« Da sollten wir uns schon fragen, welche Auslegung spiegelt die Herzensanliegen Jesu und des Himmelreiches besser?

 

Erik Riechers SAC, 15. November 2020

 

 

Gedanken

 

Nie

ist mein Kopf leer.

Immer

ziehen Gedanken auf.

Sie erzeugen

Gefühle,

Unruhe.

Ich fühle mich

ihnen ausgeliefert.

Oft treiben sie mich

in die Schwere,

in Dunkelheiten.

Machtlos gerate ich

in einen Strudel.

Wie komme ich

wieder heraus?

 

Da ich erinnere mich

einer Übung, die ich fast vergessen hatte:

 

»Sei ein Türhüter deines Herzens und lass keinen Gedanken ohne Befragung herein. Befrage einen jeden Gedanken einzeln und sprich zu ihm: ‘Bist du einer der Unseren oder einer unserer Gegner?’ Und wenn er zum Hause gehört, wird er dich mit Frieden erfüllen. Wenn er aber des Feindes ist, wird er dich durch Zorn verwirren oder durch eine Begierde erregen.«

 

Danke, Wüstenvater Evagrius,

ich fange wieder an

zu üben.

 

Rosemarie Monnerjahn, 13. November 2020

 

 

Möge sein Gedenken ein Segen werden

 

Mit großer Traurigkeit erhielt ich am Montagabend eine E-Mail aus London. Darin wurde ich über den Tod von Rabbiner Jonathan Sacks informiert. Er starb am Samstag im Alter von 72 Jahren.

Wir lernten uns durch die Planung eines Kongresses kennen, bei dem die Narrative Theologie als Plattform dienen sollte, auf der christliche und jüdische Gläubige in einen Dialog miteinander treten sollten. Unser Kontakt bestand aus mehreren Telefongesprächen und einer Reihe von E-Mail-Austauschen. Ich hatte nie das Privileg, ihn von Angesicht zu Angesicht zu treffen.

In unseren Telefongesprächen war ich beeindruckt von der schieren Wärme und Großzügigkeit des Mannes. Er wiederum war zutiefst dankbar dafür, wie wir die Geschichten Gottes ernst nahmen. Besonders gefiel ihm die Tatsache, dass wir das Alte Testament zutiefst schätzen und wie ernst wir es nehmen.

Meine Faszination für diesen Mann brachte mich dazu, mehr von seinen Werken zu lesen. Und dort reifte meine Faszination zu tieferem Respekt und schließlich zu Ehrfurcht. Die tiefe jüdische Liebe zu den Geschichten Gottes schien durch ihn hindurch. Er beherrschte die technische Seite der biblischen Exegese, hatte aber nie den kalten, analytischen Ton des Exegeten. Seine Stimme trug die Wärme der biblischen Geschichtenerzähler in sich.

Hören Sie es selbst. Hier ein Auszug aus seinem Artikel »Eine Nation von Geschichtenerzählern«.

»Die großen Fragen - »Wer sind wir? «, »Warum sind wir hier? «, »Was ist unsere Aufgabe?" - werden am besten durch das Erzählen einer Geschichte beantwortet. Wie Barbara Hardy es ausdrückte: »Wir träumen in Erzählung, tagträumen in Erzählung, gedenken, erwarten, hoffen, verzweifeln, glauben, zweifeln, planen, revidieren, kritisieren, bauen, tratschen, lernen, hassen und lieben in Erzählung.« Dies ist grundlegend, um zu verstehen, warum die Tora die Art Buch ist, die sie ist: keine theologische Abhandlung oder ein metaphysisches System, sondern eine Reihe miteinander verbundener Geschichten, die sich über die Zeit erstrecken, von Abrahams und Sarahs Reise aus Mesopotamien bis zu den Wanderungen Moses' und der Israeliten in der Wüste. Im Judentum geht es weniger um Wahrheit als System als vielmehr um Wahrheit als Geschichte. Und wir sind Teil dieser Geschichte. Das ist es, was es heißt, Jude zu sein... Indem Moses die Israeliten zu einer Nation von Geschichtenerzählern machte, trug er dazu bei, aus ihnen ein Volk zu machen, das durch kollektive Verantwortung gebunden ist - füreinander, für die Vergangenheit und die Zukunft und für Gott. Indem er eine Erzählung entwarf, die sich die nachfolgenden Generationen zu eigen machten und ihren Kindern beibrachten, machte Moses die Juden zu einer Nation von Führern.«

Ich trauere um seinen Tod. Ohne ihn ist die Welt etwas kälter geworden. Und für mich persönlich ist sie ein einsamerer Ort geworden, denn wir leben in einer Welt, in der die Geschichten Gottes oft nicht ernst genommen werden. Der Verlust eines Geschichtenerzählers Gottes ist in der Tat ein schmerzlicher Verlust.

Zichrono livracha. (Möge sein Gedenken ein Segen werden).

 

Erik Riechers SAC, 11. November 2020

 

 

Vom Klagen zum Tanzen

 

Vor vielen Jahren erlebte ich eine Frau, lange schon verwitwet, die sich nach dem Unfalltod ihres jüngsten Sohnes ganz zurückzog. Ihr Gang zum Friedhof gehörte fortan zum täglichen Ablauf, sie öffnete sich nur ihrer nächsten Familie, ihr früher geliebtes Klavierspielen und Singen waren verstummt. Sie jammerte nicht, aber sie klagte und weinte oft. So blieb es über eine sehr lange Zeit. Sie mied den sonntäglichen Kirchgang, weil ihr die vielen Menschen unangenehm waren – besonders an Feiertagen. Stattdessen zog sie die überschaubaren Werktagsgottesdienste vor. Auch an Allerheiligen oder Allerseelen ging sie am Morgen allein zum Grab, an der offiziellen Gräbersegnung nahm sie nie teil. Mich beeindruckte in diesen Jahren ihrer Trauer, wie fest und treu sie trotz und in allem in ihrer Beziehung zu Gott blieb, nie stieg sie aus. Sie fühlte sich von ihm gesehen und sprach auch ihre Klagen und ihre Traurigkeit vor ihm aus. Sie wusste, dass sie nichts vor ihm verbergen musste. Sie arbeitete sich nicht an ihrer Trauer ab, so wie wir heute oft von »Trauerarbeit« sprechen. Nein, sie durchlebte die Trauer, sie gehörte zu ihr. Und sie ließ sich Zeit.

Einige Jahre später heiratete ihr Ältester und dieses Fest erfüllte sie mit Freude, ja, sie genoss es sogar, ebenso wie ihre erste Urlaubsreise nach langer Zeit. Dann wurden ihre Enkelkinder geboren. Wie sprechen sie heute als Erwachsene von ihrer Oma?

Sie erzählen Geschichten von einer munteren Frau, die sie immer wieder erheiterte mit ihren Geschichten und Gedichten und mit ihrem Gesang! Sie erinnern sich, dass es keine häusliche Feier gab, die sie nicht mit ihrem Klavierspiel verschönert hätte. Ein Heiligabend ohne den »Weihnachtsengel« ihrer Oma am Klavier ist gar nicht vorstellbar gewesen bis in ihr hohes Alter. Sie konnte Sorgen ihrer heranwachsenden Enkel ernstnehmen und sie dann sanft in die Leichtigkeit führen. Und sie konnte sich von Herzen freuen, ein gemeinsames Essen genauso genießen wie einen Ausflug oder ihre klassische Musik am Nachmittag.

Ihr Leben wurde ein Zeugnis für den Psalmvers:

»Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt, mein Trauergewand hast du gelöst

und mich umgürtet mit Freude, damit man dir Herrlichkeit singt und nicht verstummt.

HERR, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.«

(Ps 30, 12-13)

 

Je älter sie wurde, umso dankbarer wurde sie. Nie leugnete sie die Schwere in ihrem Leben, aber auch nicht das Schöne und Frohe. Alles gehörte zu ihr und alles hatte sie durchschritten mit ihrem Gott.

Für ihre Enkel bleibt sie ein großes Vorbild und sie behalten ihre letzten Worte an sie im Herzen: »Ich würde noch gern bei euch bleiben.«

 

Rosemarie Monnerjahn, 9. November 2020

 

 

Vergiss das Öl nicht

32. Sonntag A 2020      Mt 25, 1–13

 

1985 schrieb Neil Postman ein faszinierendes Buch mit dem Titel Wir amüsieren uns zu Tode. Darin schrieb er:

»Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken lässt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Varieté-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr – das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung.« (S. 190)

»Mit dem Himmelreich wird es sein…« Wenn ein Gleichnis so beginnt, sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, warum Jesus uns diese Geschichte ans Herz legt. Das Himmelreich besteht immer aus zwei Teilen: das innere Bewusstsein gekoppelt mit einer äußeren Handlung. Dieses Himmelreich, das innere Bewusstsein gekoppelt mit einer äußeren Handlung, wird von Jesus verkörpert. Er bietet es uns, seinen Lehrlingen, an.

Der Wendepunkt des Gleichnisses kommt an dieser Stelle:

Mitten in der Nacht aber erscholl der Ruf:

Siehe, der Bräutigam!

Geht ihm entgegen!

Da standen die Jungfrauen alle auf

und machten ihre Lampen zurecht.

Die törichten aber sagten zu den klugen:

Gebt uns von eurem Öl,

sonst gehen unsere Lampen aus!

Die klugen erwiderten ihnen:

Dann reicht es nicht für uns und für euch;

geht lieber zu den Händlern

und kauft es euch!

 

Alle zehn Frauen haben auf diesen Augenblick gewartet. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Lampen Licht spenden sollten. Allerdings können die Lampen nur leuchten, wenn sie Öl haben. Die Törichten haben kein Öl und bitten darum, sich welches zu leihen. Die Weisen weigern sich aus scheinbar törichten Gründen. Sie scheinen eher für sich selbst zu sorgen, als mit den Bedürftigen zu teilen. Stattdessen schlagen sie den Törichten vor, »geht …und kauft«. In diesem kurzen und rätselhaften Austausch zeigen die Törichten ihre Dummheit und die Weisen ihre Weisheit.

Die Wahrheit des Öls in dieser Erzählung ist: jeder muss sein eigenes haben. Die Lampe ist eine Metapher für das Innenleben des Menschen. Jeder Mensch hat eine Lampe des inneren Lebens. Das Öl ist das Sinnbild für das, was das Innenleben eines Menschen füllen muss, wenn es irgendwann eine strahlende, leuchtende Wirkung nach außen haben sollte.

Jeder Mensch muss dieses Öl aus seinem eigenen Leben liefern. Das Innenleben eines Menschen ist wie eine Lampe, die gefüllt werden muss. Aber womit? Das sind die Öl-Fragen des Innenlebens: Mit welchen Ressourcen fülle ich meine Seele? Was lese ich? Womit beschäftige ich mich? Mit welchen Themen ringe ich? Was nehme ich in mich auf? Wofür bin ich offen und empfänglich? Man kann sich nicht spirituell entwickeln, indem man das innere Leben und die Handlungen eines anderen als sein eigenes annimmt. Jeder Mensch braucht Öl für sich selbst. Der Weg jedes Menschen ist einzigartig, jede Lampe produziert ihre eigene Watt-Zahl.

Die Törichten kennen diesen Weg der individuellen Reifung zu einer neuen Person in Gott nicht. Sie kennen nur den Weg des Gehens und Kaufens, indem sie außerhalb von sich selbst nach dem suchen, was sie brauchen. »Gehen und Kaufen« ist ein Bild für ein Innenleben, das nach außen gerichtet und fokussiert ist. Und diese Strategie von »gehen und kaufen« ist in Menschen tief verankert, die von außen nach innen leben. Sie glauben, dass, wenn die äußere Welt stimmt, dann wird die innere Welt zufrieden sein.

In der ersten Speisungsgeschichte des Markus-Evangeliums (6, 30-44) sagen die Jünger zu Jesus, er solle die Menschenmengen wegschicken, damit sie »gehen und sich etwas zu essen kaufen können!« (V. 36) Als Jesus ihnen sagt, sie sollen die Nahrung bereitstellen, sagen die Jünger: »Sollen wir weggehen, für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen zu essen geben?« (V. 37) Jesus weist sie auf ihre eigenen inneren Ressourcen hin: »Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach!« (v.38). Aber sie bestehen darauf, dass der einzige Ort, an dem sie Nahrung finden können, außerhalb ihrer selbst liegt.

Während Jesus der Samariterin zu trinken gibt, erzählt uns das Johannes-Evangelium, dass die Jünger »in die Stadt gegangen (waren), um etwas zum Essen zu kaufen« (Joh 4,8). Die Törichten haben keine eigenen Mittel und sind deshalb süchtig danach, für ihren Lebensunterhalt woanders hinzugehen. Sie können sich keinen anderen Weg vorstellen.

Das Gleichnis zeigt uns, dass es einige Dinge gibt, die einfach nicht in letzter Minute getan oder erreicht werden können - man kann zum Beispiel nicht drei Monate Studium auf den Abend vor einer Prüfung verdichten und erwarten, eine gute Note zu bekommen. Manche Dinge erfordern Vorausplanung, Vorbereitung oder Übung, wenn wir sie erfolgreich nutzen oder einsetzen wollen in der Stunde, wenn wir sie dringend brauchen. Wenn wir uns vor der Krise nicht um ein tiefes und tragendes Innenleben gekümmert haben, steht es uns dann in einer Krisenzeit wie dieser nicht zur Verfügung. So sehen Lampen ohne Öl aus.

Zweitens unterstreicht das Gleichnis, dass nicht alles einfach von jemand anderem ausgeliehen werden kann, wenn wir es brauchen. Dinge, die unsere Reaktion auf andere in positiver Weise in dieser langwierigen und ermüdenden Zeit bestimmen und lenken können - Großzügigkeit, Freundlichkeit, Gnade, Solidarität und Hilfsbereitschaft, ein Sinn für das Gemeinwohl, usw. -, müssen Dinge sein, die wir für uns selbst besitzen, Dinge, die aus unseren eigenen verkörperten, existentiellen Erfahrungen mit Gott und der Welt hervorgehen. Wir müssen kontinuierlich Haltungen und Gewohnheiten wie Gastfreundschaft und Großzügigkeit pflegen, die konstruktive und kreative Reaktionen ermöglichen und unterstützen, wenn wir uns in Konflikt- und Krisensituationen befinden.

Was sonst passiert, ist, dass wir in unserem Leben nie das Öl finden, das das tiefste Innerste in uns und in anderen berühren kann. Angesichts der Kraft unserer Kultur können wir jahrelang so weitermachen, bis etwas in unserem Leben zerbricht: dann kommt der Tod eines geliebten Menschen; eine Beziehung geht in Brüche und vielleicht unser Herz noch dazu; eine Diagnose mit dem Wort »unheilbar« wird ausgesprochen. Irgendwann kommt eine Krise, die stark genug ist, um plötzlich alle Anregung und Unterhaltung in der Welt leer zu machen. Dann sind wir gezwungen, in unsere eigene Tiefe zu blicken, und das kann ein beängstigender Abgrund sein, wenn wir es jahrelang vermieden haben, dem nachzugehen. Es ist immer ein Schock, wenn Lampen kein Öl haben, weil wir dann nicht besitzen, was wir brauchen, um die Dunkelheit mit Licht zu brechen.

Der Dichter Rumi schrieb einmal: »Ich habe zu lange dort gelebt, wo man mich erreichen kann!« Wenn wir das tun, enden wir als die Menschen, die noch die Lampen dabei haben, aber kein Öl: nicht schlecht, nur beschäftigt; nicht unmoralisch, nur abgelenkt; nicht seelenlos, nur beschäftigt; nicht tiefgründig verachtend, nur ohne Übung.

Liebe Schwestern und Brüder, wenn der Bräutigam kommt, oder die Krise, ist es allerdings nicht die beste Zeit, mit dem Üben zu beginnen.


Erik Riechers SAC, 8. November 2020

 

 

 

Was wir derzeit nicht brauchen

 

Vor vielen Jahren, als ich noch Theologiestudent war, hatte ich die Gelegenheit und das Privileg, an einer Vortragsreihe über Befreiungstheologie teilzunehmen. Gastredner war kein Geringerer als Gustavo Gutiérrez, ein Mann, der oft als der Vater der Befreiungstheologie bezeichnet wird.

Die gesamte Vortragsreihe war sehr erschreckend, denn dieser sehr sanft sprechende Mann ließ in seiner ehrlichen, brutal offenen Einschätzung der Probleme, mit denen die Theologie konfrontiert ist, wenn sie die Befreiung der Armen anstrebt, nicht ein einziges Mal nach. An einer Stelle bemerkte er, dass er oft auf eine große Begeisterung für die Theologie der Befreiung stieß, bis der Moment kam, in dem man sich den existentiellen Problemen stellen musste, von denen die Menschen befreit werden mussten 

Aber er hat uns nicht verschont. Er schilderte Szenen magenverdrehender Gewalt gegen die Armen, als diese es wagten, eine Befreiung von der Unterdrückung und eine Verbesserung ihrer Lage zu suchen.  Er erzählte uns Geschichten von Armut, die uns bis ins Mark erschütterten. Aber er erzählte uns auch Geschichten von den Unterdrückern, von der Gier, die sie dazu treibt, Menschen für ein bisschen mehr Profit zu opfern, von der Unterdrückung der grundlegendsten Menschenrechte, um die Armen durch Angst und Einschüchterung in Schach zu halten, und von den Menschenrechtsverletzungen, die an manchen Orten ebenso häufig vorkommen wie Verkehrsübertretungen in unseren Ländern.

Einer der Teilnehmer der Vortragsreihe war besonders tief betroffen von den Geschichten und dem Geschichtenerzähler. Am letzten Tag gab es eine Frage- und Antwortstunde, in der jeder, der es wünschte, Gustavo Gutiérrez eine Frage stellen konnte. Dieser junge Mann, entflammt und begeistert von den Worten von Gustavo Gutiérrez, erhob sich, ging zum Mikrofon, stellte aber keine Frage. Stattdessen gab er eine Erklärung ab. Es lief ungefähr so ab: 

»Jedes Wort, das Sie sprachen, war brillant und versengte meine Seele. Jetzt brennt mein Herz mit dem Wunsch zu helfen. Ich möchte nach Peru kommen, ich möchte Teil einer befreienden Theologie sein. Ich habe die Nase voll vom Leben hier in Kanada, von der ganzen Dekadenz des Westens. Ich habe die Nase voll von all dem Konsum und dem Luxus und von einer Gesellschaft, die sich um nichts anderes kümmert. Ich kann es nicht länger ertragen, hier zu leben, in einer Welt, in der der Egoismus König ist.« Seine Erklärung war wesentlich länger als die Worte, an die ich mich erinnere, und je länger sie dauerte, desto mehr wurde sie zu einer Tirade gegen das Land, in dem er lebte, und gegen seine Mitbürger. Der Ton wurde immer schärfer. Wut, Frustration, Ressentiments und Zorn wurden zu den zentralen Themen dieser Worte. Als er endlich fertig war, sagte er einfach, dass er nach Peru kommen und mit den Armen leben würde. 

Der Raum war erdrückend still. Viele empfanden den Moment als unangenehm, andere fühlten sich durch seine Kommentare persönlich angegriffen und wieder andere fühlten sich angesichts so viel Wut hilflos. Uns allen, sowohl den Dozenten als auch den Studenten, fehlten die Worte.

Aber nicht Gustavo Gutiérrez. Mit der gleichen leisen Sprechstimme gab er seine Antwort, die ich nach bestem Wissen und Gewissen gebe. »Hier geht es um das Reich Gottes. Wenn Sie nach Peru kommen möchten, weil Sie die Armen lieben und weil Sie das Reich Gottes lieben, dann sind Sie herzlich willkommen. Aber wenn Sie mit einem Bauch voller Wut, Frustration, Zorn und Hass gegen Ihr eigenes Land und sein Volk kommen möchten, dann bleiben Sie zu Hause. Wir haben bereits mehr als genug eigene Wut, Frustration, Zorn und Hass.«

Wir täten gut daran, diese Worte in dieser Zeit der Pandemie zu beherzigen. Wut, Frustration, Zorn und Hass werden uns nicht in das Reich Gottes führen, und daher können sie uns auch nicht zu den Lösungen, der Heilung und dem Leben führen, nach denen wir uns sehnen.

 

Erik Riechers SAC, 6. November 2020

  

 

Licht in dunkler Zeit: Laternenfenster

 

In diesen Wochen ist eine kleine Bewegung entstanden und verbreitet sich vor allem unter Familien und in Kindergärten: die Aktion »Laternen-Fenster«: »Hierbei hängt man eine oder mehrere Laternen in ein Fenster, das am besten zu Straße hin zeigt und bringt sie mit Lichterketten oder LED-Teelichtern zum Leuchten. Nun können große und kleine abendliche Spaziergänger die tollen Laternen bestaunen. Da dieses Jahr in manchen Ortschaften der Martinsumzug leider ausfällt, ist dies vor allem für Kinder eine schöne Alternative, mit ihren gebastelten Laternen spazieren zu gehen und die leuchtenden Laternen in den Fenstern zu bewundern. Ganz im Sinne von St. Martin wollen wir mit Hilfe der Laternen Hoffnung schenken, in dieser schwierigen Zeit.«

Als ich dies in unserem Gemeindeblatt las, hatte ich sogleich Lust,  nach vielen Jahren wieder einmal eine Laterne zu basteln und als Zeichen ins Fenster zu stellen – weitere werden folgen. Die Reaktionen meiner Töchter in Stuttgart und Kanada waren ähnlich und sie erinnerten sich an viele Laternen, die sie als Kinder gebastelt haben.

In der Tat sind diese von Natur aus immer dunkler werdenden Wochen in diesem Jahr für viele auch düster geworden; existentiell bedrohlich, emotional schwierig, sozial unter Umständen arm -  all das ein möglicher Nährboden für Frustration und Leere, für Traurigkeit und sogar Depression.

Dagegen aufzustehen, Lichter anzuzünden und sichtbar zu machen war schon am Montag unser Gedanke: »Ein Licht anzuzünden ist nicht besonders schwer, aber ein Licht am Leben zu halten ist eine gekonnte und herausfordernde Aufgabe, ja sogar eine Kunst. Das sehen wir als das Gebot dieser Stunde. Die Flamme der Hoffnung müssen wir schützen vor jedem Gegenwind der Passivität, Gleichgültigkeit, Perspektivlosigkeit oder sogar Verzweiflung, die uns entgegenbläst.«

Mich beschäftigt zudem das Thema des Laternenbastelns. Fast jedes Kindergarten- und Grundschulkind liebt es, sich ein Laternenmotiv auszusuchen und dann tätig zu werden. Wie stolz wird später die fertige Laterne gezeigt und (normalerweise) mit welcher Freude durch die dunklen Straßen getragen! Die Wirkung des Lichts wird verschönert und gesteigert durch mannigfache Farben und Formen. All das ist auch in diesem Jahr möglich – auch ohne offiziellen Martinszug! Und vielleicht ist es sogar notwendiger denn je!

Darum liebe ich die Aktion »Laternen-Fenster«.

Wie wäre es also, eine Erwachsenenvariante dieser Aktion zu gestalten? Wir laden Sie ein: Wo immer Sie eine schöne Laterne sehen in diesen Tagen, machen Sie ein Foto und schicken es uns. Wir werden es auf Twitter veröffentlichen, begleitet von einem »lichtvollen« Zitat.

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. November 2020

 

 

Der Atem für den langen Marsch

 

»Die Straße gleitet fort und fort,

Weg von der Tür, wo sie begann,

Weit über Land, von Ort zu Ort,

Ich folge ihr, so gut ich kann.

Ihr lauf ich müden Fußes nach

Bis sie sich groß und breit verflicht

Mit Weg und Wagnis tausendfach

Und wohin dann? Ich weiß es nicht..«

 

Dieses Lied aus Tolkiens Buch Der Hobbit stellten wir über die Brunnentage des letzten Jahres. Da sprachen wir wiederholt von dem Atem für den langen Marsch. Ein neuer Lockdown beginnt heute in Deutschland. In vielerlei Varianten und Formen geschieht auch Ähnliches anderswo in der Welt. Wir merken selbst, dass wir einen viel längeren Atem brauchen als wir im Frühjahr dachten. Wir spüren, dass dieser Lockdown uns belastet, was wir am Anfang der Krise eher nicht spürten. Unsere inneren Reaktionen sowohl auf politische Entscheidungen als auch auf unvernünftiges Verhalten innerhalb der Gesellschaft haben eine andere Qualität als zu Beginn der Pandemie. 

Obwohl die Krise sehr lange anhält, müssen wir heute sehr genau Acht geben, dass wir nicht in eine Falle geraten. Es ist sehr leicht, das Gefühl zu bekommen, dass wir wieder von vorne beginnen. »Ach, nicht schon wieder!« Und darin liegt eine Gefahr, denn wenn dieser zweite Lockdown uns auch sehr erinnert an der Zeit im März, so ist das Thema doch ein anderes geworden. Vor sieben Monaten war das Hauptthema: Wie kommen wir durch diese Krise? Jetzt aber gibt es ein zusätzliches Thema, nämlich wie können wir die Hoffnung am Leben erhalten, bis wir durch diese Krise kommen?

Als wir zusammensaßen und uns überlegten, was wir Ihnen heute schreiben möchten, gab es zwei Impulse in uns. Erstens möchten wir unseren Zuspruch an Sie heute wiederholen und erneuern. In unserem allerersten Impuls zu der Reihe »Bleiben Sie behütet« schrieben wir am 21. März 2020:

»In einigen Menschen herrscht der Impuls, »jeder für sich« und »rette sich, wer sich retten kann«. Als Menschen des Glaubens, als Menschen Gottes, müssen wir ein Zeichen dagegen setzen. »Bleiben Sie behütet!« soll unser Ruf werden in dieser Zeit. Schützen wir einander, achten wir aufeinander. Dazu sollen unsere Impulse dienen.«

Das können wir heute am Anfang eines zweiten Lockdown genauso übernehmen. Wir sind müde, aber nicht entmutigt.

 

 

Der zweite Impuls kam von einem Foto, das Erik mitbrachte aus Brakel. Dort steht ein Laternenhaus neben einer Statue der Muttergottes mit Kind. In diesem Foto sehen wir auch ein Bild für den Weg in den kommenden Wochen.

Es wurde gebaut, um dem brennenden Licht einen Schutz zu geben. Viele äußere Elemente wie Wind und Regen versuchen das Licht zu löschen. Ein Licht anzuzünden ist nicht besonders schwer, aber ein Licht am Leben zu halten ist eine gekonnte und herausfordernde Aufgabe, ja sogar eine Kunst. Das sehen wir als das Gebot dieser Stunde. Die Flamme der Hoffnung müssen wir schützen vor jedem Gegenwind der Passivität, Gleichgültigkeit, Perspektivlosigkeit oder sogar Verzweiflung, die uns entgegenbläst.

Was Rosemarie besonders auffiel und gefiel in der Betrachtung des Bildes, war die Höhe des Laternenhauses. Wenn wir das Licht in uns schon schützen sollten, dann nicht indem wir es verbergen. »Man zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus.« (Mt 5, 15) Dieses Laternenhaus steht hoch und erhöht das Licht, macht es sichtbar. Auch das sehen wir als eine Chance und heilige Aufgabe dieser Zeit. Was in uns brennt an Lust, an Liebe, Leben und Glauben, dürfen wir hochhalten. Nicht ein Wegstecken oder Verbergen ist angesagt. Wir heben unser Licht noch höher. Es sollte auch etwas Trotziges, gar Herausforderndes an sich haben. Wir bieten nicht nur der Dunkelheit, sondern auch Wind und Regen die Stirn.

Das Dritte, was wir aus dem Bild herausholen und teilen möchten, ist die Tatsache, dass das Laternenhaus nicht luftdicht sein darf, sonst erstickt der Schutz des Hauses die Flamme, die es schützen sollte. Was wir miteinander bauen als Gefährten des Glaubens ist ein Haus des Lichtes, das atmet. Das Licht der Zugehörigkeit müssen wir nähren trotz aller Distanz. Die Kultur des Gespräches darf nicht abbrechen, denn wir tragen Masken, aber nicht Maulkörbe. Und wenn auch diese Krise uns sehr in Anspruch nimmt, dürfen wir nicht vergessen, dass es noch sehr viele wichtige Themen gibt, die durch eine Überfixierung auf Corona nicht erstickt werden dürfen.

Die Pilger auf dem Camino riefen sich »Ultreja« zu. Es heißt so viel wie »Vorwärts! Weiter!« So haben sich die Pilger aufgemuntert mit einem Mut machenden Wort.

Wir rufen Euch bewusst und aufmunternd zu: »Bleiben Sie behütet!«

 

Vallendar, den 02. November 2020

Rosemarie Monnerjahn

Erik Riechers SAC

 

 

Nächster Abschnitt

Gesellschaftliche Distanzierung von der Heiligkeit

Allerheiligen 2020      Mt 5, 1–12a

 

Als ich Rosemaries Impuls am letzten Freitag las, hat ein Abschnitt bei mir eine starke Erinnerung geweckt. »Heilige sollten wir nicht auf einen Sockel heben und in unerreichbare, höchstens zu bewundernde Ferne rücken. Ihr Leben war menschlich wie unseres und sie waren Kinder ihrer Zeit wie wir die Kinder unserer Zeit sind. Gefährten können sie uns werden, wenn wir betrachten, woraus sie lebten, wie sie sich rufen ließen und ihr Leben mit ihrem und unserem Gott gestalteten.«

Da dachte ich zurück an einen Allerheiligen-Tag vor 25 Jahren. Da begann der Zelebrant die Feier mit dem Satz: »Welcome to the Day of Distancing« (Willkommen zum Tag der Distanzierung). Lange bevor Corona uns gezwungen hat Abstand zu halten, haben wir es mit den Heiligen geübt. Genau indem wir die Heiligen »auf einen Sockel heben und in unerreichbare, höchstens zu bewundernde Ferne rücken«, distanzieren wir uns von ihnen.

Die wahre Frage dieses Tages lautet: Was haben die Seligpreisungen mit der Gemeinschaft der Heiligen zu tun? Sie beschreiben die Kultur, die eine Gemeinschaft heiligt. Das heißt, selig, die in und für die Gemeinschaft keine Gewalt anwenden. Selig, die für sich und andere nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Selig, die barmherzig handeln und friedensstiftend leben und sogar bereit sind, für die gerechte Sache zu leiden

Die Seligpreisungen haben aber noch eine wichtige Funktion: sie zeigen unsere Naivität auf im Blick auf unsere eigene Haltung, wenn wir die Welt zu mehr Gerechtigkeit und Frieden herausfordern wollen.

Worin besteht diese Naivität? Sie besteht darin, dass wir meinen, der heiligen Sache wegen ungerecht, gewaltsam und unbarmherzig handeln zu dürfen. Diese Naivität kann in vier Irrtümern zusammengefasst werden, die zu häufig unsere Gemeinschaft durchdringen und entheiligen.

  1. »Die Dringlichkeit meines Anliegens ist so gewaltig, dass es in diesem Fall in Ordnung ist, wenn ich die normalen Gesetze, die den öffentlichen Diskurs bestimmen, ausklammere. Daher kann ich respektlos, arrogant und hässlich zu denen sein, die mir entgegenstehen.« (Pressesprecher von George Bush)
  2. »Ich beurteile Erfolg und Misserfolg auf der Basis von messbarer politischer Leistung. Ich bin wenig interessiert an einem Königreich Gottes auf lange Sicht als vielmehr an kurzfristigem politischen und sozialen Gewinn.« (US Theologe von der Friedensbewegung)
  3. »Ich mag übertreiben und die Tatsachen ein wenig verzerren, um die Anliegen der Gerechtigkeit klarer zu machen, aber die Lage ist so entsetzlich, dass ich im Blick auf die genaue Wahrheit nicht sehr gewissenhaft sein muss.«
  4. »Ich bin ein Opfer und stehe deshalb außerhalb der Regeln!« 

Hier begegnen wir der schmerzlichen Wahrheit dieses Festtages.

Wir sind leider immer wieder bereit, uns der Sprache der Liebe und der Gerechtigkeit zu bedienen, um die Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit zu rechtfertigen. Wir behaupten, dass wir ehrlich sind, obwohl wir eigentlich nur taktlos sind. Wir behaupten, dass wir »klare« Worte reden, aber ich frage mich, seit wann das Wort »Klarheit« mit »verletzend« gleichgesetzt worden ist.

Diese Haltung (die Bereitschaft, die Seligpreisungen für eine heilige Sache außer Kraft zu setzen) ist der Grund, warum unsere Beziehungen, Familien, unsere Gesellschaft und unsere Gemeinschaften nicht heilsamer sind.

Egal wie sehr wir uns für eine gute Sache einsetzen, egal wie heilig sie uns ist und auch sein mag, in dem Augenblick, wo wir die Haltung der Seligpreisungen ignorieren: da wird jede gute Sache zur Ideologie.

Wenn wir Gewalt anwenden, sei sie körperlich, moralisch oder psychologisch, wenn Rechthaberei anstatt Gerechtigkeit unsere Hunger und Dürste ausmachen, wenn Gewinnen wichtiger ist als Barmherzigkeit, wenn wir nicht mehr bereit sind, Spannungen auszuhalten, damit alle leben können, sondern nur eine Lösung zu unseren Gunsten wollen, damit wir gut versorgt sind, dann ist weder die Gemeinschaft noch ihre Sache mehr heilig.

Leider ahmen unsere Handlungen ihrerseits oft genau die Gewalt, Ungerechtigkeit, Härte und den Egoismus nach, die sie in Frage zu stellen versuchen.

Es wird viel zu viel über moralische Entrüstung gesprochen: Aber sie führt sehr oft zu einer Nachbildung des Verhaltens, das die Entrüstung hervorrief. Moralische Entrüstung ist nämlich zweideutig: je empörter sie ist, desto weniger ist es wahrscheinlich, dass sie zu einer wirklichen moralischen Verbesserung beitragen wird.

Gerechte Empörung ist auch so ein geflügeltes Wort. (Ich mache meiner Wut oder meinem Frust mal Luft). Gerechte Empörung ist oft das erste Anzeichen der Metastase des Krebses Gewalt. Sie neigt dazu, die Entrüsteten mit einer Erlaubnis auszustatten, Dinge zu tun oder zu billigen, die strukturell nicht von denen zu unterscheiden sind, die die Entrüstung hervorriefen.

Das ist leider eher häufiger als seltener in unserem Kampf für die heilsame und gerechte Gemeinschaft Jesu der Fall, selbst wenn er unter einem christlichen Banner geführt wird.

An diesem Tag feiern wir alle Menschen, die heilig und heilsam gelebt haben. Gerade diese Menschen sind uns Vorbild weil sie uns darauf hinweisen dass wir uns im Wesentlichen unterscheiden müssen von dem Egoismus, der Aggression und Ungerechtigkeit, die wir zu verändern suchen 

Und sie tadeln uns. Jedes Mal, wenn wir von der Lebenshaltung der Seligpreisungen abweichen, und das noch mit religiösen Motiven rechtfertigen wollen, dann sagen sie zu uns: Nennt es beim Namen, oder nennt es sonst wir ihr es wollt: nennt es bloß nicht heilig. Da sind die Heiligen sehr empfindlich. Denn das ist Rufmord.

 

Erik Riechers SAC, 1. November 2020

 

 

Heilige Gefährten

 

Jemand klagte in diesen Tagen, dass er zunehmend in den Sog der Zahlen gerät: zwanghaft muss er sich täglich informieren über den neuen Stand der Covid-Infizierten und immer mehr spürt er, wie es ihm immer schlechter geht und er allmählich wie ein Kaninchen vor der Schlange steht. Das bedeutet, dass er langsam der Lähmung anheimfällt.

Das ist nachvollziehbar und oft eine Konsequenz aus der Art der Nachrichten und unserer Art, sie zu hören. Aber so zu reagieren und zu leben ist unter unserem Niveau. Schwingen wir uns ein in die Geschichten und Lieder der Bibel, dann klingt uns überall entgegen, dass wir geschaffen sind als Ebenbild und Abbild Gottes, mit dem Auftrag und den Fähigkeiten, unser Leben zu gestalten.

»Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße« singt David in Psalm 8. Wir dürfen und sollen also das gestalten, was uns gegeben ist. So gehört seit vielen Monaten der Sars-Covid-19-Virus zu den Gegebenheiten unseres Lebens und der Umgang damit schränkt unsere Freiräume immer mehr ein.

Woran orientieren wir uns? Wo gibt es Vorbilder? Was trägt uns und lässt uns auch jetzt aufrecht gehen?

Ich wurde groß mit Menschen, die mit den Heiligen lebten. Wenn sie in Bereichen ihres Lebens nicht mehr weiter wussten, dann nahmen sie einen bestimmten Heiligen ins Gebet. Es waren nicht Menschen, die die Hände in den Schoß legten; sie taten, was sie konnten, doch ich erinnere mich ihres tiefen Vertrauens, dass der oder die Heilige ihre Not mitträgt und helfen wird.

Heilige sollten wir nicht auf einen Sockel heben und in unerreichbare, höchstens zu bewundernde Ferne rücken. Ihr Leben war menschlich wie unseres und sie waren Kinder ihrer Zeit wie wir die Kinder unserer Zeit sind. Gefährten können sie uns werden, wenn wir betrachten, woraus sie lebten, wie sie sich rufen ließen und ihr Leben mit ihrem und unserem Gott gestalteten.

Vielleicht helfen sie uns zu der Klarheit, was wirklich zählt, zu der Geduld, Durststrecken zu durchstehen, zu innerer Freiheit und zu einem neuen Stand in meinem Leben und mit meiner Berufung.

Vielleicht sind wir gerade jetzt aufgefordert, kreativ den Menschen zu begegnen, die sich verloren haben und keinen Wert mehr in ihrem Leben sehen, jetzt, da so vieles wegbricht.

So könnten auch wir für andere Gefährten des authentischen Lebens werden.

Für viele von uns ist Willi Bruners ein solcher Gefährte unserer Zeit, der uns in unnachahmlicher Sprache in die Tiefe führen kann. So lese ich gern in diesen Tagen vor Allerheiligen seine »Offenbarung« unserer selbst:

 

Offenbarung

als ich aufhörte

die anderen zu bewundern

                          zu beneiden

 

öffnete der engel mir

                  die augen

 

und zeigte mir mein geheimnis:

                                 das königskind

 

ich erkannte es kaum

                                       wieder

 

zu lange hatte ich

                 gegen mich gekämpft

 

wilhelm bruners

 

Rosemarie Monnerjahn, 30. Oktober 2020

 

 

Kleine Anfänge und mächtige Schutzräume

 

Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen?

Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann in seinem Garten in die Erde steckte; es wuchs und wurde zu einem Baum, und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen.

Lk 13, 18-19

 

Wann immer wir die Gleichnisse des Gottesreichs hören, ist es leicht, die Oberfläche zu berühren und die scheinbar unbedeutenden Details zu ignorieren. In diesem Fall tauchen wir also direkt in den Kern des Gleichnisses ein und sagen, dass die kleinen Anfänge des Reiches Gottes (seien sie noch so winzig wie Senfkörner) schließlich ihr volles Potenzial entfalten werden, bis sie zu Realitäten heranwachsen, die so groß wie Bäume sind.

Das scheinbar unbedeutende Detail, das wir beiseite streichen, ist die Bemerkung über die Vögel des Himmels. Sie werden kommen und in diesem Baum nisten, in seinen Ästen Heimat, Ruhe und Zuflucht finden. Eine ganz neue Dimension eröffnet sich denen, die das Reich Gottes suchen. Alle Gleichnisse vom Reich Gottes laden zu einer Gotteserfahrung ein. Das Reich Gottes ist die Erfahrung des liebenden Handelns Gottes, das sich in der Welt, in der wir leben, entfaltet. Gleichnisse sagen uns, wie wir ihm begegnen werden, wo wir es suchen und auf welche Eigenschaften wir achten sollten, um es nicht zu verpassen.

Deshalb zählen Details. Das Einbrechen der Liebe Gottes in unserer Welt, dem Reich Gottes, wird in der Tat klein anfangen. Wie der Baum, der aus einem Senfkorn wächst, wird er mit Sicherheit größer werden, mehr Raum einnehmen und immer offensichtlicher und schwerer zu übersehen sein. Aber für uns, wie für die Vögel, wird diese bewegte, fließende, sich entfaltende göttliche Liebe auch zu einem Ort mächtigen Schutzes werden. Das ist eines der Merkmale, an denen wir das Wachstum des Gottesreichs erkennen können. Wo immer aus kleinen, einfachen Anfängen ein mächtiger Schutzraum entsteht, dort ist das Reich Gottes in Bewegung.

Am Anfang, vor dem Pflanzen, Wachsen und Entfalten, ist das Senfkorn für einen Vogel unbedeutend. Es wäre nur ein Bruchteil dessen, was er zum Überleben braucht, ein fast unbedeutender Bissen, der kaum noch dazu beitragen kann, seinen Hunger zu stillen. Dieser Samen wird später ein mächtiger Unterschlupf für den Vogel sein.

Ein sanftes Wort, eine kurze Begegnung, die kleinste Geste der Freundlichkeit oder die einfachste Anerkennung sind im Laufe der Heilsgeschichte zu einem mächtigen Zufluchtsort für Menschen geworden. Durch sie sind dauerhafte Freundschaften entstanden. Aus ihnen sind lebensverändernde Beziehungen gewachsen. Große Lieben wurden aus ihnen geboren, die jahrzehntelang Bestand hatten. Wenn sich kleine Anfänge zu einem mächtigen Schutzraum für das Herz entwickeln, dann wissen wir, dass Gott in der Welt unterwegs ist.

Ich habe mehr als einen Senfkorn-Moment in meinem Leben erlebt, die mir mächtige Schutzräume geboten haben. Einer davon ist in meinem Zimmer. Es ist mein allererstes Exemplar von John Sheas Stories of God.  Es war bereits ein gebrauchtes Buch, als ich es auf einer Konferenz in Toronto von einem Trödelmarkttisch kaufte. Ich habe es aus keinem anderen Grund gekauft, als damit  mir die Zeit auf meiner langen Busfahrt zum Hotel auf der anderen Seite der Stadt vertreiben zu können. Es war ein Ablenkungsmanöver, schlicht und einfach. Für mich hatte das Buch keine Bedeutung, keinen Reiz und keinen tiefen Sinn. Es war sicherlich nicht dazu gedacht, einen bedeutenden Beitrag zu meinem Leben zu leisten. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, ich kann es immer noch in den nächsten Mülleimer werfen, wenn ich fertig bin.

Fast 30 Jahre später bin ich mit diesem Buch und dem, was es mir angetan und für mich getan hat, immer noch nicht fertig. Es beflügelte meine Vorstellungskraft, entzündete meine Seele, öffnete mir die Horizonte, die ich seither gesucht habe, und veränderte mein Gottesbild, veränderte die Art und Weise, wie ich Theologie und Seelsorge betreibe. Es hat die Art und Weise verändert, wie ich denke, fühle und handle. Vor allem gab es mir einen mächtigen Schutzraum für die tiefsten Sehnsüchte meiner Seele, und es half mir, mein Willkommen in der Welt zu finden.

Die Konferenz, an der ich teilnahm, kostete mich 500 kanadische Dollar. Das Buch kostete mich 50 Cent. Es gibt immer noch Senfkörner, die zu schützenden Bäumen werden. Es gibt immer noch kleine Anfänge, die zu mächtigen Bäumen werden. Denn Gott ist immer noch unterwegs in dieser Welt. Wir sollten uns etwas mehr bemühen, Gott nicht zu übersehen, nur weil das Einbrechen der göttlichen Liebe in den kleinsten Paketen kommt.

 

Erik Riechers SAC, 28. Oktober 2020

 

 

Leben segnen

 

Gut 40 Jahre ist es her, dass ich einen kritischen jungen Kollegen sagen hörte, dass es doch unverantwortlich sei, in diese Welt noch Kinder zu gebären.

Was werden junge Menschen heute dazu sagen? In diesem Jahr 2020, das so vieles durcheinandergewirbelt hat und in dem uns so viele Sicherheiten, die jahrzehntelang selbstverständlich schienen, abhandengekommen sind!?

Wer - gerade auch - in diesem Jahr Familien erlebt, in die ein Menschenkind hinein geboren wird, kann erfahren, was so oft geschieht, wenn Menschen sich liebend auf Leben einlassen.

Wo Leben sich regt, hat die Zeit der Erwartung die Sehnsucht nach neuem Leben abgelöst. Sie zeigt sich in vielfältiger Weise. Mal wachsen Unruhe und Spannung, aber immer tiefer auch die Freude. Geduld ist gefragt, doch auch der gute Umgang mit aufkommenden Sorgen. Wer werdende Mütter begleitet, kann sich ergreifen lassen von der Veränderung von der Sorge um sich selbst zu der Verantwortung für das Ungeborene, das Leben, das schon alles in sich trägt, aber noch nicht sichtbar ist und gehütet und geschützt werden muss. Das macht manchmal auch unsicher und ängstlich. Wie segensreich und wichtig sind gute Gefährten an der Seite!

Viele Vorbereitungen werden getroffen. Beziehungen verändern sich und festigen sich oft. Schwiegereltern und -familien spüren eine neue Verbindung und Nähe zueinander. So entsteht nicht nur ein Nest für das erwartete Kind, sondern auch ein Netz, das alles trägt, was nötig ist.  

 

Was wir erleben in Zeiten der Schwangerschaft, geschieht überall, wo neues Leben heranwachsen darf - zuerst verborgen und unscheinbar, doch genährt und getragen, erwartet und ersehnt, bis es schließlich »geboren« und in die Welt gebracht wird.

 

So sollten wir gerade jetzt Leben segnen, wo immer wir ihm begegnen, vielleicht auf diese oder ähnliche Weise, einander zusagend, dass Gott immer mit dabei ist:

Gott behüte euch auf dem Weg durch euer Leben.

Gott wärme euch, wenn Angst euch frieren lässt.

Gott stärke euch, wenn Unsicherheit an euch nagt.

Gott ermutige euch, wenn Sehnsucht euch bewegt.

Gott halte euch, wenn Schlaf euch umhüllt.

Gott durchflute euch, wenn Liebe euch hoffen lässt.

Gott umhülle euch, wenn Leben in euch wächst.

. . .

Helfen wir mit, das Leben zu wählen, dem Leben zu dienen, sich darüber zu freuen und es freundlich zu empfangen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. Oktober 2020

 

 

Die Versuchung einer Krise

30. Sonntag A 2020      Exodus 22, 20-26

 

Es gibt eine traurige Wahrheit über Krisenzeit. Es gibt keine Krise so schlimm, dass es nicht Menschen gibt, die bereit wären sie auszubeuten.

Flüchtlingsnot ist ein gefundenes Fressen für Schleuser. Hohe Arbeitslosigkeit in armen Ländern nutzen manche Firmen aus, um den Arbeitern einen Bruchteil des Lohnes zu zahlen, den sie in ihren eigenen Ländern auszahlen müssten. Und das führt dazu, dass die Arbeiter zuhause dann arbeitslos werden, weil ihre Arbeitsplätze gestrichen werden und ins Ausland gehen. Als tropische Stürme die Ostküste der USA bedrohten, haben manche Geschäftsleute es als Gelegenheit wahrgenommen, die Preise noch schnell zu erhöhen.

Der Prophet Hosea erhebt seine Stimme gegen die Ausbeutung und Ungerechtigkeit und hat dabei eine sehr lebendige Sprache gefunden. Dabei  prägte er ein bedeutendes Wort: 

»Denn sie säen Wind,

und sie ernten Sturm.«

Hosea 8,7

 

Und dieses Wort hilft uns, den Gott zu verstehen, der sein Herz heute im Buch Exodus ausschüttet. Gott macht es überdeutlich, dass seine Menschen die Fremden, Witwen und Waisen nicht ausbeuten sollten.

Hier ist die Warnung nicht nur, dass wir die Menschen nicht missbrauchen sollten, sondern auch nicht ihre  momentane Notsituation als Chance sehen, sie auszubeuten. Denn Fremde, Waisen und Witwen sind in Situationen geraten, wo sie leicht Beute sind. Und solche Situationen locken skrupellose Menschen, die Gunst der Stunde zu gebrauchen um sie zu manipulieren. »Jetzt haben wir sie endlich, wo wir sie haben wollen.« Hier geschieht eine Mutation des Herzens, denn normalerweise sieht der gesunde Mensch in Notsituationen die Chance, anderen zu helfen, nicht sich selbst zu bereichern.

Wer diesen Wind sät, wird Sturm ernten. Denn Gott sagt: Das höre ich. Und darauf reagiere ich.

»Wenn du sie ausnützt

und sie zu mir schreit,

werde ich auf ihren Klageschrei hören.«

 

Ferner sagt Gott in starker, ja drastischer Sprache, dass Menschen dieser Art am eigenen Leib lernen werden, was es bedeutet, die Armen und  ihre Hilflosigkeit und ihre Ohnmacht auszubeuten. Wer ungerecht handelt und lebt, wird davon nicht profitieren. Wer andere vertreibt, erntet nicht fruchtbares Land, sondern Wüste.

Gott ist hier sehr konkret. Kein Wucherzins sollte erhoben werden, wenn arme Menschen Hilfe oder Unterstützung brauchen.

»Leihst du einem aus meinem Volk,

einem Armen, der neben dir wohnt, Geld,

dann sollst du dich gegen ihn

nicht wie ein Gläubiger benehmen.

Ihr sollt von ihm keinen Zins fordern.«

 

Wenn ein Mantel als Pfand zurückgelegt wird, sollten wir den Mantel nach Sonnenuntergang zurückgeben. Aber warum nicht? Pfand zu nehmen ist einfach eine normale Geschäftspraxis. Doch in einer Notsituation wird es zum Ausnutzen und zur Ausbeutung der schwierigen Lage eines anderen.

»Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand,

dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben;

denn es ist seine einzige Decke,

der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt.

Worin soll er sonst schlafen?«

 

Diese Worte sind besonders schwerwiegend. Sie enthalten alles, was Gott an menschlicher Gier, Kaltherzigkeit und Ausbeutung verabscheut. Denn das Bild sagt:

Wehe denen, die anderen wegnehmen, was ihnen Wärme gibt; denn dann sind sie dafür verantwortlich, dass mehr Kälte in die Welt kriecht und in Gottes Söhne und Töchter eindringt.

Wehe denen, die den anderen nehmen, was ihnen Schutz und Geborgenheit gibt; denn dann sind sie dafür verantwortlich, dass Menschen einem Leben ohne Zuflucht ausgesetzt werden.

Wehe denen, die anderen das wegnehmen, was ihnen ein Zuhause gibt, in das sie sich einwickeln können, um Frieden und Ruhe zu finden: dann sind sie dafür verantwortlich, dass Menschen in die Nacht des Lebens ziehen müssen, obdachlos und der Gnade anderer ausgeliefert.

Und auch hier sagt Gott: Das höre ich. Darauf reagiere ich.

»Wenn er zu mir schreit,

höre ich es,

denn ich habe Mitleid.«

 

Der Weg der Ausbeutung ist trügerisch. Er verspricht skrupellosen Menschen, dass die Ausbeutung sie  reich, glücklich und zufrieden macht. In der Realität macht dieser Weg einen Mensch kalt, ungerecht, unbarmherzig und narzisstisch.

»Denn sie säen Wind,

und sie ernten Sturm.«

Das ist keine Drohung.

Das ist ein Versprechen.

 

Erik Riechers SAC, 25. Oktober 2020

 

 

Mit Gottes Augen sehen – mit den Augen des Herzens sehen

 

Im Psalm 32 in der neuen Lutherübersetzung heißt es:

»Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst;

 ich will dich mit meinen Augen leiten.«

Seit ich diesen 8. Vers las, geht mir das Wort »ich will dich mit meinen Augen leiten« nicht mehr aus dem Sinn. Gott sieht mich, seine Augen führen mich. Und wenn ich mich auf diese Führung und Leitung einlasse, wachse ich in die Sehweise Gottes hinein. Das wird meinen eigenen Blick ändern, das wird mein Herz ändern.

Dazu gibt es eine wunderbare Geschichte von Oscar Wilde: »The Happy Prince«.

Sie erzählt von einer Schwalbe, die sich im Herbst nicht trennen kann vom liebreizenden Schilfrohr und so den Abflug ihrer Gefährten nach Ägypten verpasst. Bevor sie schließlich doch aufbrechen will, macht sie eine Pause oben auf der Statue eines über und über mit Gold überzogenen Prinzen mit einem Rubin im Schwertknauf und Augen aus blauen Saphiren. 

Als sie sich wundert über den ein oder anderen Tropfen, der auf sie fällt, blickt sie auf und sieht, dass die Augen des Prinzen über und über mit Tränen gefüllt sind – »und Tränen liefen auch über seine goldenen Wangen. Sein Gesicht glänzte so wunderschön im Mondenschein, dass die kleine Schwalbe Mitleid mit ihm hatte. ‚Wer bist du‘, fragte die Schwalbe. ‚Ich bin der glückliche Prinz‘. ‚Und warum weinst du dann‘, wollte die Schwalbe wissen, ‚du hast mich mit deinen Tränen ganz nass gemacht‘.

‚Als ich noch lebte und ein Menschenherz hatte‘, antwortete die Statue, ‚wusste ich noch nicht, was Tränen bedeuten, denn ich lebte im Palast Sanssouci, zu dem Sorgen keinen Zutritt haben. Tagsüber spielte ich im Garten mit meinen Freunden und abends führte ich den Tanz in dem großen Saal an. Der Garten wurde von einer sehr hohen Mauer umschlossen, aber ich stellte mir niemals die Frage, was hinter der Mauer liegt, alles um mich herum war so wunderschön. Meine Höflinge nannten mich den glücklichen Prinzen, und ich war in der Tat glücklich, wenn Vergnügen Glück bedeutet. So lebte ich und so starb ich. Und jetzt, da ich tot bin, haben sie mich hier aufgestellt, so hoch, dass ich all die Widerwärtigkeiten und das Elend meiner Stadt von hier aus sehen kann; und obwohl mein Herz aus Blei gefertigt ist, komme ich nicht umhin zu weinen.‘«

Und nun erzählt der Prinz von einer Näherin, die er durch ein Fenster sieht, verhärmt arbeitet sie an einem festlichen Gewand für eine der Hofdamen; ihr Sohn liegt krank im Bett und bittet um Orangen, doch seine Mutter kann ihm nur Wasser aus dem nahen Fluss bringen.

»‚Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe, willst du ihr nicht den Rubin aus dem Knauf meines Schwertes bringen? Meine Füße sind an dem Sockel befestigt und somit kann ich mich nicht bewegen‘ .«  Die Schwalbe wehrt sich, sie muss ja endlich aufbrechen, um ihren Freunden nachzukommen, doch schließlich rührt die Traurigkeit des Prinzen sie so an, dass zusagt, noch eine Nacht zu bleiben und Bote des Prinzen zu werden. Sie pickt den Rubin aus dem Knauf und fliegt über die Dächer der Stadt.

»Schließlich erreichte sie das kleine Haus und sah hinein. Der Junge hustete und lag fiebrig auf seinem Bett, die Mutter war vor lauter Müdigkeit eingeschlafen. Die Schwalbe hüpfte hinein und legte den kostbaren Rubin neben den Fingerhut der Näherin. Dann flog sie vorsichtig über das Bett und kühlte dem Jungen die Stirn, indem sie leicht mit den Flügeln schlug. ‚Wie kühl es mir auf einmal wird!‘, bemerkte der Junge, ‚es geht mir wohl schon viel besser‘, und er versank in einen lieblichen Schlummer.

Danach flog die Schwalbe zurück zum glücklichen Prinzen und berichtete ihm, was sie getan hatte. ‚Es ist doch sonderbar‘, bemerkte sie, ‚obwohl es bitter kalt ist, fühle ich mich jetzt innerlich ganz warm‘. «

Wie die offenen Augen des Prinzen sein Herz wandeln, was dies schließlich mit den Augen und dem Herzen der Schwalbe  macht, lohnt sich bei Oscar Wilde nachzulesen.

Mich führt es zurück zu Psalm 32:

»Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst;

 ich will dich mit meinen Augen leiten.«

 

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. Oktober 2020

 

 

Die salzig-nassen Geschichten des Herzens

 

In den letzten Wochen habe ich viele E-Mails von Menschen erhalten, die mir Geschichten aus ihrem Leben in dieser Zeit der Krise und des Stresses erzählt haben. Was mir in letzter Zeit aufgefallen ist, ist, wie oft die Menschen ihre Tränen erwähnt haben. Das wäre an und für sich eine gute Sache.  Doch fast immer waren diese Hinweise auf Tränen negativ, abwertend und selbstkritisch. Die Korrespondenten  implizieren, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, wenn sie sich selbst voller nicht geweinter Tränen fühlen. Oft wird damit impliziert, dass sie nicht hart, widerstandsfähig oder mutig genug sind. Wenn wir bei dieser Interpretation bleiben, dann werden wir früher oder später versuchen, die Tränen aus unseren Geschichten herauszuholen.

Vor Jahren habe ich in Milwaukee ein Exerzitien-Wochenende für eine Gruppe von Familien durchgeführt. Meine Partnerin, eine Ordensfrau mit großem künstlerischem Talent, hatte eine wunderbare Idee. Jedes Mal, wenn ich eine biblische Geschichte interpretierte, leitete sie die Gruppe und ließ jede von ihnen ein Bild von der Geschichte zeichnen, die sie gerade gehört hatten.

Am Samstagnachmittag erzählte ich der Gruppe die Geschichte von Jesaja 25:

Der HERR der Heerscharen wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben

mit den feinsten Speisen,

ein Gelage mit erlesenen Weinen,

mit den feinsten, fetten Speisen, mit erlesenen, reinen Weinen.

Er verschlingt auf diesem Berg die Hülle, die alle Völker verhüllt,

und die Decke, die alle Nationen bedeckt.

Er hat den Tod für immer verschlungen

und GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen

und die Schande seines Volkes entfernt er von der ganzen Erde,

denn der HERR hat gesprochen..

Jes 25, 6-8

Dieses Mal teilte mein Kollegin die Gruppe auf, die Kinder gingen in einen Raum und die Erwachsenen in den anderen. Beide Gruppen zeichneten dann die Geschichte, die ich ihnen gerade erzählt hatte. Als beide Gruppen zurückkamen, wurden die Bilder an gegenüberliegenden Wänden aufgehängt, und die Familien wurden aufgefordert, durch den Raum zu gehen und sich anzusehen, was die Leute in der anderen Gruppe gezeichnet oder gemalt hatten. Dann leitete sie ein respektvolles Gespräch zwischen den Generationen und eröffnete einen warmen und sehr herzlichen Austausch darüber, was sie voneinander gelernt hatten.

Als dieser Austausch endete, bat mich meine Kollegin, die Bilder zu kommentieren. Ich wies auf etwas hin, das mir nicht nur sofort aufgefallen war, sondern auf etwas, zu dem sich sonst niemand die Mühe gemacht hatte, einen Kommentar abzugeben. Auf jedem Bild, das die Kinder gemalt hatten, waren Tränen auf den Gesichtern der Menschen bei diesem großen Festmahl Gottes zu sehen. Kein einziger Erwachsener im Raum hatte auch nur eine einzige Träne gemalt. Nachdem ich darauf hingewiesen hatte, wurde ich von einem Mann unterbrochen, der darauf bestand, dass die Kinder sich geirrt hatten. Also wiederholte ich die Worte der Geschichte. »Er hat den Tod für immer verschlungen und GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen...« Es herrschte eine große Stille. Dann sagte der Mann: »Ich bin einfach immer davon ausgegangen, dass die Tränen weggewischt werden müssen, bevor wir in den Himmel kommen dürfen. Ich dachte, ich müsse mein Leben in Ordnung bringen, bevor ich hineinkomme.«

Ich sagte einfach zu ihm: »Die biblische Geschichte erzählt uns, dass der Himmel nicht der Ort ist, an dem Tränen verboten sind, sondern der Ort, an dem Gott sie wegwischt.«

In der Tat sind Tränen wichtig genug für Gott, dass sie einen Platz in den Festsälen des Himmels haben. Gott hat größte Ehrfurcht vor den Tränen seines Volkes, denn die Tränen, die wir weinen, sind Geschichten des Herzens, die immer noch nach Worten suchen. Die Tränen, die wir nicht weinen, sind die Geschichten des Herzens, die nicht erzählt werden. Aber Gott nimmt Geschichten immer ernst. Deshalb kümmert sich Gott um sie, behält sie im Auge und respektiert sie. Glauben wir wirklich, dass unsere geschichtsträchtigen Tränen im Haus des Gottes keinen Platz haben werden? Dann hören wir den Psalmist: »Die Wege meines Elends hast du gezählt. In deinem Schlauch sammle meine Tränen! Steht nicht alles in deinem Buche?« (Psalm 56:9)

Im Buch der Offenbarung gibt es eine ähnliche Szene:

Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.

Off 21, 1-4

Sogar im neuen Himmel und auf der neuen Erde, die Gott erschafft, wird es uns erlaubt sein, unsere Tränen mit uns zu bringen. Aber es wäre klug, sich aufzusetzen und einen wunderbar tröstlichen Teil der Geschichte zur Kenntnis zu nehmen. Das Wegwischen der Tränen im Himmel ist Gott vorbehalten. Er tut es selbst. Er sendet keine Engel, um dies für sein Volk zu tun. Es ist sein letzter, liebevoller Dienst an uns, bevor das Weinen ein für alle Mal aufhört.

Die biblische Geschichte sagt uns, dass der Himmel nicht der Ort ist, an dem Tränen verboten sind, sondern der Ort, an dem Gott sie wegwischt.

 

Erik Riechers SAC, 21. Oktober 2020

 

 

Reduziere nicht dein Leben!

 

Du siehst die Aufgaben, die vor dir liegen, die Herausforderungen deines Berufs. Sie stehen am Morgen vor dir und beschäftigen dich am Abend.

Du verwendest viele Gedanken darauf, was du dir leisten möchtest, was möglich ist oder auch nicht. Du sprichst selten von »konsumieren«, aber doch nimmt dies einen großen Raum ein in deinem Denken und Handeln.

Du hast viel Unruhe in dir, es treibt dich  hinaus in die Welt; normalerweise hast du schon eine Reise im Blick, wenn du von einer anderen gerade zurückkommst.

Schweres erfüllt dein Leben und belastet dich total. Immer wieder wird dein Blick trüb vor Trauer, vielleicht ziehst du dich sogar zurück.

Vielerlei Pflichten erfüllst du und hast das Gefühl, alles laste auf deinen Schultern und wenn du nicht die Aufgaben erfüllst, bricht alles zusammen.

Krankheit macht sich breit, bei dir oder einem nahen Menschen. All dein Sinnen und viele Stunden des Tages sind gefüllt mit Medizin und Pflege, mit Sorge, ja Angst.

. . .

All dies und vieles mehr ist Realität und Teil unseres Lebens.

Doch nie ist eine dieser Wirklichkeiten alles. Warum aber erzählen wir oft so von unserem Leben, als wäre alles dunkel oder Pflicht oder Last? Warum reduzieren wir die Erzählungen unseres Lebens so oft auf einen Bereich?

Das Leben ist nicht leicht, aber es ist auch nicht eng. Es hat Weite und Fülle und allein an uns liegt es, unsere Sinne und unser Herz dafür zu öffnen. Nehmen wir unsere Scheuklappen ab und sehen den blühenden Garten in Zeiten starker Arbeitsbelastung, erleben einen Spaziergang durch sonnige Weinberge, hören die Worte eines Gefährten in Zeiten von Trauer, können lachen mit Kindern auch in schweren Stunden, erfahren liebevolles Personal in Zeiten von Krankheit oder nehmen auch den bedürftigen Nachbarn wahr in Zeiten, in denen wir leicht mit Äußerlichkeiten beschäftigt sind.

Um die Fülle zu leben und von ihr zu erzählen, sollten wir unsere Tage und Wochen, unser Leben, nicht einschränken auf einen Teil oder eine Episode. Reduzieren wir unser Leben nicht!

Jeden Tag sind wir herausgefordert, uns für das Leben zu entscheiden, ja, das Leben zu wählen, danach zu handeln und davon zu erzählen - in seiner ganzen Schwingbreite.

 

Rosemarie Monnerjahn, 19. Oktober 2020

 

 

Vor die falsche Wahl gestellt

29. Sonntag A 2020      Mt 22, 15-22

 

In dieser Geschichte geht es nur vordergründig um Steuer und Gott. Im tiefsten ist dies eine Geschichte über Konflikt. Hier geht es um die Fallen, die Menschen sich gegenseitig legen, aber auch darum, wie wir sie vermeiden können.

Die Pharisäer sind unaufrichtig. »In jener Zeit kamen die Pharisäer zusammen und beschlossen, Jesus mit einer Frage eine Falle zu stellen«. Äußerlich stellen sie sich als Menschen dar, die das Gespräch suchen. Aber sie missbrauchen die äußerliche Form eines Gesprächs, um ihre wahre Motivation zu tarnen: sie wollen Jesus hereinlegen, damit er etwas Belastendes sagt, was sie gegen ihn verwenden können.

Sie haben einen Anschlag geplant, um Jesus zu Fall zu bringen. Und dazu schicken sie zwei Gruppen: ihre eigenen Jünger und die Anhänger des Herodes. Und darum auch ihre Frage: »Was meinst du? Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht?«

Deshalb haben sie die Herodianer mitgebracht. Sie wollen Herodes an der Macht halten und Herodes bleibt an der Macht nur auf das Geheiß der Römer. Die Römer behalten ihn nur an der Macht, um Steuern zu sammeln. Wenn Jesus gegen die Steuer spricht, heißt es Aufwiegelung gegen Rom. Die Herodianer werden Zeugen dieser Aufwiegelung sein und werden Jesus anklagen, um ihren Herodes zu schützen.

Andererseits, sollte Jesus sich der römischen Steuer beugen, wird er sich als Prophet in Misskredit bringen und seine Anhängerschaft verlieren. Die Menschen, die Jesus nachfolgen, hassen die römische Steuer aus nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Es gibt auch einen theologischen Grund, warum die Steuer der Besetzungsmacht verhasst ist, und darum sind die Jünger der Pharisäer mitgeschickt worden.

Der theologische Grund: Es ist die tiefste Überzeugung des Gottes Volkes, dass das Land eigentlich Gott gehört. Wenn aber das Land Gott gehört, mit welchem Recht erheben die Römer Steuer auf alles, von den Früchten der Erde und den Tieren des Feldes bis zu den Fischen im Meer?

Der wirtschaftliche Grund ist selbst erklärend: Diese Besteuerung war vernichtend, nicht ein angemessener Prozentsatz, sondern eine unerträgliche Bürde. Und sie war zutiefst verbunden mit Bestechung und Korruption.

Also wenn Jesus diese Steuergesetzte genehmigt, würde es einem Großteil seiner Verkündigung und seiner Lehre widersprechen.

Das ist die Falle, die die Pharisäer stellen. Aber zuerst wird Jesus Honig um den Bart geschmiert. Übermäßig schmeicheln die Pharisäer ihm als Teil ihrer Strategie. Sie wollen ihn dazu bringen »Klartext« zu sprechen und sich zu offenbaren. Sie kommentieren seine Wahrhaftigkeit und seine Verweigerung nur das zu sagen, was die Menschen hören wollen, besonders jene in Machtpositionen. Aber eben weil er so aufrichtig ist, wird er die Mächtigen nicht schonen.

Sie sollten Recht bekommen: »Ihr Heuchler, warum versucht ihr mich?« Er schont sie nicht und spricht sie sofort als Heuchler an. Sie sind weder an Gott noch an Steuern interessiert. Ihr einziges Interesse liegt darin, den Einfluss Jesu zu untergraben. Also geht es um Fallen und, genau wie Steuern, gibt es sie auch heute noch.

Die erste Falle ist es, Jesus und uns in eine Ego-Debatte hineinzulocken. Wenn diese Pharisäer (auch die unserer Zeit) dies hinbekommen, dann haben wir ein Duell des Intellektes und nicht mehr die Suche nach wahrem Leben. Dann wird die einzige Frage bei theologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen nicht sein: Was ist wahrhaft, authentisch und dem Leben dienlich? Bei der Ego-Debatte ist die einzige Frage: Wer hat gewonnen? 

So läuft es doch gerade ab in der Zeit der Pandemie. Wir führen Streitgespräche über Lockerungen und Lockdowns, über Maskenplicht, Distanzierung und Einschränkungen. Oft, sehr oft, habe ich den Eindruck, dass es nicht um die Sache geht, nämlich den Schutz des Lebens. Oft habe ich den Eindruck, dass Menschen einfach sich durchsetzen wollen, weil sie sogar eine Pandemie zu einer Frage von Gewinnern und Verlierern machen wollen.  

Diese Themen zum rohen Material eines Ego-Schlagabtausches zu reduzieren scheint mir den großen Themen, die uns herausfordern, nicht besonders dienlich zu sein. Das sehen wir jeden Sonntagabend in den Talkshows. Die großen Themen werden angekündigt, aber was liest man am nächsten Tag in der Zeitung? Wer gewonnen hat! Müssen wir wirklich die größten Fragen des Landes und unseres Lebens zu einer Sieger-Verlierer-Debatte reduzieren? Wenn wir das tun, dann werden wir weiterhin darüber sprechen, wer sich durchsetzt und wer gewinnt, aber nicht um Leben, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Sorge umeinander. 

Die zweite Falle, die Jesus vermeidet, ist sich zwischen falschen Alternativen fangen zu lassen. Die Pharisäer wollten ein »Ja« oder »Nein«. In manchen Fällen ist ein »Ja« oder »Nein« die passende Antwort. »Ist die Ampel rot?«, »Regnet es draußen?«: Solche Fragen und auch viele andere kann ich mit Ja oder Nein beantworten.

Aber andere Bereiche geben sich für eine »entweder–oder«-Antwort nicht her. »Ja oder Nein«- Denken ist sogar sehr oft fehl am Platz. Die meisten Fragen des Lebens und des Glaubens sollten wir mit vorsichtigem Anschauen und ausgeglichener Auswertung angehen. Um der Falle der falschen Alternativen auszuweichen, müssen wir merken, dass »Ja oder Nein« hier nicht genügt.

Die Antwort Jesu ist klar. Wir müssen die Spannungen des Lebens aushalten. Wir sollten diese Spannungen nicht auflösen, indem wir zwischen falschen Alternativen wählen:

  • entweder der Kaiser oder Gott.
  • entweder gegenseitiger Schutz oder persönliche Freiheit
  • entweder Wirtschaft oder soziale Freundschaft.

Die biblische Erzählung sagt es immer wieder: es gibt Raum und Leben genug für alle in der Welt, die Gott geschaffen hat. Aber um in ihr zu leben, müssen wir lernen, mit Spannungen zu leben. Wir müssen zusammen mit den Menschen, mit denen wir leben und arbeiten, die Spannungen aushalten und uns nicht treiben lassen, eine Entscheidung zu treffen zwischen den falschen Alternativen. Und darin liegt die Versuchung. Wir sind krisenmüde geworden. Gerade wenn wir müde und überfordert sind, wird eine schnelle, so genannte saubere, »ein für alle Mal«, »schwarz-weiße« Lösung verlockend.

Und genau das ist die Falle. Wir sollten uns diese Falle nicht stellen lassen, auch nicht durch diese Krise. Wir sollten die Frage der Gerechtigkeit für bedrohtes Leben nicht in eine Sieger-Verlierer-Debatte verwandeln lassen. Sollten wir aber versucht sein es zu tun, gebe ich noch ein letztes zu bedenken. Wer garantiert uns, dass wir automatisch auf der Seite der Gewinner landen werden? Spätestens wenn wir bei der Sieger-Verlierer-Debatte auf der Seite der Verlierer landen, werden wir uns sehnen nach einer Welt, in der es Leben und Raum genug für alle gibt.

 

Erik Riechers SAC, 18. Oktober 2020

 

 

Eine neue existentielle Sprache

 

Im zweiten Kapitel seiner Enzyklika »Fratelli tutti« legt Papst Franziskus sehr ausführlich das Gleichnis des barmherzigen Samariters aus. Er tut es, weil er uns aufrufen möchte, die Menschen zu werden, die wissen, was der Samariter wusste. Nur ein wahrhaft gläubiger Mensch kann die Glaubenserfahrung in seinem Leben zu dem Leben der anderen bringen. Nur so kann die Botschaft des Glaubens sinnvoll klingen. Nur wer die Glaubensseite mit der Lebensseite in Verbindung bringt, ist in der Lage, Glaube wirkungsvoll zu machen. Nur so entwickelt der Glaube seine Kraft.

Stellen wir uns mal vor, wir liegen auf dem Boden und hören diese Worte aus dem Buch Deuteronomium von der anderen Straßenseite herüber klingen:

Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte,

geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir.

Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest:

Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns,

damit wir es halten können?

Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest:

Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns,

damit wir es halten können?

Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen,

du kannst es halten.

Deut 30,11-14

Wie würde das ankommen? Wie würden wir darauf reagieren? Vermutlich würden wir diese als purer Hohn empfinden. Genau das ist es, was Jesus im Gesetzeslehrer erkennt, diese Bereitschaft auf der Glaubensseite der Straße zu bleiben und dort über Dinge zu reden und zu diskutieren, die auf der Lebensseite der Straße nur als weltfremd, unrealistisch und abgehoben ankommen können. Deshalb zeigt Jesus uns die Richtung auf. Menschen des Glaubens müssen hinüber ins Leben gehen, nicht umgekehrt.

Das ist die Richtung des Glaubens, und sie ist eine Einbahnstraße. Unsere Aufgabe kann nicht darin bestehen, dass wir über die Strasse schreiend die Menschen, die gebrochen am Boden des Lebens liegen, einladen: Komm doch mal rüber. Noch schlimmer ist die Variante, wo wir auf der Seite des Glaubens meinen, dass unsere einzige Aufgabe darin besteht, die Menschen auf der anderen Straßenseite zu beschimpfen oder sogar zu verurteilen und sie dann abzuschreiben.

Das gibt es immer wieder unter religiösen Menschen. Aber es gibt auch immer wieder Erfahrungen von Kirche, die den Weg Jesu klar aufzeigen. Es gibt jede Menge Menschen, die beispielhaft ihren Glauben in Fleisch und Blut umsetzen, tief gläubige Menschen, die von ihrem Glauben ständig ins Leben getrieben werden.

Allerdings, wenn wir zur Lebensseite gehen, brauchen wir eine Sprache, die dort verstanden wird. Der Samariter kennt sich bestens aus. Öl, Wein und Geld: das ist eine Sprache, die der zusammengeschlagene, hilfsbedürftige Mann versteht. Öl, Wein und Geld übersetzen für ihn, was wir als Gläubige unter Linderung, Stärkung und Solidarität für die Armen versteht.

Herberge, Sorge, Hilfsbereitschaft sind die Sprache des Samariters. Diese Sprache spricht den Beraubten in seiner Situation sinnvoll an, weil sie ihm klar machen, was wir als Gläubige verstehen unter Beheimatung, Nächstenliebe und selbstlosem Dienst. Liebevolles Handeln, Begleitung, Mitgehen: das ist eine Sprache, die dieser Mann verstehen kann und sie übersetzt in der Sprache des Lebens, was wir Christen wirklich glauben.

Um Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft zu fördern, müssen wir den Weg des Samariters mutig

beschreiten. Wir müssen neue Wege gehen, neue Formen ausprobieren, eine neue Sprache suchen, damit wir auf der anderen Straßenseite verstanden werden. Wir können nicht nach der alt gewohnten Masche handeln und nur noch die Menschen, die noch nicht glauben können, bemitleiden, beschimpfen oder abschreiben.

Und hier liegt die Warnung Jesu: Sie ist nicht nur: Seid barmherzig! Die Warnung lautet: Überquere die Strasse, die Glauben vom Leben trennt. Sonst laufen Leben und Glauben aneinander vorbei.

Genau darum sollte es gehen in unseren Versammlungen,Treffen und Gesprächen. Hier ist das Herzstück unseres geistlichen Lebens: Wir sind Menschen, die sich immer wieder bemühen, neue Wege über diese Strasse zu wagen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

 

Ich bin nicht blauäugig über die Vorschrift Jesu: Dann geh und handle genauso.

Das verlangt noch einen Schritt, der zwangsläufig Mut und Kreativität verbinden wird. Das Gleichnis mag zwar hier enden, aber alles ist noch nicht vorbei. Das macht Lukas, der Erzähler, mit Absicht.

Denn in diesem Gleichnis sollte der Gesetzeslehrer als unser aller Vertreter auftreten. Auch wir können das doppelte Gebot der Gottes- und Nächstenliebe aufzählen. Es wurde uns als Kinder eingetrichtert und ist Teil der allgemeinen Information unserer Kultur. Aber wir tun uns schwer es umzusetzen.

Aber unser Stellvertreter in der Geschichte, der Gesetzeslehrer, ist nirgendwo zu sehen. Er hat den Ort verlassen. Unsere Deckung ist ab und davon. Wir sind die Empfänger der letzten Vorschrift: Geh und handle genauso.

Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

 

Erik Riechers SAC, 16. Oktober 2020

 

 

Wo Glaube auf das Leben trifft

 

In Fratelli tutti, Art. 68, reflektiert Papst Franziskus über das Gleichnis des barmherzigen Samariters und macht einen interessanten Kommentar.

»Die Erzählung – sagen wir es deutlich – liefert keine Lehre abstrakter Ideale und beschränkt

sich auch nicht auf die Funktionalität einer sozialethischen Moral. Sie zeigt uns eine oft

vergessene wesentliche Charakteristik des menschlichen Seins: Wir sind für die Fülle geschaffen,

die man nur in der Liebe erlangt. Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem

Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand „am Rand des Lebens“ bleibt. Es

muss uns so empören, dass wir unsere Ruhe verlieren und von dem menschlichen Leiden

aufgewühlt werden. Das ist Würde.«

 

Damit erkennt Papst Franziskus die wahre Krise der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft.

Nicht die Barmherzigkeit steckt in der Krise, sondern das Handeln.

Der Auslöser dieser Geschichte ist der Austausch mit dem Gesetzeslehrer. Er hat etwas auf dem Herzen und stellt Jesus seine Frage. »Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« Daraufhin prüft Jesus seine Grundkenntnisse des Glaubens und befragt ihn über das Gesetz. Die Antwort kennt der Gesetzeslehrer ganz genau und kommt wie aus der Pistole geschossen:

»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.«

 

Aber erst jetzt wird es schwierig, denn Jesus ist nicht zufrieden mit dem theologischen Wissen des Mannes. Er legt ihm den zweiten Schritt ans Herz.

»Handle danach und du wirst leben.«

Handeln! Darum geht es. Anders gesagt: Ohne Umsetzung kein Leben.

Wer aber nicht handeln will, tut, was der Gesetzeslehrer tut. Er flüchtet in die theologische Abstraktion und will lieber spekulieren über die Definition des Nächsten: Und wer ist mein Nächster? Egal welche Antwort er hier findet, handeln muss er vorerst nicht. Er verschafft sich einen Zeitaufschub.

Und das gibt Jesus Anlass, diese Erzählung anzubieten. Darum erzählt Jesus das Gleichnis, um genau auf diese Flucht in die Abstraktion und weg von der Verantwortung anzuschauen.

Schauen wir das Gleichnis genauer an. In der Erzählung  gibt es diese Straße von Jerusalem nach Jericho.

Jede Seite der Straße steht für etwas. Die eine Straßenseite repräsentiert das Leben und die andere Straßenseite repräsentiert den Glauben.

Auf der Straßenseite des Glaubens gehen erst ein Priester und dann ein Levit vorbei. Diese zwei Menschen spiegeln die Mentalität vieler religiöser Menschen wieder. Sie haben eine Menge Wissen über Theologie und Spiritualität, sie kennen die Glaubensformulierungen und beherrschen die Sprache, Rituale und Haltungen des Religiösen. Hier sehen wir die Straßenseite, auf der sich der Gesetzeslehrer befindet. Was sie nicht haben, ist die Fähigkeit, ihre Kenntnisse mit dem Leben zu integrieren. Der Kontakt mit dem Leben ist recht minimal. Mangels einer Verbindung zum praktischen Leben, bleiben sie in abstrakten Gedanken über den Glauben, genau wie der Gesetzeslehrer. Ihre Diskussionen im Allgemeinen über Glaubenswahrheite geben sich als Glaubensentwicklung aus.

Auf der anderen Seite der Straße läuft das Leben ab. Hier gibt es Gier, Gewalt, Blut, falsche Entscheidungen, Verletzungen, Not und Ungerechtigkeit. Und Menschen, die halb tot auf dem Boden liegen.

Diese Welten von Glauben und Leben sind klar getrennt. Der Mann liegt auf dem Boden und sein Leben blutet aus. Auf der anderen Seite gehen Menschen, die sich über Glauben, Liebe, Gerechtigkeit, Sorge, Heil und Heilung bestens auskennen und sich darüber unterhalten.

Papst Franziskus schreibt: »Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand am Rand des Lebens bleibt.«  Aber leider Gottes ist es in der Tat eine Option, dass jemand »am Rand des Lebens« bleibt. Halten wir einfach Glauben und Leben auseinander. Dann ist es überhaupt kein Problem.

Im Gleichnis ist der Samariter der einzige, der versteht, was diese Situation, diese Stunde, von ihm und uns verlangt. Wir müssen, was wir auf der Glaubensseite gelernt haben, zur Lebensseite hinübertragen. Nur so treffen sich Leben und Glauben. Handle danach und du wirst leben. Bevor Glauben und Leben sich küssen, werden Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft wenige Chancen haben.

 

Erik Riechers SAC, 14. Oktober 2020

 

 

Die Straßenseite wechseln

 

In seiner Enzyklika »Fratelli Tutti« widmet Papst Franziskus sein zweites Kapitel einer Reflexion über den Barmherzigen Samariter. Er glaubt, dass diese Geschichte Jesu uns den Weg zu echter Geschwisterlichkeit und zu sozialer Freundschaft weisen kann. In dieser Woche werde ich dreimal auf das Gleichnis zurückkommen, um uns dabei zu helfen, ein wenig tiefer in das Gleichnis einzutauchen. Wie alle Gleichnisse ist es eine Geschichte der Einladung und der Entscheidung. Diese Zeit der Pandemie ist wie ein Gleichnis, eine Geschichte der Einladung und der Entscheidung. Und wenn wir uns gegen die Einladung zur Geschwisterlichkeit und sozialen Freundschaft entscheiden, werden wir nicht behütet bleiben, sondern höchstens eine Zeitlang verschont.

In art. 63 schreibt Papst Franziskus:

Jesus erzählt, wie ein verwundeter Mann am Wegesrand auf dem Boden lag, weil er

überfallen worden war. Mehrere Menschen gingen an ihm vorbei und blieben nicht stehen. Es

waren Menschen mit wichtigen Stellungen in der Gesellschaft, die aber die Liebe für das

Gemeinwohl nicht im Herzen trugen. Sie waren nicht in der Lage, einige Minuten zu erübrigen, um

dem Verletzten zu helfen oder zumindest Hilfe zu suchen. Einer blieb stehen, schenkte ihm seine

Nähe, pflegte ihn mit eigenen Händen, zahlte aus eigener Tasche und kümmerte sich um ihn. Vor

allem hat er ihm etwas gegeben, mit dem wir in diesen hektischen Zeiten sehr knausern: Er hat

ihm seine Zeit geschenkt. Sicherlich hatte er sein Programm für jenen Tag, entsprechend seiner

Bedürfnisse, seiner Aufgaben oder seiner Wünsche. Aber er ist fähig gewesen, angesichts dieses

Verletzten alles beiseite zu legen, und ohne ihn zu kennen, hat er ihn für würdig befunden, ihm

seine Zeit zu schenken.

 

Die Straße nach Jericho ist mit mehreren interessanten Reisenden übersät. Auf der einen Seite der Straße warten Räuber darauf, den naiven und ahnungslosen Reisenden zu überfallen; sie haben ihren Platz auf der Straße berechnend gewählt. Auf der gleichen Straßenseite liegt eines ihrer Opfer halb totgeschlagen, der seinen Platz auf der Straße ohne gebührende Vorsicht gewählt hat.

Auf der anderen Straßenseite kamen ein Priester und ein Sohn Levis zu Fuß. Sie sahen den Mann, aber sie »gingen auf der anderen Seite vorbei«. Sie wählten ihre Straßenseite sehr sorgfältig aus.

Schließlich ist da noch der Samariter. Auch er sah den Mann am Straßenrand liegen. Doch er ist anders als alle anderen. Er beschließt, auf die andere Straßenseite zu wechseln.

Hier ist eine ebenso starke und genaue Definition von Barmherzigkeit wie jede andere: auf die andere Seite der Straße zu wechseln. Das ist ein häufiger Fehler, der auf der Straße des menschlichen Lebens auftritt. Wir verwechseln das Sehen, was auf der anderen Seite der Straße geschieht, mit dem Übergang auf diese Seite.

Auch wir sehen das unendliche Leid derer, die am Straßenrand stehen. Wir haben die Frauen gesehen, deren Geister so schlimm geprellt sind wie ihre Gesichter; die Studentin, die mit einer Lernbehinderung kämpft und deren Selbstvertrauen mit Hohngelächter von »Dummkopf« und »Schwachkopf« brutal geschlagen wurde, die tiefer wehtut, als alles, was Stöcke und Steine je zufügen könnten; die schwangere Teenagerin, deren Herz schrumpft, wenn ihr Bauch anschwillt. Wir sehen täglich die Schrecken, die Papst Franziskus in unseren Nachrichten beschreibt: die Wegwerfwelt, die fehlenden Menschenrechte, die Konflikte und Kriege, die zu Hunger, Obdachlosigkeit und Flüchtlingswellen aus Verzweiflung führen, usw. Wir sehen sie, aber wir lassen unseren Blick nicht verweilen. Zu oft ist das Motto des Lebens: Werfen Sie Ihren Blick zu Boden und Ihre Sorgen in den Wind, und gehen Sie weiter! Wir gehen auf der anderen Seite vorbei.

Was wir sehen, berührt uns nicht genug, um uns über die Straße zu locken, die uns von den anderen trennt. Wir sehen all diese Dinge: Sie hetzen uns auf, erfüllen uns mit Empörung, treiben uns an, härtere Gefängnisse, härtere Strafen und schnellere Gerechtigkeit zu fordern. Dennoch locken sie uns selten zu Barmherzigkeit. Unsere Augen huschen unruhig über Landschaften und Fernsehbildschirme. Wenn sie nur einen Moment zu lange verweilen, tun sie vielleicht mehr als nur sehen: Sie schauen vielleicht am Ende genau hin.

Nicht so bei Gott. Bette Midler singt in ihrem Popsong: »God is watching us from a distance« (Gott beobachtet uns aus der Ferne). Als Sängerin beschwört sie Begehren herauf, doch als Theologin lässt sie viel zu wünschen übrig. Gott schaut uns nicht aus der Ferne zu. Er hat in Fleisch und Blut Jesus, in der Realität seines Sohnes, für uns getan, was der Samariter in dem Gleichnis getan hat. Er ist auf die andere Seite der Straße hinübergegangen. Der Gott der unendlichen Liebe und Barmherzigkeit kommt zu uns.

Das Evangelium sagt uns, dass der Samariter »ihn sah und von Mitleid bewegt war«: Gott sah die innere und äußere Zerbrochenheit der Menschheitsfamilie und war von Mitgefühl für sein Volk bewegt. So wie der Samariter die Straße überquerte, um den blutenden Mann zu heilen, so hat Gott die Straße überquert, um uns zu heilen, indem er unsere tiefen Wunden mit dem Fleisch Christi berührte. Mit den Worten von John Bell und Graham Maule:

Dem Verlorenen zeigt Christus sein Gesicht;

den Ungeliebten gibt er seine Umarmung;

denen, die vor Scham und Schande weinen,

macht Christus mit seinen Freunden einen Ort der Berührung.

Warum hat Gott die Straße überquert? Weil er, als er den Zustand sah, in dem wir uns befanden, unbedingt auf die andere Seite gelangen wollte.

Der Weg zu echter Geschwisterlichkeit und zu sozialer Freundschaft wird immer auf diese Weise beginnen. Zuerst müssen wir sehen, was auf der Seite der Straße geschieht, die nicht die eigene ist. Dann müssen wir lange genug verweilen, um unsere Herzen von dem, was wir gesehen haben, berühren zu lassen.  Dann müssen wir uns dazu bewegen lassen, auf die andere Straßenseite hinüberzugehen, um die Realität zu berühren, die uns niemals berühren würde, wenn wir einfach vorbeigehen würden. Das ist die eigentliche Natur der Barmherzigkeit, in Gott und in uns. Barmherzigkeit ist die Bereitschaft, in das Chaos des anderen einzutreten.

 

Erik Riechers SAC, 12. Oktober 2020

 

 

Von Einladung und Entscheidung

28. Sonntag A 2020      Mt 22, 1-14

 

Der erste Eindruck dieses Gleichnisses ist immer mit Einladung und Ablehnung verbunden. Gäste werden eingeladen und müssen sich entscheiden, wofür es sich lohnt aufzubrechen und teilzunehmen. Und diese Frage wird auch an uns gestellt. Wozu sind wir eingeladen? Was gibt es in unserem Leben, wo wir sagen würden: Dafür lohnt es sich, aus meinem gewohnten Leben aufzubrechen, um daran teilzuhaben? Was passiert, wenn wir es ablehnen?

Jesus macht klar, dass es ihm bei dieser Dynamik von Einladung und Entscheidung um das Reich Gottes geht. Dieses Reich vergleicht er mit der Füllung eines Hochzeitssaals.

Der Hochzeitssaal ist der Ort, wo Menschen sich der Liebe und der Vereinigung hingeben, um eine Gemeinschaft des Lebens und der Liebe zu gründen und gestalten. Noch wichtiger für den Gastgeber ist seine tiefe Überzeugung, dass so ein menschliches Unternehmen, so eine Gemeinschaft des Lebens und der Liebe sowie der Menschen, die es wagen, sie zu leben, es verdient haben, dass sie gefeiert werden. Der König wünscht sich nichts sehnlicher als diesen Raum mit Menschen zu füllen, die genau das feiern wollen.

Der König belässt es nicht bei seiner Sehnsucht, sondern dient ihr. So werden Boten dieser Einladung hinaus gesandt.

Die erste Sendung der Boten verläuft folgendermaßen: »Er schickte seine Diener, um die eingeladenen Gäste zur Hochzeit rufen zu lassen.« Die Einladung hier geht an Menschen, die vorher eingeladen waren. Sie werden daran erinnert, dass sie auf der Gästeliste stehen, dass sie erwartet werden und kommen sollten. Das hier ist keine Überraschung. Sie haben Zeit und Raum gehabt um sich vorzubereiten, einzustimmen und einzustellen.

Für sie birgt die Ankunft der Boten keine Überraschungen. Sie wissen seit geraumer Zeit, wozu sie berufen sind. Die Boten erinnern sie lediglich daran, dass für sie die Zeit gekommen ist, wo dieser Ort (Liebe, Vereinigung, Gemeinschaft des Lebens) Raum und Zeit in ihrem Leben einnehmen sollte. Die Stunde der Entscheidung ist gekommen.

Ihre Antwort ist etwas salopp. »Sie aber wollten nicht kommen.« Mit anderen Worten, sie haben keine Lust. Für die Anliegen der Einladung, die gleichzeitig die Anliegen des Gastgebers sind, wollen sie weder Zeit noch Raum frei machen.

Nun ist der König ein Schlauer. Er weiß, dass mangelnde Lust geändert werden kann. Und genau das versucht er.

Deshalb erfolgt die zweite Sendung der Boten: »Sagt den Eingeladenen: Mein Mahl ist fertig, die Ochsen und das Mastvieh sind geschlachtet, alles ist bereit. Kommt zur Hochzeit!«

Die zweite Einladung kommt mit einer Beschreibung von allem, was schon läuft und in die Wege geleitet worden ist. Wenn Menschen sich in Liebe und Vereinigung zur Gemeinschaft schließen, lohnt es sich vieles auf sich zu nehmen, um das zu feiern. Der König zeigt, dass er das seinige getan hat. Seine zweite Sendung ist etwas dringender: »Versteht ihr jetzt? Kommt, nehmt Platz im diesem Raum und feiert was hier geschieht!«

Ihre Antwort ist diesmal deutlich anders. »Sie aber kümmerten sich nicht darum, sondern der eine ging auf seinen Acker, der andere in seinen Laden, wieder andere fielen über seine Diener her, misshandelten sie und brachten sie um

Diesmal lautet die Antwort nicht Lustlosigkeit, sondern tödliches Desinteresse. Denn hier wird Gewalt gegen die Boten angewendet. Sie sind gekommen um eine Einladung auszusprechen: kommt, nehmt Teil an einem Ort, wo Liebe, Vereinigung und eine Gemeinschaft des Lebens gefeiert werden. Für diese Einladung müssen sie sterben.

Sofort läuft eine alte Geschichte ab. Die Gewalt der Eingeladenen erzeugt eine größere Gewalt des Königs. »Da wurde der König zornig; er schickte sein Heer, ließ die Mörder töten und ihre Stadt in Schutt und Asche legen.« Ein Mann, der eine Vereinigung der Leibe und des Lebens feiern wollte, lässt eine ganze Stadt seinen Zorn spüren, nicht nur die Mörder seiner Boten. Doch sobald die Gewalt endet, kehrt die alte Sehnsucht des Königs zurück. Er will eine Hochzeit halten. Diese Gewalt hat nichts getan für sein Herzensanliegen, ihn seinem Ziel keinen Schritt näher gebracht. Sie hat viel Leben zerstört und keinem Leben gedient. Das ist die wahre Natur der Gewalt.

Der König gibt nicht auf. Nun erfolgt eine dritte Sendung der Boten. Auf zu den Straßen. Jedoch hat das Kriterium der Einladung sich geändert. Diesmal heißt es: lade Menschen ein, die auf dem Weg sind, die sich bewegen. Nicht gut oder böse soll der Maßstab sein, sondern Bereitschaft und Beweglichkeit. Bisher waren nur die Eingesessenen und Sesshaften eingeladen. Jetzt aber sollten es eben nicht Menschen mit Acker und Läden sein, sondern Menschen des Weges, Menschen, die flexibel sind, die sich auf Spontanes und Unerwartetes einlassen können.

Endlich bekommt der König, was er will: Einen Saal voller Menschen, die sein Herzensanliegen und seine Freude teilen. Von der ersten Aussendung kommen nur die Diener zurück. Von der zweiten Aussendung kommt niemand zurück. Aber von der dritten kommen alle zurück.

Und der Saal ist voll. Der Ort des Liebens, der Vereinigung und der Gemeinschaft ist endlich voll, und zwar von bewegten und beweglichen Menschen.

Der König kommt und einer fällt auf. Er trägt kein Hochzeitsgewand. Nur dieser eine. Ja, die Einladung kam unerwartet und urplötzlich. Ja, die Einladung kam überraschend. Aber das gilt für alle Gäste dieses Raumes und dennoch tragen sie alle ein Hochzeitsgewand. Denn ein König gab jedem Gast so ein Gewand beim Eintritt, damit keiner seine Teilnahme absagt, weil er nichts Passendes für so eine Feier anzuziehen hat. Nut einer hat dieses Gewand nicht angezogen. Nur einer ist nicht gekleidet für das, was hier geschehen muss.

Hier ist der Ort, wo Liebe, Vereinigung und Gemeinschaft des Lebens gefeiert werden sollten. Der Mann kommt zwar in den Raum, bringt jedoch nicht die richtige Einstellung und Bereitschaft mit. Er bekommt noch eine Chance sich zu erklären, hat aber nichts zu sagen. Und wer nicht bereit ist, Leben, Liebe und Gemeinschaft zu feiern, den erwarten die Dunkelheit und die Einsamkeit, der ist gefesselt.

 

Brüder und Schwestern,

Wo ist unser Hochzeitssaal? Wo ist der Ort, an den wir andere einladen, unsere Herzenswünsche zu teilen, weil sie für uns eine Erfahrung des Reiches Gottes sind? Und wie füllen wir den Saal?

Gehen wir auf die Straßen und suchen Menschen, die unterwegs sind, neue Menschen, die Herzensanliegen teilen, auch wenn sie nicht zur guten alten Garde der Sesshaften gehören?

Wir sollten bedenken: die Boten der Einladung stoßen auf zwei Reaktionen.

1. Keine Lust – da kamen nur die Boten zurück. (Das kennen wir und wir können solche Menschen leben lassen).

2. Tödliches Desinteresse – da kam niemand zurück. Weil die Diener der Einladung sogar getötet werden. Für diese Gäste sind Acker und Laden wichtiger als eine Hochzeit zu feiern. Bedauerlicherweise werden auch heute Liegenschaften und Immobilien mehr beachtet als die menschlichen Räume, in denen Liebe, Leben und Gemeinschaft gefeiert werden.

Wenn wir zulassen, dass die Menschen mit tödlichem Desinteresse alles bestimmen, dann wird niemand zurückkommen, um die Räume des Lebens zu füllen. Dann bleibt nur noch die Straße für die Menschen, die den Raum für die Feier des Lebens und der Liebe füllen würden.

Natürlich kann die Straße ein Ort der Bewegung und Beweglichkeit sein. Aber dafür gibt es eine Bedingung. Die Straße darf nicht der Ort sein, an dem wir gezwungen sind zu leben. Menschen, die frei auf die Straße gehen, sind in Bewegung. Menschen, die lediglich auf die Straße gesetzt werden, sind obdachlos.

 

Die Geschichte des Reiches Gottes ist eine Erzählung der Einladung und der Entscheidung. In einer Welt, in der viele sich brüsten mit der Zahl der Einladungen, die sie bekommen, können wir uns heute vielleicht mehr Gedanken machen darüber, welche Einladungen wir annehmen werden. Denn ohne eine Entscheidung ist eine Einladung wertlos.

 

Erik Riechers SAC, 11. Oktober 2020

 

 

Nicht ohne Rosa!

 

Geschwisterlichkeit von Kindern lernen – ist das möglich? Auf jeden Fall!

Seit einigen Wochen hole ich regelmäßig meine Enkelkinder an zwei verschiedenen Orten ab: die 4-Jährige am Kindergarten, dann haben wir eine halbe Stunde Zeit, bis die 6-Jährige aus der Ganztagsschule kommt.

Ich liebe diese halbe Stunde mit der Kleinen. Wir suchen einen Parkplatz, nehmen uns Zeit für den kurzen Weg, treffen, wenn wir Glück haben, einen kleinen Hund und sie plaudert munter darauf los.

Immer wieder versuche ich sie zu locken, die Zeit zu nutzen, einen neuen Weg zu erkunden oder auch einfach ein Eis essen zu gehen in der nahen Fußgängerzone. Doch das alles reizt sie nicht. Nicht, weil sie nicht gern spazieren ginge oder weil sie ein Eis verschmähen würde. Nein, sie liebt Eis sehr, doch sie will all dies nicht ohne ihre Schwester. »Nur wenn Rosa auch mitkommt!« ist stets ihre Antwort.

Und so bummeln wir auf den Schulhof zu und warten am Zaun. Eddas ganzes Sinnen ist nur darauf ausgerichtet, ihre Schwester endlich wieder bei sich zu haben und das Leben – die restlichen Stunden des Tages – mit ihr zu teilen. Darum ist in diesen Minuten vor dem Läuten der Schulglocke ihr bester Platz am Zaun des Schulhofes mit erwartungsvollem Blick auf die Eingangstür: Wann kommt endlich Rosa? Wenn uns dann die Kinder entgegenstürmen, ruft sie irgendwann: »Ich seh sie schon!« Wenn Rosa dann endlich bei uns ist, wird Edda weder überschwänglich noch aufdringlich. Sie geht einfach neben ihrer Schwester her, erzählt von dem kleinen Hund oder wo das Auto steht, und ich habe auf diesem Rückweg immer den Eindruck, dass nun für sie ihre Welt wieder vollkommen ist. Sie und ihre Schwester gehören zusammen. Ja, viele Stunden des Tages gehen sie seit Wochen ihre eigenen Wege und Edda fühlt sich sehr wohl im Kindergarten. So ist der Alltag. Aber darüber hinaus will sie schöne Dinge mit Rosa teilen, sie kann sich gar nicht vorstellen, sie ohne ihre Schwester zu genießen.

Sie will kein Eis für sich allein haben. Punkt!

Die Welt um uns zeigt uns oft das Gegenteil: Hauptsache, ich bekomme etwas! Punkt!

Die Minuten vor dem Ende des Schultages zeigen mir, wie ein vierjähriges Kind die Fülle der biblischen Botschaft lebt. Es hat nichts mit Moral zu tun -das haben wir oft aus der Schrift gemacht-, sondern es ist einfach schön und gut und macht Edda Freude.

Geschwisterlich leben heißt nach dem anderen schauen, aufeinander warten, Freude am andern haben, nicht für mich allein haben wollen, sondern im Teilen erst glücklich sein.

Durch diese »Schule« meiner kleinen Enkelin gehe ich gern jeden Mittwoch – und ich genieße es!

 

Rosemarie Monnerjahn, 9. Oktober 2020

 

 

Die harte, direkte und entscheidende Frage

 

In seiner kürzlich veröffentlichten Enzyklika »Fratelli tutti: Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft« schreibt Papst Franziskus über eine Frage, die durch die Pandemie eine neue und zeitgemäße Bedeutung erhalten hat: Wie sollte die Welt aussehen? Er bringt eine sehr tiefe Überzeugung zum Ausdruck, die mich zutiefst betrübt und beeindruckt: Wir werden nach der Pandemie nicht zur Normalität zurückkehren. Wir werden aus dieser Zeit der Krise entweder als bessere oder schlechtere Menschen hervorgehen.

Um seine Vision von sozialer Freundschaft und Brüderlichkeit zu untermauern, verwendet er in Kapitel 2 eine schöne, tiefe und bewegende Interpretation eines weltberühmten Gleichnisses: das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Mit dem Elan eines Narrativen Theologen bewegt er sich durch diese Gotteserzählung und weist auf die vielen Rollen in ihr hin: die Räuber, die Passanten (ein Priester und ein Levit), der Verwundete (der Zurückgelassene) und der Samariter. Dann stellt er eine Frage: »Mit wem identifizierst du dich? Diese Frage ist hart, direkt und entscheidend. Welchem von ihnen ähnelst du?« (Fratelli tutti Art. 64)

»Mit wem identifizierst du dich?« Die Frage ist direkt. Die Frage ist nicht, ob wir die Geschichte verstehen, sondern ob wir sie kennen. Die Frage will wissen, wo und wie wir in dieser Geschichte auftauchen. Es ist immer einfacher, wenn eine Geschichte uns indirekt auf Themen hinweist, die wir uns vielleicht anschauen möchten. Aber die Frage nach dem, mit dem wir uns identifizieren, ist keine solche Frage. Sie durchschneidet das Oberflächliche und kommt zum Kern. Manchmal beschweren sich Menschen über biblische Interpretationen (meist Predigten), weil sie nichts mit ihrem Leben zu tun haben. »Wo komme ich in dieser Geschichte vor?« ist eine berechtigte Frage. Aber es hat auch Nachteile, so direkt zu fragen. Denn wenn ich merke, wo und wie ich in der Geschichte auftauche, könnte es sehr gut sein, dass ich mich selbst so gar nicht sehen will. Es könnte Umkehr und Veränderung bedeuten. Indirekte Fragen mögen viel angenehmer sein, aber sie sind viel weniger nützlich für die authentische Gestaltung eines Lebens.

»Mit wem identifizierst du dich?« Die Frage ist entscheidend. Denn die Menschen, mit denen wir uns in der Geschichte identifizieren, werden einen entscheidenden Einfluss üben über die Menschen, die wir werden. Die Geschichten, die wir erzählen, prägen die Art, wie wir leben. Wenn ein Mensch ständig von sich selbst erzählt als dumm und hilflos, dann wissen wir schon, mit wem er oder sie sich identifizieren. Dann werden wir auch nicht die Erwartung haben, dass ein Mensch, der so erzählt, selbstbewusst, zielstrebig und gestaltungsfroh leben wird. Wer ständig von seiner Hilflosigkeit erzählt, wird sicherlich auch ein eher passives als ein aktives Leben gestalten. Darum ist diese Frage entscheidend. Wenn ich mich mit den Räubern identifiziere, dann werden auch die ausbeuterischen Elemente meiner persönlichen Geschichte dadurch gestärkt und bestätigt. Wenn ich mit den Vorbeigehenden (ein Priester und ein Levit) identifiziere, dann werden Worte wie »Jeder für sich« und »Rette sich wer sich retten kann« eine entscheidende Rolle in meinem Leben und meiner Handlung einnehmen. Wenn ich mich mit dem verwundeten Mann (der Zurückgelassene) identifiziere, wird mir bewusster, was ich an Hilfe und Zuwendung brauche, auch wenn ich immer geglaubt habe, das ich das alles nicht nötig habe, weil ich alles selbst regeln kann. Jedoch, wenn ich mich mit dem Samariter identifiziere, dann wird gleichzeitig eine Menge von Investitionen von Zeit und Raum und Ressourcen von mir gefordert sein. Auch das würde entscheidend sein für den Menschen, der ich von Gott her bin und werde.

»Mit wem identifizierst du dich? Diese Frage ist hart, direkt und entscheidend. Welchem von ihnen ähnelst du?« (Fratelli tutti Art. 64) Diese Frage stellt sich immer im Gleichnis, aber auch in jeder Krise. Jedoch in der Krise ist die Frage immer hart, direkt und entscheidend, denn hier können wir nicht ausweichen und uns nichts vormachen. Sobald die Krise kam, wurde es enthüllend (apokalyptisch): Die Vorbeigehenden horteten Toilettenpapier, während ihre Nachbarn nicht einmal selbst einkaufen gehen durften. Die Räuber haben die Preise erhöht, um die Gunst der Stunde auszunutzen, während andere nicht mehr Geld verdienen konnten. Einige haben sich nur beschwert über die Einschränkungen ihres normalen Ablaufes, während andere sich fragten, wie sie behilflich sein könnten.

Jetzt führt uns Papst Franziskus noch einmal zu dieser Erzählung Gottes und zeigt uns die Möglichkeiten, die darin stecken für eine Welt der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft. Das gibt uns auch eine Chance, nämlich noch einmal zu überlegen, wie wir in dieser Geschichte erscheinen möchten.

»Mit wem identifizierst du dich?«

 

Erik Riechers SAC, 7. Oktober 2020

 

 

Barmherzigkeit: Den wahren Ausgangspunkt zu kennen, macht den Unterschied

 

Liebe Schwestern und Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott.

Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe.

Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.

Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.

Liebe Schwestern und Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.

1 Joh 4, 7-11

 

Kurz hinter einander hörte eine Frau zwei Predigten. Beide hatten als Thema die Barmherzigkeit. Aber die Frau war beunruhigt, denn bei der ersten Predigt spürte sie, wie ein unbehagliches Gefühl in ihr aufstieg, als der Prediger immer wieder die Unwürdigkeit, Sünde und Undankbarkeit des Menschen betonte, um dann auf die Barmherzigkeit Gottes zu schauen. Bei der zweiten Predigt, hingegen, fühlte sie sich sehr getröstet und gestärkt. Nun war die gute Frau verunsichert und fragte mich, woran das liegen könnte, denn in beiden Predigten handelte es sich um dieselbe Sache.

Nicht wirklich. In der ersten Predigt wird die Sünde als Anlass der Barmherzigkeit gesehen. Die Sünde ist der Auslöser und dann entwickelt Gott die Barmherzigkeit als die Strategie, mit der er der Sünde antwortet. In dieser Predigt ist die Sünde initiativ. Sie setzt alles in Bewegung, sogar Gott. Weil wir so große Sünder sind, kommt Barmherzigkeit. Weil wir so undankbar leben, kommt die Barmherzigkeit. Weil wir so unwürdig handeln, kommt die Barmherzigkeit. Es wird sehr klar betont, dass die Sünde Gott in Bewegung setzt und dass die Barmherzigkeit die Antwort Gottes ist auf die Initiative der Sünde.

Dagegen schreibt Johannes ein wesentliches Wort: Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.

Johannes betont, dass die Barmherzigkeit (die Liebe) die Initiative Gottes war und dass sie zuerst kommt. Die Liebe (die Barmherzigkeit) kommt vor der Sünde. Sie kann mit Sünde umgehen. Aber die Barmherzigkeit ist älter als jede Sünde.

Denn wir brauchen auch Barmherzigkeit, wenn wir gar nicht gesündigt haben. Barmherzigkeit ist Liebe, die die Initiative ergreift. Wenn der andere nicht die Kraft, den Mut oder die Möglichkeit hat, liebevoll zu handeln, schafft die Barmherzigkeit, aus eigener Initiative, Raum des Lebens für Menschen. Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.

Diese initiative Liebe brauchen wir, wenn wir krank, ängstlich, eingeschüchtert, einsam, depressiv, erschöpft, entmutigt, enttäuscht oder einfach lustlos sind. Das sind Augenblicke, wo Gott immer wieder das erste Wort spricht, die erste Geste setzt, die Initiative ergreift. Aber dies sind keine Sünden, auf die Gott antwortet. Sie sind nichts Geringeres als das Leben seiner geliebten Menschen.

Deshalb kommt es immer darauf an, wo und womit man beginnt, denn man kann an einem ganz anderen Ort landen. Ich ziehe es immer vor, Menschen an den Ort zu führen, an dem ich in meinem eigenen Leben die größte Heilung gefunden habe: den Ort, an dem Gott den ersten Schritt macht und uns zuerst liebt.

 

Erik Riechers SAC, 5. Oktober 2020

 

 

Von der Besitzgier zur Teilnahme, von Konkurrenzkampf zur Kooperation

27. Sonntag A 2020

 

In diesen Tagen predigt Papst Franziskus oft und eindringlich über die Welt ,die wir nach der Pandemie gestalten möchten. Vor einigen Tagen sagte er dazu:

»In der Normalität des Reiches Gottes gibt es Brot genug für alle, soziale Organisation basiert auf Beitragen, Teilen und Verteilen, nicht auf Besitzen, Ausgrenzen und Akkumulieren.«

Damit zeichnet Papst Franziskus uns zwei Welten: die eine Welt, die gekennzeichnet ist von Besitzen, Ausgrenzen und Akkumulieren und eine andere, die von Beitragen, Teilen und Verteilen charakterisiert wird.

Wenn wir nach Covid 19 von einer Welt in die andere uns bewegen wollen, steht uns eine große Herausforderung bevor. Der Virus hat die äußere Welt um uns verändert. Doch der Zustand des Herzens bestimmt zwangsläufig unser Leben; das Herz ist letztendlich der Ort, an dem sich alles entscheidet. Wir müssten die innere Welt unserer Herzen ändern.

Das heutige Evangelium zeigt uns die zweifache Änderung des Herzens, die hier nötig ist: der Übergang von der Besitzgier zur Teilnahme und der Übergang vom Konkurrenzkampf zur Kooperation.

Beginnen wir mit dem Übergang von der Besitzgier zur Teilnahme. Wir sollten aufhören, von Leben als Besitz zu denken. Wir dürfen am Leben teilnehmen, aber wir besitzen es nicht.

Am Anfang des Gleichnisses schenkt Matthäus dem Gutsbesitzer, der den Weinberg gepflanzt hat, viel Aufmerksamkeit. Uns wird viel über ihn erzählt.

»Es war ein Gutsbesitzer,

der legte einen Weinberg an,

zog ringsherum einen Zaun,

hob eine Kelter aus

und baute einen Turm.

Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer

und reiste in ein anderes Land.«

Was will Matthäus damit sagen? Psalm 24 würde es so formulieren: »Dem HERRN gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner.« Der Gutsbesitzer ist wie der Schöpfer: er macht sich alle Mühe, erzeugt und gestaltet die Welt, in der andere leben und arbeiten dürfen, sorgt für die Möglichkeiten, die Fruchtbarkeit dieser Welt zu genießen (Kelter) sowie für ihre Sicherheit, damit es Raum ist, in dem es sich leben lässt (Turm und Zaun).

Die Erde gehört uns Menschen nicht! Das Leben gehört uns Menschen nicht. Es ist nicht unser Besitz, unser Eigentum, sondern etwas, was wir gepachtet haben. Wir sind alle Pächter. Jeder ist ein Mieter auf der Erde. Die ganze Schöpfung steht uns zur Verfügung. Sie wird uns von Gott sogar anvertraut, aber sie gehört den Menschen nicht. Sie ist nicht unser Eigentum, sondern das Eigentum eines anderen. Wir müssen uns von Besitzgier zur Teilnahme bewegen.

Was passiert, wenn wir diese erste der zwei Bewegungen des Herzens nicht hinbekommen?

In uns steckt ein tiefer Drang, die Welt und das Leben in Besitz zunehmen. Also schickt der wahre Gutsbesitzer uns Boten, um uns zu erinnern, dass wir nur Pächter sind. Und das gefällt uns nicht. So töten wir die Boten, wenn die Botschaft für uns schwer verdaulich ist.

Schauen wir das Gleichnis genauer an. Wenn die Pächter endlich sprechen dürfen, dann wird es sehr klar, wo das Problem liegt. Der Gutsbesitzer sieht hier eine Chance: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben! Die Pächter sehen hier auch eine Chance, jedoch eine gänzlich andere. Sie denken sich: Sagenhaft! Wir haben den Erben! Wenn wir ihn töten, gehört uns alles. Dann ist es unsers, wir besitzen es.

Und das ist für Matthäus der Punkt. Der Evangelist sieht hier wie anderswo in seinem Evangelium die Verbindung zwischen dem Drang zur Besitznahme und der Bereitschaft zu töten. Besitz und die Lust etwas zu ergreifen schürt die Bereitschaft zu töten. Wenn wir etwas zu sehr wollen, wenn Besitz uns wichtiger wird als Teilnahme am Leben, dann entsteht die  Bereitschaft zu töten.

Das ist der Name auf Hebräisch für Kain, dem ersten Mörder der Bibel. Kain ist dasselbe Wort auf Hebräisch für Besitz. Kain will besitzen und er begeht Mord, um zu besitzen. Er ermordet Abel. Besitz, und sei es nur der Besitz der Anerkennung Gottes, wird ihm wichtiger als ein Leben mit seinem Bruder zu teilen.

Wenn wir vergessen, dass wir alle Teilnehmer sind in dieser Welt, wollen wir die Erde, das Leben, einfach alles besitzen. Die Welt, die auf Besitzen, Ausgrenzen und Akkumulieren eingestellt ist, ist zugleich die Welt, die bereit ist, dafür zu töten. Denn diese Welt reduziert alles zu einem Konkurrenzkampf und alle Menschen zu Konkurrenten. In dieser Welt geht es dann um Gewinnen mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, wenn nötig mit brachialer Gewalt und tödlicher Ungerechtigkeit.

Die Pächter haben die Chance nicht genutzt, den Übergang von Konkurrenzkampf zur Kooperation zu schaffen. Aber darin liegt die Chance einer Welt, in der alle leben können.

 

Dr. Edith Eva Eger schrieb ihre einmaligen Memoiren und veröffentlichte sie unter dem Titel  »The Choice « (Die Wahl). Sie beschreibt, wie sie als junge Jüdin in Ausschwitz gezwungen wurde, vor Dr. Mengele zu tanzen an dem Tag, als er ihre Eltern in die Gaskammer geschickt hatte.

»Meine Vorführung muss ihn beeindruckt haben, denn er wirft mir ein Laib Brot zu – eine Geste, die, wie sich später herausstellt, mir das Leben retten wird. Als der Abend in die Nacht übergeht, teile ich das Brot mit Magda und meinen Pritschennachbarinnen. Ich bin dankbar, Brot zu haben. Ich bin dankbar, am Leben zu sein.

In meinen ersten Wochen in Auschwitz lerne ich die Überlebensregeln kennen. Wenn du den Aufsehern ein Stück Brot klauen kannst, bist du ein Held, doch wenn du eine Mitgefangene bestiehlst, bringst du Schande über dich, du stirbst. Konkurrenz und Herrschaftsdenken führen nirgendwohin. Das Zauberwort heißt Zusammenarbeit. Um zu überleben, ist es notwendig, die eigenen Bedürfnisse zu überwinden und sich jemandem oder etwas anderem anzuvertrauen.«

Später muss Dr. Eger auf einen Todesmarsch von Mauthausen nach Gunskirchen. Sie weiß, dass hinzufallen den Tod bedeutet. Wer nicht weiter kann, wird auf der Stelle erschossen. Edith ist jedoch am Ende ihrer Kraft und fängt an zu straucheln.

»Ich weiß erst, dass ich gestolpert bin, als ich Magdas Arme und die der anderen Mädchen spüre, die mich aufheben. Sie haben ihre Finger ineinander verhakt, formen einen menschlichen Sitz.

‚Du hast uns von deinem Brot abgegeben‘, sagt eine von ihnen.«

 

Nur so werden wir unsere gewohnte Welt von Besitzen, Ausgrenzen und Akkumulieren in eine Welt von Beitragen, Teilen und Verteilen umwandeln. Da müssen unsere Herzen den doppelten Übergang schaffen von der Besitzgier zur Teilnahme und vom Konkurrenzkampf zur Kooperation.

Finger, die gierig festhalten, können auch ineinander verhakt werden, damit wir einander tragen in der frohen Welt, wo wir einander sagen können: »Du hast uns von deinem Brot abgegeben«.

Erik Riechers SAC, 04. Oktober 2020

 

 

Worum beten?

 

Noch einmal möge in dieser Woche Ana mit ihrem Gebet zu Ehren kommen. Zu reich sind ihre Worte, als dass wir zu schnell über sie hinweg gehen sollten.

Nach ihrer Segensbitte um die Weite, die sie in sich spürt, betet sie weiter:

»Segne meine Rohrfedern und meine Tinten.

Segne die Worte, die ich schreibe.«

Sie bittet um Segen für ihr Werkzeug, für Rohrfedern und Tinten. Das ist eine ganz bodenhaftige, geerdete Bitte. Denn ohne dies kann sie nicht ausdrücken und zeigen, was in ihr ist. Ohne diese Mittel könnte sie nichts von dem gestalten, was ihr bedeutsam und heilig ist. Ohne diese handfesten Dinge blieben ihre Wünsche ungelebte Tagträume.

Sie bittet um Segen für ihre Worte. Diese Worte kommen aus dem göttlichen Funken in ihr. Sie erwachsen in ihrem »Himmel«, aus ihrer Sehnsucht. Sie sind das, was aus ihrem innersten Heiligtum herausfließt, was in Bewegung kommt. Ihre Kreativität lässt die Geschichten der Erzmütter ihres Glaubens lebendig werden. Ihre Kreativität soll segensreich weiterfließen.

Diese beiden Segensbitten zeigen, was alle wahrhaften Geschichten brauchen: Erdung und Bodenhaftung, den Blick zum »Himmel« und das Ernstnehmen der Sehnsucht und schließlich das wassergleiche In-Fluss-Kommen, das daraus erwächst.

Ein großes Vertrauen in ihre äußeren und inneren Gaben spricht aus diesen beiden kleinen Bitten: Sie hat ja Werkzeug und Worte, das sieht sie ganz klar. Doch sie bittet um Segen bei ihrem Gebrauch. Diese Gaben mögen nicht vergebens geschenkt sein,  sie mögen nicht unwürdig benutzt werden, sie mögen Gottes Wohlwollen haben.

Dann spricht sie aus, was sie selbst ersehnt in ihrem Herzen für ihr schöpferisches Tun:

»Mögen sie in deinen Augen schön sein.

Mögen sie sichtbar sein für die Augen derer, die noch nicht geboren sind.«

Was auch immer sie niederschreiben wird, welche Worte aus ihr strömen werden: in Gottes Augen mögen sie schön sein. Schönheit ist eine Eigenschaft Gottes und alles, was sie schreiben wird, soll davon zeugen. Denn wo immer Schönheit uns Menschen begegnet und berührt, führt sie uns zum Staunen, zum Innehalten und schließlich zum Schöpfer.

Ihre Worte sollen nicht kurzlebig sein, Schlagzeilen für ein paar Tage oder Wochen und dann aus den Augen, aus dem Sinn! Nein, sie möchte, dass sie wahrgenommen werden von zukünftigen Generationen. Sie ist sich der Kostbarkeit dessen, was sie hervorbringen wird, so bewusst, dass sie nicht möchte, dass etwas davon verloren geht.

»Wenn ich dereinst zu Staub geworden bin,

sprich diese Worte über meiner sterblichen Hülle:

Sie war eine Stimme.«

Nicht, dass sie Schönes geschrieben und Gutes erzählt hat, möge Gott am Ende über ihr Leben sagen, sondern dass sie eine Stimme war: Diese Frau hat mit ihrer ganzen Existenz und ihrer Begabung dem, was in ihr war, Ausdruck, Form und Klang gegeben. Das möge Gott am Ende über dieses Leben sagen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 2. Oktober 2020

 

 

Die Angst vor dem, was in mir ist

 

In ihrem Impuls »Segen für das, was in mir ist« reflektierte Rosemarie darüber, was es bedeutet, Gott zu bitten, das zu segnen, was in uns schlummert. Wie sie wende ich mich an das Gebet, das Sue Monk Kidd in ihren Roman »Das Buch Ana« einwebt.  Dort schreibt die Heldin der Geschichte, Ana, das Gebet ihres Herzens in eine einfache Gebetsschale:

»Herr, unser Gott, erhöre mein Gebet, das Gebet meines Herzens.

Segne die Weite in mir, ganz gleich,

wie sehr ich sie fürchte.

Segne meine Rohrfedern und meine Tinten.

Segne die Worte, die ich schreibe.

Mögen sie in deinen Augen schön sein.

Mögen sie sichtbar sein für die Augen derer, die noch nicht geboren sind.

Wenn ich dereinst zu Staub geworden bin,

sprich diese Worte über meiner sterblichen Hülle:

Sie war eine Stimme.«

 

Die Zeile, die mir auffällt, ist »Segne die Weite in mir, ganz gleich, wie sehr ich sie fürchte.« Ein Satz von verblüffender Ehrlichkeit, denn wir fürchten die Weite, die in uns steckt.

Wir lieben diese Weite, wenn wir an ihr Potenzial denken. Wir träumen davon, was passieren würde, wenn die Weite, die in uns wühlt und rumpelt, freigelassen würde, davon, was wir tun, erreichen und schaffen könnten.

Aber wir fürchten diese Weite, wenn wir an die Kosten denken. Und der Preis ist dreierlei: frei zu leben, Verantwortung zu übernehmen und kreativ zu handeln.

Wenn wir der Weite in uns vertrauen, müssen wir frei leben. Es hat keinen Sinn, von der Weite in uns zu sprechen, wenn wir immer nur die Befehle anderer ausführen. Dann bleibt nur noch der Gehorsam, und dafür braucht man keine Weite.

Die Weite in uns ruft uns dazu auf, Verantwortung zu übernehmen, Menschen zu sein, die im Leben die Initiative ergreifen, eine Richtung vorgeben, die Artikulation einer Vision riskieren oder einen Kurs einschlagen. Wenn wir nur den Anweisungen und Visionen anderer folgen, dann bleibt nur noch der Gehorsam, und dafür braucht man keine Weite.

Vor allem befürchten wir die Weite in uns, weil sie uns zu kreativem Handeln auffordert. Kreativität ist die anregendste aller menschlichen Tätigkeiten, aber gleichzeitig auch die anstrengendste. In der Kreativität führen wir keine Muster aus, die andere gesetzt haben, sondern entwerfen unser eigenes Muster. In der Kreativität gibt es kein Sicherheitsnetz. Wenn alles, was wir tun, darin besteht, das zu kopieren, was andere uns vorgegeben haben, ihre Pläne und Entwürfe auszuführen, dann bleibt nur noch der Gehorsam, und dafür braucht man keine Weite.

Eine kleine erstickende Welt kann immer noch eine sehr sichere Welt sein. Sie lässt uns nicht viel Raum für Freiheit, Wachstum und Abenteuer, aber sie stellt auch sehr wenige Anforderungen an uns.

Gott zu bitten, die Weite in uns zu segnen, ist ein kühnes und riskantes Unterfangen. Denn wenn Gott einmal die Weite in uns sieht und erkennt, liebt und mit seinen warmen Worten benennt, wird es für uns immer schwieriger, diese Weite zu ignorieren oder zu unterdrücken, ganz gleich, wie sehr unsere Ängste dies auch wollen.

Die letzte Gebetszeile ist untrennbar damit verbunden, die Weite in uns frei, verantwortungsbewusst und kreativ leben zu lassen. Ana sagt Gott, was das Ziel ihres Wunsches ist, wie sie vor Gott und ihren Mitmenschen erinnert werden möchte: »Wenn ich dereinst zu Staub geworden bin, sprich diese Worte über meiner sterblichen Hülle: Sie war eine Stimme.« Doch keiner von uns kann jemals eine Stimme werden, bevor wir die Weite in uns selbst annehmen. Rosemarie hat Recht: Wir müssen Gott bitten, das zu segnen, was in uns ist. Und dieser Segen des Allerhöchsten sollte uns dazu führen, es selbst zu umarmen, ganz gleich, wie sehr wir es fürchten.

 

Erik Riechers SAC, 30. September 2020

 

 

Segen für das, was in mir ist

 

In einer Welt fern von uns

                und doch so nah,

vor langer Zeit

                und doch wie heute,

sucht eine junge Frau leidenschaftlich danach,

wahrhaft geboren zu werden

und leben zu dürfen, was in ihr ist:

»Mein Leben flehte darum, geboren zu werden!« *

Alles spricht dagegen: die Konventionen, das Rollenverständnis, die Stellung ihres Vaters und die Lieblosigkeit und das Unverständnis ihrer Mutter.

Und doch gibt die junge Frau nicht auf, lernt lesen und schreiben, erkämpft sich Papyrus und Tinten, Federn und Farben - und weiß, wem sie vertrauen kann auf ihrem Weg: ihrer unkonventionellen Tante.

                Gesegnet, wer eine solche Begleitung auf dem Weg ins authentische Leben hat!

Voll Vertrauen zeigt sie ihr ihren Schatz: selbst geschriebene Geschichten der kaum erwähnten Frauen ihrer jüdischen heiligen Schriften.

Und voll Erstaunen eröffnet ihr die Tante: Du bist von Gott gesegnet! In dir steckt Göttliches!

                Wie sehnten wir uns danach, dies wahrhaft zu hören!

So vermag sie beim ersten Licht des Tages ihr ureigenes Gebet niederzuschreiben, hinein in eine Schale, aus der es tanzend aufsteigt.

»Herr, unser Gott, erhöre mein Gebet, das Gebet meines Herzens.

Segne die Weite in mir, ganz gleich,

wie sehr ich sie fürchte.

Segne meine Rohrfedern und meine Tinten.

Segne die Worte, die ich schreibe.

Mögen sie in deinen Augen schön sein.

Mögen sie sichtbar sein für die Augen derer, die noch nicht geboren sind.

Wenn ich dereinst zu Staub geworden bin,

sprich diese Worte über meiner sterblichen Hülle:

Sie war eine Stimme.« *

* aus Sue Monk Kidd: »Das Buch Ana«

 

                Hören wir auch unsere Stimme darin?

                               Möchten wir, dass unsere Stimme gehört wird?

                                               Spricht sie aus, was in uns ist?

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. September 2020

 

 

Was nützt eine Stimme, die man nie benutzen kann?

26. Sonntag A 2020

 

In einem Austausch offen, ehrlich und direkt zu sein, ist nie einfach, oft entmutigend und erfordert immer Mut. Dieser Mut wird nie mehr gebraucht als dann, wenn wir eine wahrheitsgemäße Antwort geben müssen, die die solide Welt der Konzepte untergräbt, die wir um uns herum und in uns selbst aufbauen. Was ist, wenn ich die Wahrheit des Arguments einer anderen Person erkenne, aber Angst davor habe, was es bedeutet, wenn ich es zugebe? Oder vielleicht sind wir unserer Denkweise oder unserer Sicht der Welt so sehr verpflichtet, dass wir alles tun werden, um sie zu schützen, auch wenn wir das, von dem wir wissen, dass es wahr ist, leugnen, um es zu bewahren und zu schützen.

Nun, bevor wir das Gleichnis anschauen, brauchen wir die Rahmenerzählung, die sie es auslöst.

Die Hohepriester und Ältesten sind in diesem Dilemma gefangen. Sie führen keinen Dialog der Offenheit, der nach der Wahrheit der Sache sucht, sondern sind die Opfer des berechnenden Herzens. Jesus stellt eine ziemlich geradlinige Frage. »Woher die Taufe des Johannes? Vom stammte Himmel oder von den Menschen?« Und sofort gehen sie in den Modus der Berechnung über. Sie berechnen sorgfältig, was es bedeutet, wenn sie sagen, dass sie vom Himmel kommt, was es sie kosten wird, welche möglichen Antworten sie von Jesus erwarten können. Dabei geht es ihnen vor allem um die Reaktion Jesu und darum, wie sie ihr Gesicht verlieren könnten, wenn er ihr Handeln in Frage stellt. »Wenn wir antworten: Vom Himmel!, so wird er zu uns sagen: Warum habt ihr ihm dann nicht geglaubt?«

Dann berechnen sie die Antworten, Auswirkungen und Kosten, wenn sie sagen, dass die Taufe des Johannes menschlichen Ursprungs ist. Dieses Mal sind sie jedoch besonders besorgt über die Reaktion des Volkes, das Johannes sehr schätzt. »Wenn wir aber antworten: Von den Menschen!, dann müssen wir uns vor den Leuten fürchten; denn alle halten Johannes für einen Propheten.«

Also greifen sie zu einer gewohnten Taktik. Sie drücken sich vor einer Antwort. Sie weigern sich, zu antworten, ihr wahres Gesicht zu zeigen oder zu enthüllen, was sie wirklich für wahr halten.

Dies ist die Rahmenerzählung der Geschichte, die Jesus dann erzählt, wie die beiden Söhne von ihrem Vater gebeten wurden, in den Weinberg zu gehen und dort zu arbeiten. Der erste Sohn ist atemberaubend ehrlich, zieht keine Show ab und beantwortet die Bitte seines Vaters ehrlich. Er ist nicht berechnend. Seine Antwort wird nicht durch Berechnung bestimmt, nämlich was sein Vater wohl sagen und denken wird, was sein Bruder sagen und denken wird oder was die anderen Arbeiter sagen und denken werden. Doch wenn er seine Meinung ändert, ist er auch ehrlich genug, um das zu tun, von dem er jetzt weiß, dass es ehrlich und richtig ist. Das ist keine leichte Aufgabe. Wenn man seine Meinung ändert, riskiert man den Klatsch und Tratsch aller Beteiligten. »Warum kommt er plötzlich zurück? Was hat seine Meinung geändert? Was hat er vor?« Aber auch hier ist der erste Sohn wie bisher frei zu handeln, denn er muss nicht erst jede Reaktion der Menge abwägen und kalkulieren, ebenso wenig wie die Auswirkungen und Kosten einer Änderung seiner Meinung. Er kann also ein Nein in ein Ja verwandeln.

Dann wird der zweite Sohn gefragt. Seine Antwort is die, die man von pflichtbewussten Kindern in jeder Generation erwartet. Und er sagt, was sein Vater hören will. Das ist es, was gute Söhne und Töchter tun. Doch weil es eine Antwort ist, die nichts mit dem wahren Zustand seines Herzens zu tun hat, setzt er sein Ja nicht in die Tat um. Der Anschein, pflichtbewusst zu sein, ist wichtiger, als seine Pflicht zu tun.

Jesus benutzt das Gleichnis, um die glatte Geschichte der Hohepriester und Ältesten aufzureißen. Sie sind mit dem zweiten Sohn des Gleichnisses verwandt. Sie werden die Antwort geben, die sie für angemessen halten, aber sie werden wahrscheinlich nicht danach handeln, weil sie nichts mit dem wahren Zustand ihres Herzens zu tun hat. Aber die Falle, die Jesus stellt, ist eine listige Falle. Schließlich bittet er sie, das Urteil zu fällen: »Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt?« Die Falle schnappt bei ihnen zu, wenn sie antworten: »Der erste«. Sie sind soeben enttarnt worden. Sie haben versehentlich bewiesen, dass sie tatsächlich wissen, was es bedeutet, den Willen Gottes offen, ehrlich und aufrichtig zu tun. Aber sie haben den Weg des zweiten Sohnes gewählt.

Was Jesus als nächstes sagt, ist weder beleidigend noch grausam. »Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr. Denn Johannes ist zu euch gekommen auf dem Weg der Gerechtigkeit und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und die Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt.«

Die Zöllner und Dirnen müssen nicht berechnen, welche möglichen Auswirkungen und Reaktionen die anderen Menschen haben werden, wenn sie antworten. Sie haben nichts zu verlieren. Sie müssen weder ihren Status noch ihren Ruf schützen. Für Menschen, die von Anfang an keinen Ruf zu verlieren haben, gibt es keine Angst, ihr Gesicht zu verlieren. Sie können ehrlich sagen, was sie über das Werk, die Worte und die Wege von Johannes dem Täufer denken. Wir denken, dass Macht, Ansehen und Status nur von Vorteil sein können, aber nicht in jedem Fall. Je mehr wir von diesen Dingen haben, desto mehr sind wir versucht, sie zu schützen und zu bewahren. Je länger wir sie haben, desto mehr fürchten wir, sie zu verlieren. Und dann wird es immer leichter, wie der zweite Sohn zu sein: Wir sagen, was »man« sagen soll, erfüllen Erwartungen, halten eine Maskerade aufrecht. Aber nichts davon hat mehr etwas mit unserem wirklichen Leben zu tun, mit dem, was wir wirklich denken oder fühlen.

In dem Film »Der Duft der Frauen« gibt es eine bemerkenswerte Rede von Oberst Slade. Als blinder Veteran ist er in die Baird-Schule gekommen, um seinen jungen Assistenten, einen Schüler namens Charlie Sims, zu verteidigen. Der Schulleiter, Herr Trask, möchte, dass Charlie diejenigen nennt, die sein Auto beschädigt haben, aber er weigert sich, die anderen Schüler zu verraten. Ihre reichen und mächtigen Väter schüchtern den Schulleiter ein, so dass es für ihn einfacher ist, den armen Schüler Charlie zu vertreiben, als die Kinder der Reichen und Mächtigen zu verfolgen. Hören wir einen Teil von Oberst Slades leidenschaftlicher Verteidigung seines jungen Freundes.

 

»Ich weiß nicht, wer hier zur Schule ging, William Howard Taft, William Jennings Bryan, Wilhelm Tell - wer auch immer. Ihr Geist ist tot - falls sie je einen hatten - er ist weg. Sie bauen hier ein Rattenschiff. Ein Schiff für seetüchtige Spitzel. Und wenn Sie glauben, Sie bereiten diese Elritzen auf die Männlichkeit vor, sollten Sie es sich noch einmal überlegen. Denn ich sage, Sie töten genau den Geist, den diese Institution proklamiert und einflößen will! Was für ein Betrug. Was für eine Show zieht ihr hier heute ab? Ich meine, der einzige mit Klasse in dieser Nummer sitzt neben mir. Und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass die Seele dieses Jungen intakt ist. Das ist nicht verhandelbar. Wissen Sie, woher ich das weiß? Jemand hier - und ich werde nicht sagen wer - hat angeboten, sie zu kaufen. Nur Charlie hier hat nicht verkauft. …..

Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie hier reden? Ich bin herumgekommen, wissen Sie? Es gab eine Zeit, da konnte ich sehen. Und ich habe Jungen wie diese gesehen, jünger als diese, mit herausgerissenen Armen und abgerissenen Beinen. Aber es geht nichts über den Anblick eines amputierten Geistes; dafür gibt es keine Prothese. Sie denken, Sie schicken diesen prächtigen Fußsoldaten mit eingezogenem Schwanz nach Oregon zurück, aber ich sage, Sie richten seine Seele hin! Und warum?! Weil er kein Baird-Mann ist! Baird-Männer, wenn ihr dem Jungen wehtut, werdet ihr Baird-Penner, ihr alle. …

Als ich hier hereinkam, hörte ich diese Worte: "Wiege der Führung". Nun, wenn der Ast bricht, wird die Wiege fallen. Und sie ist hier gefallen; sie ist gefallen. Schöpfer von Menschen; Schöpfer von Führern; seien Sie vorsichtig, welche Art von Führern Sie hier hervorbringen. Ich weiß nicht, ob Charlies Schweigen heute hier richtig oder falsch ist.

Ich bin kein Richter oder Geschworener. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Er wird niemanden verkaufen, um sich seine Zukunft zu erkaufen! Und das, meine Freunde, nennt man Integrität! Das nennt man Mut! Das ist der Stoff, aus dem Führer gemacht sein sollten. Jetzt bin ich an einem Scheideweg in meinem Leben angelangt. Ich wusste immer, was der richtige Weg war. Ohne Ausnahme wusste ich es. Aber ich habe ihn nie eingeschlagen. Und wissen Sie warum? Es war zu verdammt schwer. Hier ist Charlie. Er ist an der Kreuzung angekommen. Er hat einen Weg gewählt. Es ist der richtige Weg. Es ist ein Weg, der aus Prinzipien besteht. Er führt zum Charakter. Lasst ihn seine Reise fortsetzen.«

 

In einem Raum voller Menschen, die wie der zweite Sohn des Gleichnisses lebten, gibt Oberst Slade selbst zu, dass er auch wie der zweite lebte. Doch er verteidigt einen Freund, der wie der erste Sohn lebte. Er benennt mit schmerzlicher, roher Klarheit die Kosten eines Lebens, in dem unsere Stimmen nie mit dem übereinstimmen, was in uns ist. Aber in einem Punkt stimme ich Oberst Slade nicht zu. Er sagt: »Ich wusste immer, was der richtige Weg war. Ohne Ausnahme wusste ich es. Aber ich habe ihn nie eingeschlagen.« Aber er wusste hier den richtigen Weg und hat ihn eingeschlagen. Ich glaube, er wurde in diesem Moment zum ersten Sohn und verwandelte ein Nein in ein Ja.

 

Erik Riechers SAC, 27. September 2020

 

 

Weiter leben

 

Wir erleben – nicht erst in diesem Jahr – so viel ängstliche Besorgtheit und so viel Beschäftigung mit Themen und Dingen, die durchaus bedeutend sein können, aber die letztendlich nicht wesentlich sind und unser wahres Leben nicht nähren. Und noch mehr: Sie nähren und bereichern auch nicht das Leben von Menschen, die nach uns kommen – wie könnten sie Tiefe und Wert schöpfen aus unserem Konsum? Was bleibt von uns? Leben wir vielleicht doch wie Narren  - oft mit verzerrtem Gesicht?

Wie anders kommt da die Erzählung einer jungen Frau daher. Sie lebt weit entfernt von ihrer Herkunftsfamilie, sehr einfach, umgeben von Natur. Immer häufiger kommt es vor, dass sie mit ihrem Mann durch die Wälder streift und ihr plötzlich Sätze ihrer Großmutter in den Sinn kommen. Wie sehr diese Großmutter den Wald liebte, hat die junge Frau von Kindheit an oft erlebt und gehört. Am stärksten beeindruckt und eingeprägt haben sich dabei wunderbare Zitate, die ihrer Oma  immer wieder über die Lippen kamen. Sie stammten von ihrem Verlobten, der nicht aus dem 2. Weltkrieg zurückgekehrt war. Er war Förster und wie gern hatte er darüber gesprochen, dass der, der die Natur wahrhaft zu lieben versteht, seelisch nie zugrunde gehen würde. Auch lustige Begebenheiten sind dabei. So lächelt die Enkelin noch heute darüber, dass einst der junge Mann ihre Oma manchmal fragte, ob sie wisse, was dieser oder jener für ein Baum sei und sie bloß antwortete: »Ein seltener.« 

Was die junge Frau heute besonders bewegt und auch mich, als sie es mir erzählte:

Dieser junge Förster von einst und das, was sein Herz bewegte und erfüllte, leben in ihr weiter. Er ist ihr nah, obwohl er mehr als 75 Jahre nicht mehr lebt. »Es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich ihn gekannt. Und wenn ich durch die Wälder streife, den Duft einsauge und tiefe Freude mich erfüllt, dann spüre ich so viel von ihm, was auch in mir lebt.« Die Geschichten ihrer Großmutter haben ihn lebendig gehalten. Sie selbst staunt, dass das Band, das sie für immer mit ihrer Oma verbindet, nun länger zu werden scheint.

»Wenn meine Oma mir nichts von all dem erzählt hätte – immer wieder -, gäbe es diese Welt gar nicht in mir. Und irgendwie lebt der Ferdi in mir weiter!«    

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. September 2020

 

 

9 Gaben eines klaren geliebten Gesichts

 

Vor kurzem wurde ich Zeuge einer wütenden und sehr gehässigen Begegnung, die eine Frau mit ihrem Kollegen hatte. In ihrer zügellosen Wut schrie sie diesen Mann an und wütete auf ihn. Doch obwohl ihr Wutanfall voluminös und ihre Worte giftig waren, bleibt mir ihr Gesicht im Gedächtnis haften. Es war zu einer Maske des Hasses verzerrt. Und es machte ein ansonsten scheinbar schickliches Gesicht hässlich, ja abscheulich.

Seit dieser Begegnung habe ich über unsere Gesichter nachgedacht, über ihre Schönheit und ihren Zweck. Und es brachte mich zu einem sehr alten und ausgesprochen schönen gälischen Segen zurück. Ich hörte ihn vor Jahren bei einer Taufe in Red Deer, Alberta, Kanada, wo ich als Pfarrer tätig war. Er wurde von einer älteren irischen Frau gesprochen, die aus Irland eingeflogen war, um bei der Taufe ihres ersten Enkelkindes dabei zu sein. Bevor ich den letzten Segen sprach, nahm sie ihren Enkel aus den Armen seiner Mutter und sprach warme, zärtliche, gälische Segensworte über ihn. Nach der Zeremonie bat ich sie, den Segen zu übersetzen. »Pater«, sagte sie, »der Segen ist ein Versprechen der Heiligen Drei (der Dreifaltigkeit). Es geht um die Verheißung, die sie in jedes Gesicht legen«.

Hier ist der Segen, den sie sprach.

 

»Wir platzieren neun reine, erlesene Geschenke

In deinem klaren, geliebten Gesicht:

Die Gabe der Form,

Die Gabe der Stimme,

Die Gabe des Glücks,

Die Gabe der Güte,

Das Geschenk der Eminenz,

Das Geschenk der Nächstenliebe,

Das Geschenk der Integrität,

Das Geschenk der wahren Nobilität,

Die Gabe der angemessenen Rede.«

 

Dann lächelte sie mich an. »Ich glaube wirklich an die Drei, Pater. Das ist es, was sie in jedes Gesicht zaubern. Das Schwierigste wird sein, es zu sehen, wenn Liam (ihr Enkel) ein schmollendes Kind, ein rebellischer Teenager oder ein wütender junger Mann ist.« Dann seufzte sie und fügte hinzu: »Gewiss, Pater, wir tun unseren Gesichtern schreckliche Dinge an, nicht wahr?«

Das tun wir in der Tat.

Erik Riechers SAC, 23. September 2020

 

 

»Du Narr!«

 

So lassen wir uns nicht gern bezeichnen; es kann zwar liebevoll neckend gemeint sein im Sinne von Spaßmacher oder Witzbold, doch meist schwingt da auch eine andere Seite mit. Narren nennen wir eben auch einfältige Menschen, die töricht handeln, eher tölpelhaft und dumm, ein Tor.

Im Lukas-Evangelium lässt Jesus in einem Gleichnis Gott in der Nacht zu einem reichen Bauern sagen: »Du Narr!« Der Kontext zeigt uns schnell, dass er damit nicht eine Art von Eulenspiegel meint. Vielmehr sagt Gott auf diese Weise: Du denkst und planst wie ein Tor. Du bildest dir ein, besonders schlau zu sein. Aber in Wirklichkeit hast du keine Ahnung.

Worum geht es in diesem Gleichnis? Ein reicher Bauer erwartet eine außergewöhnlich große Ernte, die seine bisherigen Scheunen nicht werden fassen können. So plant er, sie abzureißen und viel größere zu bauen. Dann hat er für die nächsten Jahre ausgesorgt.

Das klingt ja sehr vernünftig; auf solche und ähnliche Weise sichern wir ja oft unser Leben für die Zukunft ab.

Gott aber nennt ihn einen Narren! »Noch in dieser Nach wird man dein Leben von dir zurückfordern.« (Lk 12, 20) Warum nennt er ihn so? Was ist die Dummheit und Einfalt dieses Bauern?

Es ist sein Verständnis von Leben. Er versteht es eng, so eng, dass er glaubt, es im Griff zu haben. Doch dieses biologische Leben ist endlich - noch in dieser Nacht wird es vorbei sein! Keiner weiß wann und jeder müsste wissen, dass es endlich ist.

Gottes Vorstellung, sein Geschenk von Leben für uns Menschen ist anders. Es ist tiefer, weiter, voller: Leben in Fülle. Und es ist unzerstörbar. Um dieses Leben geht es Jesus und er wird nicht müde, dafür einzutreten im Reden wie im Tun: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.« (Joh 10, 10) Dieses Leben verströmt sich. Wer so lebt, liebt, teilt, ist nicht ängstlich besorgt um sich selbst. Er übt, Leben zu mehren, indem er es verschwendet, weil er sich selbst als geliebten und beschenkten Menschen versteht.  Solch ein Leben überdauert den Tod, ja es steht daraus auf und ist ein Schatz, der ewig bleibt.

Davon scheint der schlaue Bauer keine Ahnung zu haben. Darum plant er wie ein Dummkopf. »Jeder ist sich selbst der Nächste« ist eben nicht weise und wahr im Sinne des Schöpfers, sondern eher kurzsichtig und hat bloß das Vergängliche im Sinn, so als wäre dies alles, was wir haben und was Leben ausmacht.

Krisen zeigen uns immer wieder: Wachstum im quantitativen Sinn bedeutet und bringt nicht mehr Leben. Krisen lassen sich nicht bewältigen mit »immer mehr« und mit Horten für mich selbst.

Umdenken ist angesagt, damit wir das wahre Leben mehren und nicht länger wie Narren leben. 

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. September 2020

 

 

Vermeidung und Konfrontation

25. Sonntag A 2020

 

Wilhelm Bruners erinnert uns in seinem Gedicht »Rat« an eine tiefe und wesentliche Lebensunterweisung  der biblischen Erzählung:

»Beachte die Reihenfolge wenn du die Kraft behalten willst die Verhältnisse zu ändern.

Bete gegen das fünfsternige Nichts das Dir aus jedem Kanal entgegen tönt«

 

Nun in dieser Geschichte geht es um zwei Reihenfolgen, die wir beachten sollten. Das erste Mal begegnen wird uns das Thema, wenn der Gutsbesitzer Arbeiter für seinen Weinberg erwerben will. Da ist die Reihenfolge des Anwerbens der Arbeiter der ersten Stunde, der dritten Stunde, der sechsten Stunde, der neunten Stunde und der elften Stunde.

Dann kommt die zweite Reihenfolge, nämlich die der Auszahlung des Lohns. Und hier kommt der entscheidende Satz der Erzählung: »Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den Letzten, bis hin zu den Ersten!« Hier dreht er die Reihenfolge auf den Kopf. In dieser Reihenfolge werden die Letzten Mal zuerst versorgt. »So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte.«

Als er dann den vereinbarten Lohn der ersten Stunde auch jenen auszahlt, die erst in der letzten Stunde dazukamen, erwarten die Arbeiter der ersten Stunde einen größeren Lohn für sich selbst, bekommen aber die vereinbarte Summe von einem Denar.

Wenn wir dann die folgende Konfrontation lesen und fühlen (denn wir sind sofort tief hineingezogen und haben selbst starke innere Reaktionen zu der Handlung des Gutbesitzers), stellt sich eine Frage. Warum tut der Gutsbesitzer sich das an? Auf seine Frage: »Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?« können wir nur sagen, dass er das selbstverständlich darf. Aber wenn er schon dem Letzten ebenso viel geben will wie dem Ersten, dann hätte er sich so viel Ärger ersparen können, indem er die Reihenfolge des Erwerbens beibehalten hätte bei der Auszahlung des Lohnes. Dann hätten die Arbeiter der ersten Stunde freudig ihren Lohn angenommen, wären zufrieden und dankbar, ohne je zu  wissen, was er den Arbeitern der anderen Stunden gegeben hatte.

»Beachte die Reihenfolge, wenn du die Kraft behalten willst, die Verhältnisse zu ändern.« In der Handlungsweise des Gutsbesitzers liegt eine tiefere Ebene dieses Satzes. Die Reihenfolge, die er wählt, bringt Konfrontation mit sich, die er sich hätte ersparen können. Aber wenn wir die Kraft behalten wollen, die Verhältnisse zu ändern, dann dürfen wir solchen Konfrontationen nicht ausweichen. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß« ist ein Spruch, den Jesus  hier hinterfragt. Es gibt nämlich Dinge, die uns heiß machen sollten, auch wenn wir nichts davon wissen möchten.

Denn die Reihenfolge der Auszahlung weckt wichtige Fragen über Liebe und Gerechtigkeit sowie Neid und Gier. Diese Fragen sind keine Privatsache, sondern unabdingbar Teil von dem, was es bedeutet, eine Gemeinschaft zu sein und was Zugehörigkeit bedeutet. Diese Fragen sind zu wesentlich, groß und bedeutend, um sie nur einigen anzuvertrauen. Sie gehen uns alle etwas an, nicht nur die willigen und aufgeschlossenen. Und diese Fragen sollten uns nicht erspart bleiben.

Wenn wir haben, was wir brauchen, warum können wir es nicht anderen gönnen?

Wir haben ein Dach über unserem Kopf, Essen auf dem Tisch und Versorgung, wenn wir krank oder verletzt sind. Diese Dinge haben wir sicher in der Hand, wie der Denar in der Hand der Arbeiter der ersten Stunde. Brauchen die Menschen im Flüchtlingslager von Moria nicht diese Dinge, um zu leben? Viele Menschen waren irritiert oder sogar wütend, wenn ihre Urlaubsreisen eingeschränkt waren. Hier aber geht es um Menschen, die nur eine grundsätzliche Sicherheit für ihr Leben haben wollen, für Männer, Frauen und Kinder, die seit Jahren keine Reisen machen dürfen. Warum gönnen wir ihnen nicht, was für uns eine Selbstverständlichkeit ist? Wie Martin Luther King Jr. schon warnte: »Ein oberflächliches Verständnis von Menschen guten Willens ist frustrierender als ein absolutes Missverständnis von Menschen schlechten Willens.« Deshalb sind das Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen.

Warum können wir uns nicht freuen, dass andere auch leben dürfen, die weniger Möglichkeiten hatten als wir? Die Arbeiter der ersten Stunde haben einen guten Tageslohn bekommen. Was die anderen bekommen, kostet sie nichts und nimmt ihnen nichts weg. Sie vergleichen nur die Arbeitsstunden, aber nicht die Möglichkeiten ihrer Mitarbeiter. Nicht alle Menschen haben unsere Möglichkeiten, unsere Chancen im Leben. Sollte das heißen, dass sie nicht menschenwürdig leben dürfen? Ralph Waldo Emerson hat diese Mentalität sehr schnell durchschaut und sie als das benannt, was sie ist: »Seichte Menschen glauben an Glück. Starke Menschen glauben an Ursache und Wirkung.« Das sind Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen.

Warum sind wir so beschäftigt mit dem Vergleichen, anstatt das zu gestalten, was schon in unseren Händen liegt? Wir haben so vieles, was wir gestalten können, tun können, uns leisten können. Anstatt zu schauen, was andere haben oder bekommen, könnten wir gestalten, was uns gegeben ist. Oder sind wir Menschen des neidischen Herzens geworden? Das sind Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen.

Wenn der Gutsbesitzer den Arbeitslosen der elften Stunde auf dem Marktplatz je einen Denar als Almosen gegeben hätte, würden wir dann protestieren? Meistens würden wir persönliche Güte und Großzügigkeit bewundern. Warum würden wir es nicht tun, wenn es verbunden ist mit einer Arbeit, die Würde verleiht? Ein junger Mann aus Syrien erzählte mir vor kurzem, dass seine Nachbarn erst neidisch wurden, als er einen Arbeitsplatz bekommen hatte. Seitdem ist er »einer von denen, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen«. Als die Pfarrgemeinde, die ihn begleitete, für ihn sorgte, war es kein Problem. Was sagt das über uns aus? Wo kommt das her? Das sind Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen.

W. Bruners empfahl zu Beginn meiner Predigt: »Bete gegen das fünfsternige Nichts das Dir aus jedem Kanal entgegen tönt«. Was der Gutsbesitzer tut ist, uns alle zu zwingen, dieses fünfsternige Nichts zu konfrontieren. Und diese Konfrontation muss es geben. Mit dem sicheren Blick eines Propheten stellt sich Joseph Gordon-Levitt den tiefen Problemen einer seichten Kultur: »Die Boulevardzeitungen der Supermärkte und die Klatschsendungen von Prominenten sind nicht nur unschuldige oberflächliche Unterhaltung, sondern ein grundlegender Teil einer viel größeren Bewegung, die Apathie, Gier und Hierarchie beinhaltet.« Diese Zeit der Pandemie hat vieles in uns als Gesellschaft und als Individuen enthüllt: Ängste, Neid, die Selbstsucht des Hortens, die Selbstbezogenheit, die andere mit auffallender Leichtigkeit vergisst. Wir sollten der Konfrontation mit diesen Fragen nicht ausweichen, indem wir uns in das fünfsternige Nichts von Konsum, Unterhaltung und Ablenkungen aller Art eintauchen.

Wir sind wie die Menschen der ersten Stunde. Wir sind es gewohnt, immer unter den ersten zu sein. Wir leben in großer Sicherheit und wissen von Anfang unseres Tages an, was wir am Ende des Tages haben werden. Aber unser Gott ist nicht nur der Gott der ersten Stunde, sondern der Gott aller Stunden. Wer die Reihenfolge der Auszahlung nicht beachtet (die Letzten mal zuerst versorgen) und ihr ausweicht, meidet auch die Begegnung mit dem Gott, der diese Reihenfolge will. Wir können aber der Frage nicht ausweichen, ohne dem Fragesteller auszuweichen.

 

Gebet (Alex Wimberly)

Gott der Gerechtigkeit,

Gott der Gnade:

beim Versuch, einen Sinn zu finden

in dieser Welt

sowie unseren Platz darin,

trainieren wir uns,

Belohnung für unsere Arbeit zu erwarten

und unser Wert sollte bestimmt sein

von unseren Bemühungen.

Wenn Du uns heute das gibst, was wir brauchen,

sollten wir nicht erwägen,

wo wir im Verhältnis zu anderen stehen,

aber wie wir in Gemeinschaft

mit denen bleiben könnten

die, wie wir, abhängig sind

von der göttliche Großzügigkeit.

Amen.

 

Erik Riechers SAC, 20. September 2020

 

 

Im Glauben gehen wir unseren Weg

 

Wenn heute Abend die Sonne untergeht, wird das jüdische Neujahr beginnen, Rosch Haschana. In Vorbereitung auf die heiligsten Tage des jüdischen Jahres hielt Rabbiner Jonathan Sacks eine Reihe von kurzen Vorträgen darüber, was es bedeutet, diese Tage während der Corona-Pandemie zu feiern. Und insbesondere eine Zeile schien mir genau ins Schwarze zu treffen.

»Aber die wichtigste Auswirkung der Pandemie und ihrer Folgen ist die Unsicherheit. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie nicht wirklich wissen, was passieren wird: mit ihrer Gesundheit, ihrer Arbeit, ihrem Unternehmen, mit der Gesellschaft, mit allen und allem um sie herum. Sie wissen nicht, wie lange ein Lockdown dauern wird, wann neue Quarantänebeschränkungen eingeführt werden, wann Masken erforderlich sein werden und wann nicht, und was mit den Testing Regimes geschehen wird. Die Menschen können nicht für die Zukunft planen. Sie können nicht wissen, was die Zukunft bringen wird. Und das untergräbt ihr Sicherheitsgefühl.« *

 

Was mich jedoch am meisten beeindruckt hat, ist Jonathan Sacks instinktive Antwort auf dieses Gefühl der Unsicherheit, das uns plagt. Er erinnert an die großen Reisegeschichten des Volkes Israel und wie jeder von ihnen das Volk Gottes lehrte, mit der Unsicherheit umzugehen: Man muss einen Glauben haben, die Art von Glauben, die einen in das unentdeckte Land der Zukunft aufbrechen lässt. Oder wie Jonathan Sacks es ausdrückt: »Die Bereitschaft, in eine unbekannte Zukunft zu reisen, ist von entscheidender Bedeutung.« *

Die große Mehrheit derer, die durch die Pandemie müde und ausgelaugt waren, konzentrierte sich darauf, Wege zu finden, um die Unsicherheit zu lindern. Der Schrei ist überwältigend: Gebt uns alle alten Gewissheiten zurück, dann werden wir uns wieder sicher fühlen. Stellen Sie alle alten Gewissheiten wieder her (ob sie nun authentisch sind oder nicht), dann wird alles wieder in Ordnung sein mit der Welt und mit uns. Wir wollen, dass das Problem verschwindet. Das ist es auch, was wir oft von der Religion verlangen: Sprechen Sie das Wort, das die Unsicherheit verschwinden lässt.

Dennoch war dies nie der Weg des authentischen Glaubens. Wir Christen haben einen großen Teil des Weges, den wir im Glauben gehen, von unseren jüdischen Schwestern und Brüdern geerbt. Jesus mag ihn in vielerlei Hinsicht bereichert und vervollkommnet haben, aber er selbst lehrte, dass Glaube die Bereitschaft ist, sich wie Abraham, wie Moses und wie Rut in die Ungewissheit zu begeben. Paulus, ein Mann, der die reichen Wurzeln seines jüdischen Glaubens in seiner christlichen Überzeugung nie verleugnet hat, drückt es so aus: »Im Glauben gehen wir unseren Weg, nicht im Schauen.« (2 Kor 5,7).  Wir haben unsere eigenen Geschichten über diese Bereitschaft zu erzählen, in das unentdeckte Land aufzubrechen:  in der Berufung der Jünger, in der Aussendung seines Volkes zu allen Nationen, in jedes Land, bis an die Enden der Erde.

Daher besteht unsere Antwort nicht darin, die Unsicherheitsgefühle zu beseitigen, sondern zu lernen, mit den Fragen umzugehen, die die Unsicherheit aufwirft. Wir müssen an neue Orte gehen. Wir müssen neue Wege ausprobieren. Wir müssen neue Methoden riskieren. Wir müssen neue Möglichkeiten erforschen. Es ist nicht die Aufgabe des Glaubens, die Stürme, denen wir im Leben begegnen, zu beruhigen. Die Aufgabe des Glaubens ist es, zu lernen, die Stürme des Lebens zu navigieren. Man muss den Glauben haben, die Art von Glauben, die einen in das unentdeckte Land der Zukunft aufbrechen lässt.

Gott liebt uns innig, und nichts macht uns bei ihm beliebter, als wenn wir ihm vertrauen, dass er uns durch die Ungewissheit des Lebens führt. Jeremia erzählt dies, wenn er schreibt: »So spricht der HERR: Ich erinnere mich an dich - an die Treue deiner Jugend, die Liebe deiner Brautzeit, du folgtest mir in der Wüste, im nicht besäten Land.« (Jer 2,2). Diese Bereitschaft, Gott über ein unbekanntes und nicht besätes Land zu folgen, wird entscheidend dafür sein, wie wir aus den Tagen der Coronavirus-Pandemie und aus jeder anderen Krise, mit der wir in unserem Leben konfrontiert sind, herauskommen.

Allen unseren jüdischen Schwestern und Brüdern und allen Menschen, die sich den Neuanfang wünschen, den die großen Glaubensreisen mit Gott bringen, wünsche ich ein shana tova (ein gutes neues Jahr).

 

* Rabbi Lord Jonathan Sacks “FAITH & INSECURITY”:

Rosh Hashanah and Yom Kippur During the Coronavirus Pandemic;

Elul 5780 Lecture Series. Rabbi Lord Jonathan Sacks

 

Erik Riechers SAC, 18. September 2020

 

 

Zum Wandel bereit?

 

Gern würden wir diese Frage bejahen: Ja, wir sind zum Wandel bereit. Wir kennen unsere Sehnsucht danach und seufzen sie manchmal hinaus. Oft halten wir sie auch tief in uns verborgen. Wir spüren vielleicht diffus, wie gut es wäre zu versuchen, sich auf einen Wandel unserer Weise, die Dinge zu betrachten, der Richtung unserer Wege oder der Art unseres Lebensstils einzulassen.

Aber – Hand aufs Herz: Bleibt es nicht meist ein Gedankenspiel, eine Träumerei, eine reine Spekulation? Unterwegs in unseren gut geölten vertrauten Gleisen – sind wir bereit zum Wandel? Sind wir bereit, uns wandeln zu lassen?

Dann sollten wir ehrlich unser Leben »auf den Tisch« legen: unsere egozentrische Ängstlichkeit und Sorge, zu kurz zu kommen oder etwas zu verpassen, unsere Bequemlichkeit, unser mangelndes Vertrauen, unseren Glauben, immer alles in Griff zu haben.

Im März und April dieses Jahres veränderte sich unser Leben schlagartig und vieles wurde sehr deutlich eingeschränkt. Doch diese Herausforderung von außen zeigte sich auch als Chance. Wohltuend empfanden wir es, dass es möglich war, aus dem dauernden hektischen Unterwegssein auszusteigen – ja, es ging! Wir konnten die Schönheit des Frühlings zu Hause genießen und manch einer fragte sich, warum er immer geglaubt hatte, nur in der Ferne Schönes erleben zu können. Nachbarschaftliche Hilfe entwickelte sich; Junge kauften für Alte ein und beide freuten sich daran. Der Himmel war kondensstreifenfrei blau und unsere Luft für viele Wochen deutlich reiner.

Wir bekamen eine Ahnung von der Möglichkeit, unseren Lebensstil zu verändern, Wesentliches neu in den Blick zu nehmen und eine andere Qualität zu leben.

Diese Krise hatte das Zeug dazu, uns zu wandeln.

Doch Wandlung geschieht nicht von außen nach innen, wir müssen wir uns innerlich darauf einlassen, sie in uns geschehen lassen und dann von innen nach außen leben und gestalten.

Innerlich müssten wir unsere Kultur des Egoismus, des Herrschens und Bestimmens und vor allem des Konsumierens loslassen. Stattdessen jedoch wurden seit dem Frühsommer zunehmend die Stimmen laut, dass endlich wieder alles »normal« laufen sollte. Könnte es sein, dass es doch mit unserer Bereitschaft zum Wandel nicht so weit her ist? Sind wir in unserer – global betrachtet – kleinen verwöhnten Welt nicht fähig oder willens, die neue Herausforderung als Einladung zu verstehen, die ausgedienten Bahnen zu verlassen und uns auf unbekannte Wege locken zu lassen?  Vielleicht ist unsere Sehnsucht nach vollem, tiefem Leben zu klein und unsere Worte über den Wunsch nach Wandel leeres Geplapper.

In der Bibel treten in Krisenzeiten Propheten auf, um die Menschen zum Wandel zu bewegen, zu erinnern an ihre Verantwortung füreinander und vor Gott. Doch wenn deren Herzen besetzt sind und sich nicht öffnen, ist Wandlung nicht möglich. Gegen Ende des kleinen Prophetenbuches Zefanja heißt es:

»Darum wartet nur - Spruch des HERRN - auf den Tag, an dem ich auftreten werde als Kläger. Denn mein Rechtsspruch lautet: Völker will ich versammeln, Königreiche biete ich auf; dann schütte ich meinen Groll über sie aus, die ganze Glut meines Zorns. Denn vom Feuer meines Eifers wird die ganze Erde verzehrt. Ja, dann werde ich die Lippen der Völker verwandeln in reine Lippen, damit alle den Namen des HERRN anrufen, ihm Schulter an Schulter dienen.« (Zefanja 3, 8-9)

Unser HERR will Leben für alle. Wecken wir unsere Sehnsucht danach und ersticken sie nicht! Lassen wir uns ein auf die Verwandlung von Konsumenten zu Gestaltern echten Lebens. 

 

 Rosemarie Monnerjahn, 16. September 2020

 

 

Was wirklich zählt

 

Diese Tage der Pandemie haben eine Frage geweckt, die uns ständig begleitet: Was zählt wirklich bei uns? Diese Frage zeigt sich in allen Bereichen: wann, ob und wie wir Kinder wieder in die Schule schicken, ob Bundesliga-Spiele mit Zuschauern wieder erlaubt sein sollten, oder die Bereiche unserer Gesellschaft, in die wir etwas investieren wollen wie auch die Bereiche, die wir als »systemirrelevant« bezeichnen. Egal welche Fragen wir in diesen Tagen beantworten, die Frage bleibt: Wissen wir denn überhaupt noch, was wirklich zählt?

Reinhold Stecher, der verstorbene ehemalige Bischof von Innsbruck, erzählte eine feine Geschichte dazu.

»Vor vielen Jahren saß ich mit anderen Religionspädagogen aus Deutschland und Österreich in einer Volksschulklasse, in der wir anlässlich eines Fachkongresses eine Stunde Religionsunterricht besuchten. Der Religionslehrer – ein Laie – arbeitete mit offenkundig begeistert mitgehenden Kindern nicht ganz nach den Erkenntnissen moderner Bibelwissenschaft, Didaktik und Methodik, aber mit sehr viel Herz und einem eben nicht zu überhörenden Echo bei den Buben und Mädchen. Ein wenig hat mich die Sache belustigt, weil in den Fachdiskussionen auf hohem Niveau, in denen der Kongress schwelgte, es eben etwas anders zugegangen war.

Plötzlich neigt sich ein deutscher Kollege, Laie, Universitätsprofessor und bekannter Buchautor, mir zu und flüstert: ‚Also wissen Sie, rein wissenschaftlich bin ich ja mit dem Mann hier nicht ganz einverstanden, aber meine eigenen Kinder würde ich ihm liebend gern anvertrauen…‘« *

Mein Respekt für den Religionslehrer dieser Geschichte ist groß, aber mein Respekt für den Professor ist nicht geringer. Er konnte sehen, was wirklich zählt, nämlich viel Herz, das eine Antwort aus den Herzen der uns anvertrauten Menschen hervorruft. John Henry Newman nannte dies »Das Herz spricht zum Herzen«. Bei aller Kompetenz des Professors, bei allen wissenschaftlichen Theorien und persönlichen Meinungen konnte er erkennen, was so wichtig, so wesentlich ist, dass er bereit wäre, das, was ihm kostbar ist, vertrauensvoll in diese Hände zu legen.

Ich bete oft und intensiv, dass wir diese göttliche Weisheit des Herzens in den kommenden Wochen und Monaten besitzen werden. Ich bete oft und intensiv, dass unsere Wirtschaftstheorien, sozialen Überzeugungen und persönlichen Gewohnheiten uns nicht blind machen für das, was in der verwundeten, zerschlagenen und gebeutelten Welt jenseits unserer Theorien, Überzeugungen und Theorien wirklich zählt.

Selig, die erkennen können, was wirklich zählt.

* Unseren Kindern zuliebe, S. 9-10

Erik Riechers SAC, 14. September 2020

 

 

Das berechnende Herz

24. Sonntag A 2020

 

Wenn Jesus Gleichnisse über das Reich Gottes erzählt, ist es gewöhnlich sein Ziel, eine verborgene, aber in uns wirkende Geisteshaltung zu enthüllen, die weit über die Details der Geschichte hinausgeht, die er gerade erzählt. Jesus versucht, zu den zugrundeliegenden Dynamiken oder Haltungen zu gelangen, auf die wir eingehen müssen.

Es ist leicht, in diesem Gleichnis auf die offensichtlichen Fallstricke für den menschlichen Geist hinzuweisen: Status, Macht und Kontrolle spielen in unserem täglichen Leben eine mächtige Rolle. Weniger offensichtlich ist die stille, bescheidene Rolle, die eine namenlose Macht spielt, die sich ins menschliche Herz schleicht und die Geschichte von Anfang bis Ende vorantreibt, nämlich die Macht der Berechnung.

Wenn das menschliche Herz der Welt der Berechnung zum Opfer fällt, dann tritt es in eine Welt ein, die eine mächtige Illusion erzeugt. Die Berechnung  lässt uns glauben, dass wir auf der Suche nach Gerechtigkeit, rechter Ordnung und Fairness sind. In Wirklichkeit schafft die Berechnung eine Welt, die unsere Möglichkeiten radikal einschränkt.

Zu Beginn des Gleichnisses hat der Herr eine Wahl zu treffen. Wenn der Herr des Gleichnisses ein berechnendes Herz hat, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen Knecht ins Gefängnis zu werfen. Es steht außer Frage, ohne Zweifel, dass er das Recht hat, das zu verlangen, was ihm geschuldet wird. Die Summe ist ihm gebührend geschuldet, und er würde es rechtfertigen, rigoros zu fordern: »Bezahl, was du schuldig bist!« Doch indem er jenseits der Berechnung handelt, eröffnet er sich selbst und dem unter der Schuldenlast erstickenden Diener neue Lebensmöglichkeiten. Der Diener kann ein Leben führen, das einzig und allein der fortwährenden Schuldentilgung gewidmet ist, und der Herr kann ein Leben jenseits der endlosen Verfolgung seiner Schuldner führen.

Aber der Diener, der gerade eine unerwartete Freiheit gewonnen hat, indem er aus einer Welt brutaler und unerbittlicher Berechnungen befreit worden ist, fährt dann fort, diese Welt sofort wieder herzustellen, wenn es zu seinem Vorteil ist. »Bezahl, was du schuldig bist!« (das Motto aller berechnenden Herzen) kommt niemals allein. Es wird von Gewalt und Aggression begleitet (»Er packte ihn, würgte ihn«). Denn die Welt der Berechnung brütet immer diese vergeltenden Aspekte aus. Und plötzlich werden der Entzug der Freiheit eines Menschen und die Inhaftierung eines Menschen, der im selben Boot sitzt, in dem ich gerade war, zu einer gangbaren Option. Die Berechnung schafft immer eine Welt, die unsere Möglichkeiten radikal einschränkt.

Am Ende der Geschichte sind alle Beteiligen wieder in der Welt der Berechnung, auch der König.  Und wer profitiert davon? Wer kann davon leben? Niemand. Der erste Diener ist nun zurück in der strafenden Welt der Schuldentilgung, die er nicht meistern kann. Der zweite Diener ist an einem Ort eingesperrt, an dem er nichts tun kann, um seine Schulden zurückzuzahlen. Der König bekommt sein Geld nicht zurück und hat nun zwei Diener im Gefängnis sitzen und verliert  ihren Dienst, ihr Talent und ihre Präsenz. Das ist die hemmende Kraft der Berechnung. Das berechnende Herz schafft eine Welt, die unsere Möglichkeiten radikal einschränkt.

Petrus' Herz verirrte sich in die Welt der Berechnung, und Jesus wusste es in dem Augenblick, in dem er seine Frage stellte. »Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt?« Das ist eine klassische Frage der Berechnung. Sie versucht herauszufinden, was sie den anderen schuldet und wann diese Verpflichtung endet. Sie will berechnen, wann sie die Arbeit getan hat und weiterziehen kann. Sie arbeitet an dem oft gesprochenen und doch so gefährlichen Wort »genug«. Wie leicht denken wir, dass Kategorien, die wir auf die Welt der Wirtschaft, des Handels, der Verträge und der Marktplätze anwenden, einfach auf jeden anderen Ort übertragen werden können, an den das menschliche Herz geht. Ich kann fragen, wann ich denke, dass ich genug gearbeitet habe, um meinen Lohn zu verdienen. Mein Arbeitgeber kann angeben, welcher Lohn seiner Meinung nach für die von mir geleistete Arbeit genug ist. Aber wie wenden wir dieses Wort »genug« auf die wesentlichen Werke der Liebe und Beziehung oder auf unsere Herzensangelegenheiten an? Wie kann ich fragen, wann ich meiner Mutter Sohn genug gewesen bin? Wie kann ich fragen, wann ich meiner Schwester Bruder genug gewesen bin? Wie kann ich die Frage stellen, wann ich den Menschen, die mein Leben begleiten, Freund genug gewesen bin? Sobald ich die Frage stelle, ersetze ich ein Herz aus Fleisch durch ein Herz aus steinerner Berechnung. Und sobald ich die Frage stelle, würden die Menschen um mich herum wissen: Er will wissen, wann er mit uns fertig ist. Wer von uns würde sich geliebt fühlen, wenn er wüsste, dass der andere nur wissen will, wann er mit uns fertig sein kann. Das Herz der Berechnung schränkt unsere Möglichkeiten sehr stark ein 

In all seinen Gleichnissen über das Reich Gottes zerreißt Jesus die glatten Geschichten des Lebens, vor allem indem er die unhinterfragten Wahrnehmungen und Denkweisen zerreißt, die in den Geschichten lauern, die wir uns gerne über uns selbst erzählen. In diesem Gleichnis zerreißt Jesus die glatte Geschichte des berechnenden Herzens und erinnert uns daran, dass es im Reich Gottes um das »Chaos der unberechenbaren Liebe« geht (George MacLeod).

Dennoch bin ich nicht geneigt, Sie in dem Glauben zu täuschen, dass dies ein leichter Weg ist. Ganz im Gegenteil, er erfordert ein außerordentlich weites und befreites Herz. Und wenn wir solchen Herzen begegnen, werden wir erstaunt, schockiert und aller Wahrscheinlichkeit nach auch verunsichert sein. Ich wage es, Ihnen solche Herzen vorzustellen und Sie selbst beurteilen zu lassen, was das mit Ihren Herzen macht. Dieses Schlussgebet meiner Predigt wurde von Frauen in einem Konzentrationslager in Ravensbrück gebetet.

 

Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind

und ein Ende sei gesetzt aller Rache

und allem Reden von Strafe und Züchtigung.

Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten;

Sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft,

und der Blutzeugen sind viele.

 

Darum, o Gott,

wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden,

dass du sie ihren Henkern zurechnest

und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst,

sondern lass es anders gelten.

 

Schreibe vielmehr allen Henkern und Angebern und Verrätern

und allen schlechten Menschen zu und rechne ihnen an:

 

All den Mut und die Seelenkraft der andern,

ihre hochgesinnte Würde,

die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab,

das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ,

all die durchpflügten, gequälten Herzen…,

all das, o Gott, soll zählen vor DIR, nicht das Böse.

  

Und für die Erinnerung unserer Feinde

sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein,

nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck,

vielmehr ihre Hilfe, dass sie von ihrer Raserei ablassen.

Nur das heischt man von ihnen,

und dass wir, wenn alles vorbei ist,

wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen

und wieder Friede werde auf dieser armen Erde

über den Menschen guten Willens,

und dass der Friede auch über die andern komme.

Amen.

 

Diese Begegnung mit den Herzen dieser außergewöhnlichen Frauen des Gebets ist eine Begegnung mit Herzen, die nicht zuließen, dass die Berechnung  bestimmte, wie sie beteten, wie sie lebten, was sie sich erhofften und, für viele von ihnen, wie sie starben.

Diese Begegnung, dieses Gebet,  hinterlässt mein Herz inspiriert und verunsichert, aufgewühlt und verunsichert. Ich kann nicht schon mit dem Psalmisten von Psalm 57 beten: »Mein Herz ist bereit, o Gott, mein Herz ist bereit«. Aber ich möchte, dass es mal kommt. Und das ist ein sehr guter Anfang für uns alle.

 

Erik Riechers SAC, 13. September 2020

 

 

Sanfte Kraft

 

Als Hindernisse sich in den Weg stellten und all das Gute, das ich im Blick hatte, zu konterkarieren drohten, versuchte ich es gewaltsam.

Als gute Worte nichts bewirkten, versuchte ich es mit Härte.

Als mein Herz zu sehr schmerzte, schützte ich mich durch eine harte Schale.

Als es so aussah, als hätte ich versagt, schlug ich innerlich auf mich ein.

 

Dann fand ich eine Geschichte von Paolo Coelho:

»Das Kloster an den Ufern des Rio Piedra liegt in einer üppigen Landschaft, einer wahren Oase inmitten der kargen Felder dieses Teils von Nordspanien. Hier wird der kleine Fluss zu einer wasserreichen Strömung und teilt sich in unzählige Wasserfälle.

Der Wanderer streift durch diesen Ort, lauscht dem Rauschen des Wassers. Da entdeckt er hinter einem der Wasserfälle plötzlich eine Grotte. Er sieht den blankpolierten Stein, die schönen Formen, die die Natur geduldig geschaffen hat.

‚Nicht der Hammer hat diesen Steinen ihre vollendete Form gegeben, sondern das Wasser mit seiner Sanftheit, seinem Tanz und  seinem  Gesang.

Sanftheit gestaltet, während Härte nur zerstört.‘«

 

Und ich weinte über diese »Sanfte Kraft«.*

                                                                      * Paolo Coelho, Unterwegs

 

Rosemarie Monnerjahn, 11. September 2020

 

 

Eine unbereinigte Geschichte

 

Gestern am Fest Maria Geburt wurde die Stammbaum-Erzählung aus dem Matthäus-Evangelium vorgelesen. Diese unbereinigte Geschichte, wie Jesus geboren wurde, beinhaltet Elemente, die wir uns nicht ohne weiteres vorstellen können, wenn wir unsere Weihnachtslieder singen. Der Stammbaum und die Familienherkunft Jesu waren alles andere als vollkommen und pur. Und das sollten wir nie aus dem Blick verlieren, wenn wir zwar an Jesus glauben wollen, aber die Kirche ablehnen möchten wegen ihrer Unvollkommenheit, Skandale, schmerzhaften Geschichte. Jesus wurde durch den Heiligen Geist empfangen, aber es gibt vieles in seiner Herkunft, wie dieses Evangelium deutlich macht, das weit entfernt von rein, unbefleckt und makellos ist.

Indem diese Geschichte uns die Herkunft Jesu weitergibt, zeigt sie mindestens so viele Sünder, Lügner und Intriganten in der genetischen und geschichtlichen Abstammungslinie Jesu auf, als sie auf Heilige, ehrliche Menschen und Männer und Frauen des Glaubens hinweist.

Wir erfahren auch, dass der Stammbaum, der uns Jesus gab, nicht nur aus den Großen und Talentierten besteht, sondern zu gleichen Teilen aus Armen und Unbedeutenden. In der Liste der Namen aller Vorfahren Jesu erkennen wir Menschen, die berühmt waren und andere, die überhaupt keinen Anspruch haben, etwas Besonderes, Außergewöhnliches oder Bedeutungsvolles zu sein. Das menschliche Blut, das durch die Adern Jesu floss, das sagt uns diese Geschichte, wurde zu gleichen Teilen von groß und klein, von begabt und unbegabt erzeugt.

Was können wir daraus lernen? Zum einen wird es klar, dass Gott auf krummen Zeilen gerade schreiben kann. Zweitens, sollten wir kein überidealisiertes Bild der Heilsgeschichte aufstellen. Gott braucht solche Bilder nicht, um Heil zu wirken. Und letztens, auch wenn unsere eigenen Leben von Schwäche und Schlichtheit gekennzeichnet sind, auch sie sind wichtig für die weiterlaufende Geschichte des Heils.

Der Gott, der den Anfang schon auf krummen Zeilen schrieb, schreibt auch die Fortsetzung auf krummen Zeilen, und einige dieser Zeilen sind unsere Leben und unsere persönlichen Geschichten. Ein Gott, der sich nicht scheute, von den Intriganten sowie von den Edlen, von den Unreinen sowie den Reinen, von den Männern, auf die die Welt hörte , sowie den Frauen, auf die die Welt herunterschaute, Gebrauch zu machen – dieser Gott arbeitet auch heute mit derselben Truppe weiter. Wenn es im letzten Teil des Stammbaums schon eine Herausforderung ist anzuerkennen, dass völlig unbekannte Menschen ein Teil der Geschichte Jesu waren, könnte es eine noch größere Herausforderung sein anzuerkennen, dass die unbekannten Charaktere unserer Zeit einen wesentlichen Teil der Fortsetzung sind.


Die Heilsgeschichte Gottes ist nicht nur für die Vollkommenen geschrieben worden. Sie wird weiterhin geschrieben in den Leben von den Unreinen, den Sündern, den kalkulierenden Intriganten, den Arroganten, den Unehrlichen und von denen ohne jegliche erkennbaren weltlichen Talente. Niemand ist so schlecht, so unbedeutend, so ohne Talent und so außerhalb des Kreises des Glaubens, dass er oder sie außerhalb der Geschichte steht. Denn Gott schreibt niemand ab. Er schreibt einfach weiter.

 

Erik Riechers SAC, 9. September 2020

 

 

Er schlummert nicht

 

Psalm 121, den wir im März allem, was wir seither an dieser Stelle veröffentlicht haben, voranstellten, hält uns eindringlich wiederholend vor Augen, ja schreibt es uns in Herz, dass wir einen Hüter haben.

Hier spricht der Wallfahrer, der Pilger, der Mensch, der unterwegs ist. Er muss sich am Tag auf seine Füße verlassen und in der Nacht auf Fremde, die ihm Herberge bieten oder auf den Schutz eines Unterstands irgendwo in der Natur. Auf schmalen Graten, an abschüssigen Hängen, kennt er die Angst zu wanken und zu straucheln. Die mittägliche Hitze in Israel ist unerträglich. Manchmal ist er so müde, dass er am liebsten nicht mehr aufstehen würde nach einer Mittagsrast. Es mag Stunden geben, in denen er nicht glaubt, heil anzukommen, weil Böses und Lebensfeindliches sich ihm entgegenstellt.

Aus der Erfahrung solcher Augenblicke ist das Lied geschrieben, aber auch für die Zeiten solcher Erfahrungen.

Wenn ich pilgernd unterwegs bin, sagt der Beter, dann weiß ich um die Herausforderung und schaue aus nach Hilfe. Ich schaue auf nach den Bergen, den uralten Orten der Gottesbegegnung, und kann sagen: »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat.« Dieser HERR ist nicht nur meine Hilfe, er ist der Hüter Israels. Darum versichere ich auch dir, der du unterwegs bist mit Sorgen und Ängsten: »Er lässt deinen Fuß nicht wanken . . . er schlummert nicht ein und schläft nicht«. Hab keine Angst! Trau dich zu gehen, vertrau deinen Füßen, unser Hüter geht mit. ER lässt sich nicht ablenken und er wird nicht einschlafen - er behütet dich immer! Und wenn du Angst vor der dunklen Nacht und ihren Gefahren hast: ER behütet dich! Wenn Böses in welcher Form auch immer dich bedroht: ER behütet dich! Wenn Angst um dein Leben dir die Luft nimmt: ER behütet dein Leben! Bis in Ewigkeit, woher du kommst und wohin du gehst, ER ist immer an deiner Seite!

Unser aller Leben ist eine Pilgerschaft und Pilgern ist nicht leicht. Manchmal wanken wir wie ein Schilfrohr und wissen nicht, wohin wir den Fuß für den nächsten Schritt setzen sollen. Manchmal sind die Auseinandersetzungen am Tag so heftig, dass wir uns bloßgestellt fühlen und uns am liebsten irgendwo verbergen würden. Manchmal ist die Nacht so dunkel und so lang, dass wir die Hoffnung auf das Morgenlicht verlieren.

Dann lasst es uns halten wie der Beter des Psalms für die Wallfahrt. Lasst uns ausschauen nach den Orten der Gotteserfahrungen und erinnern: Unser Gott ist der Herr, der Himmel und Erde erschaffen hat, in dem alles aufgehoben und getragen ist und der darum unsere Hilfe ist - immer, jeden Tag, jede noch so schwere Stunde.

Und wir werden den bergenden Schatten neben uns wahrnehmen und Gefährten, die an unserer Seite sind. Wir werden wieder Mut fassen für die nächste Wegstrecke und weitergehen - so geht Leben.

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. September 2020

 

 

Die Leidenschaft, den anderen zurückzugewinnen

23. Sonntag A 2020

 

Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.

 

Albino Luciani (der spätere Papst Johannes Paul I) hat ein wunderschönes Buch veröffentlicht unter dem Titel: »Verehrter Freund! Briefe an berühmte Leute«. Diese fiktiven Briefe an verschiedene Persönlichkeiten schrieb er für seine Kirchenzeitschrift, als er noch Patriarch von Venedig war. Und der letzte Brief ist an Jesus gerichtet. Meine Lieblingsstelle ist gegen Ende des Briefes zu finden.

»Als Du damals lehrtest: „Selig die Armen, selig die Verfolgten“, da war ich nicht dabei. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich Dir ins Ohr geflüstert: „Um Himmels willen, rede doch von etwas anderem, Herr, wenn Du willst, dass Dir jemand nachfolgt! Siehst Du denn nicht, wie alle nach Reichtum und Bequemlichkeit streben? Cato hat seinen Soldaten Feigen aus Afrika versprochen, Cäsar die Reichtümer Galliens, und – gut oder schlecht – sie hatten Erfolg damit. Nun kommst Du und versprichst Armut, Verfolgungen. Was meinst Du, wer Dir da folgen wird?« 

Denselben Rat hätte ich vermutlich Jesus ins Ohr geflüstert, wenn ich dabei gewesen wäre, als er das heutige Evangelium verkündet hatte. Kaum ein Text weckt so viele Proteste wie dieser. Das verstehe ich gut.

Denn hier offenbart uns Jesus seinen unerbittlichen Drang zur Versöhnung. Und wer diesen unerbittlichen Drang zur Versöhnung mit Jesus nicht teilt, kann nur noch über die Vorschläge protestieren.

Dieser intensive Drang Jesu nach Versöhnung schenkt uns eine Handlungsweise für die Gemeinschaft der Gläubigen. Wir sollten sie anwenden, wenn unsere Beziehungen untereinander zusammenbrechen. Wenn wir diesen Schritten folgen, besteht eine gute Chance, dass das Zerbrochene wieder zusammengestellt wird und wir einander wieder zurückgewinnen werden. 

Aber einfach ist es nicht. Und automatischer Erfolg wird hier auch nicht versprochen.

Wenn Versöhnung nach dem ersten Schritt nicht erfolgt, dann steigert sich der Einsatz und die Handlungsweise.

Sollte aber die Versöhnung keinen so hohen Stellenwert bei uns haben, dann können wir uns gleich das Ganze ersparen. Dann sollten wir allerdings uns auch nichts vorlügen, sondern auch klar und deutlich sagen, dass das Zurückgewinnen unserer Beziehungen uns nicht genug bedeutet, um uns so anzustrengen.

Jesus sagt, wir sollten als ersten Schritt das Gespräch unter vier Augen suchen. Setzt euch hin, sprecht euch aus und legt alles auf den Tisch. Das ist natürlich eine Frage des Mutes:

Eine andere Person mit seinen Verhaltensweisen zu konfrontieren ist nie einfach. Oft wird deshalb der erste Schritt einfach übersprungen. Natürlich nickt jeder seine Bestätigung bei diesem ersten Rat, aber die wenigsten tun es.

Wenn ich im Gespräch höre, was alles auf der Seele eines Menschen liegt nach einem schweren Konflikt mit einem anderen, dann frage ich immer: Haben Sie das eigentlich den anderen mal erzählt? Und dann höre ich überwiegend: »Das hat keinen Sinn. Das würde sowieso nichts bewirken.« Wir sind schnell dran, das abzuschreiben, was wir gar nicht versucht haben.

So würden wir lieber die nächst höhere Gewalt anrufen in der Hoffnung, dass der andere gerügt oder gegängelt wird. Oft suchen wir die Bestrafung durch andere, weil Versöhnung geistige und emotionale Fähigkeiten verlangt, die wir nicht besitzen.

Aber dieser Schritt verlangt auch etwas von den Angesprochenen ab. Auch sie brauchen gewisse Fähigkeiten. Das Evangelium meint, dass Lehrlinge Jesu in der Lage sein müssen zuzuhören. Zuhören verlangt Konzentration und in vielen Gesprächen schalten wir uns nach Belieben ein und aus. Aber wenn wir uns persönliche Kritik anhören, dann ist es besonders schwierig, fokussiert und aufmerksam zu bleiben. Oft sind wir zu beschäftigt, eine verheerende Antwort zu formulieren. Unsere Verteidigungsmechanismen laufen volle Kraft voraus. 

Für Jesus ist allerdings klar, dass derjenige, der beleidigt oder verletzt ist, die Initiative ergreift und den aufsucht, der ihn oder sie beleidigt oder verletzt hat. Auch hier folgen wir einem unkonventionellen Weg. Unserer Meinung nach sollte derjenige, der mit dem Schlamassel angefangen hat, auch den ersten Schritt zum Aufräumen tun.

Das Ergebnis dieses ersten Schrittes ist erfolgreich, wenn die Beziehung wieder hergestellt wird. Den Bruder oder die Schwester »zurückzugewinnen« ist für Jesus das Ziel. Aber uns gegenseitig zurückzugewinnen heißt nicht, dass wir beweisen müssen, wer von Anfang an Recht hatte.

Und wieder stoßen wir auf das Problem: Oft ist unsere Rechthaberei uns wichtiger als unser Zusammensein. Lieber gehen wir als Sieger davon, als gemeinsam.

Den Bruder oder die Schwester zurückzugewinnen bedeutet, dass ein Verständnis erreicht wird, das Versöhnung bewerkstelligt. Wenn es auf dieser Ebene gelingen kann, dann geht es nicht weiter.

Sollte dieser erste Schritt erfolglos bleiben, dann werden Zeugen hinzugeholt, um den Streit zu schlichten. Ihre Rolle ist es zu sortieren, was wirklich passiert ist und vorzuschlagen, was geschehen könnte, um die Menschen wieder zusammen zu bringen. Sie sollten dort Prozesse begleiten, die zwei nicht alleine bewältigen können. Und das kommt vor. Warum auch nicht? Müssen wir wirklich alles alleine meistern können, was das Leben uns zumutet? Dürfen wir nie überfordert sein von einer Situation? Ist es verwerflich zuzugeben, dass wir alleine nicht zurechtkommen und eine Hilfe gut gebrauchen könnten? 

Sollte dieser zweite Schritt nicht fruchten, wird die größere Gemeinschaft hinzugezogen, um die zwei Menschen zusammen zu bringen. Auf dieser Ebene wird die Handlungsweise natürlich formeller und autoritativer sein. Was wir nicht verschweigen dürfen ist, dass es bei diesem Schritt für alle Beteiligten auch deutlich komplexer und komplizierter wird. Für die Gemeinschaft kann hier der Druck entstehen, für die eine Seite oder die andere Partei zu ergreifen, anstatt einen Weg zu suchen, wie die beiden Menschen sich zurückgewinnen können. Gleichzeitig ist die Versuchung groß, bei den Streitparteien in der Gemeinschaft Verbündete anstatt Begleiter zu suchen.

Sollte der dritte Schritt nicht funktionieren, sollte der Zuwiderhandelnde als jemand gesehen werden, der sich außerhalb der Gemeinschaft manövriert hat. Solche Menschen sind wie Heiden und Zöllner zu betrachten, Menschen, die besonders der unerbittlichen Sorge der Gemeinschaft für das Leben und die Versöhnung bedürfen. Das ist kein Bild der Ablehnung, sondern ein Bild der Verantwortung. Heiden und Zöllner sind nur für Pharisäer abgeschriebener Abschaum. Für Jesus sind sie Menschen, die eine besondere Hingabe, Sorge und Zuwendung bedürfen. Sie brauchen von uns einen missionarischen Einsatz, um sie in die Gemeinschaft zurückzuholen. Hier kommt es darauf an, aus welcher Sicht der Dinge ich selbst die schwierigen Menschen meines Lebens sehe.

Diese Schritte Jesu spiegeln seine Leidenschaft zur Versöhnung. Es ist seine Hoffnung sowie seine Absicht, seine Menschen mit dieser Leidenschaft anzustecken. Diese göttliche Leidenschaft, den Verlorenen zurückzugewinnen, sucht ständig nach dem nächsten Schritt,

nach der nächsten Möglichkeit, wo das verhärtete Herz sich öffnen könnte. Aber am Ende zählt nur eins: ob wir diese Leidenschaft mit Gott teilen.

Dieser Text weckt Protest in uns, wenn wir ihn lediglich lesen als eine Handlungsweise, die wir bringen müssen, um andere Menschen zurückzugewinnen. Aber der Text spricht nicht nur von dem, was wir tun sollten, sondern auch von dem, was für uns getan werden könnte. Wir gehen zwar meistens davon aus, dass wir die Gekränkten, die Beleidigten, die Opfer der Sünder sind. Und wenn es umgekehrt ist? Wenn wir die Täter sind? 

Wollen wir wirklich behaupten, dass es sich nicht lohnt, uns zurückzugewinnen, dass wir es nicht wert sind, gesucht und gefunden, erneut angenommen und aufgenommen zu werden?

 

Erik Riechers SAC, 6. September 2020

 

 

Wie ein Engel

 

Der Übergang vom späten Sommer in den frühen Herbst ist spürbar.

Die Helligkeit am Morgen lässt schon auf sich warten,

die Dämmerung am Abend kommt immer früher.

In meinem Herzen erwacht Bedauern, denn die hellen Abende taten meiner Seele gut.

Aber es schwingt auch eine sanfte Freude mit über mehr Zeit für Rückzug und Stille.

Da begegnet mir ein fast 40 Jahres altes Lied von ABBA:

»Like an angel passing through my room«

und ich staune:

Damals hatte ich es überhaupt nicht wahrgenommen.


Die lang erwartete Dunkelheit sinkt nieder,
wirft Schatten an die Wände.

In der Stunde der Abenddämmerung bin ich allein,
sitze nahe am Kamin,
sterbende Funken wärmen mein Gesicht.
In dieser friedlichen Einsamkeit,
wird die ganze äußere Welt gedämmt.

Alles kommt wieder zu mir zurück
in der Finsternis
wie ein Engel, der meinen Raum durchschreitet.

Halb wach und halb in Träumen
sehe ich lang vergessene Szenen.
So begegnet die Gegenwart der Vergangenheit,
Jetzt und Damals verschränken sich,
spielen Spiele in meinem Sinn.
Wie die Funken, wenn sie sterben,
war die Liebe ein verlängerter Abschied.

Und alles kommt wieder zu mir zurück
in der Finsternis
wie ein Engel, der meinen Raum durchschreitet.

Ich schließe meine Augen
und meine Bilder der Dämmerung vergehen
viel zu schnell
wie ein Engel, der meinen Raum durchschreitet.

Writer(s): Benny Andersson, Bjorn Ulvaeus

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. September 2020

 

 

»In diesem Leben bleiben alle Symphonien unvollendet.«

 

Dies waren schwierige Tage für uns alle. Doch trotz der Ungewissheit, der Einschränkungen und der Unannehmlichkeiten, die damit verbunden waren, ist es mir persönlich größtenteils recht leicht gefallen, die Tage mit einer Prise Humor und einer gesunden Portion Glauben zu bewältigen. Die Krise hat mir nicht das Herz genommen.

Dennoch habe ich in den letzten Wochen einen Hauch von Entmutigung gespürt, der sich in mich eingeschlichen hat. Es ist nicht die Krise, sondern die Kritiker, die meine Seele beunruhigen und meine innere Ruhe gestört haben. Da sind die Theologen, die mutig erklären, die Pandemie sei der Tod der Kirche. Es gibt die Kritiker, die behaupten, dass wir angesichts der Krise nicht innovativ und kreativ genug sind, und die anscheinend glauben, dass sie ein Geburtsrecht haben, dies mit den giftigsten und bösartigsten Beschimpfungen zu tun, das sie aufbringen können, wobei sie den Ruf anderer und die  Wahrheit in derselben Tirade ermorden. Andere beschweren sich lautstark und ausgiebig darüber, dass das, was bisher versucht wurde, unzureichend ist: es ist nicht schnell genug, gut genug oder früh genug.

Dieses Phänomen ist nicht nur ein Zeichen von Kampfmüdigkeit oder gar von schlichter menschlicher Knurrigkeit. Es ist ein Symptom für ein Seelenleiden, das die Kirche, die Welt und das Leben im Allgemeinen auf ungesunde Weise betrachtet. Menschen, die daran leiden, erwarten Vollkommenheit, wo keine gefunden werden kann. Sie erwarten Erfüllung, bevor das Rennen gelaufen ist.

Ich wende mich also einem Zitat von Karl Rahner zu, der stets bemüht war, unsere Sicht des Lebens gesund und gerecht zu erhalten.

»Alle Erneuerung, aller Fortschritt der Kirche wird gleichsam immer wieder hineinverzehrt werden in die Erfahrung der Mühsal der Geschichte, in die Enttäuschung über uns selbst, die wir doch die Kirche sind und sie also auch so erfahren müssen, so wir nur wahrhaftig gegen uns selbst sind. Wir spielen immer die unvollendete Symphonie der Ehre Gottes, und immer ist nur Generalprobe. Aber darum ist alle Mühe, alle immer unvollendete und unvollendbare Reformation nicht umsonst, nicht sinnlos. Sie ist einfach die Aufgabe der Knechte, die unter Tränen säen, damit Gott ernte, die Aufgabe, die nur die christliche Hoffnung wider alle Hoffnung bewältigt, weil sie allein glaubend weiß, dass noch die angenommene Niederlage von uns den Sieg Gottes am Holz des Kreuzes fortsetzt.«

Karl Rahner rührt an diese einfache und doch so wichtige Wahrheit. Das ganze Leben ist eine unvollendete Sinfonie. Dies ist ein unfertiges Werk, und all unsere Angelegenheiten sind unvollendete Angelegenheiten. Die Frage ist, ob wir die Schönheit, den Charme und die Möglichkeiten unvollendeter Sinfonien schätzen und mit ihnen leben können.

Vor Jahren hörte ich ein Lied, das mich immer wieder verfolgt, wenn die Entmutigung der Unzulänglichkeit zuschlägt. Es trägt den Titel: »That’s all I have to say.« (Das ist alles, was ich zu sagen habe.) *

Ich hatte Zeit, ein Buch zu schreiben

über die Art und Weise, wie Du dich verhältst und aussiehst,

aber ich habe keinen Absatz geschrieben.

Worte stehen mir immer im Weg.

Wie auch immer, ich liebe dich.

Das ist alles, was ich Dir zu erzählen habe.

Das ist alles, was ich zu sagen habe

 

Und nun möchte ich eine Rede halten

über die Liebe, die jeden berührt,

aber stolpernd, würde ich dich zum Lachen bringen.

Mir ist, als wäre meine Zunge aus Ton.

Wie auch immer, ich liebe dich.

Das ist alles, was ich Dir zu erzählen habe.

Das ist alles, was ich zu sagen habe.

 

Ich bin kein Mann der Poesie.

Musik ist nicht eins mit mir.

Sie läuft vor mir davon.

Sie läuft vor mir davon.

 

Und ich habe versucht, eine Symphonie zu schreiben,

aber ich habe die Melodie verloren.

Leider habe ich nur die Hälfte geschafft.

Und beenden werde ich sie wohl nie...

Wie auch immer, ich liebe dich.

Das ist alles, was ich Dir zu erzählen habe.

Das ist alles, was ich zu sagen habe.

 

Der Komponist hat offensichtlich eine große Liebe für die namenlose Person des Liedes, und es treibt ihn an, diese Liebe in Worte zu fassen, einen Ausdruck seiner Liebe zu schaffen, der für die Geliebte eine Offenbarung wäre. Das Lied singt von dem, was der Sänger über die Geliebte nicht ausreichend ausdrücken kann, aber das besiegt ihn nicht. Schließlich gibt es dieses Lied. Und obwohl er behauptet: »Das ist alles, was ich Dir zu erzählen habe. Das ist alles, was ich zu sagen habe«, bin ich froh, dass er dies zu erzählen hatte und dies zu sagen hatte, sowie jemanden, dem er es mit all seinen Mängeln und Unzulänglichkeiten sagen dürfte. Das Lied ist unfertig, aber schön. Obwohl es sicherlich nicht alles ist, aber wäre es nicht mehr als genug, um unser Herz zu erfreuen und unseren Geist zu erhellen, wenn uns jemand dies zu sagen hätte, auch wenn es alles war, was er uns zu erzählen hätte?

Karl Rahner schrieb: »In diesem Leben bleiben alle Symphonien unvollendet.«

Für alle, die wie ich durch die Generalprobe fummeln, ist es ein ganz eigenes Vergnügen, für die Aufführung zu proben, das kein Zuschauer in einem Theater je kennen wird. Seien Sie ein Schauspieler und gehen Sie auf die Bühne.

Für all diejenigen, die wie ich über Worte gestolpert sind und deren Zungen aus Ton waren, gibt es eine Freude an der Kunst, etwas zu schaffen, nicht nur am fertigen Produkt. Kein passiver Zuhörer wird dies jemals erfahren. Seien Sie ein Geschichtenerzähler und tauchen Sie mit einer Geschichte auf.

Für all jene, die wie ich eine Symphonie wollten und die Melodie verloren haben, gibt es eine ganz eigene Freude am Komponieren, daran, etwas aus Rhythmus und Melodie zu schaffen. Kein neutraler Zuschauer wird sie je berühren oder begreifen. Seien Sie Komponist, und schreiben Sie Ihre unvollendeten Sinfonien.

Warum durch ein wenig Unvollständigkeit ein vollkommen gutes Leben verderben lasse

 

Erik Riechers SAC, 2. September 2020

* Eine schöne Wiedergabe des Liedes ist hier zu hören:

https://www.youtube.com/watch?v=Utt2wLMbz0k&list=FLCWG96HZx8GTKKe2v0tBdSA&index=4&t=0s

 

 

Hinstellen vor den Tag

 

Kürzlich begegnete ich wie neu einem besonderen Segen in den Tag. Ich erinnerte mich, wie ich ihn vor langer Zeit entdeckt und  oft am Morgen gebetet hatte.

Nun nahm ich ihn neu wahr, wie es oft ist, wenn uns etwas oder jemand aus dem Blick geriet und auf einmal wieder vor uns auftaucht.

Ich erspürte ihn körperlich – zunächst in meiner Haltung, denn ich konnte  ihn nicht sitzend beten, sondern musste mich hinstellen.

Ich darf mich aufrichten zu Beginn des Tages.

Und dann still ganz bei mir sein . . . alle Sinne spüren und lebendig werden lassen . . . und mich allmählich in die Tiefe meiner Seele und mein Getragensein hineinbegeben.

Erleben Sie es selbst:

 

Ich erhebe mich heute

 

Im Namen des Schweigens,

Schoß des Wortes,

Im Namen der Stille,

Heimat des Zugehörens,

Im Namen des Alleinseins

Der Seele und der Erde.

 

Ich erhebe mich heute

 

Gesegnet von jeglichem Ding:

Schwingen von Atem,

Entzücken von Augen,

Staunen von Geflüster,

Nähe der Berührung,

Ewigkeit der Seele,

Dringlichkeit des Denkens,

Wunder der Gesundheit,

Umfangensein von Gott.

 

Möge ich diesen Tag erleben

 

Mitfühlenden Herzens,

Klaren Redens,

Gütigen Gewahrseins,

Tapferen Denkens,

Liebenden Muts.

(John O’Donohue, Benedictus)

 

Rosemarie Monnerjahn, 31. August 2020

 

 

Weil ich hier bin, wo bin ich abwesend?

22. Sonntag A 2020

 

Zu Beginn des heutigen Evangeliums gibt es eine kleine Szene.

Petrus nimmt Jesus beiseite.

Er macht ihm Vorwürfe.

Jesus dreht sich um, schaut seine Jünger an, und weist Petrus zurecht.

Hier sind seine Worte. »Tritt hinter mich, du Satan!«

 

In der alten Einheitsübersetzung würde der Satz so übersetzt: »Geh mir aus den Augen.«

Geh mir aus den Augen ist eine deutliche Aussage. Das würde bedeuten, dass wenn wir nicht denken wie Gott es will, dann werden wir bestraft, und zwar auf der härtesten Weise. Denn die Bestrafung ist nicht, dass wir getadelt werden. Nein, die Strafe liegt im Entzug von Nähe und Präsenz. Die Strafe ist, dass wir weggeschickt werden, dass wir nicht mehr gesehen werden, dass wir nicht mehr erwünscht und gewollt sind. »Geh mir aus den Augen« besagt, dass ich jetzt persona non grata bin.

Dieses Gottesbild wurde uns oft genug gepredigt. Wir spüren die Härte, die Bedrohlichkeit, die dahinter steckt. Es arbeitet mit Liebesentzug, etwas, das wir Menschen sehr befürchten. Aber Liebesentzug ist eine menschliche Strategie und nicht eine göttliche.

Aber das ist nicht was der Satz »Tritt hinter mich, du Satan!« bedeutet.

Petrus nimmt Jesus beiseite, ab vom Weg, den er eingeschlagen hat.

Er macht ihm Vorwürfe. Dieser Weg führt ihn nach Jerusalem. Dort wird

Jesus vieles erleiden und von den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden. Mit anderen Worten, Jesus schlägt einen Weg ein, der ihn dorthin bringen wird, wo Gewalt und Ausgeliefertsein auf ihn warten.

Dann wird es interessant. Weil es im Text heißt: Jesus wandte sich um. Das heißt, er hat Petrus jetzt im Rücken, hat ihn hinter sich.

Dann schaut er die Jünger an, weil sie genauso betroffen von dieser Szene sind wie Petrus, und weist ihn zurecht. Er unternimmt eine Kurskorrektur.       

Warum wird das nötig? Petrus war derjenige, der Jesus als Messias erkannte und so benannte. Er ist überzeugt, dass dieser Jesus die Worte ewigen Lebens hat. Aber jetzt, wo er Zweifel an dem Weg und der Weisheit des Messias hat, will er die Führung übernehmen. Und Jesus sagt ihm durch dieses Wort und seine Geste: »Petrus, du sollst mir nachfolgen. Um nachzufolgen, müsstest du hinter mir stehen. Lass dich leiten. Lass dich auf Wege bringen, die du nicht einschlagen würdest. Das wird allerdings nur geschehen, wenn ein anderer die Richtung weißt, und deshalb musst du hinter mir stehen. Wenn du immer nur die Wege betrittst, die du sowieso schon gehst, brauchst du keinen, der dich führt. Aber wenn du mal etwas Neues, Unerwartetes und Unerprobtes erleben möchtest, dann tritt hinter mich.«

 

Jesus führt Petrus an den Ort, wo er eingeladen wird, die Frage zu beantworten, die mein Freund John O'Donohue so gerne stellte: »Weil ich hier bin, wo bin ich abwesend?« Dies ist ein Ort des Erwachens. Petrus hat etwas von der Erhabenheit Gottes gekostet, und das Knabbern am Wegrand wird ihn nicht mehr zufrieden stellen. 

Aber hier wird niemand weggeschickt. Jesus will die Beziehung zu Petrus korrigieren, nicht aufheben.

Wie geht Jesus mit einem Menschen um, der noch nicht die Wege Gottes gehen kann oder will?

Er korrigiert die Haltung, aber er schickt ihn nicht fort.

  • Er hilft den Menschen zu einer Neupositionierung, aber schreibt ihn nicht ab.
  • Er unternimmt eine Rückführung zum Weg des Lebens (von der Petrus abgewichen ist – er nahm ihn beiseite), aber er entlässt ihn nicht.
  • Er klärt die Verhältnisse, aber kündigt nicht die Beziehung.
  • Er weist auf die richtige Reihenfolge hin, aber nicht ein einziges Mal will er Petrus sagen, dass er in dieser Reihenfolge keinen Platz hat.

Liebesentzug ist eine menschliche Strategie und nicht eine göttliche. 

»Tritt hinter mich« heißt, folge meinem Weg. Und der Name Satanas ist eine Anspielung auf den Versucher in der Wüste. Petrus wird hier nicht verteufelt, sondern darauf aufmerksam gemacht, dass seine derzeitige Haltung die des Versuchers in der Wüste ist. Er denkt wie der Versucher in der Wildnis, der auch versuchte, Jesus vom Weg abzubringen, der sich auch vor ihm aufstellen wollte (vgl. Verneige dich vor mir, und ich gebe dir alle Reiche dieser Erde). 

Wenn Menschen nicht das im Sinn haben, was Gott für die Welt im Sinn hat, dann verdreht sich die Ordnung.

Wir Menschen weichen dem Unangenehmen aus; also werden wir Ausgeliefertsein und Gewalt vermeiden, aus dem Weg gehen.

Jesus wendet sich diesen Dingen zu und weicht nicht aus, sondern setzt sich damit auseinander, stellt sich diesen Realitäten. 

Wenn Menschen versuchen, den Weg des Lebens zu meiden, dann klärt Jesus, wie eine gesunde, lebensmehrende Beziehung zu Gott funktioniert.

Dies ist ein Gottesbild, mit dem wir leben können. Und das ist der Punkt. Ganz gleich, wie unsere Gottesbilder aussehen mögen, was nützt eines, das uns von der lebensspendenden Gegenwart des Gottes, den es darstellt, fernhält? Wie kann ein Gottesbild jemals einem Sterblichen helfen, etwas zu erreichen, einschließlich Buße, wenn es eher abstößt als anzieht? 

Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich in meinem Leben Petrus gewesen bin. Es hat Zeiten gegeben, in denen ich vom Weg abgewichen bin, der zum Leben führt. Manchmal hatte ich zu viel Angst davor, an Orte zu gehen, die mir zu anspruchsvoll, zu beängstigend oder zu unsicher erschienen. Und ich habe Zeiten erlebt, in denen ich Gott lautstark und vehement und unmissverständlich gesagt habe, dass dies sicherlich ein Fehler war. Dennoch wäre ich niemals auf den Lebensweg zurückgekehrt, wenn die Antwort «Geh mir aus den Augen« gewesen wäre. 

Ich wurde angespornt, gelockt und überredet, mich wieder anzustellen. Ich bin glücklich, hier zu sein.  Es hat einen klaren Vorteil, einen Schritt hinter dem Lehrmeister zu sein. Es gibt immer Einen, der mir einen Schritt voraus ist. Es gibt immer Einen, der zwischen mir und der ungewissen Zukunft steht, die ich fürchte. Wenn Sie mich fragen, gibt es keinen besseren Ort, an dem ich sein könnte.

 

Erik Riechers SAC, 30. August 2020

 

 

»Herr, deine Liebe reicht«

 

Wollen wir möglichst alles haben oder lernen wir, das Leben anzunehmen und auszuschöpfen mit allem, was ist?

Dann kann es sein, dass wir allmählich nicht mehr wünschen, von Üblem und Schwerem verschont zu bleiben, sondern alle Sinne vertiefen und weiten. Wir lernen, Schönheit an ungewöhnlichen Orten wahrzunehmen. Wir spüren Göttliches in Augenblicken, in denen wir früher über vieles hinweg gestolpert sind. Wir nehmen wahr, dass uns mehr geschenkt wird, als wir erwarteten und erkennen mehr und mehr den Reichtum des Lebens in seiner Tiefe und Weite.

Mehr auf mich geworfen zu sein und weniger äußere Ablenkung zu haben offenbarte mir die Schönheit eines Gesichts, das trotz Krankheit lächelte. Ich sah die Pracht eines Abendhimmels auf meinem schlichten Balkon. Ich genoss die würzige, harzige Luft in unserem Wald. Ich erkannte den Schatz, der in der Stille liegt. Ich bekam Lust, mit Menschen Kontakt aufzunehmen, die ich lange nicht gesehen und gehört hatte.

Und wie neu verbünde ich mich mit dem Beter des Psalms 36, wenn er spricht:

 

HERR, deine Liebe reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue bis zu den Wolken.

Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes, deine Urteile sind tief wie die Urflut.

Du rettest Menschen und Tiere, HERR. Wie köstlich ist deine Liebe, Gott!

Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel. Sie laben sich am Reichtum deines Hauses; du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen.

Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht.

(Ps 36, 6-10)

 

Er besingt Himmel und Wolken, Berge und Urflut -  die Schöpfung in ihrer Weite und Tiefe.

Er leugnet nicht, dass wir vielem ausgeliefert sind, doch sieht er das Rettende und den Retter und darin das Köstliche der göttlichen Liebe.

Nehmen wir die Bilder ernst: Wenn die »Hitze« unerträglich wird und wir drohen zu verdorren, wird sein Schatten da sein, unter dem wir uns bergen können. Wenn wir uns verloren und heimatlos fühlen, bietet er uns sein Haus und seinen Tisch, an dem wir uns laben können. Wenn der Durst uns verzehrt und die Sehnsucht nach Lebendigkeit uns austrocknet, tränkt er uns mit seiner Fülle. 

Schauen wir unser Leben an: Wann und wo haben wir solche Erfahrungen gemacht?

Und wie oft haben wir sie anderen Menschen geschenkt?

 

»deine Liebe reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue, so weit die Wolken ziehn« (Ps 57, 11) - wir sind immer davon umhüllt, wir leben und bewegen uns darin.

 

Rosemarie Monnerjahn, 28.August 2020

 

 

Welche Bitte taugt?

 

»Du kannst nicht alles haben!« - sicher haben auch Sie diesen Satz als Kind immer wieder gehört (mir klingt sogar dazu noch ein Lied in den Ohren!); vielleicht erinnern Sie sich, diesen Satz  auch Ihren Kindern und deren allumfassenden Wünschen entgegengestellt zu haben. Wir alle mussten und müssen lernen, uns  zu entscheiden. Was wollen wir wirklich? Was ist wesentlich? Was dient dem Leben? Um zu reifen, um erwachsen zu werden, müssen wir uns diesen Fragen immer wieder stellen und sie für uns beantworten. Wir können eben nicht alles haben. Wie schwer fällt es uns in unserer verwöhnten Welt des Wohlstands, dies zu akzeptieren!

Niemand wurde und wird in diesem Jahr und darüber hinaus von der Gefahr eines Winzlings, des Coronavirus, verschont. Auf allen Ebenen lernen und üben Menschen, ihm zu begegnen und damit gut umzugehen. So werden Strategien entwickelt und Regeln erarbeitet. Wir lernen sie und üben sie ein, denn wir wollen gesund bleiben und gut durch diese Zeit kommen. Und es gab Wochen und Monate, in denen wir froh, sogar stolz waren, dass wir diese Pandemie recht gut meisterten als Gesellschaft.    

Aber dann wurden und werden Wünsche wach. Wir wollen wieder verreisen, Urlaub machen, wir wollen miteinander feiern, einander wieder mehr und näher und ungezwungener begegnen und … und … und …

Ja, es schleicht sich die kindliche Vorstellung ein, alles haben zu können, ein ungezwungenes Wohlstandsleben mit allen Freiheiten UND Gesundheit durch Schutz vor dem Virus. Manchmal beklagen wir sogar, in den letzten Monaten gar nicht »richtig« gelebt zu haben, weil nicht alles wie gewohnt möglich war.

In ihrem von vielen so geliebten Gedicht »Bitte« spricht Hilde Domin in unnachahmlicher Weise aus, dass niemand verschont wird im Leben und der Wunsch danach nicht hilfreich ist, ja er »taugt nicht«.

Aber doch ist reiches Leben möglich.

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

Schauen wir die Bilder an: sie sprechen von Lebensmöglichkeiten, Fruchtbarkeit und Schönheit. Mögen wir ihre Zeichen in unserem Leben nicht übersehen – sie sind da!

Hilde Domin geht noch weiter: selbst wenn die Wellen über uns zusammenzuschlagen drohen und alles bedrohlich wird, gibt es die Perspektive auf Heil und Reifung:

und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube
und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

Erwachsen zu werden und zu sein bedeutet nicht, weniger zu erwarten, sondern tiefer und voller zu leben.

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. August 2020

 

 

Eine schlichte Messe

 

Ich habe neulich die Messe gefeiert. Ich wurde in der Sakristei über alle Vorsichtsmaßnahmen und Einschränkungen informiert, die ich beachten musste, bevor ich die Kirche überhaupt betreten hatte. Kein Gesang, kein Zeichen des Friedens. Desinfizieren Sie Ihre Hände, bevor Sie die Kommunion verteilen. Halten Sie Abstand. Ja, halten Sie in der Tat immer Abstand.

Ich ging in die Kirche und bereitete den Altar vor. Als ich aufsah, lächelten mich mehrere Leute an. Als Priester gewöhnen wir uns daran, dass alle möglichen Menschen den Altar für uns vorbereiten. Aus Respekt und Dankbarkeit für ihren Dienst mische ich mich nie ein, aber ich freue mich zutiefst, wenn ich den Altar selbst vorbereiten kann, wann immer ich die Gelegenheit dazu bekomme. Ich liebe es, den Tisch zu decken.

Es spricht von liebevoller Nachdenklichkeit für Menschen, die uns wichtig sind. Es spricht von Ehrfurcht, weil wir uns nicht auf das vorbereiten, was für uns unwichtig ist. Es spricht von Erwartung, denn es besteht keine Notwendigkeit den Tisch zu decken, wenn niemand kommen und einen Platz daran einnehmen wird. Es spricht von der Bereitschaft zum Teilen, vom Öffnen des Herzens, indem der einfache Zugang zu dem Ort gewährt wird, an dem wir das Teilen erwarten, wo wir das nehmen, was uns gehört, und es auf einen Tisch legen, damit andere daran teilnehmen und es genießen können. Und als die Leute mich anlächelten, wurde ich an meine Mutter erinnert, die mich aus der Küche anlächelte, wenn ich den Tisch im Esszimmer deckte.

Die Messe war schlicht. Sie wurde auf das Wesentliche reduziert. Es gab Geschichten von Gott, gefolgt von Geschichten über die wahnsinnigen Menschen, in die er so wahnsinnig verliebt ist. Es gab Gebete für die Anwesenden und die Sehnsüchtigen, sanfte Worte für belastete Herzen, Erinnerungen an Menschen, die vermutlich glauben vergessen zu sein. Es gab einen Hauch von Danksagung inmitten des Alltäglichen und Tristen. Ein bisschen Brot wurde zerbrochen und geteilt. Augen trafen sich dort, wo Hände sich nicht berühren durften. Es gab Gemeinschaft zwischen denen, die das Brot aßen, und Ihm, der es für uns verwandelt hat. Und es gab Dankbarkeit für die Chance der Versammlung.

Es war pur. Es gab keinen Pomp. Es war nicht unterhaltsam, aber erbaulich. Es gab nichts, um den Augenblick aufzupeppen. Es war eher eine einfache magere Mahlzeit als ein Bankett oder ein Fest. Es erinnerte mich an Mahlzeiten, die ich mit meiner Familie und meinen geliebten Freunden geteilt hatte. Es erinnerte mich an eine liebe Freundin, die mir kürzlich erzählte, wie einfach, aufmerksam und liebevoll ihre Mutter jeden Sonntagmorgen das Frühstück für ihre Familie zubereitete. Es erinnerte mich an die sanft beharrlichen Worte meines Lehrers: Sammelt das Volk, erzählt die Geschichten, brecht das Brot.

Eine der Personen, die anwesend waren, suchte mich nach der Messe auf, um mir zu erzählen, was sie vermisste: das Singen, die Umarmung beim Zeichen des Friedens, das Händeschütteln vor und nach der Messe. Ich ging zurück auf mein Zimmer und hielt inne, um ein Dankgebet zu sprechen. Ich hatte es geliebt, alles, jeden Moment davon. Die Liturgiker werden meinen Kopf auf einem Tablett verlangen und die Musiker werden bemängeln, dass die Barbaren das Heiligtum besetzt haben. Theologen werden meinen Mangel an Nuancen und Subtilität beklagen. Kritische Katholiken werden wegen des Mangels an Raffinesse und modernen kritischen Kommentaren zu jedem erdenklichen ideologischen Anliegen unter Gottes unkritischer, über allen aufgehender Sonne protestieren. Traditionalisten werden es wegen seines Mangels an transzendentem, jenseitigem Ambiente als unwürdig beurteilen. Nichts davon ändert jedoch etwas an der Tatsache, dass ich zufrieden war, gesättigt von Brot, Geschichten und Kameradschaft. Ich fühlte mich ein bisschen lebendiger, ein bisschen weniger belastet, viel leichter in meinem Geist und näher an meinem Gott und unserem Volk.

 

Erik Riechers SAC, 24. August 2020

 

 

Macht als Einfluss

21. Sonntag A 2020

 

In fast allen Konflikten mit seinen Jüngern (und er hat so einige) geht es um Macht und Autorität. »Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragt er sie (die Jünger): 'Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?' Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei.« Auch in der Gesellschaft zurzeit Jesu war die Frage der Macht nie weit von der Oberfläche.

Im heutigen Evangelium erkennt Petrus, dass die Quelle der Macht Jesu darin liegt, dass er seine Rolle als geliebter Sohn voll und ganz annimmt und daraus lebt. Jesus ist wahrhaftig der Sohn des lebendigen Gottes. Für diese Einsicht (die nicht auf seinem Mist gewachsen ist, sondern von Gott stammt) wird Petrus mit den Schlüsseln des Himmelreichs belohnt.

Aber während Petrus eine Sonderstellung hat, als Fundament und Schlüsselträger (vgl. Mt 18,18), wird später Jesus allerdings allen Jüngern sagen: »Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.« Auch Menschen in der zweiten Reihe müssen sich mit binden und lösen auseinandersetzen.

Aber hier nimmt die Geschichte eine erstaunliche und oft übersehene Wende. Denn für Menschen aller Zeiten ist die Tendenz, das Binden einzusetzen und die Macht als Kontrolle über das Leben, die Welt und die Mitmenschen zu verstehen und zu üben. Aber nicht bei Gott. Er tendiert zum Lösen zu greifen, weil Gott die Macht als Einfluss ausübt. Und wir, die wir beide Möglichkeiten besitzen, müssen wählen, wie wir die Macht verstehen und üben. Es wird sich zeigen, dass diese Macht mehr Herausforderung als Privileg ist.

 

1. Mt 16, 21-23

Macht, die sich dem Leben nicht entzieht und davon dispensiert,

sondern die Fülle und das Herz des Lebens umarmt.

Schon in der nächsten Szene des Matthäus Evangeliums beginnt der Konflikt zwischen Jesus und Petrus über den Einsatz von Macht.

Jesus sagt voraus, dass er nach Jerusalem hinauf gehen wird, wo er gekreuzigt wird und am dritten Tag von den Toten auferstehen wird. Petrus will davon nichts wissen: »Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!«

Dieses aufrichtige Zeichen seiner Fürsorge bringt ihm eine Zurechtweisung ein. »Stell dich hinter mir!« Nimm deinen Platz in der Nachfolge ein und lass mich dir mal den Weg zeigen. 

Das Problem liegt in der Weise, wie Petrus auf Macht sieht. Petrus sieht Jesus als Sohn der Macht; und er weiß, wie Macht bei den Menschen funktioniert. Macht wird gegeben, damit du dich dispensieren kannst von dem Schicksal und Los, denen die Machtlosen hilflos ausgeliefert sind. Die Söhne von Königen sterben nie in den Kriegen, die ihre Väter anzetteln. Die Töchter der Gesetzgeberinnen werden nie zermürbt von den Steuergesetzen, die ihre Mütter erlassen. Die Menschen an der Macht setzen diese Macht ein, um sich selbst zu sichern gegen die Faktoren des Lebens, die sie sonst schmälern, erschöpfen oder ausbeuten würden.

Wer Macht so versteht, wird es als eine Torheit empfinden, wenn der Sohn des Allmächtigsten sich den Bedingungen der Machtlosigkeit einfach unterwirft. Aber Jesus definiert das Verständnis und den Gebrauch von Macht um. Macht dispensiert sich nicht vom Leben, sondern umarmt die Bedingungen des Lebens auf eine neue, kreative Art und Weise.

Die Macht, die Gott uns anvertraut hat, ist nicht Rüstung, sondern gesteigerte Verletzlichkeit. Diese Macht ist eine Offenheit gegenüber dem Leben und sie will die zerstörerischen Elemente darin überwinden. Wir sollten uns nicht entziehen, sondern ins Herz des Lebens hineinbegeben.

 

2. Mt 18, 21-22

Macht, die nicht ausschließt, sondern einschließt

Hier haben wir die zweite Episode dieses Konfliktes über die Macht.

Petrus weiß, dass Jesus eine große Tendenz zur Vergebung hat. Darum bietet er Jesus eine recht großzügige Zahl an. »Siebenmal?« In diesem Austausch fällt die Zurechtweisung Jesu milder aus, aber sie ist genauso klar. »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzig mal.«

Hier geht es um mehr als einen Kontrast zwischen einer beschränkten Zahl und einer unendlichen Kapazität. Hier geht es um die Macht des Bindens und des Lösens.

Petrus hat auch diese Macht zu Binden, aber wofür sollte sie gut sein, wenn man nicht einige Leute einsperren kann und andere Leute ausschließen kann? Bei Menschen wird die Macht als Kontrolle eingesetzt, und dann wird Macht sich zeigen als die Möglichkeit zu bestimmen, wer dabei sein darf und wer nicht. Wir kennen diese Machtform nur zu gut. (Wenn du nicht tust, was ich will, darfst du nicht dazugehören. Das wird von Schulhöfen bis zum Arbeitsplatz ausgeübt.)

Das tut Petrus an dieser Stelle. Schleichend erkundigt er sich bei Jesus, wann er endlich die Macht seiner Schlüssel einsetzen und andere ausschließen kann. Jesus hingegen stellt die ganze Prämisse des Petrus in Frage. Die Macht ist nicht für den Zweck des Ausschlusses. Macht ist für die Sendung der Inklusion. Die Macht, die daraus fließt, wenn du Gott liebst, mit all deiner Seele, mit all deinem Herzen, mit all deiner Macht, bringt Menschen zusammen. Es reißt sie nicht auseinander.

 

3. Johannes 13

Macht, nicht für abstrakte Konzepte, sondern für echte menschliche Bedürfnisse

Die dritte Episode und der berühmteste Konflikt zwischen Jesus und Petrus wird im 13. Kapitel des Johannes Evangeliums erzählt. Jesus wäscht die Füße seiner Jünger. Petrus lehnt diesen Dienst ab. Jesus antwortet, dass wenn er sich nicht waschen lässt, er keinen Anteil an ihm haben kann, dass sie nichts gemeinsam mehr haben. Der immer überschwängliche Petrus bittet dann gleich um ein ganzes Bad.

Aber die Frage der Macht in dieser Episode geht weit über einen Rollentausch hinaus. Der Meister dient konkreten menschlichen Nöten. Dreckige Füße sind die Objekte seiner Fürsorge.

Denken wir nur an die Rhetorik des Dienstes, die in der Kirche überfließt. Diese Sprache ist oft, sehr oft, nobler als dieser konkrete Dienst. Die Rede davon erhabener und die Worte darüber geschwollener. Wir reden vom Dienst am Reich Gottes, Dienst an der idealen sozialen Ordnung, und Dienst an der Vision der Zukunft.

Aber oft, sehr oft, bleibt es auf dieser abstrakten Ebene. Dann tolerieren wir gebrochene Körper, und ein gemangelter Geist kann hingenommen werden. Göttliche Liebe verlangt nicht nur, dass die Macht dient, sondern dass sie konkreten menschlichen Nöten dient.

So dürfte die Macht aussehen, wenn wir sie ausleben wie Gott auf dieser Erde.

1. Eine Macht, die sich dem Leben nicht entzieht und davon dispensiert, sondern die Fülle und das Herz des Lebens umarmt.

2. Eine Macht, die nicht ausschließt, sondern einschließt.

3. Eine Macht, nicht für abstrakte Konzepte, sondern für echte menschliche Bedürfnisse.

 

Erik Riechers SAC, 23. August 2020

 

 

Überfließen, nicht leer werden

 

Krisenzeiten in unserem Leben gehören dazu. Manchmal dauern sie wenige Wochen, manchmal werden abenteuerliche Jahre daraus. In solchen Zeiten zeigt sich besonders, was vielleicht auch in ruhigem Fahrwasser gegeben ist: Wir fühlen uns oft leer, die Überforderung quält uns, wir suchen nach Auftankmöglichkeiten.

Wenn wir nicht aufpassen, glauben wir abzuschalten, wenn wir uns vielfältiger Berieselung hingeben. Doch später wundern wir uns, dass wir gar keine Kraft getankt und uns nicht erholt haben und wir sehr schnell wieder von der Erfüllung unserer Aufgaben ausgelaugt werden.

Vielleicht sollten wir eine neue Sichtweise üben. Dazu kann uns die Haltung von Bernhard von Clairvaux eine Hilfe sein, dessen Gedenken wir gestern feierten.

Bernhard war ein kraftvoller Mönch von faszinierender Ausstrahlung und umfassender Bildung sowie außergewöhnlicher Selbstdisziplin. Er schenkt uns Folgendes:

Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal,
der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt,
während jene wartet, bis sie gefüllt ist.

Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter.
Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch freigiebiger zu sein als Gott.

Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen, und dann ausgießen.

Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen.
Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst.
Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut?
Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle,
wenn nicht, schone dich.

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. August 2020

 

 

»Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in Dir herumzutragen.«

 

»There is no greater agony than bearing an untold story inside you.«

Als Maya Angelou acht Jahre alt war, wurde sie vom Freund ihrer Mutter sexuell missbraucht. Sie hat es aber nicht verschwiegen, sondern sagte gegen ihn aus. Er wurde zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt, wurde aber noch am selben Tag freigelassen. Vier Tage später wurde er tot aufgefunden, vermutlich das Werk ihrer Onkel.

Das hatte eine außerordentliche Wirkung auf Maya Angelou, denn für die nächsten sechs Jahre hörte sie auf zu sprechen, außer mit ihrem Bruder Bailey. Sie war überzeugt, dass ihre Stimme, ihre Worte, einen Mann getötet hatte.

Maya Angelou beschreibt diese Episode ihres Lebens in ihrem Memoire »Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt«. Darin schreibt sie den Satz: »Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in Dir herumzutragen.« Sie kannte das Gewicht einer nicht erzählten Geschichte.

Im Buch der Sprichwörter steht eine Warnung, die damit tief verbunden ist:

»Trägt man denn Feuer in seinem Gewand,

ohne dass die Kleider in Brand geraten?« (Sprichwörter 6, 27)

Dieses Bild vom Feuer im Gewand ist für mich immer mächtig. Das ist ein Bild für die inneren Prozesse unseres Lebens, für das, was uns innerlich bewegt, unsere Herzen beschäftigt und unser Leben treibt. Das ist ein Bild der nicht erzählten Geschichten, die wir in uns tragen.

Wir alle tragen solches Feuer, solche Geschichten in uns. Das ist wohl auch kaum das Problem, denn Feuer (wie Geschichten) ist etwas grundsätzlich Gutes, etwas dem Leben Dienliches. Das gilt für die inneren Prozesse des Herzens. Egal wie gebrochen, schmerzhaft und unangenehm sie auch sein mögen, auch sie sind grundsätzlich gut und unserem Leben dienlich. Sie sind Teil unserer Geschichte.

Aber Feuer, wie Geschichten, wird in zwei Fällen schnell gefährlich.

  1. Wenn es unbeaufsichtigt gelassen wird. Eine brennende Kerze am Adventskranz ist schön, spendet Wärme und Licht und strahlt Geborgenheit in die winterliche Kälte des Lebens. Aber wenn wir das Zimmer verlassen ohne das Feuer zu löschen, dann brennt am Ende mehr als wir wollten.

  2. Wenn es Unmündigen überlassen wird. Weil unmündige Menschen die Macht und die Gefahr des Feuers nicht erkennen, gehen sie leichtsinnig damit um. Die Streichhölzer in der Hand des Erwachsenen sind nutzbare Instrumente. Legen wir sie in die Hände der kleinen Kinder, werden sie schnell gefährlich für Haus und Leben. Und wieder brennt am Ende mehr als wir ursprünglich wollten.

 

Dieselbe Gefahr besteht für Menschen, wenn sie die inneren Herzensprozesse ihrer Geschichten nicht ernst nehmen.

  1. Was im Herzen abläuft, darf nicht unbeaufsichtigt gelassen werden, sonst weiten sich diese Prozesse an Orte aus, wo sie nicht hingehören.
  1. Gegenüber diesen inneren Prozessen des Herzens dürfen wir nicht unmündig bleiben. Wenn wir nicht wissen, wie wir mit ihnen umzugehen haben, dann werden sie sich breit machen und Räume einnehmen, die ihnen nicht gehören.

Gott will nicht, dass wir unmündig bleiben, dass wir leichtsinnig mit den Herzensprozessen umgehen. Wir sollten die Geschichte in uns liebevoll und sanft anschauen. Wir sollten diese Prozesse als mächtig in der Wirkung erkennen und, vor allem, ernst nehmen.

 »Trägt man denn Feuer in seinem Gewand,

ohne dass die Kleider in Brand geraten?« (Sprichwörter 6, 27)

Deshalb wendet Jesus oft unseren Blick nach innen, um das anzuschauen, was in uns ist, in uns abläuft und uns auch treibt. Wir sollten in ein reflektiertes Bewusstsein hineinwachsen, damit wir klar und deutlich sehen, aus welchen Quellen unsere Stimmungen entspringen, unsere Motivationen herstammen und unsere Einstellung erwachsen. Und das sollten wir tun, damit das, was im Herzen abläuft, am Ende uns nicht stumm macht. Dann wird die Qual einer unerzählten Geschichte alles im Leben bestimmen, unser ganzes Handeln, Denken und Empfinden. Wir sollten, mit anderen Worten, dafür sorgen, dass die Kleider (das Äußerliche des Lebens) nicht in Brand geraten (durch die inneren Prozesse).

Wir können natürlich unsere Zeit damit verbringen, all das zu löschen, was das Feuer im Gewand angezündet hat. So kann Wut in unserem Herzen brodeln, wir explodieren und der Nächstbeste bekommt die volle Ladung ab. Wir entschuldigen uns, und biegen die Sache wieder zurecht (löschen die Kleidung), aber wenn wir die Wut in uns nicht anschauen, dann spielt sich das Ganze von vorne wieder ab. Das wird ein endloser Kreis von Explosion, Reue und Entschuldigung. Wir löschen nur noch Kleiderbrände. Wenn das das Ziel unseres Lebens sein sollte, dann wären wir bei der Feuerwehr besser aufgehoben.

»Trägt man denn Feuer in seinem Gewand,

ohne dass die Kleider in Brand geraten?« (Sprichwörter 6, 27)

Oder wir können die Zeit nutzen, um die unerzählte Geschichte in uns, die Prozesse des Herzens, liebevoll und sanft zu betrachten, verantwortungsbewusst damit umzugehen und sie im Auge zu behalten, so dass nur das brennt, was Licht, Wärme und Sicherheit ausstrahlt.

Erik Riechers SAC, 19. August 2020

 

 

Ein Sommertag, der trägt

 

Die Gedanken kreisen und kommen nicht zur Ruhe; Schwere breitet sich in uns aus. Die Sorgen bringen uns zum Grübeln und wir bewegen uns im Gestern oder spekulieren über das Morgen. Können wir das HEUTE in seiner Fülle sehen und würdigen? Erkennen und fühlen wir überhaupt das Wesentliche, die Gefährten an unserer Seite, das Tragende?

Ein Lied von Reinhard Mey schenke ich Ihnen heute. Er leugnet nicht das Dunkle, aber ist auch nicht bereit, ihm die Vormachtstellung zu überlassen – im Gegenteil: er kennt und benennt seine Prioritäten und er singt von dem, was war, was ist und was trägt.

 

So viele Sommer mit dir verbracht,
Mit dir geliebt und geweint und gelacht.
Lass uns den Sommertag heut' glücklich leben,
Wie viele Sommer mag es noch geben?

Alle guten Dinge müssen enden,
Lass uns verschenken, lass uns verschwenden.
Die Hand, die verschenkt, leert und füllt sich zugleich,
Nur was wir verschenken macht uns wirklich reich.
Lass uns Glück verstreuen mit vollen Händen.
Alle guten Dinge müssen enden.

So viele Sommer mit dir verbracht,
Mit dir geliebt und geweint und gelacht.
Lass uns den Sommertag heut' glücklich leben,
Wie viele Sommer mag es noch geben?


Die Tränen, der Kummer, die Niederlagen,
Schlaflose Nächte, Fragen und Klagen.
Die Zweifel, die Ängste, die Sorgen und Müh'n,
Blütenträume, die nicht verblüh'n.
Gemeinsam gestanden, gemeinsam getragen,
Die Tränen, der Kummer, die Niederlagen.

So viele Sommer mit dir verbracht,
Mit dir geliebt und geweint und gelacht.
Lass uns den Sommertag heut' glücklich leben,
Wie viele Sommer mag es noch geben?

Die Liebe überstrahlt alles im Leben,
Alle Gestirne verblassen daneben.
Die einzige Botschaft, der einzige Sinn,
Die einzige Zuflucht liegt doch darin,
Einander Trost und Wärme zu geben.
Die Liebe überstrahlt alles im Leben.

So viele Sommer mit dir verbracht,
Mit dir geliebt und geweint und gelacht.
Lass uns den Sommertag heut' glücklich leben,
Wie viele Sommer mag es noch geben?

Bewahr' das Licht aus diesem Sommertag,
Für den Wintertag, der getrost kommen mag.

(Reinhard Mey, Album »Mr. Lee«, 2016)

 

Rosemarie Monnerjahn, 17. August 2020

 

 

Tun, was nötig ist

20. Sonntag A 2020

 

In seinem Buch On Earth as it is in heaven erzählt John Shea von einem Seminar über theologische Reflexion, das er in der Nähe von London gehalten hat. An einem Tag hat sich die Gruppe mit dieser Geschichte aus dem Matthäusevangelium beschäftigt. Die Aussprache war breitgefächert. Die Teilnehmer teilten viele Ideen über die Auslegung dieser Erzählung und wie sie an gegenwärtige Lebenssituationen anzuwenden sei.

»Es gab eine ruhige, ältere Frau, die nicht sehr viel teilnahm. Aber sie war aufmerksam und schien sehr interessiert zu sein. Nachdem alle anderen zu Wort gekommen waren, trug sie leise bei: ‚Es ist ihre Tochter. Sie will ihre Tochter gesund haben und sie wird tun, was nötig ist.‘ « (S. 255)

Diese Frau hat etwas Wesentliches an dieser Erzählung berührt und benannt. Die kanaanitische Frau tut, was nötig ist für ihre Tochter, komme was kommt. Über genau diese Frau staunt Jesus und sagt zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß.

 

Nun stellt sich eine Frage: Worin besteht hier ihr Glaube? Wir meinen meistens, dass Glaube gleichzusetzen ist mit »Glaube an Gott«. Und großer Glaube wird oft ausgelegt als an Gott zu glauben in Situationen des Leidens. Denn in solchen Situationen des Leidens gibt es die Versuchung zu meinen, dass wir von Gott verlassen worden sind. Großer Glaube dagegen behauptet, dass Gott gegenwärtig ist, auch wenn offensichtliche Zeichen dieser Gegenwart nicht vorhanden sind. Heilige Menschen werden Gott immer anerkennen und anbeten.

Aber hier geht diese Formel nicht auf. Das ist nicht der große Glaube dieser Frau. Ihr Glaube besteht darin, dass sie aus tiefer Überzeugung hartnäckig handelt. Sie geht neun wichtige Schritte im Text.

  1. Sie muss wissen, was sie wirklich liebt. Wichtige Fragen müssen im Herzen geklärt sein, bevor sie auf die Straße geht und Jesus konfrontiert. Was sind meine Herzensanliegen? Wofür lohnt es sich, zu kämpfen in meinem Leben? Das ist die unausgesprochene Voraussetzung dieser Erzählung und sie ist die unabdingbare Voraussetzung für jede Erzählung des großen Glaubens. Wir müssen erkennen, was wir wirklich lieben, denn nur dafür werden wir uns ins Zeug legen. Wir kämpfen nicht für das, was uns kalt lässt, wir ringen nicht um das, was uns gleichgültig ist. Wenn es uns egal ist, wie die Geschichte ausgeht, dann werden wir uns nicht einsetzen.
  1. Die Frau muss erkennen, dass ihre herzallerliebste Tochter gefährdet ist. Es entsteht eine Situation im Leben der Tochter, die der Heilung bedarf. Das wird sie aber nur merken, wenn sie achtsam über ihre Tochter wacht, immer wieder und stetig auf sie schaut und ständig prüft, was ihr Zustand ist.
  1. Die Frau muss erkennen, wo Heil und Leben möglich sind. Die Tatsache, dass Jesus diese Möglichkeiten Gottes in sich trägt und mit sich bringt, ist nutzlos, wenn sie nicht weiß, wer er ist und was er kann. Sie muss das Potenzial in Jesus für ihr Leben und das Leben ihrer Tochter erkennen.
  1. Sie ist nicht passiv. Die Krankheit ihrer Tochter lähmt sie nicht. Sie geht auf Jesus zu. Sie wartet nicht zu Hause, bis die Möglichkeiten Gottes zu ihr kommen.
  1. Sie spricht ihre Bitte klar und deutlich aus. Sie weiß, was sie will (Hab Erbarmen mit mir) und warum sie es will (Meine Tochter wird von einem Dämon gequält).
  1. Sie lässt Schweigen nicht gelten. Sie bricht den Dialog nicht ab und schleicht nicht davon, nur weil Jesus vorerst nicht darüber sprechen will. Dafür ist ihr das Leben ihrer Tochter zu wichtig und ihr Anliegen, dass ihre Tochter wieder heil und befreit leben darf, zu kostbar.
  1. Sie lässt sich auch von dem Gefühl des Unbehagens in den anderen nicht abwimmeln. »Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Schick sie fort, denn sie schreit hinter uns her!« Sie geht nicht alleine weg, nur weil ihre Sorgen es den Jüngern unangenehm machen.
  1. Sie ist bereit, in die Konfrontation zu gehen. Wenn sie den jüdischen Messias überreden muss und ihn erinnern muss, dass obwohl es viele ethnische Gruppierungen gibt, es trotzdem nur einen Gott gibt, dann sei es so.
  1. Sie ist eine zielstrebige Dienerin dieser Möglichkeiten Gottes. Sie setzt alles ein, was ihr zur Verfügung steht. Ihr Charakter wandelt sich im Laufe der Erzählung. Sie ist laut und durchsetzungsfähig, dann flehend und nachgiebig, dann schlau und konfrontativ. Ihr großer Glaube ist nicht nur eine unerbittliche Hingabe an die Besserstellung eines von ihr geliebten Menschen und seiner Situation. Er ist auch die schöpferische Fähigkeit, den Weg zu einer solchen Besserstellung zu finden. Das hat Kreativität so an sich: sie hat keine vorbestimmte Agenda. Kreativität hat eine klare Sendung, aber keine unantastbare, allgemeingültige Strategie. Kreativität weiß nicht, womit sie konfrontiert wird. Sie weiß sehr wohl, dass es Widerstand geben wird, kennt aber nicht die genaue Natur dieses Widerstandes. So ist diese kreative Frau bereit, wachsam und offen für das, was nötig sein wird. Braucht es Streitgespräche? Dann gibt es Streitgespräche. Braucht es Ehrerbietung? Dann wird es Ehrerbietung geben. Braucht es Konfrontation? Dann wird es Konfrontation geben.

Und über genau diese Frau staunt Jesus und sagt zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Sie lässt sich von nichts und niemandem (auch Jesus nicht) aufhalten, um dahin zu kommen, wo Leben und Heil sind.

 

Und dieser Weg steht auch uns offen. Auch wir könnten diese 9 wichtigen Schritte eines großen Glaubens gehen.

  1. Wir sollten wissen, was wir wirklich lieben, was uns wirklich am Herzen liegt. Nur dafür werden wir Kraft und Energie investieren, Abenteuer auf uns nehmen und sogar persönliche Opfer bringen.
  1. Wir sollten merken, was unsere Herzensanliegen gefährden. Wenn wir nicht merken, dass sie Heilung bedürfen, können sie an Nachlässigkeit sehr schnell sterben. Genau wie wir sehr genau auf unseren Gesundheitszustand achten, so sollten wir oft und regelmäßig schauen, wie es um die Gesundheit unserer Herzensanliegen steht.
  1. Wir sollten erkennen, wo die Möglichkeiten Gottes sind, die uns Heil und Leben bringen könnten in unserer Not. Welche Menschen, Geschichten, Begegnungen oder Gespräche könnten uns diese Möglichkeiten schenken?
  1. Wir sollten nicht passiv werden, sondern uns auf die Möglichkeiten Gottes für Heil und Leben hin bewegen, Schritte unternehmen, aktiv werden. Das ist besonders gefährlich in Formen der Spiritualität, wo wir immer passiv auf Gottes Handlung warten, während wir selbst uns zurücklehnen und warten, dass er auf uns zukommt.
  1. Wir sollten klar und deutlich unsere Anliegen formulieren. Oft wissen wir genau, was uns missfällt und was wir nicht mehr wollen, aber wir können nicht genau sagen, was wir brauchen und möchten
  1. Das Schweigen anderer zu unseren Anliegen sollte uns weder bestimmen noch davon abhalten, ihnen nachzugehen und sie zu verwirklichen.
  1. Auch wenn andere sich nicht wohlfühlen bei dem, was uns am Herzen liegt, oder es sogar ablehnen, sollten wir uns nicht abwimmeln lassen. Was uns berührt und bewegt verliert nicht seine Bedeutung oder Legitimation, wenn andere es nicht teilen.
  1. Wir sollten bereit sein in die Konfrontation zu gehen. Für alles, was uns wahrhaft wichtig ist, müssen wir mit Widerstand, Desinteresse und Ablehnung rechnen. Und wenn wir wirklich etwas lieben, was uns am Herzen liegt, dann werden wir dafür in die Konfrontation gehen.
  1. Wir sollten alles einsetzen, was uns zur Verfügung steht; sei laut und durchsetzungsfähig, flehend und nachgiebig, schlau und konfrontativ. Sei schöpferisch, bereit, wachsam und offen für das, was nötig sein wird.

Das ist der Punkt der Frau, die zu John Shea sagt: »Es ist ihre Tochter. Sie will ihre Tochter gesund haben und sie wird tun, was nötig ist.« Die ganze Spannbreite der menschlichen Kreativität muss geübt werden in dem Streben nach Heilung, Leben und Zukunft. Das ist ein großer Glaube.

 

Erik Riechers SAC, 16. August 2020

 

 

»Weil Gott sie angeschaut hat«

 

Im heißen Sommer 2003 verbrachte ich einige Tage bei meiner ältesten Tochter in Aachen. Sie hatte viel zu tun und ich genoss zwei Tage lang die Stadt. Als am Morgen des 15. August die Glocken der Jakobskirche nebenan läuteten, ließ ich mich locken und trat zu der kleinen, um den Altar versammelten Gemeinschaft, um mit ihnen den Feiertag Mariä Himmelfahrt zu begehen. Der Pfarrer erzählte in der Predigt folgende Begebenheit: Vor einiger Zeit hatte er mit einem Freund das Museum Unterlinden in Colmar besucht. Dort waren sie, sich kunstbeflissen austauschend, von Werk zu Werk gewandert, als sie vor einem Marienbild  Zeugen einer berührenden und bewegenden Szene wurden. Ein kleiner Junge fragte dort seinen Vater: »Papa, warum ist die Frau da so schön?« Der Vater hockte sich hin, nahm seinen Sohn auf seine Oberschenkel und antwortete: »Warum die Frau da so schön ist? -  Weil Gott sie angeschaut hat!«

 

 

Wir alle leben vom Angeschautwerden. Nicht angesehen werden, übersehen werden, nicht wahrgenommen werden verunsichert uns unserer selbst.

 

Hilde Domin sagt es in einem ihrer Gedichte so:

 

Dein Ort ist

wo Augen dich ansehn.

Wo sich die Augen treffen

entstehst du.

 . . .

Es gibt dich

weil Augen dich wollen,

dich ansehn und sagen

daß es dich gibt.                                   (Hilde Domin, Gesammelte Gedichte ,1987)

 

 

Von dem einfachen, doch charismatischen Pfarrer von Ars wird erzählt, dass er oft stundenlang still in der kleinen Dorfkirche saß und auf die Frage, was er da mache, nur antwortete: »Er schaut mich an, und ich schaue ihn an.«

 

Schauen heißt mehr als sehen. Es bedeutet in den Blick nehmen, mit den Augen verweilen. Einen Menschen anschauen heißt sich ihm zuwenden, auf Augenhöhe mit ihm gehen. Oder wie John O’Donohue es schön formulierte: »Wenn wir etwas mit ungeteilter Aufmerksamkeit anblicken, holen wir es in uns hinein.«  Das heißt, wenn wir so gesehen werden, so angeschaut werden, dann werden wir auch aufgenommen. Wirklich gesehen werden vermittelt uns ein Stück Geborgenheit und Behütetsein.

 

Und wir hören, was mitschwingt, wenn Gott mich anschaut: Er schaut mich an so wie ich bin, in der Tiefe meiner Seele, in meinem personalen Kern; da zählt nicht, ob ich in der Welt wichtig bin oder nicht, ob ich arm bin oder reich, gesund oder krank, leistungsfähig oder hilfsbedürftig, unscheinbar oder prächtig.

 

Von IHM angeschaut zu werden macht schön.

Von IHM angeschaut zu werden macht groß.

Von IHM angeschaut zu werden lässt singen. Darum legt Lukas Maria dieses wunderbare Lied auf die Lippen:

»Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig.« (Lk 1, 46-49)

 

Wenn schon der liebende Blick von Mensch zu Mensch Leben ermöglicht, um wie viel mehr, wenn der Mensch sich Auge in Auge fühlt mit Gott, der die Liebe ist. Diese Erfahrung schenkt unbändige Kraft, tiefe Freude, schöpferische Lebendigkeit, manchmal explosionsartig, oft zart wachsend. 

 

Ich bin, weil Er mich ansieht.

Ich darf leben, was meins ist, weil Er mich ansieht.

Mein Ansehen von Ihm zu bekommen macht mich schön.

 

Am Ende des Gottesdienstes in der Aachener Jakobskirche entließ uns der Pfarrer mit den Worten: »Wenn Sie jetzt nach draußen gehen und dort ein Mensch Ihnen entgegenkommt, denken Sie daran: Gott hat auch ihn angeschaut!«

 

Feiern wir morgen in Freude Mariä Himmelfahrt!

 

Rosemarie Monnerjahn, 14. August 2020

 

 

Die Suche nach der perfekten Lösung

 

In den letzten Wochen hagelt es Kritik an den Lösungen und Maßnahmen, die Politiker, Ärzte und Virologen vorgeschlagen und eingeführt haben. Donald Trump mag zwar der prominenteste Kritiker dieser Art sein, aber scheinbar fällt es ihm nicht schwer, jede Menge Gefährten für das öffentliche Bejammern der unvollkommenen Lösungen zu finden.

Ich gebe gerne zu, dass keine der Maßnahmen oder Lösungen vollkommen ist. Masken helfen, aber sie können nicht immer Infizierung verhindern. Distanzierung zeigt sich wirksam, aber sie kann nicht garantieren, dass wir den Virus nicht bekommen.

Aber die Suche nach einer perfekten Lösung ist immer gefährlich, denn sie kann uns Leben, Freude, Liebe und Genuss kosten, wo sie uns geschenkt werden, nur weil sie nicht vollkommen sind. Aber wir können gut, sogar sehr gut leben mit unvollkommenen Lösungen.

So schenke ich Ihnen eine Weisheitsgeschichte, die uns helfen kann, etwas ruhiger zu werden, indem wir die Suche nach der perfekten Lösung aufgeben und die Suche nach den Angeboten des Lebens ernster nehmen.  Sie heißt: Nasrudin und die perfekte Frau.

 

Nasrudin, der weise Narr, trank gerade Tee, als ein Bekannter aufgeregt in sein Haus stürmte. „Nasrudin”, rief er freudestrahlend, „ich werde heiraten! Ich bin so glücklich. Sag, hast du jemals in deinem Leben ans Heiraten gedacht?“

Nasrudin blickte nachdenklich in die Ferne. „Ja“, sagte er nach einer Weile, „in meiner Jugend wollte ich sehr gerne heiraten. Ich suchte lange nach der perfekten Ehefrau und der besten aller Mütter für meine zukünftigen Kinder.

Auf der Suche nach ihr, reiste ich viel umher und schließlich glaubte ich sie gefunden zu haben. Es war in Damaskus. Sie war bezaubernd schön. Ihre Haare waren schwarz wie Ebenholz und ihre Lippen so rot wie Granatapfelkerne.  Aber nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich war sie schön. Ihr Herz war gütig und ihr Wesen sanftmütig und darüber hinaus suchte sie nach den tiefen Wahrheiten des Lebens. Sie war wirklich großartig, einmalig, und wunderschön“. Dann seufzte Nasrudin. „Doch leider war sie nicht gebildet. Natürlich heißt das, dass sie nicht die perfekte Frau sei. Und so suchte ich weiter.

Meine Suche führte ich trotz aller Enttäuschung fort. Jahre später traf ich wieder eine Frau, diesmal in Kairo. Ich war sehr vorsichtig und nahm mir Zeit, eine genaue Meinung über sie zu bilden, aber je länger ich bei ihr war, umso mehr schien sie alle meine Wünsche zu erfüllen. Sie war sowohl spirituell interessiert als auch gebildet; die schönsten Gedichte der Welt kannte sie auswendig und es wurde mir bald klar, dass sie an allen Sieben Säulen der Weisheit gesessen hatte und dort lernte: sie war schön, ihre Haare schwarz wie Rabenfedern und ihre Lippen rot wie junge Kirschen; sie war anmutig und gleichzeitig sehr geheimnisvoll. Ich verliebte mich unsterblich in sie.“ Dann schwieg Nasrudin eine lange Zeit, bevor er fort fuhr. „Doch, mein Freund,  leider stellte sich heraus, dass sie einen Hang zur Eigensinnigkeit hatte und so stritten wir uns öfter. Nach einer Weile zog ich wieder weiter, denn unter diesen Umständen konnte sie nicht die Beste aller Frauen und Mütter sein.“

Und so erzählte Nasrudin weiter, von den Frauen, die er traf in Medina, Aleppo, Beirut, Istanbul und Amman. Allesamt hatten sie Haare schwarz wie die Nacht, wie Pech oder Kohle oder Tinte oder Kaffee mit Kardamom. Und jede dieser Frauen hatte Lippen rot wie Scharlach gefärbtes Tuch, wie sonnengeküsste Tomaten, wie das Paprikagewürz der Händler des Souk, wie Rosen oder wie Blut.

Und doch waren sie alle nicht perfekt. Die eine entpuppte sich als gierig, die andere als knausrig. Eine war eifersüchtig, eine andere unklug, und wieder eine andere hinterlistig. Keine war am Ende die perfekte Frau.

Der kurz zuvor freudestrahlende Bekannte saß jetzt da, zutiefst betrübt und voller Traurigkeit für Nasrudin. „Ich glaube, ich verstehe dich, mein Freund. Du willst mir damit sagen, dass du deine Zeit vergeudet hast. Es gibt keine perfekte Frau. Und damit willst du auch mich warnen, damit ich mir nichts vormache und glaube, trotzt meiner Freude und meinem Verliebtsein, dass ich sie gefunden habe!“

Nasrudin schaute hoch und blickte den jungen Mann direkt an. „Aber nein, mein junger Freund. Aber nein! Das ist überhaupt nicht, was ich dir sagen möchte. Ganz im Gegenteil. Schließlich traf ich die perfekte Frau. Es war in Bagdad. Sie war noch anmutiger und schöner, als ich sie mir in meinen Träumen vorgestellt hatte. Ihre Haare waren schwarz, aber für diese Farbe haben unsere Dichter noch kein Wort gewoben. Und ihre Lippen waren eine Schattierung von Rot, die keine Blüte und keine Pflanze je hervorgebracht hat. Zudem war sie gebildet wie ein Großwesir und wohlhabend wie der Kalif. Sie wusste ihre Gäste klug zu unterhalten, so dass Engel den Himmel vergaßen. Gleichzeitig war sie von einer tiefen Liebe zu Gott erfüllt, die dem Allerheiligsten und Barmherzigsten, gelobt sei sein Name, das Herz erweiterte. Ach, sie war die perfekte Frau.”

Mit großer Erleichterung in der Stimme und vor Neugier geweiteten Augen lehnte sich der Bekannte nach vorne. „Und“, fragte der junge Mann gespannt, „hast du sie geheiratet?”

Nasrudin schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, mein Freund, leider nicht“, murmelte er.

„Zum Teufel“, schrie der junge Mann ungehalten und vergaß sich. „Du alter Narr. Was konntest du denn bei dieser auszusetzen gehabt haben? Wie konntest du sie nicht heiraten?“

Nasrudin schaute ihn traurig an. „Nun ja, mein Freund, zu meinem Unglück war sie auf der Suche nach dem perfekten Ehemann.”

 

Erik Riechers SAC, 12. August 2020

 

 

Leben durch Verwandlung

 

Dieser erste Pandemiesommer stimmt sehr nachdenklich. Es gibt vielerorts ein wortloses Zurück zu alten Feriengewohnheiten, laut werden Proteste in die Welt geschrien gegen angebliche Verschwörungstheorien und vermeintlich übertriebene staatliche Verordnungen. Doch wem dient dies? Wo wächst Leben aus Ignoranz und Selbstbezogenheit? Starrheit fällt mir auf in vielen Gesichtern und Aussagen. Noch nie aber haben Starrheit und Härte zu mehr Leben geführt. Im Gegenteil! Leben hat immer mit Verwandlung zu tun und setzt die Bereitschaft voraus, sich wandeln zu lassen. Wollen wir das?

Antoine de Saint-Exupéry sagte einmal: »Du bist nichts als Weg und Durchgang und kannst nur von dem leben, was du verwandelst. Der Baum verwandelt die Erde in Zweige. Die Biene die Blüte in Honig. Und dein Pflügen die schwarze Erde in das Flammenmeer des Getreides.« (in: Die Stadt in der Wüste, Citadelle)

Die Geschichten Gottes und des Glaubens sind voller Wandlungserzählungen. Menschen bringen das, was sie vermögen, ins Spiel und erleben, dass Gott das Seine tut und eine Wandlung geschieht, die dem Leben dient und zur Fülle führt.

Stellen wir uns vor, die Diener bei der Hochzeit zu Kana hätten sich stur gestellt. Warum und wozu sollten sie in dieser Phase der Feier 6 Krüge mit je 100 Liter Wasser füllen? Was sollte das für einen Sinn haben? Doch in Joh 2 wird uns erzählt, dass sie es tun. Was dann geschieht, lässt das Fest in Freude und neuer Fülle weitergehen. Alle können leben von dem, was verwandelt worden ist, von Wasser zu Wein, von dem, was Menschen mühevoll bereitstellten zu dem, was Leben feiern lässt.

Wir alle leben von Verwandlung. Gestern begingen wir den Todestag von Edith Stein, einer Frau, die sich wandeln ließ, die ein Weizenkorn werden konnte. Als hochgebildete Gelehrte jüdischer Herkunft und promovierte Philosophin ergriff sie 1917 eine Erfahrung, die sie zu verwandeln begann. Ein Studienfreund war im Krieg gefallen und sie machte sich auf den Weg, in Bergzabern seine Witwe zu besuchen. Sie sorgte sich sehr, wie diese Begegnung ausfallen würde angesichts des Schmerzes und der Trauer. Was würde sie der aufgewühlten Frau sagen können? Doch sie traf auf eine Frau, die stark und fest in ihrem Glauben stand und so ihr Kreuz trug. in diesem Augenblick, erzählte Edith Stein später, sei ihr Judentum verblasst, ihr Unglaube zusammen gebrochen und der Glaube im Erlöserleiden Jesu aufgeschienen. Das war ihre erste Begegnung mit dem Kreuz und sie ließ sich darauf ein, was dadurch in ihr geschah. Sie suchte, sie las, schließlich wurde die Autobiografie von Teresa von Avila ihr Wendepunkt und sie ließ sich 1922 taufen.

Diese hochgebildete Frau hielt nicht ihr Wissen für das Höchste oder stellte ihre Erkenntnisse über alles. Sie hatte ein offenes, suchendes Herz, das bereit war für Begegnung und Wandlung.

Das Weizenkorn, das in die Erde fällt, wehrt sich nicht und hält nicht starr daran fest, so zu bleiben, wie es ist. Es lässt sich ein auf die neue Umgebung und lässt mit sich geschehen. Die harte Schale bricht auf und Leben für viele kann wachsen.

Mögen wir nicht hart bleiben oder werden in dieser langen Krisenzeit. Mögen wir nicht stur festhalten an dem, was uns vermeintlich zusteht. Wir könnten ruhig vertrauen, dass in uns und durch uns Wandlung geschieht.

Wir alle leben davon!

 

Rosemarie Monnerjahn, 10. August 2020

 

 

Wo hören wir die Stimme Gottes?

19. Sonntag A 2020

 

1 Könige 19, 9-13

Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm,

der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus.

Doch der Herr war nicht im Sturm.

 

Nach dem Sturm kam ein Erdbeben.

Doch der Herr war nicht im Erdbeben.

 

Nach dem Beben kam ein Feuer.

Doch der Herr war nicht im Feuer.

 

Nach dem Feuer

kam ein sanftes, leises Säuseln.

Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus

und stellte sich an den Eingang der Höhle.

 

Wo hören wir die Stimme Gottes?

In der heutigen Erzählung aus dem Ersten Buch der Könige werden vier Bilder für die Gegenwart Gottes benannt: Sturm, Erdbeben, Feuer und ein leises Säuseln.

Sturm, Erdbeben und Feuer sind die drei klassischen Bilder der Gegenwart Gottes. Sie waren alle drei auf dem gleichen Berg anwesend, auf dem sich Elija befindet (Berg Horeb ist nur ein anderer Name des Berges Sinai), als Mose die Zehn Worte von Gott erhielt.

Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern. Mose führte das Volk aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der HERR war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig.

Exodus 19, 16-18

Wenn der Prophet Jesaja vom Kommen der Gegenwart Gottes spricht, verwendet er dieselben mächtigen Bilder.

Vom HERRN der Heerscharen wirst du mit Donner und Getöse und mit lautem Dröhnen heimgesucht, mit Wind und Wirbelsturm und mit Flammen verzehrenden Feuers.

Jesaja 29, 6

Diese drei Bilder der Gegenwart Gottes haben alle drei etwas gemeinsam: sie besitzen genug Macht und Gewalt, um sich Gehör verschaffen. Sie können uns zwingen, aufmerksam zu sein. Sie können uns zwingen, Richtungen und Wege einzuschlagen, die wir nicht unbedingt gehen möchten.

In der recht seichten Übersetzung der heutigen Lesung wird von einem sanften, leisen Säuseln gesprochen. Aber hier fehlt ein wichtiger Teil des Urtexts, denn im Hebräischen wird hier immer von einer Stimme gesprochen. Sie ist zwar leise und sanft, aber sie ist eine Stimme. Martin Buber übersetzt die Stelle so: »aber nach dem Feuer eine Stimme verschwebenden Schweigens.«

Das ist nicht unbedeutend für die Erzählung Gottes. Die letzte Erfahrung hebt sich nämlich in zweierlei Weise von den ersten drei Erfahrungen ab. Sie ist leise und sanft, wo die anderen laut und gewaltig sind. Aber sie ist auch eine Stimme, verbunden mit einem Sprecher, wobei die ersten drei nur Geräusche von sich geben. Ein Säuseln wäre nur noch ein Geräusch. Elija reagiert nicht nur auf das Sanfte und Leise, sondern auf eine Stimme. Denn wo es eine Stimme gibt, da gibt es die Möglichkeiten der Verständigung, der Kommunikation und der Beziehung

Aber gegen die lautstarken und gewaltigen Erfahrungen von Sturm, Erdbeben und Feuer hat eine Stimme verschwebenden Schweigens kaum Chancen. Sie kann mit Leichtigkeit überhört werden, ausgeblendet werden, ignoriert werden. Und sie hat weder die Macht noch die Anziehungskraft, um sich Gehör zu verschaffen.

Eine Stimme verschwebenden Schweigens hat nur eine Chance, wenn wir ihr Raum und Möglichkeit schenken. Eine solche Stimme kann wahrgenommen werden, wenn wir hinhören, wenn wir lauschen. Darum sagen die Kelten, dass das Hinhören die erste Ehrfurcht ist.

Es geht hier nämlich nicht alleine darum, wie laut und penetrant die Stimme Gottes in der Welt ist: hier geht es um die Form und Qualität unserer Aufmerksamkeit.

Wir sind es gewohnt, dass unsere Aufmerksamkeit geholt und gehalten werden sollte. Gerade in dieser Zeit der großen Müdigkeit mit Corona und den damit verbundenen Einschränkungen wird der Ruf danach wieder lauter: »Unterhalte mich, überzeuge mich, erwecke und erhalte meine Interesse«. Mit anderen Worten, hole und halte meine Aufmerksamkeit. Wer das kann, schafft sich Gehör.

Bevor wir die Schultern zucken und das abtun mit »So ist die Welt«, sollten wir zumindest lange genug innehalten und den Preis ehrlich benennen, den eine solche Haltung mit sich bringt. Noch wichtiger, sollten wir klar und deutlich zugeben, wer diesen Preis bezahlt. Denn in einer Welt, in der nur die sich Gehör verschaffen können, die unsere Aufmerksamkeit holen und halten können, gibt es eine erschütternde Kehrseite. Wer es nicht kann, ist geliefert. Denn die Armen, die Flüchtlinge, die Vertriebenen, die Jugend, die Alten, die Gebrechlichen, die Kranken, Obdachlosen, Hungrigen und Heimatlosen können unsere Aufmerksamkeit weder holen noch halten. Sie können uns nicht unterhalten. Und darum wird ihre Stimme verschwebenden Schweigens auch meistens nicht gehört.

Darum ist und bleibt es wahr: Hinhören ist die erste Ehrfurcht. Denn es gibt eine zweite Form der Aufmerksamkeit: Ich kann einem Menschen meine Aufmerksamkeit schenken. Das nennen wir Achtsamkeit. In der Achtsamkeit bestimmt die Fähigkeit des anderen nicht, ob ich ihn höre, sondern ich ergreife die Initiative and schenke meine Achtsamkeit, bewusst und gewollt. Aufmerksamkeit wird geholt. Achtsamkeit wird geschenkt. Goethe hat es erfasst: »Denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, dass sie im Augenblick das Nichts zu allem macht.«

Warum würde ich eine Stimme verschwebenden Schweigens meine Achtsamkeit schenken? Weil hinter einer Stimme ein Sprecher steckt und ich mich dafür entscheiden kann, diesem Sprecher, sei er Gott oder ein Mensch, mit Ehrfurcht zu begegnen. Weil der Sprecher Wert, Würde und Sinn besitzt. Weil er geliebt und gewollt ist.

So kann eine Stimme verschwebenden Schweigens uns aus der Höhle herauslocken, damit wir uns Gott stellen. Denn Gott kann sich Gehör verschaffen. Immerhin hat er es vorher getan in Sturm, Feuer und Erdbeben. Aber diese Stunde ist eine Stunde der Klärung, denn auch Gott möchte wissen: Würden sie lauschen, mir ihre Achtsamkeit schenken, wenn ich sie nicht zwinge?

Die Nachrichten dieser Tage zerren uns ständig hin und her zwischen Sturm und einer Stimme verschwebenden Schweigens.

Der Bürgerkrieg in Syrien, die Flüchtlinge ohne Hab und Gut, die Kranken, die um Atem und Leben ringen, die Trauernden, die ihre Toten nicht einmal verabschieden konnten, aber auch Obdachlose und Arme auf der Straße und Witwen, deren Kinder nicht mehr nach Hause kommen werden: sie können unsere Aufmerksamkeit nicht holen und halten. Sie werden geachtet und geholfen nur, wenn wir ihnen unsere Achtsamkeit schenken.

Wo hören wir die Stimme Gottes?

 

O Gott der weicheren Töne,

Du hast mit der Stimme verschwebenden Schweigens zu Elija gesprochen.

Webe Deine Worte flüsternd um uns herum,

dass wir uns mit intensiver Neugier hineinlehnen mögen anstatt uns mit selbstzufriedenem Sättigungsgefühl zurücklehnen.

Du, dessen sanfte Stimme uns aus unseren Höhlen und Verstecken lockt, in unserer Zeit und an allen Tagen.

Amen.

 

Erik Riechers SAC, 9. August 2020

 

 

Neue Wege, neue Handlungen, ein neuer Blick

 

Immer wieder wünschen wir Menschen uns dies: endlich einmal etwas anderes zu tun, eine neue Richtung einzuschlagen, eine neue Sichtweise zu gewinnen und zu leben. Doch das Altvertraute hält uns fest, wir wiederholen und üben das, was wir immer tun, es ist bequemer und es erscheint uns sicherer.

Nun sind wir als Einzelne und als Gesellschaft seit März vor große und für uns alle neue Herausforderungen gestellt. Die weltweit aktive Gefahr des Covid19-Virus zwingt uns neue Handlungsweisen auf, neue Wege und eine veränderte Sichtweise auf vielerlei Selbstverständlichkeiten des Lebens. Viele von uns nehmen es an und bleiben beharrlich dabei. Viele schienen es anzunehmen und danach zu leben, aber irgendwann bröckelte es und es zeigte sich: es werden wieder die altbekannten Wege eingeschlagen zu Parties und Familienfeiern, auf beliebte Plätze in der Stadt und an viele Orte mehr.

Die vertrauten Handlungsweisen werden wieder geübt und die über lange Jahre geübte Sichtweise des Egoismus und der Egozentrik waren nicht wirklich verändert und brechen sich nun wieder Bahn.

Warum also führt die Krise, wie anfangs so manch einer gehofft hatte, nicht zum Segen?

Weil wir nicht wirklich aufbrechen wollen.

Schauen wir eine Urgeschichte des Glaubens an:

Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen. Da ging Abram, . . .             (Gen 12, 1-4)

Gott fordert Abram zu einem dreifachen Aufbruch auf und wir überfliegen es gern. Er soll aus seinem Land, seiner Verwandtschaft und seinem Vaterhaus aufbrechen. Aus meinem gewohnten Land aufzubrechen heißt neue, bisher nie von mir begangene Wege zu beschreiten, meine Füße auf unbekannten Boden zu setzen und eine ganz neue Richtung einzuschlagen.

Die Verwandtschaft zurückzulassen heißt, mutig neue Handlungen zu wagen und nicht bloß das zu tun, was üblich ist, was ich bisher immer tat und was die anderen von mir kennen und erwarten.

Das Vaterhaus zu verlassen erfordert von mir, wirklich erwachsen zu werden. Dann übernehme ich nicht bloß die Denk- und Sichtweisen meiner Familie, sondern ändere meinen Blick auf mich, auf die, für die ich Verantwortung habe, ja auf das ganze Leben. Dann lass ich mich auf eigene Erfahrungen ein, bedenke und deute sie und gewinne meinen eigenen Blick.

Gottes Verheißung ist eindeutig: DANN wirst du groß werden, gesegnet sein und Segen bringen. Wir könnten es auch anders sagen: Wenn du tust, was aus dir heraus kommt und vielleicht ganz neu von dir gefordert wird, wenn du deine Pfade gehst und nicht auf ausgetretenen Wegen, wenn du lebst, was in dir ist und eigene Sichtweisen gewinnst, dann gewinnst du Leben, dann bricht neues Leben aus dir hervor und Segen kommt in die Welt durch dich.

 

Rosemarie Monnerjahn, 7. August 2020

 

 

Das Zeichen des Jona

 

Da fingen einige von den Schriftgelehrten und Pharisäern an und sprachen zu ihm: Meister, wir möchten gern ein Zeichen von dir sehen. Und er antwortete und sprach zu ihnen: Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden, es sei denn das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein. Die Leute von Ninive werden auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona.

Mt 12,38-41

 

Die Schriftgelehrten und die Pharisäer sind nicht die einzigen, die gerne ein Zeichen sehen würden. Zu irgendeiner Zeit haben wir uns alle ein Zeichen gewünscht. Wir hätten gern ein Zeichen, das uns entlastet. Das Zeichen sollte uns eine strahlende Klarheit schenken, uns aus einer verzwickten Geschichte herausholen, uns ein Problem abnehmen oder eine Krise lösen.

Die Antwort Jesu ist es lediglich das Zeichen des Propheten Jona zu versprechen, und das ist gar nicht, was wir im Sinne haben, wenn wir von einem Zeichen träumen. Denn der Prophet Jona wird nicht aus einer verzwickten Situation herausgeholt, sondern bewusst ins Herz der Situation hineingesandt. Er sollte dorthin gehen, wo er nicht hin möchte. Das Problem wird ihm nicht abgenommen, sondern er muss ein Problem annehmen, das er weit von sich weisen möchte. Gott löst keine Krise für ihn, sondern vertraut ihm diese Krise an.

Drei Tage wird Jona im Bauch des Fisches sein. Das war ein wichtiger Teil seiner Auseinandersetzung mit dem, was Gott ihm anvertraute. Nichts wird ihm erspart. Sehr viel wird ihm zugemutet. Er muss Dunkelheit, Unsicherheit, Zweifel und Angst durchstehen. Und während diese Klärungsprozesse laufen, wird er dorthin gebracht, wo die Menschen ihn brauchen.

Dieses Bild sieht Jesus als ein Bild seines eigenen Weges. Der Menschensohn wird im Schoß der Erde dorthin gebracht, wo er Dunkelheit, Unsicherheit, Zweifel und Angst durchstehen muss, um dann, in der Auferstehung, dorthin gebracht zu werden, wo seine Menschen ihn brauchen.

Das ist das einzige Zeichen, das uns gegeben wird. Wir wollen ein Zeichen Gottes für unseren Weg, gerade in einer Krisenzeit wie dieser. Jedoch werden auch wir Dunkelheit, Unsicherheit, Zweifel und Angst durchstehen, um dorthin hingebracht zu werden, wo Gottes Menschen uns brauchen.

Menschen, die diesen Weg meiden, die dieser Erfahrung mit aller Kraft aus dem Wege gehen, werden am Ende nicht dort stehen, wo Menschen sie brauchen. Sie wollen verschont bleiben, aber wie Hilde Domin es so trefflich formuliert: »Der Wunsch verschont zu bleiben taugt nicht!«. Das ist auch gut so, denn verschont zu werden ist das Grundrezept für die Unreife. Wer verschont bleibt, lernt nicht, wächst nicht. Wer verschont bleibt, entdeckt nie, was an Potential, Macht, Talent und Verwandlungskraft in ihm steckt. Wer unberührt bleibt, bleibt auch unbewegt. Verschont zu bleiben führt nicht zur Ruhe, sondern zur Lähmung.

Denn um verschont zu bleiben müssen wir die Menschen meiden. Jona wollte die Menschen von Ninive meiden. »Die Leute von Ninive werden auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen.« Warum? Weil sie ganz genau wissen, was ihnen passiert wäre, wenn Jona verschont geblieben wäre. Ihre Stadt, ihre Kinder und Familien und ihre Zukunft wären ausgelöscht worden. Das ist was auf dem Spiel steht, wenn wir Menschen meiden, um uns zu schonen.

Die Müdigkeit, die wir spüren in diesen langen Tagen der Coronakrise, löst schnell den Wunsch nach einem Zeichen aus. Auch wir werden nur das Zeichen des Jona bekommen. Und das ist gut so. Wenn wir in Krise sind, von wem erwarten wir Hilfe? Sicherlich nicht von denen, die nur verschont bleiben wollen, denn sie werden uns meiden, um nicht von unseren Fragen, Sorgen und Ängsten belastet zu werden. Im Bauch des Fisches, im Schoss der Erde, im Herzen der Krise werden wir die Menschen finden, von denen wir uns etwas erhoffen können.

Erik Riechers SAC, 5. August 2020

 

 

Die Angst vor dem Abenteuer: Ein Gebet

 

O Gott all unserer wilden und mäandrierenden Wege,

mein Herz verwelkt beim bloßen Gedanken an Abenteuer,

wenn ich die Geschichten meiner Welt höre.

 

Warum sind die Helden alle so einsam?

Warum  müssen ihre Abenteuer von keinem als sich selbst getragen werden?

Was ist so prächtig an ihrer Abgeschiedenheit?

Sogar ihre Statuen stehen einsam über der bewundernden Menge.

 

Ein Abenteurer zu sein in deinen Geschichten ist kein Soloauftritt

Du schreibst keine Stücke für einen Schauspieler.

Deine Besetzung ist grandios in dem Umfang der Charaktere.

Mose‘ Lied hatte Miriams Tanz.

Während Davids Können eine Nation rettete, hat Jonathans Treue seinen Freund gerettet.

Esters Zaghaftigkeit hatte Mordechais Wagemut.

Rut hatte Naomi.

Maria hatte Josef.

Jesus hat uns.

 

Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

(Auch Saulus hatte Hananias)

Keine Wege, die ich gegangen bin, wurden je durch Einsamkeit erleichtert.

Abenteuer ohne Gefährten sind Alpträume.

Abgeschiedenheit ist nur unbegleiteter Schrecken.

Ich stehe lieber in der Beherbergung meiner Schwestern und Brüder.

 

O Gott all unserer wilden und mäandrierenden Wege,

mein Herz erblüht beim bloßen Gedanken an Abenteuer,

wenn ich die Geschichten deiner Welt höre.

 

Erik Riechers SAC, 3. August 2020

 

 

Eine gegenseitige Hilfe

18. Sonntag A 2020

 

Die Speisungsgeschichte des Evangeliums wird fast ausschließlich gesehen als ein Beispiel, wie Jesus seinen Menschen hilft. Aber wäre es denkbar, dass diese Geschichte uns auch ein Beispiel dafür gibt, wie wir Menschen Jesus mal zur Hilfe kamen? Könnte es sein, dass es hier um gegenseitige Hilfe und Stärkung geht?

 

Denn diese Geschichte beginnt mit einem erschütterten Jesus. »Als Jesus hörte, dass Johannes enthauptet worden war, zog er sich allein von dort mit dem Boot in eine einsame Gegend zurück.« Der gewaltsame Tod sowie die brutale Ungerechtigkeit gegen einen unschuldigen Freund haben Jesus zutiefst getroffen. Und so tut Jesus, was sehr viele schwer betroffenen Menschen vor und nach ihm getan haben: er zieht sich zurück. Er zieht sich von seiner Arbeit zurück. Er zieht sich von seinen Freunden und Mitmenschen zurück. Er braucht Zeit für sich und will erstmals allein sein.

 

Nun, auch wenn wir die Welt um uns herum nicht gerade gebrauchen können, oft braucht sie uns noch. Nirgendwo in der Geschichte wird angedeutet, dass Jesus genug Zeit hatte, um das alles aufzuarbeiten, was ihn bedrückt. Nirgendwo wird behauptet, dass er jetzt weniger betroffen ist als vorher. Aber die Volksscharen stehen jetzt vor ihm. Diese Menschen sind auch betroffen von der Nachricht der Hinrichtung des Johannes, von der Gewalttätigkeit ihres Königs und der brutalen Ungerechtigkeit der Mächtigen gegenüber einem Unschuldigen aus ihren Reihen.

 

Die Volksscharen gehen jedoch einen anderen Weg. Während Jesus sich zurückzieht in die Einsamkeit, bewegt sich die Menge zu einem gemeinsamen Unternehmen, zur gemeinsamen Handlung. Angesichts des gewaltsamen Todes des Johannes haben sie die Hoffnung auf Leben, Heil und Rettung nicht aufgegeben. Sie ziehen sich nicht zurück, sondern brechen auf. Sie suchen nicht die Einsamkeit, sondern die Begegnung. Machtmissbrauch und Missachtung der Gerechtigkeit haben in ihnen einen Hunger geweckt nach mehr Leben in einer Welt, wo zu viel getötet wird; nach mehr Heil in einer Welt, wo zu viel Unheil ausgerichtet wird; nach mehr Gerechtigkeit in einer Welt, in der zu viel Willkür herrscht, nach mehr Mitleid in einer Welt, wo zu viel Gnadenlosigkeit herrscht. Was sich hier mehrt ist nicht die Anzahl der Brote, sondern der Hunger des menschlichen Herzens.

 

Der Jesus, der sich zurückgezogen hatte, begegnet jetzt Volksscharen, die hungern nach mehr Leben. Und diese Begegnung scheint etwas in ihm zu verändern. Er sieht die vielen Menschen und was er ihn ihnen sieht, erweckt Mitleid statt Rückzug. Der Hunger nach Leben in der Menge erweckt Lust nach Heilung in Jesus. Diese Begegnung ist ein gegenseitiger Segen, denn beide Seiten werden zutiefst in eine Welt hingezogen, in der Heil, Leben und Rettung die maßgebliche Rolle spielen, und das, nachdem sie eine Welt erlebt hatten, in der Gewalt, Ungerechtigkeit und Willkür alles zu bestimmen schienen.

 

In dieser Begegnung erkennt Jesus sehr vieles in seinen Mitmenschen, auch ihr Potential. Es wird Abend und es gibt hier nichts zu essen. Der Ort, an dem sie sich befinden, wird ähnlich beschrieben wie der Ort, den Jesus ursprünglich aufsuchte, als er alleine sein wollte: abgelegen, einsam, verlassen. Die Jünger schauen sich den Ort an und kommen zu dem Schluss, dass hier kein Potential ist, hungernde Menschen zu sättigen und zu nähren. Jesus schaut sich die Menschen an diesem Ort an und erkennt etwas mehr: »Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!«

 

Die Beschreibung der biblischen Erzählung bleibt deutlich nüchterner als die Sprache der Gläubigen. Es wird nie von einer Brotvermehrung gesprochen und auch nicht von einem Wunder. Es wird sehr wohl von der Bereitschaft zum Teilen gesprochen und von einem rhythmischen Geben und Nehmen und Geben: Die Jünger geben Jesus fünf Brote und zwei Fische. Jesus nimmt sie, segnet sie und bricht die Brote. Dann gibt er den Jüngern die fünf Brote. Sie nehmen sie und geben sie der Menge. Die Menge nimmt das gebrochene Brot an und isst, aber sie selbst gibt, was übrig bleibt, den Jüngern am Ende zurück. Im Laufe der Geschichte sind alle Beteiligten mal Geber und Nehmer. Auch hier beruht die Geschichte auf einer Begegnung, die zum gegenseitigen Segen führt. Und wieder entsteht mehr Leben als vorher.

 

Ich glaube, dass in der gegenseitigen Begegnung zwischen Jesus und seinen Menschen eine transformative Kraft liegt, die jeden in der Begegnung verwandelt. Jesus und die Menschen lernen, dass Menschen wie Herodes die Kräfte der Liebe und der Gerechtigkeit nicht töten können, die Johannes ausgelöst hatte. Auch an einsamen Orten des Lebens werden sie den Geist nicht auslöschen können. Die Menschen, die bei den Festmählern in Palästen über Leben und Tod entscheiden als wäre es ein Spiel, werden die Bereitschaft zur Begegnung und zum Teilen nicht töten können. Und sei die Stunde auch spät, es gibt Möglichkeiten, Hunger zu stillen, der Ungerechtigkeit machtvoll die Stirn zu bieten und uns gegenseitig zu begegnen und zu berühren mit Erbarmen und Wohlwollen. Von alledem haben die Bewohner der Paläste keine Ahnung.

 

Und wir? Was wollen und werden wir zur Begegnung mitbringen, die Gott und den Menschen verwandelt? Wie werden wir mit Jesus Antwort geben auf Gewalt und Ungerechtigkeit in unserer Zeit? Werden wir von Corona, Rassismus, Machtmissbrauch und Missachtung der Menschenrechte passive, zurückgezogene Menschen, oder werden wir aufbrechen mit einem Hunger nach Heil und Leben, suchend nach einem, der diesen Hunger mit uns teilt?

 

Ich begann meiner Predigt mit zwei Fragen: Wäre es denkbar, dass diese Geschichte uns auch ein Beispiel dafür gibt, wie wir Menschen Jesus mal zur Hilfe kamen? Könnte es sein, dass es hier um gegenseitige Hilfe und Stärkung geht? Ich bin fest davon überzeugt, dass dies weder eine Lektion ist, die Jesus seinem Volk beigebracht hat, noch eine Lektion, die das Volk Jesus gelehrt hat. Es ist eine Lektion, die wir uns gegenseitig beibringen, geboren aus Begegnung, Berührung und Beziehung. Im Stundengebet beginnen wir mit der Bitte: O Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile mir zu helfen. Es tut meinem Herzen gut zu wissen, dass ich manchmal zu seiner Hilfe kommen kann und mich beeilen kann, ihm zu helfen.

 

ERIK RIECHERS SAC

Vallendar, den 02. August 2020

 

 

Gegen die Ausbeutung

 

Diese Zeit der Pandemie bringt viel Bedrückendes mit sich. Was mich besonders erschüttert ist, dass auch in dieser Situation es Menschen gibt, die bereit sind, Menschen in der Not auszubeuten. Sie bieten Heilmittel an, die nicht wirken oder versuchen Geld daraus zu machen mit Schwindel. Der Prophet Hosea erhob seine Stimme gegen solche Ungerechtigkeit und prägte dabei ein bedeutendes Wort:

Denn sie säen Wind,

und sie ernten Sturm.

(Hosea 8,7)

 Dieses Wort hilft uns, den Gott zu verstehen, der sein Herz im Buch Exodus (22, 20-25) ausschüttet. Fremden, Witwen und Waisen sollten seine Menschen weder ausnützen noch ausbeuten.

 

Hier ist die Warnung nicht nur, dass wir andere Menschen nicht missbrauchen sollten, sondern dass wir die momentane Situation, in der sie sich befinden, nicht zu unserem Vorteil ausbeuten. Denn Fremde, Waisen und Witwen sind in Situationen geraten, wo sie leicht Beute sind. Und solche Situationen locken skrupellose Menschen, die Gunst der Stunde zu gebrauchen, um sie zu manipulieren. »Jetzt haben wir sie endlich, wo wir sie haben wollen.«

 

Wer diesen Wind sät, wird Sturm ernten. Denn Gott sagt: »Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.« Menschen dieser Art werden am eigenen Leib lernen, was es bedeutet, diese Armut, diese Hilflosigkeit und diese Ohnmacht auszubeuten. Wer ungerecht handelt und lebt, wird auf Dauer davon nicht profitieren. Wer andere vertreibt, erntet nicht fruchtbares Land, sondern Wüste.

 

»Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin sollte er sonst schlafen.« (Ex 22, 26-27) Diese Worte sind besonders schwerwiegend. Sie beinhalten alles, was Gott verabscheut an menschlicher Gier, Kaltherzigkeit und Ausbeutung.

 

Es gibt auch kein Behalten des Mantels als Pfand nach Sonnenuntergang. Viele werden sich damals gefragt haben: Warum nicht? Das ist doch einfach gute Geschäftspraxis. Aber es ist wieder das Ausnutzen und die Ausbeutung der Situation eines anderen. Und wieder sagt Gott: »Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.« Wer solchen Wind sät, erntet Sturm. Er wird dadurch nicht reich, nicht glücklich und nicht befriedigt.

 

Denn das Bild sagt:

Wehe, du nimmst einem Menschen das, was ihm Wärme schenkt: denn dann bist du dafür verantwortlich, dass mehr Kälte in die Welt und in den Menschen dringt.

Wehe, du nimmst einem Mensch das, was ihn schützt: denn dann bist du dafür verantwortlich, dass Menschen bloßgestellt worden sind. 

Wehe, du nimmst einem Mensch das, was ihm Heimat schenkt, worin er sich einhüllen kann, um Ruhe und Rast zu finden: dann bist du dafür verantwortlich, dass Menschen obdachlos und ausgeliefert in die Nacht des Lebens ziehen müssen.

  

Gott sagt: »Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.«

Denn sie säen Wind,

und sie ernten Sturm.

 Das ist keine Drohung. Das ist ein Versprechen.

 

 Erik Riechers SAC, 31. Juli 2020

 

 

HERR, wohin sollen wir gehen?

 

Wenn Menschen Walter Burghardt SJ fragten, wie sie persönlich vollständiger und tiefer aus dem gerechten Wort der biblischen Geschichten heraus leben könnten, sagte er ihnen gern, sie sollten sich Frauen und Männern der Gerechtigkeit anfreunden. Lesen Sie ihre Worte, hören Sie zu, wie sie sprechen, tauchen Sie in ihre Geschichten ein. Ich war oft zutiefst dankbar für seinen weisen Rat. Jedoch, je älter ich werde, gehe ich einen Schritt weiter. Freundschaft zu schließen mit Männern und Frauen der Gerechtigkeit bedeutet, sich mit Männern und Frauen der Hoffnung anzufreunden, denn der schwierigste Teil der Gerechtigkeit besteht darin, die Hoffnung am Leben zu erhalten.

Unter den berühmtesten Zitate aus Dante Alighieris Werk Inferno, ist die Zeile »lasciate ogne speranza, voi ch'intrate«, meistens übersetzt als »Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren«. Das sind die Worte über die Tore der Hölle.

Ich habe Verständnis für diesen Satz. Er drückt eine tiefe Wahrheit über die Höllen aus, die wir Menschen durch Geiz und Neid erschaffen, durch Selbstabsorption und den Hass, der zu zahlreich ist, um ihn zu aufzuzählen. Und diese Wahrheit ist brutal einfach: Jede Hölle, die jemals geschaffen wurde, entzieht dem menschlichen Herzen Hoffnung.

»Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren«. Ich habe Verständnis für diesen Satz. Aber ich habe die größte Bewunderung für diejenigen, die sich geweigert haben, sich daran zu halten. Ich habe versucht, mich mit den Männern und Frauen anzufreunden, die diesem mahnenden Satz gesehen haben und trotzdem in die Hölle gegangen sind, um Leben und Hoffnung jenseits der aussaugende Kräfte der Hölle zu bringen.

Howard Zinn war ein solcher Mann. Als Historiker und Politikwissenschaftler an der Boston University war er ein leidenschaftlicher Schüler von Bürgerrechtsbewegungen und Friedensbewegungen. Dem Rat von Walter Burghardt folgend, las ich seine Memoiren You Can’t Be Neutral on a Moving Train. Mit jedem Umblättern wuchs meine Bewunderung. Lassen Sie mich meine Lieblingsstelle aus diesem Buch mit Ihnen teilen, und vielleicht werden Sie verstehen, warum.

»In schlechten Zeiten hoffnungsfähig zu sein, ist nicht nur töricht romantisch. Es basiert auf der Tatsache, dass die menschliche Geschichte nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit ist, sondern auch des Mitgefühls, des Opfers, des Mutes und der Freundlichkeit.

Was wir in dieser komplexen Geschichte hervorheben, wird unser Leben bestimmen. Wenn wir nur das Schlimmste sehen, zerstört dies unsere Fähigkeit, etwas zu tun. Wenn wir uns an jene Zeiten und Orte erinnern - und es gibt so viele -, an denen sich die Menschen großartig verhalten haben, gibt uns dies die Energie zum Handeln und zumindest die Möglichkeit, diesen Kreisel einer Welt in eine andere Richtung zu schicken.

Und wenn wir so handeln, in egal wie klein eine Art und Weise, müssen wir nicht auf eine großartige utopische Zukunft warten. Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Heutes, und jetzt so zu leben, wie wir denken, dass Menschen trotz allem, was um uns herum schlecht ist, leben sollten, ist selbst ein wunderbarer Sieg.« *

»Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren«. Ich habe Verständnis für diesen Satz. Aber ich habe die größte Bewunderung für diejenigen, die sich geweigert haben, sich daran zu halten, Menschen wie Howard Zinn. Jedoch die größte Freundschaft, die ich mit einer Person geschlossen habe, die sich geweigert hat, diesen Satz einzuhalten, ist mit Jesus von Nazareth. Dies ist die tiefste Wahrheit des Satzes unseres Glaubensbekenntnisses: »Hinabgestiegen in das Reich des Todes.«

In diesen Tagen von Corona und dem Wehklagen über die zweite Welle könnten wir etwas mehr Zeit damit verbringen uns zu weigern, uns an den Satz zu halten »Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren« und mehr Zeit damit zu verbringen eine Geschichte »des Mitgefühls, des Opfers, des Mutes und der Freundlichkeit« zu schreiben

*Howard Zinn, You Can’t Be Neutral on a Moving Train

 

Erik Riechers SAC, 29. Juli 2020

 

 

Lass sie sein, wer sie sein werden I

 

Der jüngere Sohn

 

In seinem Buch The Spirit Master erzählt John Shea die Geschichte des Vaters und seiner beiden Söhne aus einer ungewöhnlichen und überraschenden Perspektive. Er lässt jeden Charakter die Geschichte aus seiner Sicht erzählen.

 

In diesen Tagen der Unsicherheit und der Zaghaftigkeit über Corona und die Zukunft ist eine ähnliche Dynamik im Gange. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Interpretationen darüber, was diese Erfahrung bedeutet. Einige empfinden nichts weiter als die Notwendigkeit, das wiederherzustellen, was ihnen in dieser Zeit genommen wurde. Andere fühlen sich tief verärgert über die Einschränkungen und Nöte, die diese Krise mit sich brachte. Und einige suchen nach einer tieferen Bedeutung, während sie auf den Ruf der Stunde im Dienst, in der Begleitung und in der Liebe zu ihren Gefährten auf der Reise antworten.

 

Dies wird eine dreiteilige Geschichte sein. Wir hoffen, dass Sie nicht nur in eine großartige Geschichte eintauchen, die von einem Meister des Erzählens erzählt wird, sondern auch in die Welt des Gleichnisses und seiner Möglichkeiten. Es wäre erfreulich, wenn wir mehr Verständnis und Einsicht aus der Geschichte gewinnen würden, die Jesus vor so langer Zeit erzählt hat. Es wäre erlösend, wenn wir durch die Geschichte in dem Moment, in dem wir gerade leben, auch an Verständnis und Einsicht gewinnen könnten.

 

Dann sagte Jesus: »Ein Mann hatte zwei Söhne. Der Jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf.«

 

Der jüngere Sohn

 

Beim Rindfleisch,

ist das Fleisch um den Knochen am besten.

Bei Frauen,

bevorzuge ich jedoch die plumpen Teile.

 

Was für ein Fest mein Vater schmeißt!

Ach, Bauch, wir sind zurück!

Kein zuschauen und knurren mehr,

während die Schweine fressen und schnauben

und ich beiße durch meine Lippe und sabbere

nach einem Biss von einem Johannisbrotschoten.

Aber ein Liebesschlag auf die unreinen Hinterteile!

Diese Schweine erinnern mich an meinen eigenen Futtertrog –

PAPA.

 

Ich habe eine Rede eingeübt,

ein Meisterwerk des Nuschelns.

Mit den Mundwinkeln nach unten gedreht,

und ein Auge voll Feuchtigkeit,

reumütig wie eine Hure mit Tripper:

Ich winsele:

 

„Vater, ich habe gegen den Himmel

und gegen dich gesündigt.“ (die Stimme stockt)

 

(Papa, dein kleiner Junge hat Mist gebaut

und es tut ihm so Leid

und er wird es nie wieder tun.

Wirklich, nie wieder!)

 

„Nimm mich nicht zurück als deinen Sohn,

sondern als einen Tagelöhner“

(Aber NIMM MICH ZURÜCK,

mein Bauch und ich flehen dich an,

du alter Papa

der großen Vorratskammern,

der ausgestopften Satteltaschen,

du weingetränkter alter Papa.)

 

Krieche ein wenig, um viel zu fressen:

Krieche auf deinen Bauch, um ihn zu füttern.

Das ist meine Philosophie.

 

Aber der alte Mann hat mir die Schau gestohlen.

Er überfiel mich mitten im Satz

Und ruinierte meine kluge Pose.

Aber das Drehbuch war magisch.

Eine Robe, ein Ring und Sandalen

erschienen plötzlich;

und dieses Fest fiel vom Himmel.

Es war als ob ich,

wie soll ich es sagen,

ein lang verlorener Sohn wäre,

ein toter Mann, der wieder lebendig wurde.

 

Aber ich vermute, Papa führt etwas im Schilde.

Niemand kann so glücklich sein

die Rückkehr eines Appetits zu sehen,

der ein halbes Erbe verschluckte.

Aber andererseits war ich immer sein Favorit

und ich könnte ihn zu jeder Melodie tanzen lassen, die ich pfiff.

Überschwängliche alte Männer sind meine Spezialität.

Wie auch immer, das Kalb ist saftig.

 

Ich habe was ich will,

und das wollte ich schon immer.

 

John Shea, The Spirit Master

 

24. Juli 2020

 

 

 

Lass sie sein, wer sie sein werden II

 

Der ältere Bruder

 

Der ältere Bruder

 

All diese Jahre!

Sogar der Dienstbursche spürte es.

Er hat mich nicht ansehen wollen,

als er mir die Nachricht überbrachte:

»Dein Bruder ist zu Hause

und dein Vater hat das Mast Kalb geschlachtet,

weil er ihn gesund und munter zurück hat.«

Er hat MICH zu Hause gehabt -

in all diesen Jahren -

und keine Musik begrüßte MICH jemals,

als ich mich heimschleppte

von unseren Feldern.

All diese Morgen!

Während er seinen Nachtschleim aushustete

und sich über die Kälte beschwerte,

und ich warf eine Decke um seine Knochen,

und setzte ihn auf einer Bank in der Sonne.

All diese Tage!

Mit ihm in die entgegengesetzte Richtung starrend

von dort, wo ich war,

vom Ausschauhalten

für den, der nicht kommt,

müde werdend,

und ich schaue von der Erde auf

und finde seinen Rücken, der den Himmel blockiert.

All diese Ernten!

Und ich, schwindlig wie ein Kind, das eine Münze gefunden hat,

rufe, dass er kommen sollte,

die hundertfache Ernte und schwerbehangenen Reben zu schauen,

und er hustete und seufzte,

als wären der Weizen Staub und die Trauben Steine.

All diese Nächte!

Er ein Gebet dröhnend

und über sein Essen einnickend,

und er vergisst, mich vor dem Schlafengehen zu segnen.

Und ich halte Ausschau nach der Umarmung,

die er aufsparte,

und hoffte auf die Worte,

die er hortete,

begierig auf einen nicht vorgetäuschten Arm

um meine Schulter,

für einen Kuss stark genug,

Blut in meine Wange zu treiben.

 

Jetzt sagt er mir,

dass wir in all diesen Jahren

zusammen waren

und eins geworden sind.

»Du warst immer bei mir;

und alles, was meins ist, ist auch deins.«

Ich brauche mehr, Vater.

Ich brauche, dass du zu MIR rennst

außer Atem und das Herz am Zerplatzen,

nicht so, wie du jetzt bist

mit deiner vernünftigen »Jetzt schau mal her« - Logik

über die Angemessenheit des Schlemmens

für jemand anderen.

 

All diese Jahre!

 

John Shea, The Spirit Master

 

26. Juli 2020

 

 

Lass sie sein, wer sie sein werden III

 

Der Vater

 

Der Vater

 

Ich habe zwei Söhne,

keiner von beiden will MICH als Vater.

Also machen sie mich zu dem Vater, den sie wollen.

 

Einer macht mich zu einem Zuhälter für seinen Bauch.

Er glaubt mich zu Zugeständnissen zu verleiten,

schwindelt sich ein Kalb von einem sentimentalen alten Narren.

Er schreibt meinen Tanz seinem Pfeifen zu:

aber die Musik, die ich höre, hat eine andere Quelle.

 

Er ist immer leer,

so ist meine Fülle vor ihm verborgen.

Seine List gibt ihm keine Ruhe,

so entgeht ihm mein Friede.

Er ergreift heimlich in der Nacht,

was ich am Tag frei anbiete.

Er will einen Vater, von dem er stehlen kann.

Stattdessen hat er mich,

eine Rebe mit mehr Wein,

als er trinken kann.

Es fällt ihm schwer, mir zu vergeben

mehr bereitzustellen, als er plündern kann.

Ich bin Überfluss.

Er muss lernen, damit zu leben.

 

Der andere zählt meine Küsse.

Er möchte, dass ich seine zähle.

„Für zwei Tage Pflügen,

nimm diese Umarmung.

Für eine reichliche Ernte

empfange diesen Segen.“

Er ist sich so unsicher,

er kann meine Zusicherung nicht teilen.

Er lebt davon, zu messen, was er nicht hat.

Ein Auge irgendwo anders

ist ein Auge für ihn verloren.

Er glaubt, ich nehme ihn für selbstverständlich;

aber ich stütze mich auf ihn wie ein Stab.

Er ist der privilegierte Begleiter

von meinem morgendlichen Schmerz und meinem abendlichen Lob.

Ich würde niemand anderem erlauben zu sehen

das Stolpern meiner Erinnerung,

die Verlegenheit meines Körpers.

 

Aber er schreibt meine Liebe seiner Loyalität zu.

Er will einen Vater, der ihm verpflichtet ist,

der ihm für seine rückenbrechende Arbeit

mit Zuneigung zurückzahlt.

Stattdessen hat er mich,

ein alter Baum mit eigenem Boden.

Er versteht nicht,

dass er seine Panik nicht mit einer Abmachung beruhigen kann.

Es wird eine Kette zwischen uns geben.

Ich binde mein Handgelenk frei an seins.

 

Ich habe zwei Söhne.

Wo immer sie sind,

ich gehe ihnen entgegen.

Ich bin ihr Vater.

Aber ich bin wer ich bin.

Lass sie sein,

wer sie sein werden.

 

John Shea, The Spirit Master

 

27. Juli 2020

 

 

Wüstenerlebnis

 

Oh, wie lange halte ich mich hier schon auf diesem unwirtlichen Wüstenboden! Dass ich überhaupt noch lebe, verdanke ich ja bloß meiner Genügsamkeit. Natürlich sind meine Wurzeln extrem lang. Und wenn die Winterzeit etwas Regen bringt, dann blühe ich fast schlagartig auf. Manch einer hält dann inne, wenn er im frühen Jahr auf dem Weg von Beerscheba nach Süden hier vorbei kommt und staunt über meine weißen Blüten. Das tut meiner Seele gut. Denn den größeren Teil des Jahres sehe ich doch eher aus wie Gestrüpp und werde kaum beachtet. Immerhin bin ich inzwischen zwei Meter hoch – da spende ich dem ein oder anderen Müden hin und wieder Schatten.

Solch einer war gestern hier. Er kam allein, schlürfte nah an mich heran, in der Mittagshitze! Er musste sich regelrecht zusammenrollen, um einigermaßen unter meinen Schatten zu kommen.  Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er nicht nur eine Rast machen wollte. Und tatsächlich: Ich hörte ihn etwas flüstern von »es ist genug, Herr. Nimm mein Leben«. O weh, dachte ich, wenn du hier bleiben willst, dann braucht dir keiner das Leben zu nehmen, dann vertrocknest du von ganz allein. Leider gab es keine Brise, die durch meine dünnen Äste gefahren wäre – ich hätte sonst versucht, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Vielleicht würde er dann das Leben in mir sehen und überlegen, wie das hier möglich ist. Vielleicht würde er dann auf sein Leben sehen. Aber keine Chance – er war schon tief eingeschlafen.

Unruhig und betrübt hielt ich stille Wache über ihn, den müden Fremden. Ich selbst kenne ja die Dürre und wie nah war ich so manchen Herbst am Austrocknen und Zugrundegehen. Aber nie hörte ich auf, meine Wurzeln tiefer und tiefer zu schieben, dem Wasser zu; und sobald von oben segnendes Nass kam, nahm ich es begierig auf und ließ mich vollströmen. Dafür lohnt es sich zu leben, liebe Wanderer!

Aber wie könnte ich, ein einfacher Ginster im Negev, meinem Gast dies vermitteln!?

Da hörte ich eine Stimme und der Mann wurde wach von ihr: »Steh auf und iss!« hatte sie knapp gesagt. Noch warmes Brot und ein Krug mit Wasser standen neben ihm und ihr könnt euch meine Erleichterung nicht vorstellen: er aß und trank! Jetzt lässt auch er sich vollströmen und nähren und dann wird er weiter leben wollen und bald losziehen, dachte ich. Doch nichts davon war zu erkennen; er legte sich genauso kraftlos wieder hin wie zuvor. Kein Staunen, keine Freude,  keine Lust – dabei hatte er überhaupt nichts für diese Lebensgaben tun müssen!  Das ging über meinen kleinen Ginsterverstand. Wir, die wir in der Wüste leben, schätzen alles, was uns am Leben hält, hoch und schöpfen daraus, sobald es uns geschenkt wird. Und wie tanzen meine Blüten im Frühlingswind und mit welcher Freude teile ich meinen Samen aus! Doch dieser Mensch hier fühlte nichts davon.

Welchen Herrn hatte er eigentlich vorhin angeredet, als er sich den Tod wünschte und ihn bat, sein Leben zu nehmen? War es der Herr Jahwe, von dem ich über die Jahre immer wieder Menschen reden hörte? Sie nannten ihn auch Retter, Befreier und erzählten Geschichten vom Leben, wenn sie zügig durch diese Wüste zogen. Wenn er diesen Herrn meinte, dann schien er ihm eher zum Leben als zum Sterben verhelfen zu wollen. Ob er das nicht verstand?

Ratlos behielt ich den Schlafenden weiter im Blick und fand keine Ruhe.

»Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich.« klang es plötzlich neben mir oder in mir. Ich weiß es nicht, aber die Stimme war klar, kraftvoll und bestimmt. Und sie wirkte. Der Mann aß, trank, stand auf und legte sich seinen Beutel um. Er streckte seinen steifen Körper, schüttelte sich ein wenig und zog los, in Richtung Süden, dem Sinai zu, ohne ein Wort.

Mich durchlief ein Zittern. Was muss das für ein Herr sein? Er wird gebeten, das Leben zu nehmen, doch er sorgt hartnäckig dafür, dass das Leben weiter geht.

Tief in mir spürte ich ein Lächeln: Ja, nur essen und trinken musste der Mann selbst!

 

Rosemarie Monnerjahn, 22. Juli 2020

 

 

Wähle das Leben

 

»Ich will mal wirklich leben!« Mit diesem Satz werde ich immer wieder und auf verschiedenste Weise konfrontiert. Menschen sprechen das aus nach langen dürren Strecken, wo sie wenig Freude und Sinn finden und empfinden. Sie sprechen diesen Satz, wenn sie zermürbt werden von anhaltender Orientierungslosigkeit und Leere. Aus diesem Satz heraus erklingt ein Hunger. In diesem Satz liegt ein Durst.

Am Ende jedoch, nachdem der Satz ausgesprochen wird, entdecken Menschen oft, dass er gar nicht stimmt. Denn wenn es dann darum geht, etwas zu tun, sich zu mühen, Entscheidungen zu treffen und sich selbst einzubringen, dann schrecken sie doch zurück. Was sie dann entdecken, ist meistens schmerzhaft und extrem unangenehm, denn diese Seite unserer Seele schauen wir uns nur sehr ungern an. Was sie entdecken ist, was sie nicht ausgesprochen haben, aber was sie eigentlich wirklich wollen. Sie wollen schon mal wirklich leben, aber nur wenn es ihnen geschenkt wird.

Im Buch Deuteronomium 30,19 macht Gott allerdings ein anderes, wenn auch sehr klares Angebot. »Ich rufe heute den Himmel und die Erde an als Zeugen gegen euch: Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; erwähle nun das Leben, damit du lebst.« Leben ist eine Möglichkeit, die Gott uns anbietet, aber wir müssen es wählen. Weil wir aber das Leben lieber ohne die Anstrengung des Wählens haben möchten, fertig produziert und auf einer silbernen Platte uns serviert, ruft Gott von Anfang an den Himmel und die Erde als  Zeugen gegen uns auf. Das war nie sein Angebot. Er gibt uns eine Wahl, nicht ein Endprodukt

In 1 Könige 19 gibt es eine Parallelstelle zu Dtn 30,19. Hier setzt sich Elija unter den Ginsterstrauch und wünscht sich den Tod. Dann aber spricht er aus, was er wirklich will: »Es ist genug, HERR, nimm nun mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Vorfahren.« Er will nicht den Tod wählen, sondern dass Gott ihn tötet. Das Angebot Gottes, auch für Elija lautet: »Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; erwähle nun das Leben, damit du lebst.«  Aber Elija will nicht wählen. Gott soll sein Mörder werden und damit ihn von der Wahl zwischen Leben und Tod befreien.

So schickt Gott ihm einen Boten, der ihm ein geröstetes Brot und einen Krug mit Wasser bringt, ihn berührt, weckt und sagt: »Steh auf, iss!« In dem Augenblick stellt Gott Elija wieder vor die Wahl zwischen Leben und Tod. Damit sagt Gott zu ihm: »Ich gebe dir mit Wasser und Brot die Möglichkeit Leben zu  wählen. Aber glaube nicht, dass ich dich töten werde. Du  kannst mich nicht zum Mörder deines Lebens machen. Wenn du sterben willst dann wähle den Tod. Dann iss nicht und trink nicht.«

Und siehe da: Elija isst und trinkt. Dann legt er sich wieder hin. So schickt Gott ihm zum zweiten Mal den Boten, wieder mit demselben Angebot. Das ist nicht zu belächeln, denn Menschen brauchen oft mehr als eine Chance, sich etwas wirklich zu Herzen zu nehmen. Gleichzeitig kann diese Entscheidung nicht zu lange hinausgeschoben werden, denn er liegt in einer Wüste, die ihn sehr bald töten wird, wenn er sich nicht entscheidet. »Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; erwähle nun das Leben, damit du lebst.« 

Am Ende wählt Elija das Leben. Das ist in keinerlei Weise eine romantische Geschichte, geschweige ein Märchen. Denn sobald er das Leben wählt, muss er vierzig Tage und vierzig Nächte lang durch die Wüste zum Gottesberg Horeb wandern. Am Anfang der Geschichte ging er nur eine Tagesreise in die Wüste, bis er sich den Tod am Ginsterstrauch wünscht. Mit der Wahl des Lebens muss er eine Strecke bewältigen, die 40-mal so lang dauert.

Der Ginsterstrauch hört, wie Elija sich den Tod wünscht. Ich frage mich manchmal, was der Ginsterstrauch sich denken würde, wenn er den Satz hören würde »Ich will mal wirklich leben!«, weil auch das erstmals nur ein Wunsch ist. Sollten wir aber wirklich leben wollen, dann müssen wir diesen Wunsch in eine Entscheidung verwandeln, verbunden mit allem, was eine Entscheidung mit sich bringt an Kraftaufwand, Mühe und Investition. Der Wunsch mehr zu leben ist billig, bis wir eine Frage beantworten: Was ist mir ein Leben wirklich wert? Und vor diese Frage werden wir von Gott gestellt, wenn er uns sagt: »Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; erwähle nun das Leben, damit du lebst.« 

 

Erik Riechers SAC, 20. Juli 2020

 

 

Von Weizen und Unkraut

16. Sonntag A: Mt 13, 24–30

 

Ich liebe biblische Geschichten. Egal was das Thema gerade ist, sie erinnern mich immer wieder an drei wichtige Weisheiten für mein Leben: Du bist nicht der Erste. Du bist nicht der Letzte. Du bist nicht der Einzige.

Ich mag die chaotischen Geschichten besser als die sauberen (und am Ende sind alle biblischen Geschichten chaotisch). Weil mein Leben chaotisch ist. Das Leben meiner Brüder und Schwestern ist chaotisch. Das Leben der Welt ist chaotisch. Also, was würde eine saubere, makellose und antiseptische Geschichte uns allen sagen können, die wir noch nie den Luxus hatten, ein Leben zu führen, das sauber, makellos und antiseptisch ist.

In dieser Zeit der Krise wurde ich vor kurzem von einem Leser gefragt, warum er oft am Anfang stärk berührt ist von einer Predigt, Impuls oder Geschichte, aber nach kurzer Zeit zurückfällt in alte Muster, Haltungen und Sichtweisen. Er hatte nämlich einen Impuls der Reihe »Bleiben Sie behütet« gelesen und spürte, dass er liebevoller, rücksichtsvoller und barmherziger wurde in den Tagen danach. Dann kam er mit einem alten Konflikt wieder in Berührung und, wie er es deutete, hatte er alles wieder verloren, was er vorher gewonnen hatte.

Er ist nicht der erste. Er ist nicht der letzte. Er ist nicht der einzige.

 

Menschen verlassen sonntags die Kirche, erbaut von einer Liturgie. Sie fühlen sich wieder verwurzelt, geerdet oder neu ausgerichtet und spüren wieder das Vertrauen, dass sie sich den Prüfungen der Welt mit steter Barmherzigkeit und Gerechtigkeit stellen können. Der Parkplatz und sein Verkehr wird ihr erstes Verderben sein. Auf die Hupe drückend, singen sie Lieder, die im kirchlichen Gesangbuch nicht zu finden sind.

 

Genau das ist die Erfahrung von Weizen und Unkraut. Das Feld der Geschichte ist das Bild für das Herz der Menschen. Wie man auf jedem Feld auch Unkraut findet, so wird es sein in jedem Herzen. Wir bewegen uns zwischen Augenblicken der Erkenntnis und der klaren Orientierung einerseits (Weizen) und gebrochenem und zerstreutem Benehmen anderseits (Unkraut). Es gibt Zeiten, wo wir alles im Griff haben (Weizen), und dann wirft uns jemand oder etwas wieder völlig aus dem Konzept (Unkraut).

 

Solange wir Menschen uns in Raum und Zeit bewegen, wird das Reich Gottes in uns so sein. Es wird immer ein Ringen sein zwischen der Initiative, die Gott in uns pflanzt und den Widerständen, die in uns sind. Das Gute und das Schlechte werden immer Seite an Seite in uns existieren. Das ist kein Zeichen dafür, dass wir alle es ständig falsch machen, sondern einfach die Realität des menschlichen Herzens.

 

Darum predigt Jesus nie von Umkehr, als ob das ein für alle Mal geschehen kann. Wir müssen uns in einen Prozess der nie endenden Umkehr eintauchen. Besonders wichtig ist hier eine feine Unterscheidung. Diese immer von neuem nötige Umkehr ist nicht nur eine Vorbedingung, bevor wir in das Reiches Gottes eintreten dürfen. Nein, diese stets angefragte Umkehr ist die Art und Weise, wie das Reich Gottes in die Erde unserer Herzen eindringt. Wenn Weizen und Unkraut aufgehört haben zu wachsen und eine Fülle erreicht haben, dann wird es nötig sein, sie voneinander zu trennen. Aber solange unsere Herzen noch wachsen, solange wir noch am Werden sind und die Fruchtbarkeit Gottes sich in uns noch entfaltet, ist die Zeit noch nicht gekommen.

 

Weizen und Unkraut wachsen nebeneinander. Sie sind so ineinander verwoben, dass sie eine unzertrennliche Einheit bilden. Weizen wächst aus der Erde des Herzens, wenn wir erfolgreich unsere tiefsten inneren Überzeugungen der Liebe verkörpern. Unkraut wächst aus der Erde des Herzens, wenn wir genau dieselben Liebesüberzeugungen nicht verkörpern, nicht verwirklichen, nicht umsetzen können. Wir sind eben ein Gemisch von Weizen und Unkraut.

 

Darum brauchen wir Zeit. Alles wahre Wachstum braucht Zeit, in uns als Individuen und in einer Kirche oder Gesellschaft. Zeit ist eine Chance für Umkehr, die Chance, unsere Meinungen und Überzeugungen zu ändern, und das immer wieder. Wir sind Wiederholungstäter. Was wir üben müssen, und das mit etwas Sanftheit, ist es, Wiederholungsumkehrer zu werden.

 

Das wird sicher in diesem Leben so bleiben. Mir wurde kürzlich gesagt, dass es am Ende aller Tage aber nicht so sein wird. Richtig. Aber falls Sie es selbst noch nicht bemerkt haben, wir sind noch nicht am Ende aller Tage gelangt.

 

Solange wir noch Atem in uns haben, ist die Auseinandersetzung mit dem Leben das Ziel. Was wir kennen, ist der Weg. Wir wissen, was wir versuchen sollten, was wir werden wollen und wie wir das fördern und nähren können. Dass wir liebevoll, gerecht und dienend leben sollten, ist kein Staatsgeheimnis. Wir kennen den Weg. Was wir nicht so gut kennen, sind unsere Herzen. Sie sind empfindlicher als wir es gerne zugeben möchten, tragen mehr Narben, hegen mehr Groll als uns lieb ist.

 

Als ich als Novize mal sehr oft und sehr lange mich über die Unvollkommenheit der Gemeinschaft ausließ, sagte mein Spiritual zu mir: »Das hier ist die Gemeinschaft, nicht der Himmel.« In der Gemeinschaft wachsen Weizen und Unkraut nebeneinander.

 

Es könnte sicherlich nicht schaden, ein so starkes Bild aus der Landwirtschaft aus der Perspektive eines Bauern zu betrachten. Der Bauer sieht Unkraut nicht als einen Fehler, sondern als eine lästige Notwendigkeit. Unkraut wächst nicht, weil man ein schlechter Landwirt ist, sondern weil Landwirtschaft ohne Unkraut überhaupt nicht möglich ist. Es ist ein Teil der Erfahrung, ein Teil des Prozesses.

 

Saubere Lösungen gibt es nicht, weder in der Landwirtschaft noch im der Seelenlandschaft. Radikalkuren, politischer oder gesellschaftlicher, menschlicher oder systemischer Art sehnen sich nach etwas, was es gar nicht gibt. Die Opfer des Rassismus haben nicht menschenwürdigere Lebensbedingungen und Gleichheit, wenn wir die Innenstadt in Brand setzen, Geschäfte plündern, Statuen niederreißen und Häuser beschädigen. Und wir werden nicht bessere Menschen, wenn wir uns selbst geißeln und klein machen oder mit Härte versuchen, die Landschaft des Herzens zu bereinigen.

 

Was wirklich zählt ist, dass wir Weizen von Unkraut unterscheiden können, damit wir am Tag der Ernte das Lebensspendende einholen und das Schädliche wegwerfen. Im Augenblick wachsen sie oft nebeneinander in meinem Herzen. Entscheidend ist, dass wir wissen, was wir ernten wollen. Ich weiß sehr genau, was ich behalten und behüten will und was nicht. Und damit kann ich gelassen dem Unkraut meines Lebens sagen: Du hast im Augenblick etwas Raum eingenommen in meinem Herzen, aber auf Dauer hast du keine Chance.

 

Ich bin nicht der Erste. Ich bin nicht der Letzte. Ich bin nicht der Einzige.

 

ERIK RIECHERS SAC

Vallendar, den 19. Juli 2020

 

 

Meeres-Übung

 

Im Griff wollen wir unser Leben haben,

selbst bestimmen über unsere kleine Welt.

Wir reden uns weiter hinein in unsere Vorstellungen,

kindlichen Wünsche, Forderungen, Vorwürfe.

Dann wird der Atem manchmal kurz,

wir japsen nach Luft.

 

Und es wird Zeit, sich dem Meer zu nähern und  in die Brandung zu stellen:

 

Meer

Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren

und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen

Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen wollen nur Meer
Nur Meer

Erich Fried

 

Es ist wie eine Übung   

               des Loslassens,

               des Überlassens,

               des Stillwerdens,

               der Hingabe,

               der Selbstvergessenheit,

               des Atemholens.

 

Rosemarie Monnerjahn, 17. Juli 2020

 

 

»Kampf um Zärtlichkeit« II

 

Als der Mai begann, war wöchentlich in den Medien von Lockerungen die Rede – auch allmählich in Altersheimen. Doch für Hans und Mercedes änderte sich nichts. Zu seinem Schmerz kam langsam eine Verzweiflung, die er auch körperlich zu spüren bekam: sein altes Asthma brach wieder auf und begann ihn zu quälen. Von niemandem aus dem Freundeskreis fühlte er sich verstanden. »Wie sehr er seine Frau brauche und sie ihn, das könnten nur sehr wenige begreifen. Und: Wie ein Mann seine Frau vermisst und eine Frau ihren Mann, sei nicht damit zu vergleichen, wie man eine Großmutter oder seine Eltern vermisst.«* Das vertraute er der ZEIT an.

Ende Mai gab es bundesweit zunehmend an vielen Orten schon größere Lockerungen in Alteneinrichtungen. Das Sicherheitsbedürfnis des Seniorenheims, in dem das Ehepaar Hans und Mercedes leben, ist jedoch sehr hoch und so wurde weiterhin hier alles sehr streng gehandhabt – mit Erfolg, was den Schutz der alten Menschen vor dem Virus betraf.

Allerdings wurde die Not des alten Liebespaares bedrückend stärker. Sie konnten sich zwar inzwischen etwa alle 10 Tage treffen. Natürlich war eine telefonische Anmeldung erforderlich und die wurde immer schwieriger, da das Telefon meist besetzt war und oft ihr Sohn die Terminvereinbarung übernahm. Beieinander waren sie dann für eine knappe halbe Stunde in der Kapelle des Hauses. Sie saßen sich gegenüber an einem Tisch mit einer Plexiglasscheibe in der Mitte und dauernder Kontrolle. Bei einem Treffen rief seine Frau in Spanisch aus: »Was haben wir verbrochen, dass wir so behandelt werden?«*

Wenn Hans in diesen schweren Wochen solche Sätze von Mercedes hörte, wärmte es jedes Mal sein trauriges Herz, denn da klang ihre Belesenheit, ihre Intelligenz, durch – sie zitierte spanische Dichter oder knüpfte alte Erfahrungen mit hinein. Wenn sie auch abzubauen schien – seine Mercedes war noch immer da! Ihr vermochte er einmal sogar Kuchen und Erdbeeren an der Plexiglasscheibe vorbei zu schmuggeln - und sie aß mit Freude!

Im Juni - es war schon im fortgeschrittenen dritten Monat dieser zerreißenden Situation - kam endlich eine E-Mail mit der Nachricht: »Besuche sind wieder in den jeweiligen Bewohnzimmern und täglich möglich.«- natürlich mit Abstand!

Doch nun zeigte sich, wie diese Zeit des Abstands Mercedes zugesetzt hatte. Sie tobte und schrie etwas von den Linken und vom Krieg. Alte Traumata aus ihrer Kindheit im Franco-Spanien, in der ihre Heimatstadt drei Monate lang belagert worden war, waren aufgebrochen: wieder hatte sie jetzt drei Monate abgeschnitten von der Welt leben müssen. Ihr Mann konnte sie nicht beruhigen und seine Angst wuchs, dass in dieser Zeit »etwas irreparabel kaputtging«.* Nicht Freude erfüllte sein Herz, sondern große Verzagtheit und Traurigkeit. Er fühlte sich am Ende und bat ihren Sohn um den nächsten Besuch. Wie glücklich war er, als der ihn anrief, auf den Balkon lockte und mit Mercedes an der Seite vom Fenster aus winkte. Er gab seiner Mutter das Telefon - und Hans strahlte, als sie ihm ihre Liebe gestand.

Der Kampf um Zärtlichkeit ist noch nicht zu Ende. Aber es gab wieder einen Abend, an dem er bei ihr bleiben durfte, bis sie einschlief - und an dem sie endlich wieder »ihren« Satz sagte: »Ich bin glücklich, dass ich euch habe.«

Dankbarkeit spürt er, doch auch Wut: »Weil ich gemerkt habe, wie viele Tage uns genommen wurden.«*

 

»Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. … Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.«

 

*ZEIT-Magazin vom 2. Juli 2020

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. Juli 2020

 

 

»Kampf um Zärtlichkeit« I

 

Von allen Geschichten, die wir während der Corona-Krise hörten und erzählten, wette ich, dass die wenigsten Liebesgeschichten sind.

»Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. … Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.« - so schreibt Paulus im 1.Korintherbrief und viele Paare wählen diese Lesung für ihre Hochzeit und sind geneigt zu glauben, dass hier genau ihre Liebe beschrieben wird. Eine solche Liebe aber reift und wird geschmiedet im Leben und ob sie ein Meisterstück wird, zeigt sich viel, viel später als am Tag der Trauung.

In Berlin wurde in diesem Frühjahr eine 65-jährige Liebesgeschichte weitergeschrieben und ich bin dem ZEIT-Magazin dankbar, dass ich diese Geschichte lesen durfte.  

Mercedes und Hans blicken auf erfüllte und lebensvolle Jahrzehnte zurück, in beruflicher Hinsicht und auch privat. Über 6 Jahrzehnte konnten sie miteinander ihr Leben in Deutschland und nach der Pensionierung auch in Spanien gestalten. Hans hatte als Romanist über 30 Jahre einen Lehrstuhl in Saarbrücken inne; Mercedes, deren Intelligenz und Liebe zu Überraschungen er bis heute so liebt, baute kleine Schulen auf für Kinder spanischer Gastarbeiter.

Nun wohnen sie seit einiger Zeit in einer Seniorenanlage in Steglitz. Vor zwei Jahren erkrankte Mercedes als Folge eines Sturzes dementiell, glücklicherweise eher leicht, doch musste sie aus der gemeinsamen Wohnung umziehen in ein Zimmer der Pflegeabteilung.

In ihrer großen Liebe, die nichts an Faszination füreinander eingebüßt hatte, seit sie sich vor 65 Jahren in Madrid  als Studenten kennenlernten, vermochten sie auch diese Lage mit Leben zu füllen. Jeden Morgen und jeden Abend kam Hans für zwei Stunden zu seiner geliebten Frau und er sprach davon, dass auf diese Weise eine Art ehelicher Gemeinschaft entstand, die er vorher nicht gekannt hatte. »Er las ihr Bücher vor, auch ihre eigenen, sie hörten Musik, er liebkoste und wusch sie. . . . Kraft schöpfte er aus ihrem abendlichen Ritual: Wenn sie ein angstlösendes Mittel bekommen hatte, dann saß er an ihrem Bett, hielt ihre Hände, während sie sich entspannte und müde und müder wurde und, kurz bevor sie einschlief, den immer gleichen Satz sagte: `Ich bin glücklich, dass ich euch habe.‘ Sie meinte ihren Mann und ihren Sohn.« *

Doch dann im März wurde dies abrupt beendet.  Der 86-Jährige durfte Corona bedingt nicht mehr zu seiner Frau, die nur 30 Meter Luftlinie von ihm entfernt lebt. Bald wandte er sich an die Presse, denn er war in großer Sorge und erhielt im Heim keine Hilfe. In ihren Telefonaten nämlich stellte er zunehmend fest, dass es Mercedes schlechter ging. Wie könnte sie leben ohne seine Nähe? Niemand könnte ihr das geben, was Hans ihr gibt.

Bis Mitte April durfte er seine Frau schließlich dreimal sehen. »Sehen, aber nicht berühren. Das ist ein himmelweiter Unterschied für ihn – und wohl auch für sie. Um diesen himmelweiten Unterschied, um das Berühren, wird in den nächsten Wochen ein Kampf entbrennen. Ein Kampf um das Recht auf Zärtlichkeit.«* Kein Wunder, fanden doch die Treffen in einem großen, vorbereiteten Saal statt, mit Mundschutz und 2 Meter Abstand, anfangs noch mit einem Pfleger dabei – wie bei einem Besuch im Gefängnis. Beim ersten Treffen rief Mercedes aus: »Was ist denn das für ein beschissenes Treffen?« Geschwächt wie sie war - sie brachte es auf den Punkt. Ja, sie konnten sich endlich wieder sehen, aber was war das im Vergleich zu dem, was sie brauchten!

Hans träumte nun davon, ihr abendliches Ritual wiederzugewinnen und war seit Mitte April, als die Fallzahlen langsam zurückgingen, voller Hoffnung, dass dies nicht mehr fern sei. Zuversichtlich schrieb er am 20. April eine E-Mail an den Geschäftsführer: »Ich schreibe Ihnen heute einfach mal einen Traum auf. … Ich darf wieder in das Zimmer meiner Frau. … Wenn meine Frau dann im Bett liegt, bleibe ich noch bei ihr, bis sie eingeschlafen ist, so wie ich es eineinhalb Jahre lang gemacht habe. Sie sagt dann sogar wieder: ‚Ich bin glücklich.‘«

*ZEIT-Magazin vom 2. Juli 2020

(Fortsetzung am 15. Juli)

 

Rosemarie Monnerjahn, 13. Juli 2020

 

 

15. Sonntag A 2020

 

Das Wort kehrt nicht leer zu mir zurück

 

Wenn mein alter Lehrer eine neue Vorlesungsreihe begann, dann stellte er uns ein biblisches Wort im Raum. Das Wort hörten wir gerade in der ersten Lesung.

 

»Das Wort, das meinen Mund verlässt, kehrt nicht leer zu mir zurück,

sondern bewirkt, was ich will,

und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe.«  (Jes 55, 11)

 

Danach stellte er die erste große Frage unserer Ausbildung als narrative Theologen. »Meine Damen und Herren. Wenn das Wort Gottes nie zu ihm zurückkehrt, bis es das bewirkt, wozu er es ausgesandt hat, dann stellt sich die Frage: Was genau sollte dieses Wort bewirken?« Dann waren wir dran.

Um uns zu helfen, erzählte er uns gerne eine kleine Anekdote aus dem Leben von Martha Graham (weltberühmte amerikanische Tänzerin und Choreographin). Nach einer Vorstellung empfing sie die Presse. Die Reporter überschütteten sie mit Lob und fanden nicht genügend Superlative, um ihren Tanz zu beschreiben. Dann fragte sie ein Reporter: »Können Sie uns den Tanz erklären?« Ihre Antwort kam sofort. »Sei nicht töricht, Liebling. Wenn ich ihn erklären könnte, dann hätte ich ihn nicht getanzt.«

Auch dieser Tipp hat uns damals nicht besonders geholfen. Das Problem war einfach. Wir gingen davon aus, wie die meisten Menschen es tun, dass das Wort nur eine wirkliche Absicht hat, nämlich, uns zum Verständnis zu führen. Es sollte uns aufklären, weise machen und Einsicht schenken. Manchmal stimmt es auch. Manchmal geht uns ein Licht auf, uns wird etwas klar und wir verstehen uns selbst, die anderen, das Leben und sogar die Welt etwas besser.

Manchmal. Aber nicht immer. Manchmal hören wir das Wort, und uns ist gar nichts klar. Im Gegenteil: wir sind frustriert und genervt, weil die Erzählung nicht deutlich zu verstehen ist, weil die Gleichnisse uns keine Offenbarung schenken und die ganze Bibel erscheint uns wie ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn es der Zweck Gottes war, sein Wort zu senden nur um uns aufzuklären, dann hat er den Mund zu voll genommen. Denn jeder von uns weiß, dass das Wort doch sehr oft zu ihm zurückkehrt, ohne Aufklärung in uns bewirkt zu haben.

Immer wieder erleben wir die verwirrende Komplexität der biblischen Geschichten und können sie nicht zähmen. Wir erzählen von einem Gott, der mit Abraham und Mose verhandelt, dann erzählen wir von einem Gott, der bei Hiob kein bisschen nachgibt. Der Gott, der für Elija eine leise Stimme ist, ist ein Wirbelwind für Hiob. Der liebende Vater bricht nicht ein in den Tod seines Sohnes. Und innerlich schreien wir: Unlogisch! Und wir stolpern über uns selbst, möglichst schnell die Logik herzustellen. Aber die Logik ist die allerletzte und geringste Leidenschaft Gottes.

Das Wort, das aus seinem Mund kommt, ist nicht primär ein Wort der Verständigung, sondern ein Wort wider das Vergessen. Er sendet sein Wort aus, und es kehrt nicht zu ihm zurück, bis wir an das erinnert werden, was Gott nicht der Vergessenheit überlassen will. Das Wort, uns gegeben, erinnert uns an vieles, was wir einfach schnell vergessen würden.

In analytischer Sprache ist die Sachlage oft klar und deutlich. Erklärungen und genaue Instruktionen können wir mehr oder minder leicht verstehen. Aber solche Worte, so beliebt und begehrt wie sie sind, haben noch ein anderes Merkmal, ein Merkmal, das wir fast immer verschweigen. Sie sind alle außergewöhnlich leicht zu vergessen.

Die überwiegende Mehrzahl der Wörter Gottes dagegen sind Erzählungen. Sie sind selten eindeutig, sind meistens vielschichtig und verlangen oft viel Zeit und Raum, um sie auszulegen.

Aber ob wir sie verstehen oder nicht, wir vergessen sie nicht. In dieser ersten Vorlesung sagte John oft zu uns: »Wenn Jesus ein Buch über das geistliche Leben geschrieben hätte, dann hätten wir schon längst alles darin vergessen. Darum hat er uns Geschichten erzählt, damit wir sie nicht vergessen.«

Die Worte (Erzählungen) Gottes sorgen dafür, dass wir die Armen, die Unterdrückten und die Gebrochenen nicht vergessen. Ohne das Wort Gottes hätten sie keine großen Chancen. Wir reden oft über Armut, aber Gottes Wort erinnert uns an die Armen und gibt ihnen einen Namen und ein Gesicht. Wir reden von systemischer Unterdrückung, aber Gottes Wort erinnert uns an die Unterdrückten.

Die Worte über Lazarus und den reichen Mann erinnern uns, dass Bettler vor unseren Türen liegen und wir etwas unternehmen sollten. Jesu Heilung der zehn Aussätzigen erinnert uns, dass ausgestoßene Menschen keine Beheimatung haben, wenn wir ihnen keine Beheimatung anbieten. Die Speisung der Menge, eine so vielschichtige Erzählung, erinnert uns trotzdem schlicht und einfach, dass Menschen Hunger haben.

Für Menschen, die an den Beziehungen in ihrer Familie leiden, lässt dieses Wort uns nicht vergessen, dass Liebe, Geborgenheit und Annahme auch auf andere, unkonventionelle Wege uns gegeben werden können.

Wo wir kinderlos sind, wo wir unfruchtbar sind, wo wir uns leer fühlen und kein Leben in uns spüren, erinnert uns dieses Wort an unerwartete Schwangerschaften und an Leben, das in Menschen wächst, wo es nicht sein sollte und oft nicht einmal sein darf.

Dieses Wort erzählt von einer Frau, die den Saum seines Gewandes berührt, damit wir nicht vergessen, dass es in den Mengen um uns herum Menschen, gibt die innerlich am verbluten sind.

Dass Versöhnung eine Möglichkeit ist;

dass Gerechtigkeit mühsam ist;

dass Selbsterkenntnis uns nicht schaden wird;

dass Fehler nicht das letzte Wort über uns zu sagen haben;

und dass Leben gestaltet, geschützt und vermehrt werden kann, gerade an Orten, wo wir es voreilig abschreiben würden:

daran erinnert uns das Wort Gottes.

Und es kehrt nicht zu ihm zurück, bis wir uns wieder daran erinnern. Gott macht sich weit mehr Sorgen über das, was wir vergessen, als über das, was wir nicht verstehen. Denn was wir nicht verstehen, kann uns nicht wirklich schaden. Aber was wir vergessen, kann uns Lebensfreude und Lebenslust kosten. Wir wissen es alle. Jeder von uns kennt die Liebe. Wir wissen aber nicht, wie sie funktioniert. Und manchmal sind wir sogar überrascht, dass sie funktioniert, dass wir trotz allem doch wirklich geliebt werden. Aber wehe dem Menschen, der vergisst, dass irgendwo auf der Welt ein Herz für ihn schlägt.

 

So möchte ich ihnen eine Geschichte von John Shea erzählen.

In den neunziger Jahren ging John Shea nach Dublin, um Storytelling Workshops zu halten. Die älteste Teilnehmerin war eine Fünfundsiebzigjährige. In einem Kleinkreis erzählte sie eine Geschichte ihrer Kindheit.

 

»Ich war eins von 14 Kindern. Jeden Sonntag spielte sich dasselbe Rituale bei uns ab, und zwar so bedächtig und liebevoll wie das, was der Priester am Altar machte.

Wir hatten nur einen Spiegel im Haus. Meine Mutter stand davor und wir bildeten neben ihr eine Schlange. Dann mussten wir einzeln vor meine Mutter hintreten, und zwar so, dass wir zwischen ihr und den Spiegel standen. Da sorgte sie dafür, dass wir sauber waren, gut angezogen (sie zupfte uns zurecht) und kämmte uns die Haare. Danach durften wir spielen gehen. Wenn alle fertig waren, dann gingen wir gemeinsam drei Meilen zu Fuß zur Kirche.

An einem Sonntag war ich die dritte. Meine Mutter schaute auf und bemerkte, dass meine jüngere Schwester keinen Schnürsenkel im Schuh hatte. Meine Mutter schaute mich an und sagte: ‘Kind, sei so gut, geh in die Küche und hole deiner Schwester einen Schnürsenkel‘.

Aber ich wollte meinen Platz nicht verlieren und bewegte mich keinen Millimeter. Ich trat zwischen meine Mutter und den Spiegel. Meine Mutter sagte nichts. Sie bürstete meine Haare, und dann ging ich spielen.

Etwas später kam ich zurück. Meine kleine Schwester – die ohne den Schnürsenkel – stand zwischen Mutter und dem Spiegel. Meine Mutter bückte sich, nahm den Schnürsenkel aus ihrem Schuh und zog ihn in den Schuh meiner Schwester. Als ich dies sah, ging ich in die Küche und holte einen Schnürsenkel. Ich kam zurück, kniete vor meiner Mutter und zog ihr den Schnürsenkel in ihren Schuh. Als ich dies tat, und während sie meiner Schwester die Haare bürstete, streckte sie ihre freie Hand aus und streichelte mir über die Haare.«

Da endete ihre Geschichte. John Shea war außer sich vor Begeisterung und suchte sie in der Pause auf. Er bedankte sich für die Geschichte. Er sagte: »Ihre Geschichte war reich und bewegend. Ich weiß zwar nicht, was sie bedeutet, aber sie hat mich tief bewegt.«

 

Merken wir Johns Sprache: »Ich weiß zwar nicht, was sie bedeutet, aber sie hat mich tief bewegt.«

 

Die Frau war nicht überzeugt. Sie meinte, ihre Geschichte sei dumm und dass sie die Erzählung hätte lassen sollen. Aber John bestätigte sie umso stärker, dass alle dadurch bereichert waren.

Jeden Nachmittag, in der Pause nach dem Mittagessen, saß John unter einem Baum und rauchte seine Zigarre. Am Donnerstag, dem vierten Tag der Konferenz, saß er ohne Zigarre unter dem Baum. Die alte Frau näherte sich und fragte ihn, wo seine Zigarre sei.

»Ich habe eine auf dem Zimmer«, antwortete er, »aber ich bin einfach zu müde, um sie zu holen.«

»Ich merkte, dass du keine hast«, sagte die Frau, »und habe dir eine mitgebracht«.

Als John die Zigarre auspackte, anschnitt und anzündete, traf ihn eine Einsicht wie der Blitz. »Die Zigarre ist der Schnürsenkel.«

Gleich in der nächsten Pause suchte er die Frau auf und sagte ihr: »Die Zigarre ist der Schnürsenkel, ja, die Zigarre ist der Schnürsenkel.«

Sie schaute ihn an und sagte: »Das weiß ich. Ich habe nie wirklich verstanden, was damals zwischen mir und meiner Mutter passierte, aber ich habe es nie vergessen.«

Dann schaute sie auf ihre Schuhe, und dann blickte sie John wieder an. »Es war ein Pakt zwischen mir und meiner Mutter«, sagte sie mit viel Emotion. »Es war ein Pakt zwischen mir und meine Mutter«. Und als sie das sagte, schlug sie zweimal ihr Herz.

»Das Wort, das meinen Mund verlässt, kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe.« Jes 55, 11.

 

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

ich weiß nicht, ob Sie diese Geschichte ganz verstehen. Aber eines bin ich mir sicher. Sie werden sie nie vergessen.

 

Erik Riechers SAC,12. Juli 2020

 

 

Unsere Herzen sind alledem gewachsen

 

Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird. Denn immer werden wir, obgleich wir leben, um Jesu willen dem Tod ausgeliefert, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar wird. So erweist an uns der Tod, an euch aber das Leben seine Macht. Doch haben wir den gleichen Geist des Glaubens, von dem es in der Schrift heißt: Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet. Auch wir glauben und darum reden wir.

2 Korinther 4, 8-13

 

Paulus macht 4 Aussagen wider die Resignation.

  1. Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben

            und finden doch noch Raum;

 

  1. wir wissen weder aus noch ein

            und verzweifeln dennoch nicht;

 

  1. wir werden gehetzt

            und sind doch nicht verlassen;

 

  1. wir werden niedergestreckt

            und doch nicht vernichtet.

 

Unsere Gefahr besteht darin, dass wir oft nur die erste Hälfte der Geschichte erzählen. Dann lautet die Erzählung: Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben. Wir wissen weder aus noch ein; wir werden gehetzt und wir werden niedergestreckt. Was nach dem »und« kommt, wird meistens nicht erzählt.

 

  1. Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum;

Wir sind in der Lage, die Lebensräume zu finden und zu gestalten, auch dort, wo Menschen sie uns nicht gönnen.

 

  1. Wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht;

Wir sind in der Lage, Spannungen auszuhalten, auch dann wenn wir keine schwarz-weißen Antworten haben oder bekommen. 

 

  1. Wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen;

Druck, Hetze und Missachtung sind Realitäten, die wir kennen: sie haben aber nicht die Macht, uns zu Menschen der Hoffnungslosigkeit zu machen. Wir glauben, komme was kommt, dass wir seine Menschen sind, dass wir Wert, Würde und Sinn haben, dass wir geliebt und gewollt sind und dass unser Gott mit uns geht.

 

  1. Wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet.

Wir sind noch da! Wir atmen noch, leben noch, bewegen uns noch. Mit uns muss die Welt trotz allem noch rechnen.

 

Und weil das so ist, schreibt Paulus weiter:

Doch haben wir den gleichen Geist des Glaubens, von dem es in der Schrift heißt: Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet. Auch wir glauben und darum reden wir.

Das heißt, wir haben noch ein Wort mitzureden.

Auch wir glauben und darum reden wir: Die Welt wird nicht ohne uns gestaltet, auch wenn die dunkelsten Mächte von Gier, Habsucht, Terror und Ungerechtigkeit uns davon abhalten wollen.

 

Auch wir glauben und darum reden wir: Die Räume des Lebens für Gottes Menschen werden nicht ohne uns festgelegt, egal wie boshaft mit uns umgegangen wird.

 

Auch wir glauben und darum reden wir: Die Prioritäten des Lebens werden nicht ohne uns gestellt.

Diese Krise ist lang, schmerzhaft und anhaltend. Die Lösungsvorschläge und der Lockerungswahn sind kurzsichtig, leichtsinnig und auf Dauer nicht tragbar. Aber so lange wir glauben und reden, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Unsere Herzen sind der Krise gewachsen.

Erik Riechers SAC, 10. Juli 2020

 

 

Tatort und der Heilige Geist

 

Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit; gegen all das ist das Gesetz nicht.

Gal 5, 22-23

 

Ich habe über die Jahre eine  Entdeckung gemacht, was die deutsche Kultur anbelangt. Als ich ahnungslos den Kommentar von mir gab, dass wohl alle Tatort -Sendungen das Gleiche seien, wurde ich schnellstens aufgeklärt. Die Leidenschaft, mit der ich informiert wurde über die Orte, Kommissare und Schauspieler der verschiedensten Tatort-Serien war atemberaubend. Am Ende meiner Aufklärung fiel dann der Satz: »Erik, alle Deutschen lieben Tatort.«

 

Das freut mich sehr, denn dieser Text ist für Tatort-Fans wie geschaffen. Denn Paulus lädt den Hörer ein, wie ein Kommissar dem Geist auf die Spur zu kommen.

 

Dabei fängt er, wie jeder Kommissar, mit der Spurensuche an und findet als erstes die Früchte des Geistes: Liebe, Freude, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.

 

Diese Früchte haben wir schon. Wir müssen sie uns nicht aneignen. In geerbten Auslegungen werden die Gläubigen hier typischerweise aufgerufen, sich diese Früchte anzueignen. Davon aber  ist bei Paulus keine Rede. Er will, dass wir sie wahrnehmen.

 

Diese Früchte sind der Beweis dafür, dass der Geist als Täter schon unter uns war. Wenn wir Beweismittel finden, dann erschließen wir rückwärts die Quelle. Zum Beispiel, wenn wir eine 38er Patrone finden, wissen wir, aus welcher Waffe sie kommen muss. Wenn wir im Markt Äpfel in einer Kiste sehen, wissen wir, dass Äpfel nur von einem Apfelbaum stammen können, denn Äpfel haben keinen anderen Ort des Ursprungs. Wenn ich dann Liebe, Freude, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut oder Selbstbeherrschung vorfinde, dann haben auch sie nur einen Ursprung, nämlich den Geist. Und schon sind wir dem Täter auf die Spur.

 

Wenn ich diese Äpfel im Laden sehe, muss ich den Baum nicht sehen, um zu wissen wo sie herkommen. Wo wir im Leben die Früchte des Geistes finden, sehen wir nicht den Täter Geist, dafür seine Fingerabdrücke. Wir wissen, er muss hier gewesen sein.

 

Nun müssen wir bei unserer Spurensuche feststellen, dass die Fingerabdrücke von Liebe, Freude, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung überall zu finden sind. Dieser Täter ist überall gewesen. Wir finden diese Fingerabdrücke kreuz und quer durch das Leben verteilt. Nicht nur in der Kirche, in der Liturgie oder beim Gebet. Diese Früchte erleben wir in ganz alltäglichen Gesprächen, wo wir Langmut aufbringen, die uns sogar überrascht. Im Büro, bei der Arbeit, haben wir Erfahrungen von Güte. Im Schlafzimmer, wo Eltern ihre Kinder ins Bett legen und wo Menschen sich wieder lieben, erfahren wir Liebe und Freude. Beim Grillen begegnen wir Freundlichkeit, und auf dem Spielplatz der Kinder so wie der der Erwachsenen erleben wir Treue und Selbstbeherrschung. Manchmal erfahren wir diese Früchte als Geschenke, die andere uns geben. Manchmal erfahren wir diese Früchte als Geschenke, die wir anderen geben.

 

Überall sind diese Fingerabdrücke zu finden. Das heißt, der Täter ist überall, der Geist ist überall in unserem Leben vorhanden und tätig. Das ist nicht unbedeutend, denn hier wird uns das Wesentliche über den Täter gesagt. Er ist zuverlässig.

 

Ohne Zuverlässigkeit heilt nichts. Eine ältere Frau erzählte mir vom Besuch eines jungen Mannes, der sie einen Nachmittag lang unterhielt. Er machte Spiele mit ihr, sang ihre Lieblingslieder vor, und zauberte sogar. Zum Schluss sagte mir die alte Dame: »Und seit er hier war, bin ich so depressiv und traurig.« Ihre Tochter, die dabei saß, sprang aus dem Stuhl und dann aus der Haut. »Mama, wie kannst du so etwas sagen. Er kam und sang für dich. Er kam und besuchte dich, Er kam und unterhielt dich.« Da brüllte die alte Mutter zurück: »Aber er kam nicht wieder!«

 

Aber er kam nicht wieder. So schön es auch gewesen sein mag, es war nicht zuverlässig. Ohne Zuverlässigkeit heilt nichts. Wer von uns kann von einem einzigen Akt der Liebe leben? Wer von uns wird heil durch eine Erfahrung der Freundlichkeit, von einem Erlebnis der Treue?

 

Also, am Ende unserer Untersuchung können wir schließen: Um diesem Täter auf die Spur zu kommen, müssen wir das ganze Leben durchforschen. Eine Festnahme des Täters ist eher unwahrscheinlich.

 

Aber, Brüder und Schwestern, manchmal gibt es Fälle, die wir gar nicht lösen müssen. Denn hier verliert niemand etwas, hier wird keiner ausgeraubt, getötet, erniedrigt oder betrogen. Der Täter lässt mehr zurück als zu der Zeit, als er ankam. Deshalb wäre eine gute Strategie die folgende:

1. Nimm die Spuren des Täters wahr (Früchte des Geistes).

2. Werde dadurch dankbarer.

3. Lebe bewusster (wie ein Kommissar auf der Suche).

4. Und genieße das beschenkte Leben.

 

Erik Riechers SAC, 8. Juli 2020

 

 

Krise und Sinn

 

Wie können wir die Wege unseres Lebens gehen, wenn sie schwierig werden, wenn Krisen uns durchschütteln, wenn wir uns machtlos fühlen? Wir alle kennen solche Zeiten und in diesem Jahr kommt die Erfahrung der Pandemie dazu, die uns weltweit miteinander verbindet. Solch eine globale Krisenerfahrung gab es zuletzt im und durch den 2. Weltkrieg. Zeugnisse mannigfaltiger Art gibt es darüber, wie Menschen damals Elend und Gefahr aushielten, trugen und äußerlich sowie innerlich überlebten. Ihre Geschichten nähren uns bis heute, denken wir etwa an Elie Wiesel, Primo Levi oder Marcel Reich-Ranicki, an Eva Erben oder Marceline Loridan.

Der Wiener Psychiater und Neurologe Viktor Frankl (1905-1997) kannte als Jude wie Millionen andere  existentielle Bedrohung und Verrohung. Er durchstand vier Konzentrationslager von September 1942 bis Ende April 1945. Sein Vater starb in einem Lager, ebenso seine Frau; seine Mutter und sein Bruder wurden ermordet.

Schon in seinem Medizinstudium hatte er seine Schwerpunkte gefunden: Depression und Suizid. Dies führte ihn zum Zentrum seines Arbeitens, der Frage nach dem Sinn des Lebens. Er musste die Hölle durchschreiten und verlor seine Liebsten, doch zerbrach er nicht. Sein Denken und Arbeiten wurden tiefer, reicher und fruchtbar bis heute.

Wie können wir die Wege unseres Lebens gehen, wenn sie schwierig werden?  

»Wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden.«, sagte Viktor Frankl.

Heute begegnen uns Floskeln wie »Hauptsache gesund!« oder »Alles gut!« und derzeit »Endlich wieder alles normal!» - nichts scheint wichtiger als möglichst schnell wieder in die Oberflächlichkeit und vermeintliche Leichtigkeit zurückzukehren. Doch das Leben ist nicht nur angenehm und wenn ich versuche, es irgendwie darauf zu biegen und zu reduzieren, verflacht es und bekommt keine wirkliche Tiefe. Viktor Frankl sprach immer davon, dass das Leid, das Schwere, Not und Tod zu unserem Leben gehören. Dies alles hat einen Sinn, den wir zerstören, wenn wir versuchen, das Dunkle von unserem Leben abzutrennen. Wir würden unserem Leben die wahre Gestalt nehmen. »Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt.« Das konnte ein Mann sagen, der durch die Hölle von Konzentrationslagern gehen musste. Er konnte in dem Schmerz des Leidens die formende Kraft erkennen, durch den sein wahres Ich immer mehr gestaltet wurde und er so den Sinn, die Aufgabe, die Berufung seines Lebens sogar tiefer und voller erfüllen konnte.   

Wir Christen gehen in die Werkstatt des Meisters und nie hat Jesus uns ein lockeres leichtes Leben vorgelebt oder versprochen. Sein Anliegen war und ist die Fülle, der wahre Reichtum eines authentisch gelebten Lebens, in dem nichts übergangen oder ausgeklammert wird. Er lebte als wahrer Sohn der Tora und in ihr heißt es: »Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.« (Dtn 30,19)

Mein Leben in seiner ganzen Spannbreite, in all seinen Facetten von leichtem Himmelblau bis zum düsteren Schwarz-Grau, kann ich wahrhaft leben, wenn ich um den Sinn dieses meines Lebens weiß und mich stets neu genau dafür entscheide, nämlich das zu gestalten, was mir gegeben ist, und sei es manchmal auch sehr wenig.

 

Rosemarie Monnerjahn, 6. Juli 2020

 

 

14. Sonntag A 2020

 

Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt

und schwere Lasten zu tragen habt.

Ich werde euch Ruhe verschaffen.

Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir;

Denn ich bin gütig und von Herzen demütig;

So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.

Denn mein Joch drückt nicht,

und meine Last ist leicht.

Mt 11, 28-30

 

Wer von uns fühlt sich nicht geplagt und von schweren Lasten bedrückt? Und wer von uns möchte nicht Ruhe von alledem? Kaum sind diese Worte Jesu gesprochen, und schon verspüren wir große Lust, uns für diese Erholungskur zu melden.

 

Allerdings lockt uns diese Sehnsucht in eine Falle. Denn als Menschen wollen wir meistens, dass jemand uns die Last abnimmt, und deshalb hören wir den Text nicht bis zum Ende. Denn das Angebot Jesu ist es nicht, uns ein für allemal die Lasten abzunehmen. Hier schlägt er eigentlich einen Tausch vor. Der  Vorschlag Jesu heißt: Leg eine untragbare Last ab und nimm eine tragbare Last auf dich.

 

Das ist immer so mit Jesus. Er ist immer daran interessiert Menschen das abzunehmen, was untragbar für sie ist, und gleichzeitig ist er immer klar und konsequent in seiner Forderung, dass sie etwas auf sich nehmen sollten (mein Joch), dass tragbar ist und dem Leben dient.

 

Es gibt so einiges, was für uns untragbar ist: Schuld, Sünde, Tod, Blindheit, Lähmung. Wenn wir Lasten dieser Art zu lange tragen, dann gehen wir unter.  Aber um frei, erlöst, sehend, lebendig und beweglich zu leben, müssen wir auch etwas Tragbares auf uns nehmen. Das Joch hat viele Namen bei Jesus: Geh; verkaufe, suche, verschenke, handle danach, usw. Sie sind auch eine Last, aber eine leichte, eine tragbare Last.

 

Nehmen wir Vergebung als Beispiel. Vergebung ist eine tragbare Last. Die untragbare Last sind die Schuld und die Schuldgefühle. Immer meinen wir, dass unsere Vergangenheit und unsere Fehler uns belasten, aber eigentlich ist es unsere Schuld. Denn wenn wir gut mit unserer Vergangenheit und unseren Fehlern umgehen, dann tragen wir nicht ewig an unserer Schuld. Untragbar (unerträglich) ist es, wenn wir sagen:  »Ich fühle mich schuldig, weil ich damals versagt habe. Ich fühle mich schuldig, weil ich nicht gut genug war. Ich fühle mich schuldig, weil ich falsche Entscheidungen getroffen habe. Ich fühle mich schuldig…« Und so weiter, und so fort.

 

Schuld ist auf Dauer die untragbare Last. Aber auch wenn wir uns der Vergebung Gottes sicher sind (ich bin gütig und von Herzen demütig) und wir die Last der Schuld dadurch abgenommen bekommen, müssen wir noch etwas auf uns nehmen, nämlich das Joch der Vergebung, die wir in uns selbst finden müssen und mittragen sollten.

 

Es reicht nicht zu sagen, dass die Leidenschaft Gottes der Vergebung und nicht der Bestrafung seiner Menschen gilt (Mein Joch drückt nicht). Wie viele Male müssen wir eigentlich noch hören: »Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt«?  Es wird auch nicht reichen zu sagen, dass wir uns Erlösung oder Freiheit oder neue Lebenschancen wünschen.

 

Wir müssen irgendwann mal die Last ablegen und uns ein wenig ausruhen. Wir müssten irgendwann aufhören, ständig auf uns selbst herumzuhacken, das Alte aufzuwühlen, in alten Wunden herum zu bohren. Die ewige, ununterbrochene Selbstanalyse wird irgendwann zu einem Ersatz für das Leben.

 

Wir müssen genug Barmherzigkeit, Lebendigkeit und Mut in uns selbst finden, um uns selbst etwas zu verzeihen. Es gibt immer ein Joch, etwas, was wir aufnehmen müssen, wenn wir über die untragbare Last hinaus leben wollen.

 

Immer wieder werden Formen der Selbstbeobachtung in Menschen vorkommen. die entstellt, beschädigt und giftig sind. Wenn wir zu gewohnheitsmäßig uns selbst beobachten, können wir die Lebenserfahrungen abschrecken, bevor sie stattfinden können. In fast suchtartigen Spekulationen darüber, wie es weiter geht oder was die Zukunft für uns hält, denken wir uns alle möglichen Szenarien aus und sind dann so entmutigt und beängstigt, dass wir gar nichts wagen, ausprobieren oder versuchen.

 

Leg die untragbare Last des ewigen, unerbittlichen Selbstvorwurfes ab, und ruh ein wenig aus. Nimm eine leichtere Last auf:

Geh mal eine Zeitlang und lebe ohne Analyse.

Verkaufe etwas, woran du festhältst, was aber dir nicht gut tut.

Suche nach neuen Lebenschancen:

Verschenke die alten Ausreden, warum du nicht gut genug bist.

Handle und setze Unbekanntes in Bewegung.

 

Das sind Dinge, die Jesus uns auflegt und wenn wir sie umsetzen, sind sie wahrhaftig eine Last. Ich weiß es, denn jedes Mal, wenn ich sie Menschen ans Herz lege, beschweren sie sich darüber, wie schwierig es ist, sie auf sich zu nehmen. Natürlich sind sie eine Last, aber eine leichtere, eine tragbare. Wir träumen zu viel von einem unbelasteten Leben und tun zu wenig, um ein belastbares Leben zu gestalten.

Erik Riechers SAC, 5. Juli 2020

 

 

Die Krise und Schalom

 

Verändert die große, weltweite Krise dieses außergewöhnlichen Jahres uns Menschen? >Eines tut sie:  Sie hilft jedoch aufzudecken, wie wir wirklich sind – als Einzelne oder als Gesellschaft. Die Art und Weise, wie wir mit Verantwortung, Risiken und Einschränkungen umgehen, hat unmittelbar zu tun mit unserem inneren Selbst. So offenbaren die Verunsicherungen der Pandemie wie jeder Krise, wie stark wir bestimmt werden von äußeren Gegebenheiten oder wie verwurzelt und stabil wir in und aus unserem Inneren leben.

Kürzlich sprach ein erfahrener Therapeut davon, wie unausgeglichen und instabil wir oft im Leben stehen. Unsere Gefühle wallen auf, die innere See ist so unruhig, dass ein Blick in die Tiefe unmöglich ist. Erst wenn die Oberfläche wieder ruhig würde, könnten wir erblicken, was uns in der Tiefe zur Verfügung steht und daraus schöpfen.

Ein Wort Jesu kommt mir in den Sinn: »Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.« (Lk 17, 21) Würden wir immer und immer wieder zu dieser Quelle gehen, könnte sich Friede in uns ausbreiten, Schalom im tiefen Sinn von Frieden und Wohlergehen. Denn wir tragen die Fülle bereits in uns. Stattdessen aber erleben wir nah und fern Aggressionen und Gewalt auf nächtlichen Straßen, Proteste und Verschwörungstheorien, Ignoranz und Rücksichtslosigkeiten. All dies erzählt von Unfrieden in den Seelen, davon, wie sehr Menschen von äußeren Bedingungen abhängig sind und sich in Wallung bringen lassen. Dies hat natürlich Konsequenzen und zeigt sich dann auch im Verhalten draußen.

Die Verwobenheit von innerer und äußerer Welt konnten die Weisen indigener Völker wunderbar ausdrücken:

Der erste Friede, der wichtigste, ist jener,

der in den Seelen der Menschen einzieht,

wenn sie ihre Verwandtschaft, ihr Einssein mit dem Weltall

und allen seinen Mächten gewahren und inne werden,

dass der große Geist im Mittelpunkt des Weltalls wohnt

und diese Mitte tatsächlich überall ist.

Sie ist in jedem von uns. Das ist der wirkliche Friede.

(»Schwarzer Hirsch«, Oglala Sioux Indianer)

 

Um diesem Frieden auf die Spur zu kommen, muss ich still werden, betrachtend mich mir und der Welt aussetzen. Und nach und nach wird die See ruhig. Ich erkenne den Reichtum in mir, in meiner Tiefe. Dann kann ich üben, in der Mitte zu wandeln.

»Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.«  Krisenzeiten kommen und Schwankungen auch. Darum üben wir, in und aus dieser Mitte in uns zu leben. 

Und wir wünschen einander wahrhaft »Schalom«.

 

Rosemarie Monnerjahn, 3. Juli 2020

 

 

Damit die Verhältnisse mich nicht ändern

 

In seinem Gedicht »Rat« schlägt Wilhelm Bruners vor, wie wir in den Tag hineingehen sollten. Sein Rat ist es, dass wir uns »die ersten Informationen aus den Liedern Davids« holen, bevor wir Nachrichten hören und Zeitungen lesen. Dann kommt mein Lieblingsteil: »Beachte die Reihenfolge wenn du die Kraft behalten willst die Verhältnisse zu ändern«.

Sein Rat ist mir lieb und teuer und ich befolge ihn jeden Morgen. Wahrlich, wir sollten alles tun, um unsere Kräfte zu bewahren, damit wir sie einsetzen können, um die Verhältnisse des Alltags und der dominanten Kultur um uns herum zu ändern.

Aber was passiert, wenn unsere Kraft nicht reicht, um die Verhältnisse zu ändern? Oft meinen Menschen, dass es dann nichts mehr zu tun gibt. Aber das stimmt nicht. Wenn meine Kräfte nicht reichen, um die Verhältnisse zu ändern, dann muss ich achtgeben, dass ich meine Kräfte einsetze, damit die Verhältnisse mich nicht ändern.

Elie Wiesel erzählt folgende Geschichte:

»Hören Sie sich eine Geschichte an: Eines Tages kam ein gerechter Mann in die Stadt Sodom. Er begann dessen Bewohnern zu predigen und forderte sie auf, ihre bösen Wege zu ändern. Er wollte sie vor der Zerstörung retten, eine Zerstörung, von der er wusste, dass sie durch ihre Sünden gegeneinander entstehen würde. ‚Bitte‘, sagte er, ‚hört auf mit eurer Grausamkeit, hört auf mit eurer Unmenschlichkeit! Ihr musst freundlicher zu dem Fremden sein, zu den Kindern des Fremden!‘ Er fuhr viele Tage so fort, aber niemand hörte zu. Er aber gab nicht auf. Er predigte und protestierte viele Jahre lang. Schließlich fragte ihn ein Passant: ‚ Rabbi, wirklich, warum machst du das? Siehst du nicht, dass niemand zuhört?‘ Er antwortete: ‘Ich weiß. Niemand wird zuhören, aber ich kann nicht aufhören. Wissen Sie, zuerst dachte ich, ich müsste predigen und protestieren, um sie zu ändern. Aber jetzt, obwohl ich weiter spreche, soll es die Welt nicht verändern. Es ist, damit sie mich nicht ändern.‘« *

Wenn meine Kräfte nicht reichen, um die Verhältnisse zu ändern, dann muss ich achtgeben, dass ich meine Kräfte einsetze, damit die Verhältnisse mich nicht ändern.

Für diejenigen, die nicht zuhören wollen, scheint der Rabbi ein Verrückter zu sein. Aber auch hier bleibt Elie Wiesel seiner tiefsten Glaubensintuition treu. Wir sollten die »Verrückten« studieren, »um zu lernen, wie man Widerstand leistet. Verrücktsein ist der Schlüssel zum Protest, zur Rebellion. Ohne es können wir, wenn wir nach den Maßstäben unserer Umgebung zu ‚normal‘ sind, von dem Wahnsinn der Welt mitgerissen werden.« *

Wenn meine Kräfte nicht reichen, um die Verhältnisse zu ändern, dann muss ich achtgeben, dass ich meine Kräfte einsetze, damit die Verhältnisse mich nicht ändern.

*Aus: Witness: Lessons from Elie Wiesel's Classroom von Ariel Burger

Erik Riechers SAC, 1. Juli 2020

 

 

Spuren aus längst vergangenen Tagen

 

Wir alle erinnern uns an Menschen, die tiefe Spuren in unserem Leben hinterlassen haben. Wir sind eben wesensmäßig auf Beziehung und Begegnung angelegt. Martin Buber formulierte es in seinen Gedanken zur Erziehung so: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«  Vieler Spuren sind wir uns gar nicht bewusst.

Heute gedenken wir zweier Männer, deren Spuren in der großen christlichen Familie seit 2000 Jahren sichtbar sind und immer wieder betrachtet und auch gefeiert werden: der jüdische Fischer Simon Petrus aus Galiläa und der römische Bürger und griechisch gebildete Jude Paulus aus Tarsus.

Warum konnten sie - vom Rande des damaligen römischen Weltreiches kommend - solch unauslöschliche Spuren in unseren Boden prägen? Die Antwort klingt einfach: Weil sie den schmalen Weg ins Leben wählten. Doch was verlangte das von ihnen?

Sie mussten Entscheidungen treffen und handelten danach.

Ihr Weg forderte immer wieder von ihnen, sich zu fokussieren und zu entscheiden

Sie konnten Begegnungen und Situationen nicht ausweichen, sondern stellten sich ihnen und setzten sich mit den Herausforderungen auseinander.

Schauen wir uns ein paar Stationen ihres jeweiligen Weges an.

Im Matthäusevangelium hören wir zum ersten Mal von Petrus im 4. Kapitel: »Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, genannt Petrus, und seinen Bruder Andreas; sie warfen gerade ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Sofort ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach.« Was auch immer die Faszination dieses Rufes ausmachte, Petrus entscheidet sich, Jesus zu folgen. So beginnt sein Weg mit ihm, und viel später kann er in einer schwierigen Stunde zu Jesus sagen: »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Mt 16, 16)

Wie schmal dieser Weg ist und wie schwer es so manches Mal fällt, sich darauf zu fokussieren und nicht abzugleiten, erfährt er nur wenig später. Als Jesus nämlich seinen Jüngern klar macht, wohin sein Weg führen wird, nämlich zum Tod, sagt Petrus zu ihm: »Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!« Jesus aber hilft ihm, auf dem schmalen Weg zu blieben: »Tritt hinter mich…« Das bedeutet: Bleib in meiner Spur, auch wenn es eng wird.

Petrus lernt sein »Handwerk« und zeigt später immer wieder, dass er auf seinem schmalen Weg den Herausforderungen nicht ausweicht. Die Apostelgeschichte erzählt uns immer wieder davon. So kann er, Jesus, den Auferstandenen, bekennend, einen Gelähmten im Tempel heilen und später vor dem Hohen Rat dazu stehen, allen Anfeindungen, Verboten und Drohungen zum Trotz: »Ob es vor Gott recht ist, mehr auf euch zu hören als auf Gott, das entscheidet selbst. Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben.« (Apg 4, 19-20)

So kamen die Spuren des Petrus in den Grund, auf dem wir stehen.

Im Galaterbrief erzählt Paulus von seinem Weg. Er erinnert an sein früheres Leben: »Ihr habt doch von meinem früheren Lebenswandel im Judentum gehört und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. Im Judentum machte ich größere Fortschritte als die meisten Altersgenossen in meinem Volk und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein.« (Gal 1, 13) Doch er wurde von Gott selbst auf einen neuen Weg gerufen, auf dem er zunächst Hilfe brauchte und übte: »…ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm.« Sein Weg forderte ihn immer wieder neu heraus - die Apostelgeschichte und seine Briefe sind voll davon. Es war eben auch ein schmaler Weg, keine Autobahn.

Menschen, die auf den breiten Wegen der Massen gehen, brauchen das alles nicht zu tun. Sie können sich treiben lassen, müssen nicht fokussieren, um auf dem Weg zu bleiben, können schwierigen Situationen leicht ausweichen. Aber von ihnen finden sich auch keine Spuren. Wie auch?!

Unsere Frage sollte sein: Welcher Weg führt ins Leben? Das ist genau Jesu Herzensanliegen. Gegen Ende seiner großen Lebensunterweisungen auf dem Berg sagt er: »Geht durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und es sind viele, die auf ihm gehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und es sind wenige, die ihn finden.« (Mt 7, 13-14)

Petrus und Paulus sind Zeugen dafür. Sie prägten der Welt ihren Abdruck auf, weil sie ihren Weg ins Leben gingen und damit uns allen Vorbild sind.

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. Juni 2020

 

 

13. Sonntag A 2020

 

Eines Tages ging Elischa nach Schunem. Dort lebte eine vornehme Frau, die ihn dringend bat, bei ihr zu essen. Seither kehrte er zum Essen bei ihr ein, sooft er vorbeikam. 9 Sie aber sagte zu ihrem Mann: Ich weiß, dass dieser Mann, der ständig bei uns vorbeikommt, ein heiliger Gottesmann ist. 10 Wir wollen ein kleines, gemauertes Obergemach herrichten und dort ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Leuchter für ihn bereitstellen. Wenn er dann zu uns kommt, kann er sich dorthin zurückziehen. 11 Als Elischa eines Tages wieder hinkam, ging er in das Obergemach, um dort zu schlafen. 12 Dann befahl er seinem Diener Gehasi: Ruf diese Schunemiterin! Er rief sie, und als sie vor ihm stand, 13 befahl er dem Diener: Sag zu ihr: Du hast dir so viel Mühe um uns gemacht. Was können wir für dich tun? Sollen wir beim König oder beim Obersten des Heeres ein Wort für dich einlegen? Doch sie entgegnete: Ich wohne inmitten meiner Verwandten. 14 Und als er weiter fragte, was man für sie tun könne, sagte Gehasi: Nun, sie hat keinen Sohn und ihr Mann ist alt. 15 Da befahl er: Ruf sie herein! Er rief sie und sie blieb in der Tür stehen. 16 Darauf versicherte ihr Elischa: Im nächsten Jahr um diese Zeit wirst du einen Sohn liebkosen. Sie aber entgegnete: Ach nein, Herr, Mann Gottes, täusche doch deiner Magd nichts vor! 17 Doch die Frau wurde schwanger und im nächsten Jahr, um die Zeit, die Elischa genannt hatte, gebar sie einen Sohn.

              2 Könige 4, 8-17

Vor zwei Jahren haben wir einen Brunnentag gehalten, in dem wir die Erzählungen über Elischa sehr intensiv betrachtet haben. Und als wir zu der Stelle kamen, die wir heute im Gottesdienst bekommen, stellten wir eine Frage an die Gruppe: Was erweckt eine Dankbarkeit in mir, die tief genug ist (und nicht nur oberflächlich), dass ich nicht nur berührt, sondern bewegt werde, Raum und Zeit zu investieren, um anderen Leben zu schenken?

Die Frau aus Schunem erweckt eine tiefe Dankbarkeit in Elischa. Schauen wir mal an, was diese Dankbarkeit erweckt: Essen, ein Zimmer, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Leuchter.

Dem ersten Anschein nach fällt die Liste eher dürftig aus. Immerhin, für diese Kleinigkeiten ist Elischa bereit, beim Obersten des Heeres oder sogar beim König ein Wort einzulegen. Und am Ende schenkt er der Frau die Fruchtbarkeit, die es ihr möglich macht, ein Kind zu tragen.  Das Preis-Leistungsverhältnis scheint hier ein bisschen aus dem Ruder gelaufen zu sein.

Oder vielleicht auch nicht. Wer Augen hat zu sehen, wird merken, dass jede ihrer Gaben eine tiefere, reichere Welt des Lebens und der Liebe repräsentiert.

  1. Sie gibt ihm etwas zu essen. Nahrung ist immer das, was Leben erhält. Aber um ihm Nahrung zu gönnen, musste sie zuerst ein Auge für seinen Hunger gehabt haben.

 

  1. Sie richtet für ihn ein kleines, gemauertes Obergemach ein. Sie gönnt ihm einen Raum, der ihm gehört, einen Ort, an dem es sich leben lässt. Und sie tut das für einen Menschen, der sonst keinen Ort für sich hat, keinen Raum, den er sein eigen nennen kann. Dafür muss sie ein Auge haben für die Heimatlosigkeit dieses Menschen.

 

  1. Sie schenkt ihm ein Bett. Das ist das Geschenk der Ruhe, wo alles ,was in uns sonst unter Spannung steht und Lasten tragen muss, sich mal ausruhen kann. Dafür muss sie ein Auge haben für die Erschöpfung dieses Menschen.

  

  1. Sie stellt ihm einen Tisch hin. Das ist der Ort, wo wir Essen, Bücher und andere kostbare Dinge ablegen können, damit wir die Hände frei haben und besser und tiefer genießen können. Die billigen Dinge des Lebens können wir auf dem Boden abstellen, aber die wertvollen Dinge brauchen einen Tisch. Wenn wir das Essen auf den Boden stellen, dann degradieren wir einen Menschen zu einem Hund. Ein Tisch garantiert Würde. Aber dafür musste sie ein Auge für die Armut dieses Menschen haben.

 

  1. Sie stellt ihm einen Stuhl zur Verfügung. Das ist der Ort, wo wir Platz nehmen können, verweilen und bleiben dürfen. Wenn jemand uns einen Stuhl anbietet, ist es eine Einladung zu verweilen und etwas Zeit zu nehmen. Wenn wir aber stehen bleiben müssen, dann wissen wir, dass unser Gegenüber uns so schnell wie möglich wieder loshaben möchte. Aber dafür musste sie ein Auge für die Sehnsucht nach Zugehörigkeit in diesem Menschen haben.

 

  1. Und am Ende wird ein Leuchter für ihn bereitgestellt. Ein Leuchter bringt Licht, wo sonst kein Licht hinkommen kann. Ein Leuchter kann Licht dehnen in Zeiten, wo sonst kein Licht herrschen kann. Aber dafür musste sie ein Auge für das Ausgeliefertsein Elischas an der Orientierungslosigkeit haben.

 

Im Lektionar wird die Geschichte gekürzt und dieser Teil der Erzählung wird weggelassen:

12 Dann befahl er seinem Diener Gehasi: Ruf diese Schunemiterin! Er rief sie, und als sie vor ihm stand, 13 befahl er dem Diener: Sag zu ihr: Du hast dir so viel Mühe um uns gemacht. Was können wir für dich tun? Sollen wir beim König oder beim Obersten des Heeres ein Wort für dich einlegen? Doch sie entgegnete: Ich wohne inmitten meiner Verwandten.

Dieser Teil ist nicht unbedeutend, denn hier klärt sich, wie Dankbarkeit gegenüber einer solchen Frau, einer solchen Geberin des Lebens, aussehen kann. Sollte die Belohnung dieser Frau vom König oder beim Obersten des Heeres kommen, dann wird es um Macht, Status, Reichtum oder Einfluss gehen. Das ist die Währung der Herrscher und Machthaber. Das ist, was sie anzubieten haben.

Aber es ist nicht ihr Begehr. Diese Frau hat sich rührend um das Leben eines ausgelieferten Menschen gesorgt und ihm Leben gegönnt. Sie weiß, dass Macht, Status, Reichtum und Einfluss gefährlich sind für Menschen wie sie. Wir argumentieren immer, dass auch diese Dinge dem Leben dienen können, aber die überwiegende Erfahrung mit ihnen ist, dass sie uns korrumpieren. Macht, Status, Reichtum und Einfluss lenken unseren Blick auf sie hin und von den Menschen ab. Sie sind nicht dafür bekannt, dass sie unseren Blick für das Leben schärfen. Meistens werden sie zum Selbstläufer.

Die Frau will das, was alle Diener des Lebens wollen, nämlich Lebensmehrung. Eine Regel so alt wie die biblische Erzählung lautet: Wo Leben angeboten wird, wird Leben entstehen; wer anderen Leben gönnt, ermöglicht und dient, wird selbst Leben bekommen und ein Lebensträger werden. Die Frau wird ein Kind bekommen.

Wir sind gerade sehr beschäftigt mit der Welt der Herrscher und Machthaber. Nach langen Tagen der Krise sollten sie jetzt uns alles zurückgeben, worauf wir verzichten mussten: Fußball, Restaurants, Reisen, Konsum, Kino, Theater und jegliche Form der Unterhaltung.

Ich stelle die Frage des Anfangs noch einmal, aber gezielter: Werden das die Dinge sein, die eine Dankbarkeit in uns wecken, die tief genug ist (und nicht nur oberflächlich), dass wir nicht nur berührt, sondern bewegt werden? Wird diese gnadenlose Restaurierung der Oberflächlichkeit und des gedankenlosen Konsums uns dazu bewegen, Raum und Zeit zu investieren, um anderen Leben zu schenken?

Was nutzt uns das alles ohne Menschen, die uns Leben gönnen: Essen, einen Raum, ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und eine Leuchte?

Was nutzt es uns das alles, wenn wir eine Gesellschaft und eine Kirche bauen, die nur Oberflächlichkeit und Konsum kennen? Wer hat ein Auge für den Hunger unserer Mitmenschen, wenn wir uns nur mit unserer Sättigung beschäftigen? Wer hat ein Auge für die Heimatlosigkeit der schwer betroffenen Menschen, wenn wir uns nur darum kümmern, dass wir gut untergebracht sind? Werden wir ein Auge haben für die Erschöpfung der Menschen in diesen Tagen, wenn wir uns nur um unsere Entlastung sorgen? Wo ist ein  Auge für die Armut der vielen wirtschaftlich geschwächten Menschen, wenn wir nur unseren Wohlstand wiederherstellen wollen? Wollen wir überhaupt ein Auge für die Sehnsucht nach Zugehörigkeit in den Menschen haben, wenn wir uns nur um die Wiederherstellung unsere sozialen Kontakte kümmern? Haben wir ein Auge für das Ausgeliefertsein an die Orientierungslosigkeit so vieler Menschen, für die diese Krise noch längst nicht vorbei ist, wenn wir nur unsere Zukunft im Blick haben?

Wenn einer diese Frau verstehen und würdigen kann, dann Jesus von Nazareth: »Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.« (Mt 8,20) Seine Erfahrungen werden ihn noch mehr die kleinen Gaben und Dienste am Leben schätzen lassen: Essen, ein Zimmer, ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Leuchter. Wer nah am Menschensohn bleibt, bleibt nah an den Armen. Wer nah an den Armen bleibt, schätzt alles, was dem Leben dient und alle, die Lebensträger für sie sind.

 

So kehre ich ein letztes Mal zu unserer Frage zurück. Was erweckt eine Dankbarkeit in mir, die tief genug ist (und nicht nur oberflächlich), dass ich nicht nur berührt, sondern bewegt werde, Raum und Zeit zu investieren, um anderen Leben zu schenken?

Wenn wir anderen Menschen Leben gönnen und bereiten, wird auch für uns Leben entstehen.

Erik Riechers SAC, 28. Juni 2020

 

 

»Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden«

(Mk 11, 17)

 

Nach langen Jahren hatte ich mich auf den weiten Weg gemacht. Ich wollte wieder einmal den Tempel in Jerusalem besuchen, ich wollte ihn betreten. Prachtvoll war er in meiner Erinnerung seit meiner Jugend, die Schönheit hatte etwas Himmlisches. Auch wenn ich nicht an den Gott der Juden glaubte, so hatte er mich damals in seinen Bann gezogen.

Ich ließ meine Tochter, die inzwischen gut auf eigenen Füßen stand, zurück und zog in vielen Tagesmärschen nach Süden und dann in die judäischen Berge hinauf. Endlich nahte Jerusalem, die Stadt auf den Bergen – welch ein Anblick! Nichts Vergleichbares gab es in meiner kanaanäischen Heimat. Als ich mich endlich dem Tempelberg näherte, wurden die Gassen immer voller. Viele Menschen waren unterwegs zu ihrem Heiligtum. Denn es war kurz vor dem großen Pessach-Fest der Juden. Und so zog ich mit den Scharen südlich um den Tempelberg herum und erstieg die Stufen – langsam, mit klopfendem Herzen, Stufe für Stufe. Dann stand ich vor dem  Eingangstor in der Säulenhalle. Ich wusste, es war das einzige Tor, das ich als heidnische Frau durchschreiten durfte, umso bewusster durchschritt ich es und fand mich wieder im Vorhof der Heiden. Ja, wir durften nur in diesen Bereich, der eigentliche Tempel war uns verwehrt. Dabei pochte in mir so viel Sehnsucht nach dem Heiligen, sie hatte mich bis hierhin begleitet, ja getrieben. Das wurde mir auf einmal klar, als ich hier in dem Trubel stand und hinauf zum gewaltigen Tempelgebäude blickte.

Anders war es als damals, vor vielen Jahren. Ich war keine Jugendliche mehr, das Leben hatte mich geformt seither. Aber auch hier war es nicht so, wie ich es in Erinnerung hatte. So viel Geschäftigkeit, so viel Hasten und Hetzen, so viele Händler! Opfertiere gingen über ihre Tische, Münzen wechselten die Besitzer - hier schien es ums Geschäft zu gehen.

Gerade als ich mir einen etwas ruhigeren Platz suchen wollte, geschah es: Stimmen wurden laut, Tische wurden umgestoßen, Tauben flatterten auf und Menschen sprangen zur Seite. Für einen Augenblick entstand eine Schneise zwischen den Massen und ich sah den Mann, der gerade einen weiteren Händlertisch umkippte. Vorsichtig trat ich etwas näher. Dann hörte ich seine Stimme. Klar und deutlich war sie: » Heißt es nicht in der Schrift:  Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht. « Ich musste mich durch ein paar Schaulustige zwängen, um ihn noch besser sehen zu können. Mein Herz schien stehen zu bleiben: Ich war ihm schon einmal begegnet. Vor mehr als einem Jahr war er mit seinen Freunden in meiner Heimat unterwegs; er wollte nicht gestört werden und doch wagte ich es. Ich war in so großer Not. Wie eine Löwin kämpfte ich um meine Tochter, sie sollte frei werden von dem bösen Geist, der sie besetzt hatte. Alle Hoffnung setzte ich auf ihn damals, als er plötzlich so nah war. Doch: Wie abweisend war er! Ich ließ nicht locker, ich winselte wie eine Hündin. Ich weiß ja, dass ich nicht zu seinem auserwählten Volk gehöre. Aber dürfen wir nicht auch leben? Seinen Blick vergesse ich nie, als er wahrnahm, dass er meine Hoffnung war und mich zurück schickte mit den Worten:  Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen! Und so war es – Gott sei Dank!

Dass ich ihm heute hier begegne – ihm, der meine Tochter rettete!

Und was hat er gesagt? »Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden.« Dann wäre es ja auch für mich. Dann dürfte ich wirklich hinein und mein Herz könnte das Heilige berühren. Wir könnten alle zusammen beten. Tränen laufen meine Wangen hinab – dieser Satz trifft auf meine ganze Sehnsucht, die mich bis hierher getrieben hat.

Nun verliere ich ihn  aus den Augen. Ich ziehe mich hinter eine Säule zurück und blicke zum Heiligtum hin. Welch ein kostbarer Augenblick! Dieser Rabbi, der meine Tochter, das Kind einer Heidin, geheilt hat, hat den Mut, im Herzen seiner Religion zu sagen, dass alle hier beten dürfen.

Sein Gott ist unser aller Gott . . . Welch eine Pilgerreise! Und für einen Moment erfüllt mich das Gefühl, meine Heimat gefunden zu haben.

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. Juni 2020

 

 

Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.

Die Geburt Johannes des Täufers

 

»Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sei nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.« Diese Worte wurden im Warschauer Ghetto geschrieben, ein Ort der Krise und des Todes. Sie wurden gebetet an einem Ort der Gräueltaten gegen die Brüder und Schwestern dieses Beters.

 

Wir bewältigen gerade eine Krise, die für die meisten von uns deutlich milder und leichter ist. Können wir so beten, so von Gott sprechen und, noch wichtiger, so über unseren Glauben in Zeiten der Bedrängnis reden? Vielleicht kann uns der heutige Festtag der Geburt Johannes des Täufers helfen.

 

Das Geheimnis von der Geburt des Täufers liegt in der Tatsache, dass Gott uns nicht nur Leben anbietet, sondern dass er uns Leben anbietet, das unsere Erwartungen übertrifft. Als der Engel des Herrn die Geburt des Täufers ankündigt, kündigt er ein Geschenk neuen Lebens an einem Ort und zu einer Zeit an, an dem weder Elisabeth noch Zacharias es erwarten, so etwas zu finden. Es sollte kein aufkeimendes Leben in einer Frau in Elisabeths Alter oder medizinischen Vorgeschichte geben. Dies ist die Zeit für Unfruchtbarkeit, nicht für Babys. Dies ist eine Zeit für die Geriatrie, nicht für die Entbindungsstation.

 

Gott bietet den beiden jedoch ein Leben, das ihre Erwartungen übertrifft. Unfruchtbarkeit blüht plötzlich auf. Die Erwartungen werden radikal in Frage gestellt, da das Leben zu einer Zeit angeboten wird, an dem die Zukunft so trocken und verdorrt aussah wie der Mutterleib von Elisabeth. Die Lektion ist einfach. Gott definiert, wo das Leben gewährt wird und unsere Erwartungen sind kein Hindernis für die Freiheit Gottes, uns zu überraschen.

 

Es gibt viele Orte, an denen Gott uns Leben bietet, das unsere Erwartungen übertrifft. Es passiert, wenn Frauen feststellen, dass sie ein Kind erwarten, das sie nicht geplant oder erwartet haben. Es passiert, wenn wir uns um unsere betagten und kranken Eltern kümmern. Es passiert, wenn wir Menschen mit schweren Behinderungen pflegen. Es passiert in den Tagen jenseits der Beerdigungen. Es passiert mitten in Krebs und Chemotherapie. In all diesen Momenten und in vielen anderen ähnlichen Situationen sind wir niedergeschlagen und ausgelaugt, weil wir davon überzeugt sind, dass wir an die Schwelle einer Erfahrung gekommen sind, die unser Leben austrocknen, besiegen oder zerstören wird. Wir können uns nicht vorstellen, dass uns ein Geschenk Gottes angeboten wird. Wir brauchen also ein bisschen Hilfe.

 

Dies erfordert von uns einen zweiten Moment des Nachdenkens. Wenn Gottes auferlegtes Schweigen endlich die Anerkennung des Segens aus unseren steifen und widerstandsfähigen Herzen knetet, müssen wir wie Zacharias sagen: »Sein Name ist Johannes.«

 

Der Name Johannes bedeutet »Gott hat uns Gnade gezeigt«. Wenn Zacharias seinem Sohn diesen Namen gibt, ist dies nicht nur eine Bezeichnung. Es ist ein Glaubensbekenntnis. Der Mann, der nicht glaubte, dass Gott ihm ein Leben anbieten könnte oder würde, das seine Erwartungen übertrifft, sagt jetzt deutlich, dass die Geburt des Täufers ein Moment ist, in dem Gott seine Gnade gezeigt hat.

 

Auch wir müssen uns dazu bekennen, dass Gottes Liebe an unerwarteten Orten wirkt. Wir müssen unsere unerwarteten und sogar widerstandenen Segen benennen und zugeben, dass Gott uns Gnade gezeigt hat. Schweigen ist angebracht, um uns die Möglichkeit zu geben, unser Verständnis dessen zu vertiefen, was uns in der unerwarteten Stunde angeboten wird. Sobald wir jedoch verstehen, was Gott uns in der überraschenden Stunde anbietet, muss die Stille gebrochen werden.

 

Am Ende muss unser Schweigen zerschmettert werden. Wenn die Kinder, die wir fürchteten in die Welt zu bringen, uns mit Lachen erfüllen und Licht in unsere Tage gebracht haben, ist es Zeit zu sagen: »Sein Name ist Johannes« (Gott hat uns Gnade gezeigt).

 

Wenn wir die Sterbenden bis an den Rand des Lebens begleitet haben und gefühlt haben, wie höllisch weh es tat und dennoch wissen, dass wir das Privileg hatten, dort zu sein, müssen wir verkünden: »Sein Name ist Johannes« (Gott hat uns Gnade gezeigt).

 

Vielleicht haben wir unter der Geißel von Krebs und Chemotherapie gelitten, nur um zu entdecken, dass sie uns zu Lehrlingen einer größeren Liebe, eines größeren Dienstes und einer größerer Opferbereitschaft gemacht haben. Noch überraschender ist die Erkenntnis, dass unser Segen aus unserem Bluten, unseren Blutergüssen und Brüchen entstanden ist. Jetzt ist es an der Zeit, den Menschen um uns herum klar zu machen, dass »sein Name Johannes ist«, denn Gott hat uns Gnade gezeigt.

 

Ich hatte einen Freund, der das konnte. In einem Leben, gezeichnet von vielen Verlusten und Tragödien, war er ein Erzähler der Gnade. Sei es der frühe Verlust seines Vaters, der Tod seines besten Freundes, oder sein eigenes Leid an den Krankheiten, die ihm so früh so viel genommen haben, er war ein Erzähler des Segens. Er konnte die Stellen herausarbeiten, an denen Gott ihm Gnade gezeigt hatte. Er war selbst noch ein Kind, als er das Herz eines Löwen entdecken konnte in seiner Einsamkeit und seinem Heimweh. Ich hatte einen Freund, der das konnte. Sein Name war Johannes.

 

An diesem Tag, an dem wir der Geburt Johannes des Täufers gedenken, sollte eine ruhige, sogar melancholische Freude über uns herrschen. Lass ein verlegenes Grinsen über unsere Gesichter spielen. Lass ein winziges Lächeln an unseren Mundwinkeln ziehen. Lass ein Kichern über unsere Lippen kommen, wenn wir uns an all die Zeiten erinnern, wo wir mit Zacharias  standen, sicher, dass wir eine Tragödie erleben,  während wir von der Gnade getränkt wurden. Dann sollten wir ein stilles Dankgebet sprechen, dass Gott uns allen die Chance gegeben hat, unsere Meinung zu ändern.

 

Für Joachim an seinem Namenstag

Zichrono livracha (Möge sein Andenken zum Segen sein)

 

Erik Riechers SAC, 24. Juni 2020

 

 

Der Mensch und die Kunst

 

Viele Kinder lieben es, Farbe aufs Papier zu bringen. Es mag für unsere Augen anfangs nach Kritzelei aussehen, später versuchen sie, ihre Sicht auf ihre Welt zu malen. Manchmal versinken sie am Maltisch im Kindergarten oder zu Hause und zeigen später stolz ihre Werke. So geht es auch mit der Musik: ein paar Rhythmusinstrumente, und schon probieren sie, was damit möglich ist; haben sie Knete in den Händen oder spielen sie am Sandstrand, beginnen sie zu formen und zu modellieren.

Schon in diesem ganz frühen Stadium des künstlerischen Schaffens können wir Wesentliches erkennen: es braucht unverplante Zeiten und anregende Räume, um kreativ zu werden und dem Ausdruck zu verleihen, was in uns ist. In schöpferischer Hingabe können neue Welten entstehen und das weckt Freude - innen und außen, beim Schaffenden und in den Betrachtenden. Die Beobachtung von Kindern oder die Erinnerung an die eigene Kindheit können uns somit zeigen, dass künstlerisches Tun zu uns Menschen wesensmäßig gehört. In schöpfersicher Weise drückt sich unsere Seele aus, werden Ideen, in uns geboren, zur Wirklichkeit.  Wir möchten etwas Schönes gestalten, es macht uns Freude, daran zu arbeiten, es erfreut andere und sie fühlen sich beschenkt. Ist nicht eine Erfahrung der letzten Monate die, dass wir uns arm fühlten, weil wir nicht zur Chorprobe gehen konnten, weil Theater- und Konzertbesuche nicht möglich waren? Museen waren geschlossen und Kreativkurse, die vielleicht zu unserem Wochenprogramm gehören, fanden auch nicht statt. Kunst ist eben keine Beigabe oder ein Luxus, falls Zeit und Geld übrig sind.

»Kunst ist eine Sache allertiefster Menschlichkeit, eine Probe auf den Feingehalt von Geist und Seele.«

Wir sollten sie pflegen und nicht als nebensächlich oder gar überflüssig abtun. Denn wenn es immer nur um das Nützliche und Pragmatische geht, wenn vieles funktioniert, ja wenn wir funktionieren, aber all das, was sich in unserer Seele rührt und was unser Geist webt, keinen Ausdruck findet, geht Menschlichkeit verloren.

Die Bibel erzählt uns, wie wir Menschen geschaffen sind: als Gottes Ebenbild und Gleichnis, also mit der Fähigkeit, schöpferisch zu sein wie der Schöpfer.

Was tat in den Wochen der größten Isolation neben allem Sorgen und Versorgen unseren Herzen wahrhaft gut? Wir sangen füreinander und miteinander von Balkon zu Balkon oder verbanden uns musikalisch über das Internet. Kindern malten Regenbogen an Fenster, Familien bemalten Steine und legten Fußwege damit aus. Musiker nahmen Hauskonzerte auf und schickten die Filme in die Welt. Wie viel Kunst wurde und wird noch immer geteilt - segnend für Geber und Empfänger.

Viele von uns lieben die biblischen Psalmen. Sie sind selbst poetische Kunst, und in ihnen ist oft die Rede davon, auf welche Weise und mit welchen kreativen Mitteln Menschen ihren Dank, ihr Lob und ihre Liebe vor Gott bringen:

Dann will ich dir danken mit Harfenspiel und deine Treue preisen, mein Gott; ich will dir auf der Leier spielen, du Heiliger Israels. Meine Lippen sollen jubeln, ja, dir will ich singen und spielen und meine Seele, die hast du losgekauft.

(Ps 71, 22-23)

Ich will dem HERRN singen in meinem Leben, meinem Gott singen und spielen, solange ich da bin. Möge ihm mein Dichten gefallen. Ich will mich freuen am HERRN.

(Ps 104, 33-34)

Kunst entfaltet sich in Hingabe und ist Ausdruck von der Fülle und Schönheit des Lebens. Ob ich aktiv künstlerisch tätig bin oder mich ihr betrachtend hingebe, sie berührt mich in den Tiefen des Geistes und der Seele.

Mögen wir einwenden, wegen all unserer Aufgaben keine Zeit und Muße zu haben für kreatives Tun und Lauschen, dann lasst uns neu auf die Lebensunterweisung Gottes hören. ER gebietet uns, ein Siebtel unseres Lebens frei zu halten von pragmatischem Nutzdenken und Schuften:  »Halte den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der HERR, dein Gott, geboten hat! Sechs Tage darfst du schaffen und all deine Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem HERRN, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel und dein ganzes Vieh und dein Fremder in deinen Toren. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass dich der HERR, dein Gott, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm von dort herausgeführt hat. Darum hat es dir der HERR, dein Gott, geboten, den Sabbat zu begehen.« (Dtn 5, 12-15)

Gott weiß: Unsere Seele, unsere innerste Mitte, braucht Nahrung und Ausdruckmöglichkeit. Und er legt uns ans Herz, dafür Zeiten und Räume frei zu halten, um nicht zu Sklaven zu werden - wessen auch immer.

Mir gefällt der Satz von Ernst Barlach: »Kunst ist eine Sache allertiefster Menschlichkeit, eine Probe auf den Feingehalt von Geist und Seele.« Denn er verweist die Kunst nicht an die Profis, sondern dorthin, wo sie hingehört: in die Mitte eines jeden von uns.

 

Rosemarie Monnerjahn, 22. Juni 2020

 

 

12. Sonntag A 2020

 

Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig?

Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde

ohne den Willen eures Vaters.

Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.

Fürchtet euch also nicht!

Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.

 

Die Sprache von Spatzen, Pfennigen und gezählten Haaren ist gekennzeichnet von einer Leichtigkeit, die trügerisch sein kann. Denn durch diese Sprache bewegt sich Jesus sachte auf eine tiefe und schleichende Angst in uns Menschen zu. Solche Ängste anzusprechen und anzuschauen bedarf einer sanften Hand, denn sonst wird die Angst vor der Angst immer nur schlimmer.

 

So beginnt Jesus mit einer schlichten Frage. »Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig?« In der Tat konnte man damals zwei Spatzen für einen Pfennig kaufen. Mit anderen Worten, sie waren Billigware, sie waren unbedeutend,weil sie leicht zu ersetzen waren.

 

Und doch betont Jesus, dass Gott nicht einen von ihnen vergisst. Warum? Weil hier die tief verborgene Angst liegt. Wir haben Angst, dass wir und unser Leben bedeutungslos sein könnten. Wir tun so viel und trotzdem beschleicht uns die Frage: Sind wir leicht zu vergessen? Merkt überhaupt jemand, was ich tue, wer ich bin, dass ich bin? Wenn ich alles anschaue, was ich tue und ertrage, kommt irgendwann die Frage: Hat das alles irgendeinen Sinn? Oder ist mein Leben bedeutungslos?

 

Darum redet Jesus von Spatzen. Er deutet darauf hin, dass sogar alles, was erstmals billig und unbedeutend erscheint (Spatzen), von Gott nicht vergessen wird. Hier hebt uns Jesus in die Fülle Gottes. Wir, die wir uns oft so unbedeutend und minderwertig fühlen, sind nicht irgendwie auf dem Bildschirm Gottes, sondern er kennt uns bis ins Detail.

 

Jesus offenbart hier eine der wertvollsten Einsichten in das Herz Gottes. In einer dichterischen Wiedergabe von Psalm 139 schreibt Huub Oosterhuis: »Kennst du mich? Wer bin ich denn? Kennst du mich besser als ich?« Nun, hier beantwortet Jesus die letzte Frage klar und deutlich. Ja, ich kenne meine Menschen besser als sie sich selbst kennen.

 

»Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.« Wir können es uns kaum vorstellen, aber es ist so. Nur ist die Botschaft hier nicht, dass Gott sich auch  um uns sorgt, sondern dass Gott sich mehr  um uns sorgt als wir es tun. Wir Menschen machen uns viele Sorgen um unser Leben, investieren viel  in unsere Gesundheit und Aussehen. Aber wer von uns weiß, wie viele Haare wir auf dem  Kopf haben? Wissen wir, wie viele Haare wir verloren haben? Manche von uns wissen nicht mehr, welche ursprüngliche Farbe die Haare hatten, die wir auf dem Kopf tragen.

 

Hier müssen wir klar unterscheiden zwischen unserer Art der Fürsorge und Gottes Kunst der Fürsorge. Weil unsere Art der Fürsorge (1) abstrakt und (2) selektiv ist.

 

Jeden Tag treffen wir Entscheidungen über das, was unsere Fürsorge verdient und bekommt und was nicht. Für diese Entscheidungen haben wir innere Kriterien. Das Auto werden wir heute nicht waschen, denn vom Auto gibt es weder Widerrede noch Vorwurfe.

Wir wählen: das eine werde ich tun, das andere werde ich lassen. Ich werde mich um diese Pflanze kümmern, aber die andere werde ich entsorgen. Unsere Art der Fürsorge  ist selektiv, sehr abstrakt, und manchmal sehr willkürlich. Dieses Hemd werfe ich weg, weil ich es satt habe. Es ist noch ganz in Ordnung, aber ich kann es einfach nicht mehr ausstehen. So machen wir Menschen das.

 

Wir sind abstrakt und selektiv im Prozess der Fürsorge. Darum wissen wir nicht, wie viele Haare wir haben, weil wir uns nicht gleichermaßen um alles kümmern, nicht alles gleichermaßen versorgen. Und dann projizieren wir unsere abstrakte und selektive Art auf Gott.

 

Aber bei Gott ist es nicht so. Kierkegaard sagte einmal; »es gibt einen unendlichen qualitativen Unterschied zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen«. Das sollten wir ernst nehmen.

 

Das Göttliche ist eine Quelle und ein Prozess der Unterstützung für alles, gleichermaßen.

Gott hält alles im Sein, unterstützt alles im Sein. Gottes Kunst der Fürsorge ist nicht im Geringsten ähnlich mit der Art der menschlichen Fürsorge. Gott unterstützt die Erde und den Menschen gleichzeitig, die wenig bedeutenden Vögel und die überaus bedeutenden Menschen.

 

Gottes Fürsorge ist nicht wählerisch. Er weigert sich, zwischen uns zu entscheiden. Gottes Fürsorge ist universal, bedingungslos, enorm und ewig präsent. Die Kunst der göttlichen Fürsorge ist nicht selektiv. Und sie ist nicht abstrakt.

 

Nun, nach dem Satz: »Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.« kommt der Schlüsselsatz: »Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.«

 

Hier gibt es diese bedenkenswerte Dynamik für die Bewältigung der Angst. Wir sollten unserer Isolation ein Ende setzen und uns zurückbinden zur gesamten Schöpfung. Wir sind ein Teil dieser Schöpfung, genauso wie die Spatzen. In dieser Schöpfung erhält und unterstützt Gott alles gleichermaßen. Wir sind Teil eines größeren Werkes und gehen trotzdem nicht unter. Gott trägt Sorge auch für unser tiefstes Selbst, auch wenn wir es so klein und unscheinbar wie einen Spatz empfinden. Wer wir wirklich sind ist mehr wert als viele Spatzen. Unser wahres ICH ist sicher, geschützt, geborgen.

 

Die Angst bedeutungslos zu sein kann man nicht mit Konkurrenzkampf und Vergleichen beruhigen. Wir leben in keinem Wettbewerb mit der Schöpfung und auch nicht mit einander. Wir müssen uns in den tieferen Raum begeben, wo wir Teil der göttlichen Fürsorge sind, einer Fürsorge, die allgegenwärtig ist. In diesem Raum der Seele, des Herzens, da sind wir sicher.

 

Dass Gott dieses Vertrauen in uns hat reicht aber nicht. Gott hat nämlich keine Angst. Er ist es nicht, der befürchtet, dass das Leben seiner Menschen bedeutungslos ist. Jede Bestätigung seiner Fürsorge für uns wird letztendlich ohne Wirkung bleiben bis wir selbst bestätigen, was Gott in uns sieht und liebt. »Sobald Sie sich selbst vertrauen, wissen Sie, wie man lebt«, schreibt Goethe. »Ihr seid mehr wert als viele Spatzen«, sagt Jesus. Also, dann sollten wir auch nicht unter unserem Niveau von uns sprechen und erst gar nicht unser Leben unter unserem Wert verkaufen.

 

Erik Riechers SAC, 21. Juni 2020

 

 

Die Macht der Worte

 

»Worte sind Dinge, davon bin ich überzeugt.

Du musst vorsichtig mit den Wörtern umgehen, die Du verwendest, oder mit den Wörtern, die Du in Deinem Haus erlaubst.

Worte sind Dinge, du musst vorsichtig sein. Sei vorsichtig, Menschen aus ihren Namen herauszurufen, rassistische und sexuelle Pejorative und all diese Unwissenheit zu verwenden. Tu das nicht.

Eines Tages werden wir in der Lage sein, die Kraft von Wörtern zu messen. Ich denke, sie sind Dinge. Sie kommen an die Wände, sie kriechen in deine Tapeten hinein, sie geraten in deine Teppiche, in deine Polster, in deine Kleidung und schließlich in dich. «

― Maya Angelou

 

Seit ich ein Kind war, wurde mir gesagt, ich solle auf meine Worte achten. Sie vergaßen mir zu sagen warum.

Als ich jung war, lehrten mich meine Lehrer, nicht zu fluchen.

Aber sie lehrten mich nicht die Macht der Worte,

also wusste ich nicht, welche Krebsarten sie in die Welt tragen

 

Ich wurde erzogen, um den Namen des Herrn nicht zu missbrauchen.

Aber sie lehrten mich nicht die Macht der Worte,

also wusste ich nicht, was passiert, wenn wir die Heiligkeit eines Namens brauchen.

 

Ich wurde daran erinnert, keine Vulgarität zu verwenden.

Aber sie lehrten mich nicht die Macht der Worte,

also wusste ich nicht, wie Vulgarität die Seele des Sprechers erniedrigt

              

Sprich nicht schlecht von anderen, sagten sie.

Aber sie lehrten mich nicht die Macht der Worte,

also wusste ich nicht, wie Worte das Herz von Menschen krank machen können.

 

Sie sagten mir, ich solle niemals rassistische Abwertungen verwenden.

Aber sie lehrten mich nicht die Macht der Worte,

also habe ich nicht verstanden, wie Worte das Sehen färben.

 

Mir wurde beigebracht, die Schwachen nicht zu verspotten, die Behinderten nicht zu verhöhnen und die Armen nicht zu erniedrigen.

Aber sie lehrten mich nicht die Macht der Worte,

also habe ich nicht verstanden, wie sie den bereits Verwundeten Narben hinzufügen.

 

»Stöcke und Steine brechen mir die Gebeine, aber Namen können mich nie verletzen.« Das lehrte mich, die Stichelei anderer zu ignorieren. Aber es hat mich überhaupt nichts über die Macht der Worte gelehrt.

 

 

Und Macht haben sie. Sie können deiner Seele antun, was Stöcke und Steine deinen Gebeinen antun können.

Sie haben Macht, wenn sie gesprochen werden.

Sie haben echte Macht: zu erschaffen und zu bauen, abzureißen und zu vernichten.

Sie können einen Samen pflanzen und Hoffnung tragen.

Sie können Träume ersticken und uns das Herz ausschneiden.

Sie können Mut machen und das Rückgrat verstärken.

Sie können Entschlossenheit verdorren und unsere Eingeweide in Wasser verwandeln.

 

Sie haben Macht, wenn sie zurückgehalten werden:

Das »Ich liebe dich«, das nicht mehr ausgesprochen wird.

Das Kompliment nicht gegeben.

Die Bestätigung nicht angeboten.

Die Dankbarkeit, die unausgesprochen bleibt.

Den Gruß nicht gegeben.

 

Ich bin kein Kind und achte trotzdem auf meine Worte. Großartige Lehrer haben mir beigebracht, warum.

Seit ich sie kenne, beachte ich keinen Mann oder keine Frau, die nicht auf ihre Worte achten.

Ich werde denen, deren Worte Gift durch das Ohr ins Herz tropfen, kein Viertel geben.

Ich werde nicht den bösartigen Kritikern Gesellschaft leisten, jene die die Bemühungen anderer herabsetzen und nichts von sich selbst anbieten.

 

Aber allen, die sich um ihre Worte kümmern, sie nachdenklich und rücksichtsvoll weben, die sie mit Wärme erfüllen, sage ich: Freund.

 

Erik Riechers SAC, 19. Juni 2020

 

 

Du bist nicht der Gott…

 

Gott allen Lebens,

Wenn die Tage und Wochen dieser anhaltenden Krise mir überhaupt etwas beigebracht haben, dann dies:

Du bist nicht der Gott…

meiner Träume,

meiner Erwartungen:

du bist nicht einmal der Gott, den ich wollte.

Ich bitte dich, mich wie ein Erwachsener zu behandeln, mich Entscheidungen treffen zu lassen, einen Weg zu bahnen und mich entdecken zu lassen, was mich erwartet. Aber als ich müde wurde von dieser Krise, der Beharrlichkeit überdrüssig, erschöpft von den Mühen, die das Leben und die Liebe den Erwachsenen im Raum abverlangen, dann wollte ich, dass du die Sache für mich erledigst. Erkläre mir nicht den Sinn dieser Stunde, sondern lass sie an mir vorüber gehen! Lehre mich nicht den Sturm zu navigieren, sondern stille ihn für mich!

Ich möchte frei sein, meine Wahl treffen, die Richtung setzen und meine Handlungen bestimmen. Sobald die Krise uns gekrönt hat, beschwere ich mich bitterlich über den Preis der Verantwortung und der Rechenschaftspflicht, dass ich so viele Entscheidungen treffen muss, mich ständig im ramponierenden Sturm orientieren muss und bestimmen muss, was als Nächstes ansteht. Ich winde mich unter den Ketten meiner Freiheit und bettle um Sündenböcke, auf denen ich sie abladen kann.

Ich sehne mich nach Freundlichkeit, Gemeinschaft und Begleitung in den Stunden meiner Isolation und Einsamkeit. Du schaust nicht weg, was mir passt, wenn ich gesehen werden möchte, aber mich wahnsinnig macht, wenn ich mir selbst überlassen werden möchte. Ich liebe die Kameradschaft, die die Straßen kürzt, hasse aber die längeren Straßen, die die Kameradschaft mir abverlangt, wenn andere ihre Herzen ausschütten möchten.

 Ich hungere danach, das Leben und die Liebe mit dir und deinen Menschen zu teilen, aber würde dir vorschreiben, welche Stunden mir dafür am besten passen. Die Momente, die du wählst, sind der Wahnsinn: die Wahrheit, die du sprichst, ist unbequem.

Ich möchte, dass du das Wort des Lebens zu mir sprichst, aber möchte es im Voraus redigieren. Ich hasse es, wenn du mir Dinge sagst, die ich nicht wissen möchte, auch wenn ich sie dringend wissen muss. Ich hasse es, wenn du mir zeigst, wo Männer und Frauen zusammengeschlagen und blutend neben der Straße liegen. Ich würde Priester und Levit Gesellschaft leisten, Meister des abgewandten Auges, des Vergessens von dem, was schon gesehen worden ist. Du hast mich bei Samaritern eingerichtet: Straßen-Überquerer, Öl-Ausgießer, Bandagen-Binder, Herberg-Suchender, Portemonnaie-Öffner und Geld-Geber.

Ich behandle Reife, Freiheit, Gemeinschaft und Liebe wie Hobbies. Ich gehe ihnen nach,

wenn es mir danach ist,

wenn ich Lust habe,

wenn es für meine Zwecke passend ist.

 

Du behandelst Reife, Freiheit, Gemeinschaft und Liebe als eine Berufung,

für jede Lebenszeit unter dem Himmel,

für jede Stunde auf der Uhr,

für jedes Sandkorn, das durch den engen Hals des Stundenglases purzelt.

 

Es ist eine unbequeme Wahrheit, dass es ein Leben über meine Gemütsschwankungen hinaus, einen Horizont breiter als meine Perspektiven und Angelegenheiten dringlicher als mein Eigeninteresse gibt.

Du bist nicht der Gott meiner Träume, meiner Erwartungen: du bist nicht einmal der Gott, den ich wollte. Es dauert lange, bis ich widerwillig murmele: Danke schön.

Denn ich bin ein unehrlicher Träumer:

ich träume von Vorteil, nicht von Dienst;

ich träume von Privileg, nicht von Gemeinschaft;

ich träume davon getragen zu werden, nicht tragen zu helfen.

 

Du bist nicht der Gott den ich wollte, aber der Gott, den ich brauchte.

Du bist nicht der Gott, den ich erwartete, aber der Gott, der trotzdem kam.

 

Erik Riechers SAC, 17. Juni 2020

 

 

Schlagende Worte

 

Seit Jahren schon fällt dem wachen Leser und Hörer auf, wie schnell Begriffe hoffähig werden und zu Schlagworten avancieren, die dann oft in allen Bereichen auftauchen.

Seit kurzem ist es das Wort »Systemrelevanz«.  Als die ersten Lockerungen ins Auge gefasst wurden, ging es zunächst darum genau zu schauen, welche Bereiche zur Erhaltung unseres gesamten Miteinanders von größter Bedeutung sind. Oberste Priorität hatte stets alles, was zur Grundversorgung notwendig ist. Darum waren Supermärkte, Tankstellen, Banken und Postfilialen immer offen. Was darüber hinaus »systemrelevant« ist, wurde dann allmählich zügiger wieder geöffnet als Bereiche, die für das Funktionieren unseres gesellschaftlichen Systems unwesentlicher zu sein scheinen. Spätestens jetzt tauchen Fragen auf: Wer entscheidet das? Von welchen Systemen sprechen wir? Welche Wertmaßstäbe werden angelegt? Sprechen wir überhaupt noch vom Menschen?

Schlagworte scheinen unschlagbar, unsere Medien verbreiten sie in Windeseile. Sie entstehen aus sehr einfachem Schwarz-Weiß-Denken und fördern dies. Wir aber sollten hier widerständig sein.   

Ein Beispiel machte mich nachdenklich:

Klinikseelsorger äußerten sich kürzlich in einem Leserbrief zur Systemrelevanz ihrer Arbeit innerhalb des »Systems Kirche«. Am Ende stellten sie die Frage: »Wie relevant sind kranke und sterbende Menschen grundsätzlich für uns als Kirche?« und kamen zu dem Schluss: »Ohne die Kranken ist die Kirche nicht heil!« (CiG 22-2020, S. 236)

Welch eine Aussage! Ist somit eine Kirche der Gesunden nicht heil? Ist sie nur mit Kranken heil? Wie können wir das verstehen? Schauen wir ins Buch des Lebens, unsere Bibel.

Über 8 Kapitel erzählt das älteste Evangelium von Jesu Wirken in Galiläa. Der Evangelist Markus zeigt hier, wie sich das nahende Reich Gottes entfaltet. Die Verkündigung Jesu: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« wird sichtbar durch seine Zuwendung zu den Menschen und es geht um das Heilwerden, das Ganzwerden, das Aufblühen seiner Menschen. Es ist Zeit, dass sie - und wir - werden, was sie von Gott her sind: sehend, hörend, aufrecht stehend, frei von krankmachenden Geistern, beweglich und lebendig. Dazu sendet er die Jünger aus, genau dies zu verkünden und so wie er zu handeln - an allen. Alle sind wir heilsbedürftig.

Jeder Kranke fordert somit gerade uns als Christen heraus, dass wir ihm als Menschen, nicht als Teil eines Systems, begegnen und zur Seite stehen. Er führt uns vor Augen, dass es Gott um den Menschen geht, um jeden Menschen. Von Anbeginn der Schöpfung sind wir Menschen sein Thema, für dieses Herzensanliegen lebte (und starb) Jesus. Da stets der Kranke besonderer Zuwendung bedarf, ist er auch immer Chance und Erinnerung an die Kernbotschaft unseres Glaubens und das Fundament unserer Kirche. Jeder Mensch ist es wert, angeschaut und angenommen zu werden. Jeder Mensch ist bedürftig, keiner ist vollkommen. Unser Umgang mit Kranken offenbart darum, wie ernst wir wirklich Jesu Botschaft und Auftrag nehmen.  

Jesus ging es nie um ein System. Er lebte die Liebe Gottes zu den Menschen. Das ist unser Weg, um als Gemeinschaft der Glaubenden heil zu werden - »immer versehrter und immer heiler/ stets von neuem / zu uns selbst / entlassen werden«. ( aus Hilde Domin, Bitte)

Worte können wie Schläger benutzt werden. Wir können aber auch schweigend, fragend, nachdenkend innehalten und dann neu auf die Spur des Lebens treten.

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. Juni 2020

 

 

11. Sonntag A 2020

 

Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.

 

Vor kurzem erzählte mir eine Frau eine Geschichte, die leider nicht so selten vorkommt. In dem Büro, wo sie arbeitet, haben ihre Kolleginnen oft lange Gespräche über oberflächliche Themen, eben Geschwätz. Sie aber hat ganz andere Themen, sucht Tiefe und Sinn für ihren Alltag und hält sich deswegen fern von solchen Gesprächen. Sie ist gesprächswillig, sehnt sich sogar danach, eine sinnvolle Unterhaltung zu führen, aber nicht um jeden Preis und nicht über irgendwas. Das hat zur Folge, dass die Kolleginnen sie nicht sehen. Sie bemerken sie gar nicht.

Eine Geschichte so alt wie die Menschheit. Wenn Frauen und Männer es wagen anders zu sein, wenn sie die vorherrschenden Sorgen ihrer Umwelt nicht teilen, nicht im Chor der Menge mit einstimmen, dann werden sie nicht gesehen. Seit die Corona Krise sich allmählich legt, gibt es jede Menge Menschen, die nicht mehr gesehen werden. Wer spricht noch von den Opfern dieser Krankheit? Was ist mit den Trauernden, die ihre Geliebten verloren haben und nicht gebührend würdigen konnten?  Wer erwähnt noch die Menschen, die wochenlang in den Krankenhäusern aufopferungsvoll gedient haben?  Und was ist mit den vielen Menschen, für die die Krise noch lange nicht vorbei ist? Was vor vier Wochen jede Zeitungsspalte füllte, wird heute nicht einmal mehr erwähnt. Sie werden nicht mehr gesehen.

 

Ein Teil des heutigen Evangeliums wird auch nicht gesehen. »Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.« Diese Begabung und Lebensweise Jesu, die Menschen zu sehen, müssen wir dringend für uns zurückgewinnen.

Die Sehensweise Jesus ist bemerkenswert.

  1. Er sieht die Menschen; nicht nur seine Freunde, Verwandten und Kollegen; nicht nur die Menschen, die seine Interessen teilen, seiner Meinung sind und seiner Lehre folgen. Er sieht die Menschen. Für Jesus ist Menschsein Grund genug gesehen zu werden. Publius Terentius Afer fasst das gut zusammen, wenn er schreibt: »Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.« Nichts, was Jesus sieht, ist ihm fremd. Er schaut nicht weg, weil es alles bekannt ist, alles genauso ein Teil seiner Geschichte wie unserer.

 

  1. Er sieht ihre Erschöpfung und Müdigkeit. Er sieht, woran sie leiden, was sie bedrückt und belastet. Das ist weder eine oberflächliche noch eine feige Art, auf die Welt zu schauen. Gerade wenn wir Leid und Last erkennen, sind wir versucht wegzuschauen, die Augen abzuwenden. Das, was Menschen erschöpft und ermüdet, fällt nicht leicht ins Auge. Jetzt, wo es vielen von uns besser geht nach den langen Tagen der Pandemie, schauen wir nicht gerne all jene an, die uns daran erinnern, dass die Pandemie nicht vorbei ist und das Leid auch nicht.

 

  1. Jesus sieht, dass sie erschöpft und müde sind, weil sie keine Leitung und Begleitung bekommen. Er erkennt die Ursachen hinter ihrem Leiden. Er sieht nicht nur, dass sie leiden, sondern woran sie leiden. Wenn niemand sie begleitet, werden sie nicht gesehen. Ihre Themen werden nicht ernst genommen, ihr Hunger nicht gewürdigt, ihre Anliegen herabgestuft. Wir schaffen es, über ihre Not hinweg zu sehen. Wir schaffen es, das, was wir nicht sehen wollen, abzusperren und abzukanzeln

 

Und die Reaktion Jesu? Er hat Mitleid mit ihnen. Und wie sieht es bei uns aus?

Auch wir begegnen Menschen, die erschöpft und müde sind. Aber sehen wir sie? Wollen wir sie überhaupt sehen?

Wir wechseln das Thema so leicht wie wir den Sender wechseln. Wir sprechen mehr über unsere Wünsche als über ihre Not. Es ist geradezu erstaunlich, wie schnell wir wieder von unseren Wunschvorstellungen sprechen angesichts tiefer Not. Wir haben Angst, den Konsum nicht schnell genug wieder anzukurbeln, unsere Urlaubspläne nicht zu verwirklichen, unsere Freizeit nicht so gestalten zu dürfen wie es uns gefällt. Arbeitslosigkeit, steigende Depressionsraten, Vereinsamung, Flüchtlinge, die nirgendwo ein Willkommen in der Welt finden geschweige ein Urlaubsziel, arme Länder, die vor der Gesundheitskatastrophe stehen, die steigende häusliche Gewalt und vieles andere wird einfach unter den Teppich gekehrt.

Wir fürchten, was Mitleid kosten wird. Denn Mitleid bedeutet, in das Chaos des anderen einzusteigen. Aber wie viel wird es uns kosten? Wieviel Zeit und Raum müssen wir dafür öffnen? Welche Erwartungen und liebgewonnenen Gewohnheiten müssen wir ändern, damit andere leben können?

Wir haben Angst, aber Angst ist nicht das Problem. Der Umgang mit der Angst ist immer das Thema. Und klassisch nennt die Bibel drei falsche Umgangsformen: Verleugnung, Verdrängung und Vermeidung. Und alle drei haben etwas gemeinsam: sie sind drei Wege, wie man wegschauen kann.

Maya Angelou hat einmal geschrieben: »Der Wunsch, nach den Sternen zu greifen, ist ehrgeizig. Der Wunsch, Herzen zu erreichen, ist weise.« Wie wollen wir je die Herzen erreichen, wenn wir sie gar nicht gesehen haben?

 

Erik Riechers SAC, 14. Juni 2020

 

 

Das verhüllte Heilige

 

Die alte Frau schüttelte unmerklich den Kopf und es war ihr anzusehen, dass sie sich unwohl fühlte - nicht körperlich, sondern tief in ihrer Seele; sie wurde nicht verstanden.

Sie hatten in der erweiterten Familienrunde von früher erzählt, von besonderen Stunden und Tagen im Kirchenjahr, die sie so geliebt hatte.

Das letzte große Fest vor dem Sommer war ihr besonders ans Herz gewachsen: Fronleichnam. das ganze Dorf war in ihrer Jugend tagelang damit beschäftigt, Bildteppiche zu entwerfen und entsprechend Blumen zu sammeln, die Altäre aufzubauen und alles zu schmücken für die große Prozession. Da wurde ihr geliebter Jesus, im Brot verhüllt, durch die Straßen getragen. Und sie hatte angefangen, leise zu summen: »Gottheit, tief verborgen, betend nah ich dir…«.

Da hatten ihre Kinder, die diesen Brauch auch noch miterlebt hatten, eingeworfen, es sei doch so vieles äußerlich gewesen, nur Schau! Darauf käme es doch gar nicht an.

Sie wollte erwidern: »Und - wie sieht es denn heute aus? Das Äußerliche ist alles - Taufe, Erstkommunion, Hochzeit; meint ihr nicht, dass ich sehe, wie das äußere Fest bei so vielen das einzig Wichtige ist?«

Doch die Unterhaltung sprang schon auf andere Themen weiter und sie klinkte sich aus und trat ein in ihr Heiligtum.

Auf einmal tippte sie jemand an und riss sie aus ihren Gedanken. Es war ihr 13-jähriger Enkel. »Oma, ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte er, »in meiner Klasse ist ein Junge, der lebt in einer ganz einfachen Familie. Keiner nimmt ihn wirklich wahr, der läuft halt einfach so mit. Aber ich mag ihn. Ich hab mich ein paar Mal nachmittags mit ihm getroffen. In ihm steckt so etwas Tolles! Der kann erzählen, du glaubst es nicht! Wir tauchen in Abenteuer ab - er hat herrliche Ideen. Aber wir können uns auch einfach erzählen, was wir erleben und wie es uns so geht.«

Die Oma lächelte. Doch ihr Enkel war noch nicht fertig. »Papa sagt immer, ich soll mich mehr an Philipp halten; der kommt aus gutem Haus, die sind wer. Aber«, er hielt kurz inne, »der macht immer so viel daher und ich weiß gar nicht, wer er wirklich ist.«

Wieder lächelte seine Großmutter. »Ja, ja, das Heilige, Echte, ist verhüllt«, flüsterte sie fast. »Doch wir können ihm nahe kommen. So ist es immer. Wir teilen einfaches Brot und begegnen dem Liebsten der Menschenkinder. Weißt du, als dein Großvater und ich heirateten, wollten wir alles schön machen und wir schafften das auch. Warum? Weil  uns unsere Liebe zueinander heilig war, weil sie so schön war und wir versuchten, etwas davon zu zeigen. Aber was wirklich darinnen war«, sie tippte sanft auf ihr Herz, »das konnte keiner sehen, das haben wir beide ja nach und nach erst selbst regelrecht ausgepackt und sind nie fertig geworden.«

Sie schloss die Augen und sang leise vor sich hin: »Gottheit, tief verborgen, betend nah ich dir…«.

Rosemarie Monnerjahn, 12. Juni 2020

 

 

Der Tag, an dem der Olivenbaum zu mir von Gott sprach

 

An einem freien Nachmittag während einer Pilgerreise durch Israel nahm ich ein Buch und setze mich unter einen Olivenbaum, um es zu lesen. Es war pure und gesegnete Erleichterung nach Tagen des ununterbrochenen Gehens, Betens und Redens.

 

Während ich Nikos Kazantzakis Report to Greco las, fiel eine besonders schöne Stelle mir ins Auge: »Ich sagte zum Mandelbaum: Schwester, sprich zu mir von Gott. Und der Mandelbaum blühte.«

 

Spielerisch schaute ich nach oben und sagte: »Schwester, wie wär’s? Wirst du zu mir von Gott sprechen?«

Da habe ich entdeckt, dass Olivenbäume nicht so leicht mit Erkundigungen der Seele umgehen wie Mandelbäume. Sie nehmen ihre Gespräche über Gott äußerst ernst.

 

»Adams Sohn, vom Schöpfer zu sprechen ist eine Aufgabe für große Herzen. Du kannst eine Blüte nicht aufbewahren, aber du kannst die Worte des tiefen Herzens festhalten.

 

Darf ich dich ernstnehmen, Adams Sohn? Du hast mir eine Frage gestellt, aber eine Frage ist nur eine Frage, wenn du dich für die Antwort interessierst. Von Gott zu sprechen bedeutet zu wachsen an Orten, wo Leben nicht gedeiht ohne deine Hingabe. Willst du wahre Worte von Gott hören, oder bist du nur für den Trost gekommen, um in meinem Schatten zu ruhen und bei mir Schutz zu suchen? Ich schleudere nicht mit Worten über Gott um mich, junger Freund.

 

Meine Art gehört zu den ältesten Bewohnern des Landes. Manche haben die jährlichen Aufgänge der Festmonde mehr als 2000-mal gesehen. Unter unseren Ästen im Kidrontal haben wir gesehen, wie ein Hirte-der-zum-König wurde weinte und floh, um Unheil zu vermeiden. Am selben Ort haben wir Wache gehalten über einen Zimmerman-der-zum-Hirten wurde, während er weinte und blieb, um sich Unheil zu stellen. Unsere Haut ist Erzählung.

 

Du hättest es gerne, dass ich zu dir von Gott spreche? Dann sage ich dir dies. Unser Schöpfer machte uns robust. Widerstand ist nie zwecklos. Wenn Dürre uns das Wasser verweigert, wehren wir uns. Wenn Krankheiten unsere Leben angreifen, wehren wir uns. Wenn Feuer unsere Körper verbrennen, wehren wir uns. Auch wenn wir zu Asche reduziert werden und die Erde rings um uns verkohlt ist, regenerieren sich unsere Wurzeln und wir stehen auf als neue Früchte des Feuers. Wir wehren uns.

 

Und du, Adams Sohn, was ist mit dir? Wir haben die Widerstandsfähigkeit bestaunt, die unser Schöpfer in den Herzen unserer menschlichen Schwestern und Brüder gewoben hat. Machst du Gebrauch davon? Wehrst du dich, wenn dein Leben bedroht ist? Fängst du von neuem an, aus der Asche, wenn es sein muss? Oder wird das Leben unter den Söhnen und Töchtern Adams nicht so teuer gehalten als unter den Olivenbäumen?

 

Meine Art strebt nicht danach, vor Schönheit zu schimmern oder über die Welt zu ragen, und doch werden wir schöner mit dem Alter und jede sich windende Falte erfüllt uns mit entzücktem Stolz. Der Schöpfer formt uns noch.

Und du, Adams Sohn, was ist mit dir?  Kannst du mit Wonne den einfachen Weg gehen oder singt dein Herz nur, wenn du andere überstrahlst? Bekommt dir dein Altern? Wirst du interessanter mit jedem vorbeigehenden Jahr? Werden die Furchen des Charakters in deinem Gesicht und in deiner Seele geätzt?

Formt der Schöpfer dich noch?

 

Wir achten das Leben und das Wachstum, mit denen unser Schöpfer die Erde durchdrungen hat, auch wenn sie nicht reichhaltig und durchflutet von Nährstoffen ist. Wir haben Wasser an den tiefen Orten berührt, wo andere kein Leben ahnen. Wir warten nicht, bis es üppig über die Oberfläche der Welt fließt, sondern graben tief, um seine Macht für unsere Leben zu beanspruchen.

 

Und du, Adams Sohn, was ist mit dir? Schätzt du jedes bisschen Leben und Wachstum und hältst es fest, und sei es noch so dünn und dürftig? Wirst du mit jeder Gabe Gottes wirken? Wirst du in die Tiefe gehen, um das zu finden, was dich am Leben erhält, oder bist du einer dieser ständigen Zuschauer es Lebens, die warten bedient zu werden?

 

Eine Erblinie der Ehre und des Mutes läuft durch meine Art. Unsere Art war da, als Gott einen Zweig aus dem Geäst unserer Vorfahren wählte, um ihn Noah zu schicken. Seither sind wir die Herolde der Hoffnung auf Frieden, die Hoffnung, dass Übel und Zerstörung von der Erde getilgt werden und wir alle in Sicherheit leben dürfen.

 

Und du, Adams Sohn, was ist mit dir? Lässt du erwählen, auch wenn du etwas von dir selbst hergeben musst? Wovon trennst du dich bereitwillig, um die Hoffnung zu entzünden? Was würdest du von dir selbst geben, das von Frieden spricht zu deinen Menschen? Was für ein Herold bist du?

 

Nun würde ich noch einmal von Gott zu dir sprechen, kleiner Bruder. Dieser Zweig war für uns, was Fleisch aus eurem Fleisch und Bein aus eurem Bein für eure Art ist.  Als dein Volk von Zerstörung heimgesucht worden ist und sich vor der Zukunft fürchtete, schickten wir euch ein Zeichen. Nun, da unsere Zeit gekommen ist, in der wir von Zerstörung heimgesucht werden und uns vor der Zukunft fürchten müssen, wird eure Art uns ein Zeichen setzen?«

Dann wurde der Olivenbaum still.

 

Und ich erwachte, aufgeschreckt und beunruhigt.

Ich zog mich hoch, lehnte mich an den knorrigen Stamm meiner Schwester und ließ meinen Atem langsam pfeifend raus. »Es war nur ein wilder Traum!«

Sie flüsterte mir zu: »Wilde Träume waren seit jeher seine Lieblingsart, sich mit uns zu unterhalten.«

Wie ich schon sagte, Olivenbäume nehmen ihre Gespräche über Gott äußerst ernst. Seitdem tue ich es auch.

 

Toda raba, achot g’dolah.*

*Vielen Dank, ältere Schwester.

 

Für Carmen, Evas Tochter.

Erik Riechers SAC, 10. Juni 2020

 

 

»Wir bitten um nichts anderes...«

 

Eine von der Liebe getroffene Seele

Morgen ist das Fest Kolumbans des Älteren, eines außergewöhnlichen irischen Heiligen aus dem 6. Jahrhundert. Er war hochgebildet , dichtete und sang; er war politisch aktiv und auch kämpferisch; als Mönch und Missionar gründete er viele Kirchen und Klöster, das bedeutendste in Iona in Schottland, das noch heute lebendig ist. Er begründete es mit 12 Gefährten, die mit ihm von Irland gekommen waren und dort auch weiter missionierten. Er kehrte mehrmals in den Westen Irlands zurück, was allein schon jedesmal ein Abenteuer für sich war. Er ist ein Beispiel für ein wahrhaft tätig gelebtes Leben.

Seine Gefährten baten ihn oft um eine festzuschreibende Ordensregel, aber er schob dies immer hinaus. »Wie es kommen musste, lag eines Tages Kolumbanus im Sterben und die Brüder waren betrübt, denn jetzt war es eindeutig zu spät, noch eine Regel zu schreiben. Sie sammelten sich um das Bett ihres Gründers und baten ihn zumindest um eine letzte Lehre für die Zeit nach seinem Tod.

Da erhob Kolumbanus seine Hand und sagte:

´Wie die fünf Finger meiner Hand ist alles Wesentliche des geistlichen Lebens in fünf Gedanken zusammenzufassen.

Erstens: Das Herz ist nie endgültig geboren.

Weil das Herz des Menschen nie endgültig geboren ist, müssen wir uns immer vor Augen halten:

Zweitens: Menschsein braucht Übung.

Drittens: Menschsein braucht Zeit.

Diese Übung und diese Zeit müssen wir achten und ehren in den Herzen, die wachsen. Denn:

Viertens: Sie sorgen dafür, dass Rhythmus für den Körper gegeben ist, denn der Körper braucht Rhythmus.

Fünftens: Sie sorgen dafür, dass Heimat für die Seele gegeben ist, denn die Seele braucht Heimat.‘

Dann starb Kolumbanus.

Die Brüder schrieben die fünf Worte auf ihre Finger. Aber eines Tages saugte das Herz die Tintenworte durch die Haut in sich hinein. Als die Schrift verblasste, waren die Worte längst schon in den Herzen der Menschen von Iona.«

 

Warum erzählen wir Ihnen heute davon?

Wir beginnen einen neuen Rhythmus unserer Begleitung durch dieses außergewöhnliche Jahr. Es kann und mag ein Jahr der Erneuerung und Verinnerlichung werden und die Weisheit des Kolumban kann uns lehren, sanft, geduldig und liebevoll mit uns selbst und miteinander umzugehen. Er lebte aus der Quelle des Betens. Sein Gebet war inniglich und ganzheitlich. Er trennte es nie ab vom Leben im Hier und Jetzt. Es war wie ein Hingeben und Einschwingen und Geschehenlassen:

»… Wir bitten um nichts anderes, als was du uns geben möchtest; denn du bist unser alles, unser Leben, unser Licht, unser Heil, unser Essen, unser Trinken, unser Gott. Ich bitte dich, unsere Herzen zu erleuchten, unser Jesus, mit dem Atem deines Geistes, und unsere Seelen mit deiner Liebe zu verwunden … Gesegnet ist eine solche von der Liebe getroffene Seele.« *

Wenn wir also in dieser Woche miteinander auf unserem Weg weitergehen in einem etwas anderen Rhythmus, so dürfen wir als Gefährten dankbar und klar, mutig und zuversichtlich mit Kolumban beten:

Dafür danke ich dir, mein Gott:
Ich bin ein Reisender
Und Fremder in der Welt,
wie so viele Deiner Menschen vor mir.
(Kolumban)

 

* aus: Steve Rabey, Im Haus der Erinnerung – Keltische Weisheit für den Alltag

 

Rosemarie Monnerjahn, 8. Juni 2020

 

 

 

Dreifaltigkeitssonntag 2020

 

Eine Religionslehrerin versuchte, ihrer Klasse etwas über die Dreifaltigkeit zu erzählen. Sie kam nicht weit. Die Sprache über die Dreifaltigkeit ist verwirrend, trocken und undurchdringbar für die meisten Christen, geschweige Kinder. Diese Sprache wurde geboren aus dem philosophischen Versuch, über Gott zu sprechen. Sie ist aber nicht die Sprache der biblischen Erzählung. Darum ist sie auch nicht die Sprache von Menschen auf der Suche nach einer Gottesbeziehung und -begegnung im Alltag.

 

Aber was die Religionslehrerin stutzig machte, kam erst. Sie hat einige bildliche Darstellungen der Trinität zur Schule gebracht und ließ die Kinder sie betrachten und kommentieren. Ein 11-jähriger Junge sagte: »Es sieht nicht gerade so aus, als ob sie sich besonders freuen einander zu sehen.« Aus dem Mund der Kinder. Das habe ich mir gedacht, habe es aber nie gewagt es auszusprechen.

 

Ich frage mich, welche Bilder haben wir gemalt, auch sprachlich, um so einen Eindruck zu erzeugen. In der Dreifaltigkeit liegt eine Offenbarung der Liebe, aber nicht ein abstraktes philosophisches Traktat darüber. Die biblische Erzählung spricht von den Dreien als einer Gemeinschaft der Liebe und des Lebens. Gleichzeitig ist ihre Gemeinschaft eine Lehrschule der Liebe und des Lebens für uns. Sie will uns die Schritte des Lebens, die Prozesse des Liebens ans Herz legen. Die Drei bieten uns keine Definition der Liebe an, sondern einen Weg zu ihr.

 

In dieser Lernschule der Liebe gibt es einen stetigen Fluss der Liebe zwischen den drei Personen. Sie offenbart uns die wahre Dynamik der Liebe. Wer könnte uns diese Dynamik besser lehren als die drei Architekten der Liebe? Darum brauchen wir drei Lebensunterweisungen von ihnen.

 

  1. Liebe bewegt sich von Einheit zur Einmaligkeit und zurück.

 

  1. Wie jede Person in der Lehrschule der Dreifaltigkeit sind auch wir dazu berufen so zu leben, dass jede Person ein Empfänger und Geber der Liebe zugleich ist.

 

  1. Wie jede Person in der Dreifaltigkeit, in der Lernschule der Liebe, müssen wir so lieben, dass jede Person spontan und frei die Initiative zum Lieben ergreift und nicht abwartet, bis der andere beginnt.

 

Wenn das unsere Erzählung über Gott ist, welche Reaktionen und Eindrücke werden wir dann wecken?

Wenn wir das leben und tun, welcher Glaube wird daraus wachsen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es deutlich anders ausfallen würde als: »Es sieht nicht gerade so aus, als ob sie sich besonders freuen, einander zu sehen.« Und ich bin mir genauso sicher, dass es dann auch nicht über uns als Christen gesagt wird.

 

Vor einigen Jahren hat John Shea sich an diese Frage gewagt: Wenn wir in die Liebesgeschichte der Drei eintauchen, was würden wir erkennen und bekennen?

Und so lege ich sein liturgisches Credo uns ans Herz an diesem Sonntag. Es ist nicht die gewohnte Sprache unserer Liturgie. Aber sie ist die Sprache der Liebeserfahrungen eines Volkes, das in der Schule der Dreifaltigkeit viel dazu gelernt hat.

 

Ein Gebet des Glaubens: Ein liturgisches Credo

 

Wir glauben, dass wo Menschen sich in Liebe versammeln,

Gott gegenwärtig ist

und Gutes passiert

und das Leben voll ist.

 

Wir glauben, dass wir im Mysterium eingetaucht sind,

dass unsere Leben mehr sind als sie scheinen,

dass wir einander angehören

sowie einem Universum der großen kreativen Energien,

deren Quelle und Bestimmung Gott ist.

 

Wir glauben, dass Gott hinter uns her ist,

dass Gott uns zuruft

aus den Tiefen menschlichen Lebens.

 

Wir glauben, dass Gott sich selbst riskiert hat

und ein Mensch geworden ist in Jesus.

 

In und mit Jesus glauben wir, dass jeder von uns

in der Liebe Gottes eingebettet ist

und das Muster unseres Lebens

wird das Muster Jesu sein –

durch Tod und Auferstehung.

 

Wir glauben, dass der Geist des Friedens

in uns, der Kirche, gegenwärtig ist,

wenn wir uns versammeln,

um unsere gemeinsame Existenz,

die Auferstehung Jesu

und die Treue Gottes zu feiern

 

Und wir glauben zutiefst, dass in unserem Ringen zu lieben,

wir Gott in der Welt inkarnieren.

Und so, des Mysteriums und des Wunders gewahr,

gefangen in Freundschaft und Lachen,

werden wir sprachlos vor der Freude in unseren Herzen

und feiern die Heiligkeit des Lebens

in der Eucharistie.

(John Shea )

 

Nun, möchten wir nicht an so einer Geschichte teilhaben? Wenn ja, dann ist es eine Geschichte, die wir liebend gerne erzählen möchten.

Wo auch immer der 11-jährige Junge heute ist, ich hoffe, dass er hat den Erzähler dieser Geschichte gefunden hat.

 

Erik Riechers SAC, Dreifaltigkeitssonntag, am 7. Juni 2020

 

 

Reden und Tun

 

»Und überhaupt – auch das geringste Schaffen steht höher als das Reden über Geschaffenes.« schrieb einst Friedrich Nietzsche.

Viele beklagen es, aber die Krise der Pandemie zeigt auch unter vielem anderen, wie süchtig wie sind nach Worten. Doch je mehr geredet wurde und wird, je unausgereifter und schneller alle möglichen Veröffentlichungen folgten, desto weniger hielten sie stand, manchmal nur einen Tag. Was aber standhielt und lebensförderlich war und nach wie vor ist, sind die Taten all der Menschen,  die nicht viel redeten, sondern aktiv wurden. Sie waren diejenigen, die andere durch das dunkle Tal begleiteten, manchmal trugen. Und seien wir ehrlich: so ist es immer.

Im Johannes-Evangelium sagt Jesus: » Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht«.  (Joh 3,21) Er sagt es zu Nikodemus am Ende des nächtlichen Gesprächs. Nikodemus, ein Pharisäer und »führender Mann unter den Juden«, hatte Jesus bei Nacht aufgesucht zum Reden, zum Philosophieren und Austauschen. Doch versteht er Jesus nicht wirklich, wie Johannes ausführlich erzählt; und Jesu letzter Satz an Nikodemus lautet:  »Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.«

Worte sind wichtig, aber erst das Tun aus der inneren Wahrheit heraus führt zur Lebensmehrung.

In unseren Tagen überzeugt eine junge Politikerin,  von der es heißt, sie gehöre zu einer » neuen Generation von Führungskräften, für die Empathie so wichtig ist wie Entschlusskraft und Durchsetzungswillen«. * Es ist Jacinda Arden, die junge Premierministerin von Neuseeland. Immer wieder zeigt sie, dass sie nicht nur zu den Leuten predigt, sondern dass sie bei ihnen ist und handelt. So setzte sie auch unnachgiebig in ihrem Land die Anti-Corona-Maßnahmen durch und hatte damit großen Erfolg. Ihr Haushaltsplan 2019 hatte nicht als oberste Priorität wirtschaftliches Wachstum, sondern das Wohlergehen der Bevölkerung.

»Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht« - und Licht ist die Welt Gottes, sein Reich, in dem Leben für alle möglich ist, nicht durch Reden, sondern durch Handeln.

So könnten wir das Nachdenken pflegen und Worte wägen, die Innerlichkeit leben und aus ihr heraus zum wahrhaftigen Tun gelangen.

* taz online, 30.05.2020

Rosemarie Monnerjahn, 6. Juni 2020

 

 

Nicht ohne Gefährten

 

Seit Wochen reden und spekulieren Menschen über das Ende der Corona Krise. Egal, was sie sich wünschen und vorstellen, die Übung trägt in sich eine gefährliche Illusion. Krisen enden nicht einfach. Sie lösen sich langsam und wir treten langsam hervor.

Nach 40 Jahren in der Wüste hält Mose seine große Abschiedsrede an der Grenze zum Gelobten Land. Und ein Teil seiner Rede betont, dass die Krise noch nicht vorbei ist. Neue Aufgaben erwachsen aus alten Krisen. Eine Wüste zu bewältigen heißt noch nicht, dass ein Neuland erobert und gestaltet worden ist.

In der Wüste hat Israel lernen müssen, Haltungen und Einstellungen abzulegen, die sie in Ägypten als Sklaven gelernt und verinnerlicht hatten. Nach so langer Zeit müssen sie erst üben, als freie Menschen zu leben. Menschen können nicht ständig in Angst und Schrecken leben und dann erwarten, dass es keine Spuren hinterlässt, wenn sie davon frei sind. Wir haben wochenlang die Ängstlichkeit vor Kontakt und Nähe genährt und gefördert. Distanzierung und Zurückhaltung wurden uns eingeschärft. Jetzt öffnen sich wieder Möglichkeiten, aber haben wir den Mut sie zu nutzen? Kontakt ist wieder erlaubt, aber suchen wir Kontakt, wagen wir Begegnung?

Nach dieser Krise kommt eine Zeit des Wiederaufbaus. Ein Gedanke von Wilhelm Bruners beschäftigt Rosemarie und mich seit Wochen. Er sieht dieselben Themen nach dieser Krise wie vor 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Fragen nach Leben und Tod, Jugend und Alter, Gemeinschaft und Einsamkeit, öffentlichem Engagement und Rückzug. Aber im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg, wird dieser Wiederaufbau zum größten Teil innerlich sein. Nicht Bauschutt muss beseitigt werden, sondern Misstrauen. Jeder spricht von Konjunkturprogrammen, die als Stimulus für die Wirtschaft dienen sollten. Aber was sollten sie, außer Konsum, stimulieren? Kein Konjunkturpaket dieser Welt kann uns helfen, die Fragen zu beantworten, die die Krise in uns geweckt hat. Ein Wirtschaftswunder wird uns nicht helfen,  das Vertrauen zueinander wieder zu gewinnen, den Mut zu restaurieren, der uns befähigt, allmählich mehr Leben zu wagen, uns an Berührung, Begegnung, und Beziehung heranzutasten.

Es muss einen Wiederaufbau der Innerlichkeit, der gesunden Spiritualität und des Herzens geben, aber nie ohne Gefährten.

Deshalb werden Rosemarie und ich weitermachen mit »Bleiben Sie behütet«. Wir merken, dass Menschen nicht mehr so viel brauchen wie in den letzten 11 Wochen, aber wir sind wiederum auch noch lang nicht am Ziel.

Jeden Sonntag werde ich eine Predigt schreiben, bis normale Gottesdienste wieder möglich sind. Vom 8.Juni an werden Impulse am Montag, Mittwoch und  Freitag veröffentlicht, damit im regelmäßigen Rhythmus wir Zugang zu Stärkung, Orientierung, Ermutigung und Trost der Erzählungen Gottes haben.

Einen Tag vor seinem Tod hat Martin Luther King Jr. seinen Menschen Mut gemacht.

»Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen.

Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinüber gesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden.

Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.«

Mose sprach so zum Volk. Martin Luther King Jr. sprach so zum Volk. Und die Botschaft war nie: Es ist vorüber, sondern es kommen noch Dinge, die wir nicht befürchten, sondern gestalten sollten.

Das wird auch uns gelingen, aber nicht ohne Gefährten. Denn auch wenn wir jetzt einen inneren Wiederaufbau unternehmen, sollten wir es als Gefährten auf einem Abenteuer tun.

 

In meinem Namen wie auch im Namen von Rosemarie Monnerjahn segnen wir weiterhin alle unsere Gefährten mit dem Wunsch: Bleiben Sie behütet.

 

Erik Riechers SAC, 05. Juni 2020

 

 

»das konnte er«

 

Gedichte und Geschichten des Pfarrers Wilhelm Bruners begleiten und bereichern uns seit langem schon. Viele Menschen, die mit ihm in seinen 18 Jahren in Jerusalem durch das Heilige Land reisten, hüten diese Erinnerung wie einen Schatz, aus dem sie immer wieder schöpfen. Erzählend und auf uraltem Boden sich bewegend erschloss er die Schrift und erdete biblische Worte. In seiner Lyrik verbindet er sensibel die Weisheit der Geschichten Gottes mit den Herzen der Leser und Hörer.  

Heute an seinem 80. Geburtstag wünschen wir ihm reichen Segen und grüßen ihn mit einem »L’Chaim!« - »Auf das Leben!«

Und wir lassen ihn selbst zu Wort kommen - was könnte besser sein?

 

das konnte er

 

mit jedem stück brot

das er teilte

sich selbst schenken

weil er glaubte und liebte

weil er gemeinschaft

mit menschen suchte

weil er sein leben

in ihnen wiederfand

weil er ICH-BIN

sagen konnte

weil er mit uns

weinte und feierte

mit tränen in den augen

 

weil er einer von uns wurde

weil er sich nicht

vor uns schützte

weil er bruder wurde

und das keine lüge war

 

das kann er immer noch:

unsere tränenspur ins licht führen

und mit uns auferstehen ins leben

 

ins unzerstörbare

                              Wilhelm Bruners, Am Rande des Tages, 2020

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. Juni 2020

 

 

Die Masken, die uns niemand zu tragen zwingt

 

Mit seinen Lippen verstellt sich der Hasser, aber in seinem Innern hegt er Betrug. Wenn er seine Stimme lieblich macht, traue ihm nicht! Denn sieben Gräuel sind in seinem Herzen. Mag sich der Hass verbergen in Täuschung, seine Bosheit wird doch in der Versammlung enthüllt werden. Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein; und wer einen Stein wälzt, auf den rollt er zurück. Eine Lügenzunge hasst die von ihr Zermalmten; und ein glatter Mund bereitet Sturz.

 (Sprüche 26:24-28)

 Eine Maske zu tragen ist ein Akt des Versteckens - vor anderen und vielleicht vor sich selbst. Vor Gott, allerdings, kann und muss man sich nicht verstecken. Er hört unser Rufen. Er antwortet auf das unausgesprochene Gebet. Er achtet auf die Unbeachteten und bringt ihnen Trost.

In der Folgezeit nach einer langen Krise muss oft eine Heilung unserer Identität stattfinden. Wir haben oft Masken getragen, die keiner uns gezwungen hat zu tragen. Weil wir uns fürchten, unser wahres Selbst zu zeigen, trugen wir Masken der Sicherheit, wo wir nichts dergleichen spürten. Beängstigt, dass Gott oder andere sehen würden, was in uns wütet, aufwühlt und brodelt, setzen wir Masken der Verachtung, Wut, Empörung, Gleichgültigkeit und erschöpfend schmerzhafte Coolness auf.

Die biblischen Erzählungen der Maskierung (so als Jakob sich verkleidete, um sich ein Geburtsrecht zu ergattern oder als Tamar sich verkleidete, um eine Gerechtigkeit für sich zu tricksen, die nicht frei gegeben wird) sind tief religiöse Chroniken des psychologischen Wachstums und Reifens. Was sie uns sagen ist schlicht und tiefgründig: jene, die vor Gott stehen, müssen keine Masken tragen, um Selbstwert zu erlangen, wenn sie vor Menschen stehen. Die Geschichten Gottes sagen: Lasst die Masken fallen.

In diesen Tagen, in denen wir gezwungen werden, eine Maske über Mund und Nase zu tragen, akzeptieren wir zähneknirschend die Notwendigkeit dieser Sicherheitsmaßnahme. Sie sind unangenehm, irritierend und machen es schwieriger leicht zu atmen. Und wir beschweren uns lautstark über sie. Warum sollen wir dann Masken tragen, die keiner uns zwingt zu tragen? Wir wählen freiwillig Masken, die uns voneinander, von Leid, Spott oder Missverständnis schützen sollten. Wie die Masken, die wir im Augenblick gezwungenermaßen tragen müssen, sind sie unangenehm. Sie machen uns ängstlicher, mehr misstrauisch, weniger vertrauensvoll, und das macht es uns schwerer, in unserem gegenseitigen Beisein leicht zu atmen.

In seinem Lied »Wenn die Masken fallen«, zeigt mein Mitbruder Alexander Diensberg uns, welche gesunden und ehrlichen Fragen erscheinen, wenn Menschen die Masken fallen lassen.

 

Wohin mit all den vielen Fragen?

Wohin mit all dem Rätselraten?

Wohin mit all den vielen Bildern,

die doch nur Scherben sind?

 

Wohin mit all den Dunkelheiten?

Wohin mit all den Eitelkeiten?

Wohin mit all den vielen Ängsten,

die doch nur Scherben sind?...

 

Wohin mit all dem vielen Leiden?

Wohin mit all den Traurigkeiten?

Wohin mit all den vielen Kreuzen,

dich doch nur Scherben sind?

 

Wohin mit all den vielen Plänen?

Wohin mit all den vielen Tränen?

Wohin mit meinen Kinderträumen,

die doch nur Scherben sind?...

 

Wenn die Masken fallen, legen sie Gesichter frei,

die Gesichter von uns allen, verletzt und scheu.

Alter Zeiten Narben werden tief in sie vergraben sein,

verletzt und scheu – aber frei!

 

Das Leben ist schon schwierig und erstickend genug wie es ist. Warum sollten wir dazu noch Masken tragen, zu denen niemand uns zwingt?

 

Erik Riechers SAC, 3. Juni 2020

 

 

Zurück im Alltag

 

In der Liturgie des Kirchenjahres sind wir zum Jahreskreis zurückgekehrt. 50 Tage lang erinnerten und feierten wir Auferstehung - von dem Erschrecken der ersten Stunden am Ostersonntag über die Ängstlichkeit und die immer wieder erstaunlichen Erfahrungen der Jünger Jesu bis zur kraftvollen Geistsendung.

Die krisenbedingt aufgezwungene Verlangsamung und Ruhe dieser Wochen boten uns die Chance, uns mehr Zeit für die biblischen Texte zu nehmen und uns dabei selbst zu fragen: Kenne ich das?

Mir wird eine neue, manchmal noch zaghafte Lebensperspektive angeboten, doch ich erschrecke davor und weiche zurück - kenne ich das?

Ich drehe mich im Kreis im Blick zurück und komme im Grübeln über Vergangenes nicht weiter - kenne ich das?

Ich werde beim Namen genannt, ich bin gemeint und spüre neues Leben in mir wachsen - kenne ich das?

Manchmal wird meine Zuversicht von ängstlicher Sorge unterdrückt - kenne ich das?

Ich teile meine Hoffnungen mit anderen und erlebe stärkende Gemeinschaft - kenne ich das?

Es gibt Zeiten, in denen mir Kräfte zufliegen, die ich in mir nicht vermutete - kenne ich das?

 

Mögen wir nun wahrhaft gestärkt in und durch unseren Alltag gehen.

Mögen wir sehend werden für Augenblicke des neuen Lebens, damit wir immer wieder dankend beten können:

Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt, mein Trauergewand hast du gelöst

und mich umgürtet mit Freude, damit man dir Herrlichkeit singt und nicht verstummt.

HERR, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.  (Ps 30, 12-13)

 

Rosemarie Monnerjahn, 2. Juni 2020

 

 

Ein Gebet zum Gott der Überraschungen

 

Greif an

wenn die Sonne den See in Flamme verwandelt

und die Wellen Musik am Strand sind.

 

Überfalle mich

in der Stille über die Worte hinaus,

die ich mit ihr habe.

 

Stürze dich auf mich

in dem laufenden Jungen.

 

Besiege mich

im Mut der Schwachen.

 

Überrasche mich

im runzligen Lächeln

der Frau mit dem schlappen Hut.

 

Aber sei vorgewarnt.

Ich werde auf der Hut sein

und die Niederlage willkommen heißen.

                  John Shea

 

Erik Riechers SAC, 1. Juni 2020

 

 

 

Pfingsten 2020

Vinzenz Pallotti hat das Pfingstereignis sehr ernst genommen. Er sah darin das Fest der Sendung, in der alle Menschen, Männer und Frauen, mit Geist erfüllt werden. Auf jedem ruht dieses Feuer und damit sieht Pallotti hier auch das Urbild einer Kirche der Mitverantwortung aller.

Als Pallottiner bin ich mit diesen Bildern groß geworden und teile, heute noch mehr als am Anfang, die Überzeugung Vinzenz Pallottis, dass in einer Kirche der Mitverantwortung aller die Sendung auch die Aufgabe aller sein muss.

Was mir dabei zu kurz kommt, ist nicht das Ergebnis, sondern der Prozess, der zu diesem Pfingstereignis führte. Ich glaube, dass wir Pfingsten nicht wirklich ernstnehmen können, bis wir es erkennen als die Vollendung des Vertrauens, das Gott in uns setzt.

Ich bin der Vertraute Gottes. Das ist der Kernsatz in unserer Beziehung zu Gott auf dem Weg zur Mitverantwortung. Es gibt keine Partnerschaft ohne Vertrauen. Aber dieses Vertrauen wird an Pfingsten vollendet, nicht begonnen.

Der Anfang dieses Prozesses des entfaltenden Vertrauens liegt lange zurück, im Garten der Schöpfung. Dort setzt Gott zum ersten Mal und in grundlegender Weise sein Vertrauen in uns. Erstens legt er uns die gesamte Schöpfung in die Hand, vertraut sie uns an. Er hat Vertrauen in uns, dass wir es nicht nur können, sondern auch dass wir es in seinem Sinne tun werden, als sein Ebenbild und Gleichnis, als seine Repräsentanten. Zweitens, in der Erschaffung von Eva, führt er Frau und Mann zusammen und setzt ein weiteres Mal sein Vertrauen in uns. Er vertraut uns einander gegenseitig zur sicheren Bewahrung.

Der Prozess des Vertrauens Gottes in uns wird fortgesetzt in Jesus. Vor seiner Himmelfahrt hat Jesus uns die Sendung zur Welt anvertraut, bis zu den Grenzen der Erde, für alle Völker. Wir sollten sie eintauchen in die Liebes- und Beziehungsdynamik, die zwischen Ihm, seinem Vater und dem Geist ständig fließt. Das vertraut er uns an.

Dann kommt Pfingsten. Der Geist kommt und hält sich nicht zurück. Die Sicht der Fülle des Lebens wird wiederhergestellt für Menschen, die zu viel und zu lange hinter Mauern hockten. Gaben werden ausgegossen und mächtige Träume und leidenschaftliche Visionen werden entfacht. Frauen und Männer  werden mit Klarheit und Kraft erfüllt, berauscht mit der Sehnsucht, sein unerschöpfliches und unbezähmbares Wort in allen Sprachen und für alle Menschen zu verkünden.

Am Pfingsten kommt der Geist und gibt uns den inneren Ansporn, dieses Vertrauen Gottes in uns ins Leben umzusetzen. Darum kann Pfingsten nicht das Fest der Sendung aller in einer Kirche der Mitverantwortung sein, wenn es nicht zuerst das Fest der Vollendung des Vertrauens, das Gott in uns setzt, ist.

Wenn die Vollendung des Vertrauens kommt, dann werden wir drei innere Aufgaben erfüllen müssen.

Denn der Geist spornt uns an, das was er in uns gewoben hat zu befreien, zu entfalten und zu wagen.

 

  1. Befreien:

 Der Geist keimt auf in Samen der Hoffnung und des Humors. Also müssen wir dieses Aufkeimen in uns fördern, damit wir hoffnungsvoller und humorvoller ans Leben gehen. Der Geist tanzt im Puls des Lebens, also müssen wir die Lebendigkeit in uns herauslassen und uns in schwungvolle Bewegung setzten. Der Geist brennt im Feuer unsrer Leidenschaft, aber dann müssen wir diese Leidenschaft kundtun. Alles ist da, alles ist uns anvertraut. Niemand lebt aber, bis es befreit wird für das Leben der Welt.

 

  1. Entfalten:

 Die Gaben des Geistes müssen auch entfaltet werden. Sie sind uns als Potential geschenkt, nicht als Fertigprodukt. Die Fülle, die in uns steckt, muss sich dehnen, damit trotz aller Geistlosigkeit wir viele Menschen begeistern. Wir sollten unsere Geistesgaben entfalten, damit die Liebe gewaltlos Gewalt überwindet, Vertrauen neue Beziehung möglich macht und die geschundene Schöpfung immer mehr Fürsprecher und Freunde findet.

 

  1. Wagen:

»Sende aus Deinen Geist« ist die Bitte, die wir an Gott richten. Wenn der Geist kommt, müssen wir ausgesandt werden. Da er bekanntermaßen weht, wo er will, müssen wir bereit sein für jede Überraschung, die mit ihm in unser Leben hineinweht. Geistes Sendung ist Wagnis. Er wird unsere gewohnten Ausreden erschüttern, unsere Trägheit wach rütteln, unsere falschen Sicherheiten durcheinander wirbeln.

Dazu kommen drei Aufgaben nach außen. Sie führen zu einer Kirche der Mitverantwortung aller.

Gottes Vertrauen in uns Menschen bedeutet:

  1. Lebe frei!

 Der Geist spricht nicht von der Freiheit der Kinder Gottes, sondern fordert uns auf, die Freiheit der Gotteskinder auszuleben in allen Dimensionen, in voller Stärke, in der ganzen Spannbreite. Die Kelten sagen, dass der Geist kein domestiziertes Haustier ist, wie eine Taube, sondern eine Wildgans. Wir sind berufen, die Wildheit Gottes in uns auszuleben.

 

  1. Übernimm Verantwortung!

Der Geist lässt uns ahnen, wie eine Welt nach seinem Herzen aussieht. In der Welt, die er gestalten will, dürfen selbst die Kleinen und Mutlosen aufstehen und heute schon tun, was morgen erst möglich sein sollte. Wir sind nicht die Zuschauer dieses Prozesses, sondern die Mitarbeitenden an diesem Werk.

Der stürmische Geist, der in unsere Verschlossenheit hineinweht, fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen, in Lebenssituationen hinzuwehen, um harte Menschen weich zu machen, den Ängstlichen einen Horizont über die Mauern hinaus zu zeigen und eingeschüchterte Flüsterer zu Wortgewaltigen zu verwandeln. »Handle danach und du wirst Leben!« ist hier die Grundformel.

 

  1. Handle schöpferisch!

 Der Geist gibt keine Richtlinien, Marschbefehle und Organigramme mit. Wir werden hinausgesandt mit dem vollen Vertrauen Gottes. Der Geist kommt wortlos. Er kommt zwar stürmisch, gewaltig, bebend, erschütternd, aber ohne Worte. Für die Worte sind wir jetzt zuständig und das verlangt uns schöpferische Handlung ab.

Wir können nicht abwarten, bis die Bedingungen besser werden. Wir dürfen nicht abwarten, bis etwas oder irgendjemand die verschlossenen Türen und verriegelten Fenster unserer Gesellschaft und Kirche öffnet. Wir müssen kreativ werden, Wege suchen, Initiative ergreifen und Lösungen finden. Der Geist hat uns herausgesandt, weil das Antlitz seiner Erde unsere Achtsamkeit dringend nötig hat.

 

Pfingsten will die Menschen Gottes erneuern. Der Geist will uns nicht informieren, sondern animieren. Als Kirche der Mitverantwortung aller darf es auch nicht dabei bleiben, dass alle Gespräche sich um uns als Kirche drehen. Wir sind gesandt, um etwas vom Leben zu ernten, die Armen zu speisen und als erlöste Menschen zu leben, damit andere Menschen erlöst leben dürfen.

Darum kann Pfingsten nicht das Fest der Sendung aller in einer Kirche der Mitverantwortung sein, wenn es nicht zuerst das Fest der Vollendung des Vertrauens ist, das Gott in uns setzt. Gott zählt wirklich auf uns.

 

Erik Riechers SAC, Pfingsten, 31. Mai 2020

 

 

»Pfingst-Geist«

 

Narrative Theologen lernen und lehren es: Nehmt die Geschichten ernst!

Nehmt eure eigenen Geschichten ernst! Nehmt alle Geschichten Gottes und seiner Menschen ernst! 

Die Bibel ist meist wortkarg, umso wichtiger ist es, das Gewicht jedes Wortes auszuloten, die Metaphern auszukosten und zu deuten.

Heute schenken wir Ihnen ein Gedicht, das voll ist von biblischen Metaphern und einen Bogen spannt von den Ursprüngen unseres Glaubens in die von uns zu gestaltende Zukunft hinein.

Wilhelm Bruners, ein Meister des Wortes, schrieb vor drei Jahren:

 

Pfingst-Geist . Zukunfts-Geist

Wehe uns, wenn der Himmel ernst macht

und Feuer und glühende Kohlen auf uns

regnen lässt. Wenn unser Atem stockt,

weil Gottes Feueratem über uns kommt.

Wenn wir aus unseren Nestern geworfen 

flügge werden, ob wir wollen oder nicht.

Wenn unser Sturzflug in eine Welt beginnt,

die uns dringend braucht.

 

Selig sind wir, wenn alles Tote

in Gottes Feuer-Geist verbrennt, 

damit unsre Zukunft eine

                lebendige Chance hat.

                                                  wilhelm bruners, Juni 2017

 

Lesen wir es Wort für Wort und hören wir in uns, was dieses Wort in uns auslöst und wo wir ihm in der Bibel schon begegnet sind.

Nehmen Sie sich Zeit, lesen Sie es immer wieder, und Sie werden die Tiefe und Sprengkraft erfahren.

 

Wenn die Juden an Schawout, 50 Tage nach Pessach, das Herz ihres Glaubens feiern, nämlich die Gabe der Tora, und genau an diesem Tag der Heilige Geist auf die versammelte Jüngerschar herabkam und die Kraft für die Zukunft freisetzte, dann wird Auferstehung endlich lebbar und wir können selig genannt werden,              

»wenn alles Tote

in Gottes Feuer-Geist verbrennt, 

damit unsre Zukunft eine

                                lebendige Chance hat.«

 

So lasst uns Pfingsten feiern!

 

Rosemarie Monnerjahn, 30. Mai 2020

 

 

»Wirf deine Angst in die Luft«

 

In der Apostelgeschichte ist eines der letzten Worte, die Jesus seinen geliebten Jüngern sagt:

»Geht nicht weg von Jerusalem, sondern wartet auf die Verheißung des Vaters, die ihr von mir vernommen habt! Denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden. «  (Apg 1,4-5)

Wir verlebendigen in diesen Tagen die Erinnerung daran. Auch uns ist dieser Geist, der Heilige, der Kraftspendende, zugesagt.

Doch wie die Jünger kennen wir Angst, manchmal schwindet uns die Hoffnung dahin, manchmal glauben wir, keine Kraft mehr zu haben für den nächsten Tag.

Wir wissen auch um die Endlichkeit unseres Lebens, die wir verdrängen oder die uns bedrückt, weil sie uns Druck macht.

So ist unsere Welt in besonderer Weise seit Monaten erfüllt von der Angst vor dem Leben, weil wir Angst haben vor dem Sterben.

Doch gehört all das zu unserem Menschsein und wir können es sanft und ehrlich anschauen.

Rose Ausländer (1901-1988), wahrlich lebenserfahren, fand folgende Worte: 

Noch bist du da

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

Rose Ausländer

 

Um zu sein, was wir sind und zu geben, was wir haben, brauchen wir Gottes Heiligen Geist.

Möge er uns stärken, damit wir »nicht mehr unmündige Kinder« sind, »ein Spiel der Wellen«. (Eph 4,14)

Jesus sagt zum Abschied im Johannes-Evangelium: »Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.« (Joh 16, 33)

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. Mai 2020

 

 

Das Herz des Abenteurers V

 

Nichts ist so hilfreich, um die wahre Natur des Herzens zu enthüllen, wie eine Krise. Wenn das Leben schwierig wird, dann entdecken wir, ob das Herz des Abenteurers in uns schlägt, oder ob wir das Herz des Touristen in uns beherbergen.

Das Herz des Abenteurers ist geprägt von der Bereitschaft, einen Preis zu zahlen, um frei zu leben. Dieses Herz weigert sich, den Anspruch zu erheben, dass es von der Krise und dem Zoll, den sie fordert, dispensiert wird. Das Herz des Touristen hält fest an der Überzeugung, dass es ein Recht auf angenehmes Leben hat, das keinen Preis fordert, aber auf jeden Vorteil pocht.

                         

Sprichwörter 30, 18-19 bietet uns einen beeindruckenden Blick in das Herz des Abenteurers.

Der Erzähler gibt bescheiden zu, dass es vier Dinge gibt, die er nicht vermag zu fassen.

…den Weg des Geiers am Himmel,

den Weg der Schlange über den Felsen,

den Weg des Schiffes im Herzen des Meeres,

den Weg des Mannes bei der jungen Frau.

 

Es ist das Rätsel der dritten Zeile, das allen Menschen etwas angeht, die wie alle Abenteurer das unentdeckte Land betreten.

In der Antike blieben die Schiffe nah an der Küste und benutzten das Land, das sie sehen konnten, um ihre Reise zu leiten. Mit anderen Worten, sie nahmen das Bewährte und Erprobte um zu navigieren. Das gab ihnen ein Gefühl der großen Sicherheit, aber es hat die Routen, die sie nehmen konnten, stark eingeschränkt. Sie mussten immer die Kurven des Landes befolgen. Es gab schnellere, glattere und bessere Routen zu segeln, aber keinen wurden nachgegangen, damit sie das Ufer im Blick behalten konnten.

Wenn Menschen die Sicherheit zu ihrem persönlich überragenden Anliegen und Thema machen (das Bewährte und Erprobte), dann schränken sie ihre Fähigkeit, sich zu bewegen, erkunden und entdecken stark ein. Weil sie immer dieselben Sicherheiten gebrauchen um zu  navigieren, schaffen sie es nie, die Entdeckung machen, dass es andere Wege des Lebens gibt, schnellere und bessere Wege, Leben und Gemeinschaft zu gestalten, und sogar viel einfachere Wege des Lebens und Handelns.

Das ist das ewige Problem der Tradition. Zum größten Teil in der heutigen Kirche wird die Tradition reduziert, indem sie mit dem Ufer gleichgesetzt wird. Wir geben Menschen die Routen durchs Land und sagen, sie sollten sich sklavisch daran halten. Momentan sehen wir es in der oft sklavischen Bereitschaft, alles zu tun, um öffentliche Gottesdienste zu ermöglichen.

Aber das biblische Verständnis der Tradition ist tiefer und gesünder. Tradition ist nicht das Ufer, sondern die anhaltende Fähigkeit, jedes Meer zu besegeln und das Schiff auf See zu halten, egal was gegen dieses Schiff geworfen wird.

Das Herz des Meeres war seine unbekannte und erkennbare Mitte, weit vom Ufer, erschreckend in der Vorstellung und unmöglich zu navigieren.

Wenn man bedenkt, dass das biblische Bild des Herzens oft für das Unbekannte und Verborgene im Menschen steht, für den Weg des Schiffes im Herzen des Meeres, dann ist die Herausforderung eben in dieses Unbekannte und Verborgene hinein zu gehen.

 

In Lukas 5, 4 sagt Jesus seinen Jüngern, dass sie hinaus in die Tiefe fahren sollten. Das war kaum ein willkommener Rat für die Fischer dieser Zeit. Es bedeutete Risiko, denn kaum einer von ihnen konnte schwimmen und aus dem Boot zu fallen bedeutete, man konnte nicht einfach aufstehen und zum Ufer zurückspazieren. Es bedeutete Unsicherheit, denn je tiefer das Wasser wurde, je undurchsichtiger, umso weniger konnte man sehen, was im Wasser ist.

Es hieß, man musste vertrauen, dass die große Menge Wasser unter uns uns auch tragen würde und die undurchsichtigen Dunkelheiten das Leben enthalten, das wir suchen

Es war eine grundlegende Lebensunterweisung Jesu, denn obwohl es einfacher, tröstlicher und angenehmer ist am Ufer zu kleben, gibt es einen kleinen Nachteil. Es gibt keine Fische in der Nähe des Ufers.

Fische bedeuten Leben und es gibt kein Leben in der Nähe des Ufers.

Kein Leben ist zu finden, wo die Sicherheit bestimmt, wo wir hingehen dürfen oder nicht.

Kein Leben ist zu finden, wo wir so in eine Sicherheit und einen Schutz eingehüllt sind, die uns versklaven, weil wir davon so abhängig sind, dass wir nirgendwo hingehen können, wo diese Dinge gefährdet werden.

Dann verbringen wir alle Zeit und Energie nicht, um unser Leben zu bewahren, sondern unsere Sicherheit. Und darin liegt der fatale Fehler. Viel zu viele Menschen verwechseln diese Sicherheit mit dem Leben.

 

Die keltischen Christen haben die Überzeugung der römischen Kirche, dass es sieben Todsünden gibt, nicht geteilt. Sie waren sich sicher, dass es nur eine Todsünde gibt, das ungelebte Leben. Die sieben, die wir mit Vorliebe benennen, sind lediglich Beispiele, wie das Leben ungelebt bleibt.

Der Erzähler der Sprichwörter ist verblüfft über den Weg eines Schiffes im Herzen des Meeres. Wie hält man Leben und Geist über Wasser in der Mitte des Unbekannten und Verborgenen, weit weg von Sicherheiten und Schutz, die uns einst erhalten und beruhigt haben? Der einzige Weg, wie wir das herausbekommen, ist wenn wir in das Herz des Meeres hinaussegeln. Und dafür braucht man sicherlich das Herz eines Abenteurers.

 

Erik Riechers SAC, 28. Mai 2020

 

 

Gott, du bist uns nah

 

In meiner Jugend sah ich zu Hause im Fernseher Pier Pasolinis Film » Das 1. Evangelium – Matthäus «. Dieser Schwarz-Weiß-Film beeindruckte mich damals sehr. Endlich ein Bibelfilm, der kein Hollywood-Epos war! Hier erzählten die Bilder von der Kargheit des Landes und der Armut der Menschen. Die gesprochenen Worte wurden alle aus dem Matthäus-Evangelium gewählt und nichts hinzugefügt. Die Gesichter der handelnden Personen gingen mir unter die Haut - so ehrlich, schlicht und ausdrucksstark waren sie und nahmen mich mit in das wachsende Spannungsfeld. Am Ende aber war es ein Satz, der mir ins Herz fiel und dort lebt bis heute. Es ist der letzte Satz des Evangeliums und war der letzte Satz im Film:

» . . . ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.«

Nie zuvor hatte ich ihn so gehört und jedes Mal, wenn ich ihn seither höre, spüre ich wieder die Wärme dieser nicht endenden Zusage, die ermutigt und tröstet und der ich glauben kann.

Es ist, als trete ich in Verbindung zum Namen Gottes, wie ihn Mose im Dornbusch vernahm: »Ich bin der ‚Ich-bin-da‘ «.

Jesu Zusage bedeutet: ER ist bei uns und mit uns unterwegs an allen Tagen, seien sie entspannt oder spannungsvoll, gesund oder krank, traurig oder freudvoll. So wie er seine Jünger zu allen Völkern sendet, so spricht er ihnen und uns zu, bis zum Ende der Welt bei uns zu sein.  Dieses »Ende der Welt« verstehe ich nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich - SEINE Gegenwart hört nicht auf.

 

Als Wegbegleitung in diesem Vertrauen und in dieser Woche auf Pfingsten hin mag uns ein kleines Gebet dienen:

 

Gott, du bist uns nah, jetzt, hier, in diesem Moment und zu aller Zeit.

Gott, mit dir wollen wir gehen, gib du uns den Impuls.

Bei dir wollen wir ruhen, gib du uns den Atem.

Bei dir ist Proviant, begleite uns.

Bleib uns vertraut, und werde uns neu.

                               (Manfred Büsing, Lectio divina, Bd. 22, 2020)

 

Rosemarie Monnerjahn, 27. Mai 2020

 

 

»At the same time«

 

Manchmal hören wir eine Geschichte oder ein Lied ganz neu. Wir sind nicht mehr dieselben wie beim letzten Mal. Andere Aspekte treten hervor, tiefere Schichten werden erreicht.

So begegnete mir vor Tagen wieder Barbra Streisand mit ihrem Lied »At the same time« - ein Lied über die Verbundenheit aller Menschen. Seit Jahrzehnten reden wir von Globalisierung - der Wirtschaft, der Reiseaktivitäten, des Klimaschutzes und der Umweltproblematik, der Hilfsaktivitäten bei großen Katastrophen und aktuell der Bedrohung durch Krankheiten und Seuchen. Doch der Begriff ist mechanistisch und kalt.

Barbra Streisand dagegen liebt die Lyrik von Ann Hampton Callaway, weil sie weiß, »wie zerbrechlich der Planet ist, wie zerbrechlich Seelen sind und wie verzweifelt wir Einheit brauchen« *

Ich lade Sie ein, mit Ihren Ohren und Ihrem Herzen diesem Lied zu begegnen, es in sich aufzunehmen und zu erkunden, was dabei gerade heute in Ihnen mitschwingt:

Zur selben Zeit

Denk an all die Herzen, die in der Welt schlagen
zur selben Zeit.
Denk an all die Gesichter und die Geschichten, die sie erzählen können
zur selben Zeit.
Denk an all die Augen, die in diese Welt hinaus schauen

und versuchen, einen Sinn in dem zu finden, was sie sehen.

Denk an all die Weisen des Sehens, die wir haben.
Denk an all die Weisen des Seins, die es gibt.

 

Denk an all die Kinder, die in diese Welt geboren werden

zur selben Zeit.

Fühle deine Liebe, die sie umhüllt durch die Jahre, die sie zum Wachsen brauchen

zur selben Zeit.

Denk nur an all die Hände, die sich nach einem Traum ausstrecken,

denk an all die Träume, die wahr werden könnten,

wenn die Hände, die wir reichen, zusammen kommen könnten, um mich und dich zu verbinden.

 

Wenn es Zeit ist, an morgen zu denken,

müssen wir unser zerbrechliches Schicksal schützen.

In diesem kostbaren Leben gibt es keine Zeit zum Ausleihen.

Die Zeit ist gekommen, eine Familie zu sein.

 

Denk nur an all die Liebe, die aus unseren Herzen fließt

zur selben Zeit.

Denk an all das Licht, das unsere Liebe in die Welt hinaus strahlt

zur selben Zeit.

Denk nur, was uns gegeben worden ist

und dann denke, was wir verlieren können.

Alles Leben liegt in unseren zitternden Händen.

Es ist Zeit, unsere Ängste zu überwinden und uns zu verbinden, um eine Welt zu bauen, die liebt und versteht.

 

Es hilft, an all die Herzen zu denken, die in der Welt schlagen

und zu hoffen für all die Herzen, die in der Welt schlagen.

Es gibt eine heilende Musik in unseren Herzen, die in dieser Welt schlagen

zur selben Zeit . . .

zur selben Zeit.

                                                           * Barbra Streisand, Higher Ground CD 1997, Begleitheft

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. Mai 2020

 

 

Ein Gebet zum Meister des Schocks

 

Viele Menschen kommen zu der Überzeugung, dass wenn sie an Gott glauben, sie so etwas in der Art einer göttlichen Lebensversicherung abgeschlossen haben. Natürlich, wenn dann eine Zeit der Krise kommt und sie weder immun noch unbehelligt sind, werden sie entweder wütend oder depressiv.

Dafür gibt es nur ein Heilmittel und das ist die Restaurierung eines gesunden Gottesbilds. Ich kenne genau den richtigen Mann, der uns dabei helfen kann.

 

Ein Gebet zum Meister des Schocks

Als du den zweiundsiebzig sagtest,

sie sollten ohne Brot und Münze reisen,

war es, um die Reichen bei dem Gedanken schwindlig zu machen

und das Herz der Satten zu knicken?

Denn Du warst der Meister des Schocks,

der aus der Wüste des Fastens tanzte

mit der Botschaft im Mund,

dass die Erde noch nicht abgekühlt ist,

seit der letzten Berührung mit der Hand des Schöpfers.

 

Dann sagtest du,

dass der weit gespannte Gott so nah war

wie die Witwe ohne Gerechtigkeit

und der Fremde ohne ein Dach.

Und du bist aufgestanden

wie eine offene Hand in Zeiten des Kriegs.

Du standest neben jedem Feuer und jeder See,

überall wo ein Ohr hört und ein Auge sieht.

 

Du hast Geschichten in die Luft gehängt wie ein Schwert über unsere Köpfe,

 

über einen Sohn der Schande, der zur Fanfare zurückkehrt,

während ein Sohn der Schuldigkeit ohne eine Party bleibt,

 

über einen Arbeiter, der die Hitze des Tages erträgt,

während ein Bummler des späten Nachmittags zuerst bezahlt wird,

 

über einen  Ja-Sager-Sohn, der Nein meint,

während ein anderer Nein sagt und Ja lebt,

 

über einen Priester, der an der anderen Seite vorbeigeht,

während ein Terrorist Wunden verbindet,

 

über einen armen Mann, der mit Abraham diniert

während ein reicher Mann keinen Finger Wasser finden kann,

 

über einen guten Mann, dessen Gebet in Luft aufgeht

während der Sünder, der seiner Seele Luft macht, das Ohr Gottes hat.

 

Und als der Verkrüppelte

beim  Schaftor der fünf Säulenhallen

dir sagte,

dass das Wasser nur heilt,

wenn ein Engel es in Wallung versetzt,

 

sagtest du ihm:

»Ich bin das Wasser, das in Wallung versetzt«.

Denn Wallung ist dein Ding.

 

Erik Riechers SAC, 25. Mai 2020

 

 

7. Ostersonntag 2020

 

Die Kunst der großen Unterhaltung

Bei Johannes zieht sich die Abschiedsrede über vier Kapitel. Aber ich finde, sie ist weniger eine Rede als eine Unterhaltung, denn im Laufe der Unterredung spricht er mit den Jüngern, beantwortet ihre Fragen, wendet sich an seinen Vater und erzählt, was sich in ihm regt und abläuft. Hier geht es um eine letzte große Unterhaltung, in der Jesus sein Herzblut ausgießt und alles, was ihm kostbar, edel, teuer und wertvoll ist, in sichere und wertschätzende Hände überreicht.

Wenn wir eine solche Unterhaltung so wie Jesus hinbekommen wollen, dann sollten wir uns zwei bedeutsame Fragen stellen:

  1. Was liegt mir so am Herzen, dass ich es unbedingt weitergeben möchte?

       2. Wem will ich das anvertrauen?

 

Im heutigen Evangelium wird Herzblut ausgegossen und alles, was Jesus kostbar, edel, teuer und wertvoll ist, wird in sichere und wertschätzende Hände überreicht, nämlich die seiner vertrauten Menschen, die Jünger. Eingeladen zu werden, eine solche Unterhaltung zu hören und zu teilen, ist ein sicheres Zeichen, dass wir vertraute Menschen sind.

Wenn wir das hinbekommen möchten, müssen wir etwas festhalten:

Hinhören ist die erste Ehrfurcht.

Bei einer solchen Unterhaltung muss ich dabei sein, zuhören und hinhören. Ich muss wahrnehmen, aufnehmen und mitnehmen. So war es bei den Jüngern um Jesus.

Wenn ich das nicht tue, dann sind weder meine Hände noch mein Herz sicher und wertschätzend genug, um Wertvolles hineinzulegen.

Ohne die erste Ehrfurcht des Hinhörens kann nichts wahrhaft Wertvolles weitergeben werden, und dann hat das Kostbare keine Zukunft.

Aber eine solche große Unterhaltung, in der ich mein Herzblut ausgieße und alles, was mir kostbar, edel, teuer und wertvoll ist, in sichere und wertschätzende Hände überreiche, hat ihren Preis und fordert ihn auch ein.

Der Preis ist die Zugehörigkeit. Die Abschiedsrede ist nicht die Bergpredigt. Hier wählt Jesus seine Zuhörer selbst aus, und die Zugehörigkeit ist sein Maßstab. Es gibt einen guten Grund, warum Jesus warnen wird, dass wir unsere Perlen nicht vor die Säue werfen sollten. Das ist keine Beleidigung, sondern tiefste Seelenweisheit. Säue können mit Perlen nichts anfangen. Mit anderen Worten: lege nie und nimmer das Wertvollste in die Hände derer, die damit nichts anfangen können und es deshalb weder würdigen noch schützen können. Zugehörigkeit erzeugt Vertrauen, aber Zugehörigkeit braucht Zeit, und zwar in rauen Mengen.

Das führt uns zurück zu den zwei Fragen.

1. Was liegt mir so am Herzen, dass ich es unbedingt weitergeben möchte?

Das setzt eine Ahnung meines  Lebens voraus. Es setzt voraus, dass ich den Kontakt zu meinem Innenleben nicht verloren habe, dass ich Kontakt zu mir selber habe. Ich muss wissen, was mir wertvoll und teuer ist. Die kostbaren, edlen, teuren und wertvollen Themen eines Lebens liegen nicht auf der Oberfläche, sondern können nur gefunden werden, wenn wir unsere Tiefen ausloten.

 2. Wem will ich das anvertrauen?

Das setzt die Art Beziehung zum anderen voraus, die Vertrauen erzeugt. Zugehörigkeit wird hier aktuell. Ich muss wissen, wem ich Wertvolles anvertrauen möchte. Wem zeige ich das Schönste, das Bewegende, das Kostbarste, das Teuerste meines Lebens? Die Antworten können nur in Beziehungen der Zugehörigkeit liegen. Den Unbekannten und den Fremden werde ich es nicht anvertrauen können und um mich und mein Herzblut zu schützen, werde ich es auch meinen Bekannten nicht anvertrauen, wenn ich schon im Voraus weiß, dass sie es nicht zu würdigen wissen.

 

Wenn ich gefragt hätte: »Wann war das letzte Mal, wo Sie ein wirklich wunderbares  Essen genossen haben?«, dann würden sie kurz nachdenken und bald eine Antwort bereit haben. Wenn ich aber die Frage stelle: »Wann war das letzte Mal, dass Sie eine wirklich großartige Unterhaltung hatten, die Wochen oder Monate danach in Ihrem Herzen gesungen hat und nachklang?«, dann werden Sie lange überlegen müssen.

Trotzdem können wir die Kunst der großen Unterhaltung lernen und üben. Das Schöne daran ist, dass es keine Abschiedsrede sein muss. Wir können zu jeder Lebenszeit uns über das Kostbare, Edle und Wertvolle unseres Lebens unterhalten und es anderen anvertrauen. Eine Zeit wie diese, eine Zeit der Krise, wäre ein sehr guter Anfangspunkt.

 

Erik Riechers SAC, 24. Mai 2020

 

 

Wenn alles so anders wird

 

Als ich kürzlich auf meine Enkelkinder vor dem Kindergarten wartete, kam ich ins Gespräch mit der Mutter eines Vorschulkindes. Sie erzählte, dass ihre Tochter immer wieder weint, weil jetzt all das Schöne, auf das sie sich gefreut hatte, abgesagt ist. »Wie gern hätte sie zum Abschluss im Kindergarten übernachtet! Und jetzt fällt alles aus«, klagte sie.

In der Tat: Wir erfahren zwar Lockerungen der strengen Regeln. So können allmählich auch die Kinder wieder in die Einrichtungen gebracht werden, aber das ist noch längst nicht das, was war oder geplant wurde und worauf auch 6-Jährige sich eingestimmt und gehofft hatten. Das ist schade und ich sah die Traurigkeit in den Augen der jungen Mutter.

Doch existentiell ist es glücklicherweise nicht. Da fallen mir andere Bilder ins Herz; es sind Bilder von verlorenen Kindern, von verlassenen Kindern, von Kindern, deren Leben von Krankheit bestimmt ist; es sind Bilder von Flucht und Deportation, von Ghettos und Favelas - millionenfach.

In diesen Tagen erscheint in Deutsch eine ergreifende Graphic Novel der israelischen Künstlerin Esther Shakine. In »Exodus« erzählt und illustriert sie, wie sie die Shoa überlebte und schließlich in Israel eine neue Heimat fand. Die Kindheit in Ungarn ist glücklich und unbeschwert, mit Katze und Freunden, doch irgendwann kommen die Judensterne und später stürmt nachts die Polizei die Wohnung. Ihre Mutter versteckt sie im Schrank, doch ihr Wimmern wird gehört, der Schrank aufgerissen. »Seine Stiefel waren direkt vor meinen Augen. Pitsy fauchte vor Angst und rannte davon. Der Polizist wollte ihr einen Tritt versetzen und wäre dabei fast hingefallen. ‚Verdammte Katze!`, fluchte er. Ich blieb allein im Schrank zurück. Ich weinte nicht mehr. Dann habe ich lange Zeit nicht mehr geweint.«

Alles bricht weg.

Auf ihrem Irrweg durch die Stadt findet sie ein Priester, der sie mitnimmt ins Waisenhaus des Klosters, wo sie bis zu dessen Bombardierung gegen Ende des Krieges ein Zuhause hat. Danach stromert sie mit anderen jüdischen Kindern umher, immer wieder zum Bahnhof in der Hoffnung auf ihre Eltern. Doch sie kommen nie.

Über ein zionistisches Kinderheim und nach vielen Widrigkeiten ist sie schließlich 1947 in Südfrankreich und besteigt mit 4500 Juden ein Schiff nach Palästina. Es ist die »Exodus«, die Briten lassen sie nicht an Land, die Flüchtenden kommen zurück nach Deutschland. Erst im nächsten Jahr gelingt ihr endlich die Überfahrt. So endet die Geschichte mit dem Sonnenuntergang an ihrem ersten Abend im Kibbuz: »Ich hatte das Gefühl, dass ich endlich angekommen war.«  

 

Wie können wir Menschen so viel Leid und Zerbrechen von Leben ertragen, immer wieder, manchmal für lange Jahre?

 

In Psalm 77 klagt der Beter über seine große Not, er findet keinen Trost, ja fühlt sich von Gott verstoßen und vergessen und hält Gott Frage um Frage vor:

Wird der Herr denn auf ewig verstoßen und niemals mehr erweisen seine Gunst?

Hat seine Huld für immer ein Ende? Hat aufgehört sein Wort für alle Geschlechter?

Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist? Oder hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen?

 Doch dann hält er inne:

Da sagte ich: Das ist mein Schmerz, dass die Rechte des Höchsten so anders handelt?

Auch das ist noch eine Frage. Hat Gott mit mir zu tun, auch wenn alles so anders gekommen ist, als ich es mir vorstellte, so schwer und kaum zu tragen?

Der Beter bleibt auf dieser Spur und verlebendigt die Erinnerung:

Ich denke an die Taten des HERRN, ja, ich will denken an deine früheren Wunder.

Ich erwäge all deine Taten und will nachsinnen über dein Tun.

Gott, dein Weg ist heilig.

 

Können auch wir in solchen Zeiten auf diese Spur kommen? Können wir über unsere je aktuelle Not hinaus schauen oder ahnend dem mitgehenden, so ganz anderen Gott vertrauen?

 

Komm, Gottes Geist, und stärke uns, dass wir mutig unsere Fragen stellen.

Komm, Gottes Geist, und weite unseren Blick und unser Herz.

Komm, Gottes Geist, und belebe unser Vertrauen und unsere Hoffnung.

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. Mai 2020

 

 

Sich verbiegen

 

In diesen Tagen dürfen wir offiziell wieder öffentliche Gottesdienste feiern. Manche bejubeln dies als einen Sieg. Ich gehöre nicht zu ihnen.

Die Richtlinien und Einschränkung sind so grotesk, dass sie die Eucharistie zu etwas Unerkenntlichem entstellen. Nur eine kleine erwählte Gruppe darf teilnehmen, während alle anderen ausgeschlossen werden. Alle müssen Masken tragen, zwei Meter Distanz bewahren und Gesang ist nicht erlaubt. Kommunion wird mit Plastikhandschuhen und Zangen ausgeteilt oder hinter Plexiglas-Barrieren gereicht.

Um uns all diesen Einschränkungen anzupassen, haben wir die Eucharistie in eine hohle Schale verwandelt. Wie ist dies eine Eucharistiefeier, wenn jede Geste förmlich schreit: Bleibt mir vom Leib? Wie feiern wir die Hoffnung der Auferstehung, wenn jede Handlung davon zeugt, dass wir in tödlicher Angst vor einander leben? Wie feiern wir Gemeinschaft, während wir ihre Bausteine ablehnen, nämlich Kontakt, Nähe, Teilen und Begegnung?

Es erinnert mich an eine Geschichte. Clarissa Pinkola Estés gibt sie wieder in ihrem Buch »Die Wolfsfrau«.

 

Ein Mann kam zum Szabó, dem Schneider und probierte seinen neuen Anzug an. Als er sich vor den Spiegel stellte, fiel ihm auf, dass der Saum der Weste an einer Seite ein bisschen schief war.

„Oh“, sagte der Schneider, „das soll uns gar nicht weiter kümmern. Hier, Sie ziehen das kürzeste Ende einfach mit der linken Hand nach unten, dann sieht niemand den Unterschied.“

Während der Kunde die Weste nach unten hielt, fiel ihm auf, dass das Revers der Jacke sich hochrollte, anstatt flach zu liegen. „Oh, das?“ rief der Schneider. „Das ist nicht der Rede wert. Sie neigen Ihren Kopf ein wenig zur Seite und drücken den Kragen mit Ihrem Kinn nach unten. So…ja. Wunderbar!“

Der Kunde tat, wie ihm geheißen, aber dann merkte er, dass der Schritt ein bisschen knapp und der Hosenbund zu hoch geschnitten war. „Ach, das macht doch nichts“, meinte der Schneider. „Sie ziehen den Schritt einfach mit der rechten Hand ein wenig nach unten, und dann ist alles in bester Ordnung.“ Der Mann stimmte zu und kaufte den Anzug.

Am ersten Weihnachtstag humpelte der Mann in seinem neuen Anzug durch die Kirche: Kinn schräg auf dem Revers, die linke Hand an der Weste zerrend, die Rechte am Schritt der Hose. Bei seinem Anblick hielten zwei alte Männer inne und schauten sich an, wie merkwürdig er sich fortbewegte.

„O mein Gott“, murmelte der eine. „Schau dir den armen Krüppel an….“ Der zweite starrte dem Humpelnden sinnend nach und sagte: „Ja, dass ein Mensch so verwachsen ist, kann einem leid tun. Ich frage mich nur, wo er den schicken Anzug her hat.“

 

Wollen wir uns wirklich so verdrehen, nur um den Anschein zu erwecken, dass es passt?

 

Erik Riechers SAC, 22. Mai 2020

 

 

Christi Himmelfahrt 2020

 

Manchmal ist das, was wir in der Liturgie feiern, im Einklang mit dem, was wir in der Erzählung Gottes hören. In unserer Liturgie haben wir eine starke Fokussierung auf seine Himmelfahrt. Aber in der Erzählung in der Apostelgeschichte legt Jesus die Betonung ganz woanders. Er hat die Jünger vorbereitet für ihre Sendung nach seinem Abschied.

 

Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.

 

Er macht es klar, dass wir eine Aufgabe haben so weit wie seine Erde. Er hat uns eine  Verantwortung für seine Menschen anvertraut, die grenzenlos ist.

 

Aber die Jünger machen, was wir oft tun: sie starren nach dem, was früher war. Jesus macht es klar, dass seine Gegenwart unter uns in Form und Figur des Geistes weiterleben wird, aber das wollen sie nicht. Jesus schenkt uns Geistes Kraft, um eine weite und wilde Welt zu gestalten. Wir aber wollen alles so behalten, wie es mal war. Jünger aller Zeiten brauchen Boten Gottes, um aus dieser Starre auszubrechen.

 

Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.

 

Die Übersetzung ist schwach. Hier geht es nicht um Schauen, sondern um Starren. Es ist die Fixierung, die uns lähmt.

Christi Himmelfahrt erinnert uns daran, dass wir an dem vierten von 5 Schritten des österlichen Geheimnisses stehen. Die Kernaussage der Osterzeit ist, dass Ostern ein solch großes und tiefes Geheimnis ist, dass kein Tag es umfassen kann.

 

Ostern ist ein einziges Ereignis, aber mit fünf wichtigen Phasen, die zusammen dieses Ereignis bilden. Österliches Leben besteht aus fünf klaren Schritten: Tod, Auferstehung, die 40 Tage, Himmelfahrt und Pfingsten. Jeder dieser Schritte hat auch eine tiefe Bedeutung für Menschen, die österlich leben wollen.

Tod bedeutet den Verlust des Lebens. In diesem Schritt müssen wir trauern und unsere Verluste würdigen.

Auferstehung bedeutet den Empfang eines neuen Lebens. Das ist ein Angebot Gottes, aber Menschen sind nicht verpflichtet oder gezwungen, die Angebote Gottes anzunehmen. Wir können dieses Angebot des neuen Lebens auch ablehnen.

Die vierzig Tage sind die Zeit der Reifung, der Überlegung und der Übung, damit wir allmählich uns für das neue Leben entscheiden.

Und dann kommen wir zur Himmelfahrt. Hier üben wir die Weigerung, an das alte Leben uns festzuklammern. »Ihr Männer (Frauen) von Galiläa, was steht ihr da und starrt den Himmel an?« Himmelfahrt ist der Augenblick, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir neues Leben annehmen oder nur interessiert sind an der Mumifizierung des ehemaligen Lebens.

Nur so kann man zu Pfingsten kommen, zu dem Punkt, wo wir einen neuen Geist empfangen und tatsächlich etwas von einem neuen Leben zu spüren bekommen.

Pfingsten, der fünfte Schritt, ist der Empfang eines neuen Geistes

 

Christi Himmelfahrt ist die Begegnung mit dem Gott, der uns Loslassen des Alten abverlangt, damit das Einlassen auf das Neue gelingen kann. In religiösen Kreisen sprechen wir sehr oft vom Loslassen, was biblisch gesehen recht schwach ist. Die Erzählungen Gottes sprechen von Loslassen immer im Zusammenhang mit Einlassen. Wir sollten etwas loslassen, damit wir uns auf etwas anderes einlassen können. Aber erst, wenn das Abenteuer Gottes anklopft, merken wir, was es bedeutet, etwas loszulassen, um uns auf das Abenteuer Gottes einzulassen. Niemand wird einen neuen Geist empfangen, der an seinem alten Leben klebt.

Aber wir können das Angebot eines neuen Lebens ablehnen, indem wir immer nur das alte Leben zurückhaben wollen.

Dafür haben wir einen Namen: Nostalgie. Wir kennen sie nur zu gut, diese Sehnsucht nach den »guten, alten Tagen«. Aber diese Romantisierung der Vergangenheit ist nur die Art, wie wir der Herausforderung der Gegenwart aus dem Wege gehen. Nostalgie ist unehrlich. Die alten Zeiten waren nie so gut wie wir sie bereinigend schildern. Sie hatten auch ihren Anteil an Schmerz, Leid und Anstrengung. Wenn wir alle in eine Zeitmaschine steigen würden und nach 1955 zurückkehren würden, garantiere ich Ihnen, dass wir dort Menschen antreffen würden, die sich sehnen nach den »guten, alten Tagen«.

 

Christ Himmelfahrt spricht nicht nur von der Verherrlichung und Vollendung Christi, sondern von der Aufgabe, die er uns zurückgelassen hat. Jesus betont vor seiner Himmelfahrt, dass wir eine Aufgabe haben so weit wie seine Erde und dass er uns eine Verantwortung für seine Menschen anvertraut, die grenzenlos ist.

 Wir aber kleben an alten Vorstellungen, die uns daran hindern, diese Tage zu gestalten.

Wir halten fest an alten Träumen, die uns hindern, an der Vision von heute zu arbeiten.

Wir mumifizieren alte Strukturen, anstatt Wege zu suchen, wie wir hier und heute leben können.

Tod, Auferstehung, 40 Tage, Himmelfahrt und Pfingsten; das ist der wahre Rhythmus des Lebens und nicht die grausame und jämmerliche Praxis der Mumifizierung.

 

Die Jünger bei der Himmelfahrt Jesu stehen dort, wo wir heute stehen: zwischen Himmel und Erde, gelähmt, unfähig in Bewegung zu kommen und ihr Leben zu gestalten. Und dieses Stehen zwischen Himmel und Erde erinnerte mich an die Worte Gottes im Buch Deuteronomium. »Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben damit du lebst.«

Ein wahres Wort für Menschen der Himmelfahrt, die bewusst Leben und nicht Mumifizierung wählen.

 

Die Botschaft der Engel ist sanft, aber ich werde sie in deutlichere Sprache übersetzen. Leute, die Hausaufgaben sind hier unten.

 

Erik Riechers SAC, 21. Mai 2020

 

 

Wird diese Krise etwas wandeln?

 

Diese Frage taucht immer wieder auf, in mir, in meiner Umgebung, auch in öffentlichen Gesprächen. Aus ihr spricht eine Sehnsucht, die wir immer spüren, wenn wir selbst oder geliebte Menschen durch schwere Zeiten gehen müssen, in denen Selbstverständliches, sicher Geglaubtes und liebevoll Vertrautes wegbricht. Wir sehnen uns danach, dass es einen Sinn in der Krise gibt und dass wir oder andere sich positiv verändern lassen und so nach der Krise gereift und beschenkt ihr Leben anders gestalten.

 

Der eher schwermütige und in sich gekehrte dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard schrieb einmal: »Nur von Verwandelten können Wandlungen ausgehen.« Das bedeutet, dass es nichts nützt, mir Wandlung welcher Art auch immer zu wünschen, wenn ich mich nicht zuerst der Einladung oder Zumutung stelle, die eine Verwandlung zur Folge hätte. Wenn ich etwa ein sehr spontaner, ja sprunghafter Mensch bin und mir wünsche, dass ich überlegter handle und konsequent an Sachen dranbleibe, werde ich dies nicht erreichen, wenn ich jeder Störung oder jedem Einwurf von außen folge. Wenn etwas an mich herantritt, muss ich es annehmen als Aufgabe und Übung. Ich schaue an, was dies bedeutet, lege es gewissermaßen vor mir »auf den Tisch«, um daran und an mir zu arbeiten. Oder wenn ich nie mich dem stelle, was die Stunde verlangt, sondern Schwierigkeiten möglichst oberflächlich an meinem Herzen vorbeiziehen lasse, wird der Wunsch nach mehr Tiefe sich nicht erfüllen, ja die Sehnsucht danach wird verkümmern. Ich müsste stattdessen das Schwere oder die Nöte, seien es meine eigenen oder die anderer, anschauen, »auf den Tisch legen«. Denn nur, was auf den Tisch kommt, kann verwandelt werden, wie es vor langer Zeit Nico Derksen einmal sagte. Wir können nicht auf Wandlung hoffen, uns aber jeder Herausforderung entziehen, die uns zur Verwandlung führen will.

Wir sollten nicht von denen Wandlung erwarten, die nie geübt haben, sich verwandeln zu lassen, sondern ihre Ansprüche ans Leben wiederholen oder selbstgerecht bei den Haltungen und Denkweisen bleiben, die sie immer schon pflegten.

Sind wir ehrlich: Die Menschen, die durch Zeiten der Bedrängnis wirklich hindurch gingen - oft mit viel Leid für Körper und Seele -, haben Wesentliches entdeckt, leben verwandelt und kommen auf die Lebensspur, von der Paulus spricht:

Wir alle aber schauen mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.

(2 Kor 3,18)

Um auf die Spur der Verwandlung zu kommen, dürfen wir die Sehnsucht nicht töten durch Ablenkung und oberflächliche Befriedigung. Damit decken wir nur zu und verhüllen. Wer in dieser Weise gewohnt ist zu leben, wird dies auch durch eine Krise nicht ändern.

Wer sich einlässt auf das, was die Stunde verlangt, kennt Wandlungen in seinem Leben und wird auch durch die derzeitige Krise weiter verwandelt. Er weiß, dass zum Verwandeln das Lassen gehört im Sinn von Loslassen und Einlassen.

Kann ich im Vertrauen auf den Geist des Herrn geschehen lassen, wie eine Raupe, die nichts tut als sich verwandeln zu lassen? Das wäre wahrhaft herrlich.

 

Rosemarie Monnerjahn, 20. Mai 2020

  

 

Für alle, die die Hoffnung aufgeben würden

 

Als sie den Raum betrat, schaute er hoch und Liebe sammelte sich in seinen Augen. Wie der Dichter im Hohelied der Liebe sprach sein Herz von ihr als »die, die meine Seele liebt«.

Doch sein Herz war beunruhigt. Er sah die Anstrengung ihr an, die erstickende Bürde der Traumen von gestern sowie die Lasten von heute.

»Wie war der Tag, meine Herzallerliebste?«, fragte er mit einer Sorge mit Zärtlichkeit verflochten.

 »Ich habe die Hoffnung aufgegeben«, antwortete sie.

 »Das wird nicht genügen«, sagte er, als er mit der linken Schulter gegen die Wand sich lehnte.

 »Ich schaffe es nicht. Ich habe die Hoffnung aufgegeben«, wiederholte sie. Ihre Augen waren so voller Tränen, ihre Stimme aber so leer von Mut.

Er fühlte sich so hilflos. So erzählte er ihr eine Geschichte.

Mein Großvater war ein ziemlicher Säufer. Sein Lieblingstropfen war türkischer Anisschnaps. Aber seine ständige Betrunkenheit und der Schmerz, die es seiner geliebten Frau und den Kinder verursachte, fing an ihn zu beunruhigen. Eines Tages setzte er sich hin, um seinen Anis zu trinken, aber diesmal fügte er ein bisschen Wasser hinzu, um ihn zu verdünnen. Aber es war zwecklos und er wurde trotzdem betrunken.

Also beschloss er, dass es an der Zeit wäre, eine Änderung vorzunehmen. Er gab den türkischen Anisschnaps auf und fing an, Single Malt Whiskey aus Schottland zu trinken. Auch hier fügte er immer ein bisschen Wasser hinzu, um ihn zu verdünnen, aber es war vergebens. Er wurde immer noch betrunken.

Nicht einer, der sich kampflos ergeben würde, nahm er sich eine weitere Änderung vor. Jetzt würde er noch einen feinen Rotwein aus Frankreich trinken. Wiederum sorgte er dafür, dass der Wein mit etwas Wasser verdünnt wurde, aber es half ihm nicht weiter. Am Ende wurde er wieder betrunken.

Eines Tages rief er seine Frau und Kinder zu sich. »Ihr seid meine geliebtesten Menschen auf der Welt«, sagte er. »Ich habe euch eine Mitteilung zu machen. Ich habe Anisschnaps aufgegeben, dann den Whiskey und jetzt den Rotwein, und ich habe sie immer jeweils mit Wasser verdünnt.  Egal was ich tat, wurde ich immer betrunken. Ich habe mich jetzt entschlossen es sein zu lassen. Ab sofort gebe ich das Wasser auf.«

 

Seine Perle von großem Wert schaute ihn etwas verwundert an. »Mein Lieber, was hat deine Geschichte mit mir zu tun?«

»Das ist ganz einfach, meine Herzallerliebste. Als du mir sagtest, dass du die Hoffnung aufgeben willst, warst du wie mein Großvater, der das Wasser aufgeben wollte. Wenn ihr heilen wollt, was euch plagt, dann habt ihr beide das Falsche aufgegeben.«

 

Erik Riechers SAC, 19. Mai 2020

 

 

Summe des Tages

 

Vor Jahren klagte ein Bekannter am Ende eines Jahres, dass dieses Jahr so fürchterlich und schrecklich gewesen sei und er froh ist, dass es nun zu Ende gehe. Einerseits verstand ich ihn, wusste ich doch, dass er in der zweiten Jahreshälfte seine letzten Großeltern in kurzem Abstand verloren hatte. Doch wies ich ihn darauf hin: »Dies war aber nicht das ganze Jahr. Schau, welch wunderbaren Feste und Erlebnisse du in der ersten Hälfte hattest!« Er wurde still, hielt inne, und dann stimmte er mir zu. Das erste Halbjahr war sogar für ihn und seine Familie außergewöhnlich froh und strahlend gewesen - mit den beiden Alten!

 

In dieser Pandemiezeit kommt es mir oft so vor, als würde das Leben, das wir alle führen, nur auf eben diese Pandemie eingeschränkt oder so wahrgenommen, als wäre sie das einzig bestimmende Thema - egal auf welcher Seite der Betrachtung Menschen sich bewegen.

Gerade in diesem unserem Angebot von Siebenquell bemühen wir uns immer wieder, den Blick zu weiten auf das ganze Leben. Die Bibel spricht oft von der Fülle des Lebens und hier können wir den weiten Blick üben. Alles ist Leben: Leichtes und Schweres, Leid und Freude, Helles und Dunkles, Zerbrochenes und Geheiltes. Wenn wir modernen Menschen uns die Fülle wünschen oder hören, dass uns die Fülle versprochen ist, dann erwarten wir lauter Schönes, das wir auskosten möchten. Aber so ist das Leben nicht. Ein weiser alter Mann sagte auf seinem Sterbebett zu seiner Frau: »Lass mich doch auch dies hier genießen!« Er hatte sein Leben lang geübt, die ganze Fülle, die ganze Spannbreite des Lebens anzunehmen.

 

Friedrich Hölderlin, dessen 250. Geburtstag im März gedacht wurde, drückte dies in einem kleinen Gedicht so aus:

Wie mit den Lebenszeiten,

so ist es auch mit den Tagen.

Keiner ist uns genug,

keiner ist ganz schön,

und jeder hat, wo nicht seine Plage,

doch seine Unvollkommenheit,

aber rechne sie zusammen,

so kommt eine Summe

Freude und Leben heraus!

 

Wenn in der Bibel von der Herrlichkeit des Herrn oder der Herrlichkeit, die er für sein Volk bereithält, die Rede ist, wird oft das Wort »kabod« gebraucht und es drückt Schwere aus, Gewicht im Sinne von gewichtiger Bedeutung. Manch einer übersetzt herrlich mit »ganz schön schwer«.

Wir sind eingeladen, in der Summe eines Tages, eines Jahres, eines Lebens die Herrlichkeit zu sehen: alles ist da und hat sein Gewicht. Das bewahrt uns vor oberflächlicher Schönfärberei ebenso wie vor einseitigem Schwarzmalen.

 

Rosemarie Monnerjahn, 18. Mai 2020

 

 

6. Ostersonntag 2020

 

Bis zum letzten Geschlecht erzählen

Ich saß schon am Sterbebett von Menschen, die bereuten, dass sie ihren Kinder nicht mehr hinterlassen konnten. Sie verstanden ihren Beitrag an ihre Zukunft hauptsächlich im Sinne von finanziellen Bezügen, die sie hinterlassen würden.

Andererseits habe ich schon am Tisch gesessen mit den reich bedachten Erben, die sich in die Haare kriegten über ein Testament, das sie als ungerecht betrachteten. Sie waren gelegentlich sogar bereit, alle Familienbeziehungen zu zerstören, um an mehr Geld zu kommen. Sie waren wohl der Meinung, dass die Zukunft zwar mit Geld zu gestalten ist, aber ohne Familie.

Was wir der nächsten Generation hinterlassen, kann richtig gefährlich sein.

Was möchte ich der nächsten Generation hinterlassen? Vor dieser Frage steht Jesus. Der heutige Text aus dem Johannes Evangelium stammt aus der so genannten »Abschiedsrede Jesu«. Johannes gestaltet sie eindeutig als das Testament Jesu. Und Jesus greift einen Gedanken aus dem tiefen Herzen des Psalmisten auf:

»Ich öffne meinen Mund zu einem Spruch; ich will Geheimnisse der Vorzeit verkünden. Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir ihren Kindern nicht verbergen, sondern zum letzten Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten des HERRN und seine Stärke, die Wunder, die er getan hat.« (Ps 78,2-4)

 

In dem Testament Jesu legt er den größten Wert auf Beziehungen. Deshalb ist seine Hinterlassenschaft an die Jünger etwas, was sie nicht auseinander reißen wird, wie Geld, Land und Besitz, sondern etwas, was sie zusammenhalten sollte.

 

»Wer meine Gebote hat und sie hält,

der ist es, der mich liebt;

wer mich aber liebt,

wird von meinem Vater geliebt werden

und auch ich werde ihn lieben

und mich ihm offenbaren.«

 

Jesus hinterlässt die Liebe als sein Erbe an uns. Sie sollte uns binden und zusammen führen. Darin sieht er eine Zukunft für uns. Nun sind wir wieder bei der Frage: Was wollen wir der nächsten Generation hinterlassen?

Vor einigen Wochen hat der Lieutenant Gouverneur von Texas Dan Patrick sich über die wirtschaftlichen Schäden des Corona Virus beschwert. Da sagte er, dass viele Großeltern ihr Leben lieber auf das Spiel setzten würden als ihren Enkeln eine unstabile Wirtschaft zu hinterlassen. Auch das ist eine Antwort auf die Frage: Was wollen wir der nächsten Generation hinterlassen?

 Aber was für eine Zukunft wünsche ich den Menschen, die nach mir kommen? Reicht es uns wirklich, wenn wir Menschen eine gesunde, stabile  Wirtschaft, aber keine Liebe hinterlassen? Denn sie werden lebenslänglich davon verfolgt, dass sobald sie die stabile Wirtschaft gefährden, wir sie genauso kaltblütig opfern werden wie damals ihre Großeltern. Wird die Wirtschaft, für die ich mich opfern sollte, je für mich ein Opfer bringen, wenn ich krank, alt, arbeitslos oder arbeitsunfähig werde? 

Was machen wir mit einer Generation, die nach Inspiration lechzt? Soll die Wirtschaft ihre Muse sein? Was machen wir mit den Menschen, die wenig Anteil am Leben erfahren, aber keinen Anteil an unserer Wirtschaft haben? Die Liebe hätte dazu eine Antwort. Sollten die Künstler, die uns neue Worte und Bilder schenken, damit wir das einzig wahre Erbe nicht im Tode des Vergessens zurücklassen, einfach untergehen? Sie werden von der Wirtschaft sicherlich nicht als systemrelevant eingestuft.

Ich bestreite nicht, dass Menschen die Wahl von Dan Patrick treffen. Gerade in diesen Tagen erschreckt es mich, wie oft wir Menschenleben auf das Spiel stellen, um die Wirtschaft zu retten. Menschenopfer scheint wieder salonfähig zu sein.

Jedoch müssen wir alle diese Frage beantworten und es gibt eine Alternative. Wir könnten die Beziehungen der Liebe wählen. Für alle, die uns beerben werden, könnten wir unsere Leidenschaft für Leben, Beziehung und Liebe hinterlassen. Wir könnten die Liebe für einander, für Gott und seine Schöpfung so wertschätzen und schützen und sie der nächsten Generation weitergeben.

 

So beende ich meine Predigt mit einer Lieblingsgeschichte. Sie heißt  »Das Liebste« und erzählt auf bezaubernde Weise, wie eine Frau wusste, was sie erben möchte.

 

Es war ein Mann in Sidon, der lebte mit seiner Frau 10 Jahre zusammen, doch gebar sie ihm kein Kind. Da gingen sie gemeinsame vor Rabbi Simon ben Jochai und baten ihn ihre Ehe zu scheiden.

Der Rabbi sprach: „So wie ihr bei Speise und Trank zusammen gegeben wurdet, so sollt ihr euch auch trennen bei Speise und Trank.“

Der Mann hatte aber noch vorher zu seiner Frau gesagt: „Du darfst dir, was dir am liebsten ist, mitnehmen in deines Vaters Haus.“

Was tat seine Frau?

Sie bereitete ein reiches Mahl und stellte es so an, dass der Mann übermäßig viel trank. Als er eingeschlafen war, winkte sie ihren Knechten und Mägden und gebot ihnen: „Hebt ihn von seinen Bette auf, und tragt ihn in das Haus meines Vaters.“

Um Mitternacht erwachte der Mann aus seinem Schlaf, da der Wein von ihm gewichen war. Er sprach zu ihr: „Tochter, wo bin ich hingeraten?“

Sie antwortete: „Du bist im Hause meines Vaters.“

Er fragte sie: „Was soll ich da?“

Seine Frau erwiderte: „Hast du mir nicht gesagt, ich dürfte, was mir das Liebste wäre, mit mir nehmen? Nun habe ich nichts Lieberes als dich. “

Als Simon ben Jochai von dieser Begebenheit hörte, betete er für die Beiden und sie wurden mit einem Kinde gesegnet.

 

Nun, dazu kann ich nur eins sagen: Amen. 

 

Erik Riechers SAC, 17. Mai 2020

 

 

»Die Gebeine des Königs«

 

So wie jeder Tag eine neue Herausforderung darstellt und jeder Abend uns die Möglichkeit bietet, innezuhalten, zurückzuschauen und zu bedenken, was wir erlebt haben und wie wir unsere Erfahrungen deuten, so geschieht es auch in besonders herausfordernden und ungewöhnlichen Zeiten wie der unseren derzeit.

Seit Januar sind wir Zeugen, wie das neuartige Coronavirus sich über Ländergrenzen hinweg allmählich ausbreitete und inzwischen längst um den ganzen Erdball verteilt ist. Wir mussten erkennen, dass die Globalisierung der Wirtschaft, von Handel bis zu Tourismus, auch die Globalisierung von Erkrankungen mit sich bringt. Wer konnte ernsthaft glauben, dass dies unwahrscheinlich oder gar unmöglich sei?

Eine weitere Erfahrung machen wir in diesen Monaten. Lassen Sie sich dazu ein auf eine kleine Geschichte und schauen Sie selbst:

 

Die Gebeine des Königs

Es war einmal ein spanischer König, der war sehr stolz auf seine Herkunft und bekannt für seine Grausamkeit gegenüber Schwächeren. Einmal wanderte er mit seinem Hofstaat über ein Feld in Aragòn, wo Jahre zuvor sein Vater in einer Schlacht gefallen war. Dort trafen sie auf einen heiligen Mann, der in einem riesigen Haufen Knochen wühlte.

»Was tust du da?« fragte der König.

»Seid gegrüßt, Majestät«, sagte der heilige Mann. Als ich erfuhr, dass der König von Spanien hierher kommen sollte, beschloss ich, die Gebeine Eures verstorbenen Vaters zu sammeln, um sie Euch zu überreichen. Doch sosehr ich auch suche, ich kann sie nicht finden: Sie unterscheiden sich nicht von den Gebeinen der Bauern, der Armen, der Bettler und der Sklaven.«

                                               (aus: Paolo Coelho, Unterwegs/ Der Wanderer)

 

Rosemarie Monnerjahn, 16. Mai 2020

 

 

Sieh deine Möglichkeiten und handle!

 

Auf Instagram fiel mir ein Gedanke von Claudine Beckley ins Herz, die in Berlin ein Yogastudio betreibt. Sie schreibt dort:

»Memory from two years ago, when I injured my knee playing soccer, and was told all the stuff I couldn’t do. But everyday I sought out to find the things I could do. Maybe they looked different, and were different, but they fed joy and strength to my spirit.
I find myself in a very similar place right now mentally, and emotionally. When the limitations are set, what CAN you do? How can you continue to feed and nourish your spirit in these challenging times?«

 (»yogasportberlin«, March 24th, 2020,  Instagram)

»Erinnerung vor zwei Jahren, als ich mein Knie beim Fußballspielen verletzte und mir alles gesagt wurde, was ich nicht tun könnte. Aber jeden Tag suchte ich Dinge, die ich tun konnte. Vielleicht sahen sie anders aus und waren anders, aber sie nährten meinen Geist mit Freude und Kraft.

Ich befinde mich zurzeit an einem sehr ähnlichen Ort, geistig und emotionsmäßig. Wenn die Einschränkungen gegeben sind, was KANN man machen? Wie kannst du deinen Geist weiterhin ernähren und pflegen in diesen herausfordernden Zeiten?«

 

Claudine Beckleys  Überlegungen bewegen mich seit Tagen, weil ich eines gut kenne: mich treiben zu lassen von den Gedanken über Dinge, die alle nicht möglich sind - nicht mehr, noch nicht, gar nicht - wie auch immer. Seien wir ehrlich: jeder von uns weiß, wohin es führt, wenn ich mich dieser Sichtweise hingebe und ihr nichts entgegensetze. Dann werde ich passiv, suche Schuldige für meine schreckliche Situation, meine Sprache wird jammernd und vorwurfsvoll, Resignation und sogar Depression machen sich breit. In solchen Phasen spüre ich nichts von Gestaltungskraft und Freude, sondern eher Lähmung und Traurigkeit.

Claudine Beckley hielt sich damit nicht auf. Sie veränderte ihren Blick und ging nach ihrer Knieverletzung vor zwei Jahren auf die Suche. Sie suchte nach Möglichkeiten des Handelns und damit des Lebens. Sie stellte fest, dass vieles anders war im Vergleich zu Zeit und Möglichkeiten mit einem gesunden Knie, aber sie konnte vieles tun und dies zu erleben nährte ihre Freude und Lebenskraft.

In der Erinnerung daran kann sie in den ersten Wochen der virusbedingten Einschränkungen diese Erfahrung übertragen auf ihr und unser Leben jetzt. Denn um diese Frage geht es: Wähle ich das Leben?

Die Beantwortung dieser Frage ist existentiell für jeden einzelnen wie auch für uns als Gemeinschaft.

Am Ende seines Lebens legt Mose seinem Volk, das ihm über Jahrzehnte anvertraut war und das er nicht mehr ins Gelobte Land begleiten wird, eine großartige Perspektive und Aufgabe vor.

Siehe, hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor, nämlich so: Ich selbst verpflichte dich heute, den HERRN, deinen Gott, zu lieben, auf seinen Wegen zu gehen und seine Gebote, Satzungen und Rechtsentscheide zu bewahren, du aber lebst und wirst zahlreich und der HERR, dein Gott, segnet dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen.

Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. (Dtn 30, 15-16. 19)

Das Leben zu wählen ist der Auftrag - nur so ist Zukunft möglich.

Manchmal liegen die Lebensmöglichkeiten offen vor mir und ich wähle und gehe leichten Fußes.

Andere Male muss ich mich auf die Suche nach diesen Möglichkeiten begeben und es mag mir schwer fallen, sie zu finden. Doch schon die Suche selbst ist ein erster Schritt und eine Wahl FÜR das Leben!

Viele von uns kennen und lieben das Lied »Fluch und Segen hab ich gegeben in die Wahl deines Herzens«.

Lasst es uns auch in diesen Monaten singen und vor allem beherzigen!

Rosemarie Monnerjahn, 15. Mai 2020

 

 

»Dafür haben wir eine Geschichte« V

 

Der Lehrer gibt Antwort

Ich beginne jede Narrative Theologie Ausbildung mit dem Versuch, meine Studenten zu überzeugen, dass jeder Mensch Einsichten hat in biblische Erzählungen. Eine Geschichte des Glaubens dringt in unser Herz, ein Wort fällt uns auf. Die Geschichten Gottes wecken Leben in unseren Herzen. Nicht in auserwählten Herzen, besonders gebildeten Herzen oder privilegierten Herzen, sondern in allen Herzen. Der Besitz eines Menschenherzens ist der einzige Zugangscode, den man braucht. Das nennt John Shea das Werk der inspirierten Fantasie der Schrift.

»Wenn unsere Augen offen sind und unsere Ohren nicht mehr verstopft, dann werden unsere Lippen auch locker. Wir sprechen zurück zu dem, das uns zuerst ansprach.« Das nennt John Shea die antwortende Fantasie.

Dann schreibt John Shea diese Worte: »Wir sollten gar nicht überrascht sein zu merken, dass Freundschaft im Gespräch erblüht.« Eine Freundschaft erblüht im Gespräch zwischen der inspirierten Fantasie und der antwortenden Fantasie.

Als vier meiner Studentinnen die Not dieser Tage sahen, weckte die inspirierte Fantasie in ihnen den Satz, der zugleich Sehnsucht ist: »Dafür haben wir eine Geschichte«.

Ihre antwortende Fantasie hat viele Leser berührt und bewegt. Nun ist es Zeit, dass ihr Lehrer Antwort gibt mit seiner antwortenden Fantasie.

 

Die inspirierte Fantasie

Weiter sage ich euch: Was auch immer zwei von euch auf Erden einmütig erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (Mt 18, 19-20)

 

Die antwortende Fantasie

In Dublins schöner Stadt, auf einem Platz in Trinity College vis à vis der großen Bibliothek, in der das »Book of Kells« untergebracht ist, da saß ein Mann mit einem großen schwarzen Hut. Er ist mein Freund. Ich halte achtsam ein Auge auf ihn, wie bei all meinen Freunden.

Er sieht alt aus, dacht ich mir. Sorgen und Bürden haben Linien in seinem Gesicht zurückgelassen. Seine Augen sind müde und das Lächeln kommt nicht mehr so leicht wie früher. Nun, da ich ein unaufhörlicher Leser der Herzen bin, weiß ich, dass das lediglich die Oberfläche ist. Ich weiß auch von der Verantwortung und dem Kummer, die Furchen durch sein Herz gezogen haben.

Und so wartete und wachte und lauschte ich.

Er hielt eine Zigarre in seiner rechten Hand. Erinnerungen des letzten Males, als er auf dieser Bank saß, plätscherten zu ihm zurück, wie die Flut zum Ufer zurückkehrt. Er hat zwischen zwei großen Geschichtenerzählern gesessen, die seine Lehrer waren und seine Freunde wurden. Ihre Dreifaltigkeit aus Freundschaft, Geistesverwandtschaft und Liebe erinnerte mich an meine. Sie hatten Zigarren geraucht und schallend gelacht. Sie feierten seine  Aufnahme in ihre Zunft der Erzähler. Wie sie sich aneinander freuten. Ich erinnere mich, weil ich auch dabei war. Es ist wirklich wahr: wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Ich kann mir nicht helfen. Freundschaft ist einfach unwiderstehlich für mich.

Viele Terminkalender hatten sich gefüllt seit diesem Tag und nun saß er alleine. Der Freund zu seiner Rechten war ins Haus meines Vaters gezogen und erfreut jetzt das Reich mit Dichtung und Geschichten. Sogar mein Vater hält inne und lauscht, wenn er anfängt, eine Geschichte zu weben. Es ist unwiderstehlich für ihn. Abba liebt Geschichten so.

Der Mann im großen schwarzen Hut war durch viele Tausende von Kilometern getrennt vom Freund, der zu seiner Linken gesessen hatte. Dieser Freund wurde fragil mit dem Alter und den zunehmenden Gebrechen. Einen Freund verloren, ein Freund weit weg. Es ist zu einem schrecklich einsamen Ort geworden.

Er rollte die Zigarre zwischen seinen Fingern, ein Token, ein Zeichen, ein Sakrament, das von Verbindungen sprach, die das Leben geschmiedet hat und der Tod nicht zerreißen konnte.

Und er seufzte.

Dann steckte er die Zigarre in die Innentasche seines Jacketts. Und ich hörte sein Herz murmeln: »Wie die Zunft geschrumpft ist. Ich muss mir eine kleinere Bank suchen.«

Er wandte sich dem Bündel von Papieren zu, das zu seiner Linken auf der Bank lag. Das waren die Geschichten vier seiner Studentinnen. Er musste sie lesen und korrigieren. Er nahm sie und fing an zu lesen.

Und so wartete und wachte und lauschte ich.

Und dann geschah es.

Ihre Geschichten ließen seine Augen vor Vergnügen glänzen, sein Herz mit Stolz schwellen, seine Lippen vor Erheiterung zucken. Bewunderung blühte auf und Aufregung wuchs bei gewonnenen Erkenntnissen und feinen Redewendungen. »Jesus, das ist wunderschön!« Es war kein Gebet, als es aus ihm rutschte, aber bei mir fühlte es sich so an. Zweimal sah ich ihn heimlich eine Träne wegwischen. Nachdem er die vier Geschichten gelesen hatte, lehnte er sich zurück und schloss seine Augen.

Das Ganze hatte ich schon einmal gesehen, in den Augen und Herzen und auf den Lippen seiner zwei Freunde, als sie beobachteten, wie seine Seele sich dehnte und seine Gabe sich entfaltete.

Und ich seufzte.

Dann griff er in sein Jackett und holte seine Zigarre wieder raus. Er zündete sie an, zog an ihr und lies die Spitze rot glühen. Er blickte herunter auf den Stapel der vier Geschichten. Ich hörte die Gedanken seines Herzens. »Danke, Herr, für die neuen Gefährten auf der Bank. Wie die Zunft gewachsen ist. Ich muss mir eine größere Bank suchen!«

Wisst ihr, es ist wirklich wahr. Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Ihr solltet mal Länge der Bänke sehen im Haus meines Vaters.

Und dann geschah es.

Ich sah ihn lächeln.

Und ich tat es auch.

Erik Riechers SAC, 14. Mai 2020

 

 

»Dafür haben wir eine Geschichte« IV

 

Wenn die Nebel sich lichten

 

Da gingen Petrus

und der andere Jünger hinaus

und kamen zum Grab;

sie liefen beide zusammen,

aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus,

kam er als Erster ans Grab.

Er beugte sich vor

und sah die Leinenbinden liegen,

ging jedoch nicht hinein.

 

Diesen kleinen Auszug aus einer großen Erzählung möchte ich heute in den Mittelpunkt stellen. Sie bietet uns eine Hilfe, in dieser schwierigen Zeit Orientierung für unser Leben zu finden.

Unter den Atemschutzmasken können wir verunsicherte Menschen schon mal die Orientierung verlieren. Dabei geht es weniger um das Auffinden einer Straße oder Stadt, vielmehr um das Navigieren des eigenen Lebens. Wir sitzen hinter verschlossenen Türen aus Furcht vor der Bedrohung durch Corona und warten. Manchmal scheint es mir, als würden wir resigniert warten. Es gäbe jedoch eine andere Möglichkeit: Vom Warten zum Erwarten umzuschalten. Wir könnten einen Schritt machen in den Ostermorgen. Dabei kann uns Petrus eine Hilfe sein. Er hat sich von Maria von Magdala herausrufen lassen aus dem verschlossenen Haus und ist in den Garten gelaufen, um nach dem Grab zu sehen.

Ich kenne solch eine Erfahrung in meinem Leben, wenn ich eine wichtige Nachricht bekomme oder eine zündende Idee habe, dann möchte ich sofort aktiv werden, will ich sofort losrennen und schauen, was ich damit mache. Dann stehe ich davor, sehe, höre und plötzlich verlässt mich der Mut, dann weiß ich nicht, wie es gehen könnte, ich habe das Gefühl, ich stehe vor einem Berg und komme nicht hinauf. Ich weiß plötzlich nicht mehr, warum ich das wollte. Petrus ging es vermutlich ähnlich, da stand er, im leeren Grab, das kann doch nicht sein, noch vor 2 Tagen hat er es mit eigenen Ohren gehört und von weitem gesehen, dass Jesus gestorben war. Und jetzt ist der Leichnam weg.

Petrus sieht es, der Stein vom Grab ist weg gewälzt, er steht in diesem leeren Grab und sieht alles an, aber er konnte es noch nicht verstehen. Er war wie im Nebel, verwirrt, unsicher, ohne Orientierung. 

Wir erleben das gerade in den vergangenen Wochen. Eine Krise kommt und Menschen fangen an zu rennen, es kommt zu Hamsterkäufen und wir horten Dinge, von denen wir glauben sie unbedingt zu brauchen. Wir sehen die Notwendigkeit Kontakte zu lassen und fühlen uns eingeengt, beschränkt und vergessen, warum es notwendig ist.Dann wollen wir möglichst schnell wieder Normalität. Möchten schnellsten alle Einschränkungen aufgehoben wissen, selbst Gottesdienste sollen möglichst wie vor Corona stattfinden.

Wir schauen ins Grab, ja leer… und jetzt? Wir fühlen uns wie im Nebel, unsicher, verwirrt, so etwas haben wir noch nie erlebt, wie kommen wir da schnell durch?

Michael Ende lässt in der Unendlichen Geschichte den Helden Bastian mit einem Schiff durch ein Nebelmeer fahren. Die Nebelschiffer beeindrucken ihn, sie sind eine enge Gemeinschaft, unablässig führen sie einen gemeinsamen Tanz und ein wortloses Lied auf. Die Nebelfischer streiten nicht, weil sich keiner als einzelner fühlt. Ganz mühelos herrscht Harmonie zwischen ihnen. Wie problematisch diese Harmonie ist, merkt Bastian erst, als eine Nebelkrähe einen der Nebelschiffer packt und davonträgt. Zwar erschrecken die Nebelfischer kurz, doch sobald der Vogel mit seiner Beute verschwunden ist, beginnen sie wieder ihren Tanz. Weil sie alle gleich sind, vermissen sie den Geraubten nicht. Bei den Nebelschiffern gibt es keine Individualität, es gibt keine Klage, es gibt keinen Ort der Trauer. Niemand erinnert sich, der Einzelne zählt nicht. Sie wollen nur möglichst schnell wieder Normalität. Der eine ist weg, (das Grab ist leer) ja, weg, machen wir weiter wie immer.

Doch, wird das gehen? Einfach zur Normalität zurückkehren? Werden wir unser Leben so navigieren, schnell zurück wie vor Corona oder werden wir aus dieser Krise etwas lernen?

Wir kennen das. Manchmal irrt man durch das Leben wie im Nebel, besonders jetzt, in dieser Zeit, wo wir nicht wissen, wie es weitergeht, wo wir genervt, irritiert und unsicher sind, unser Leben durch den Nebel navigieren müssen. Nebelkrähen werden uns einzureden versuchen, wir kehren langsam zur Normalität zurück und gehen das Risiko ein, Menschen zu verlieren, auch in der Kirche, weil wir unbedingt Gottesdienste feiern müssen.

Die Erfahrung des leeren Grabes löste den Nebel, in dem Petrus sich befand, nicht auf. Erst allmählich und durch weitere Begegnungen mit dem Auferstandenen lichtet sich der Nebel. Da braucht es Geduld. Ganze 50 Tage dauert die Osterzeit und sie macht uns deutlich, dass Ostern, Auferstehung und Leben ein Prozess ist, der Geduld braucht und nicht von jetzt auf gleich geht.

Petrus hat durch die Begegnungen mit dem Auferstandenen erfahren, was sich in ihm alles verändert. Er hat den Auferstandenen erlebt und ist selber aufgestanden. Er begann im Nebel zu navigieren. Wir erinnern uns: Petrus war derjenige, der Jesus dreimal verraten hatte: Ich kenne ihn nicht – und diesen Verrat  bitter bereute.  Für ihn war nicht nur der Tod Jesu, sondern auch sein Verrat gegenüber seinem Freund und Lehrer ein tiefer Bruch. Petrus weiß, was es bedeutet: tiefste Verzweiflung zu erleben, enttäuscht zu sein über sich selber, mit sich selber ganz allein zu sein, sich selber auszuhalten, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen. Für ihn war alles zu Ende …

Jesus zieht ihn heraus und hilft ihm zu navigieren. Dreimal stellt Jesus, später am See, die Frage: Liebst du mich? Und dreimal holt Jesus aus der Tiefe dieses Mannes mehr Leben und Liebe als den Verrat.

Allmählichkeit ist das Gebot der Stunde, nicht nur für Petrus, auch für uns. Im Nebel navigieren geht nicht so schnell. Es ist erfreulich, wenn Menschen wieder gemeinsam Gottesdienst feiern möchten, andererseits zeugt es von Ungeduld, wenn es um jeden Preis stattfinden soll. Die Beziehung zu Gott und mein Glaube hören nicht auf, wo Eucharistiefeiern nicht stattfinden können. Diese Krise ist eine Herausforderung, wo wir navigieren müssen, was dem Leben dient.

Petrus hat erfahren, was sich in ihm verändert hat, durch die Krise. Vielleicht spüren wir, was sich in uns verändert und mögen wir im Herzen erwägen und bewahren was dem Leben dient.

Sr. Andrea OP, Datteln, im April 2020                       veröffentlicht am 13. Mai 2020

 

Geborgen in den Psalmen

 

Seit den Iden des März 2020 sind mir die Psalmen noch mehr ans Herz gewachsen als zuvor.

Zeitweilige Quarantäne, zunehmende Einschränkungen - wir alle kennen es inzwischen zu Genüge!

Doch obgleich es seit kurzem allmähliche Erleichterungen gibt, bricht mancherorts Wut auf, Proteste werden lautstark geäußert und ich frage mich, wogegen die Menschen wettern. Gegen einen Virus? Gegen »die da oben«, die uns so viele strengen Bestimmungen auferlegten? Gegen ihr eigenes Ohnmachtsgefühl? Gegen irgendeinen gefühlten Feind?

Und ich kehre zurück zu den Psalmen, jenen uralten Liedern und Gebeten, gerichtet an das göttliche Gegenüber in allen Lebenslagen, die Menschen vor 3000 Jahren kannten und die wir heute kennen. Worte des Lobes und Jubelns, Klageworte in schweren Zeiten, Sehnsuchtsworte, Worte der Angst und Verzweiflung, und immer wieder Worte des Dankes. In allem weiß sich der Beter dem geheimnisvollen ewigen Schöpfer gegenüber, der den Menschen sieht, ihm vertraut, ihn groß denkt und liebt. Nichts ist zu gering oder zu dunkel, als dass der Mensch es Gott nicht sagen könnte. Und so vertraut sich der biblische Beter IHM an. Denn ihn erfüllt dieser Glaube:

HERR, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen. Ja, noch nicht ist das Wort auf meiner Zunge, siehe, HERR, da hast du es schon völlig erkannt. Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, hast auf mich deine Hand gelegt. Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen. (Ps 139, 1-5)

Wenn ich dies heute nachspreche und bete, spüre ich eine ungemeine Entlastung und ahne etwas von dem befreienden Vertrauen des Beters in diesen Gott, der ihn ganz kennt. Wie oft leide ich darunter, Menschen, die ich liebe, meine Gedanken nicht in der Tiefe erklären zu können; immer bleibt da ein Rest Fremdheit. Ebenso sind meine Wege: oft muss ich Wege gehen, die nur meine sind, die niemandem sonst vertraut sind. Einüben will ich mich in die Haltung »Du bist vertraut mit all meinen Wegen« und ohne Sorge gehen.

Außergewöhnlich ist unser Gott. So kann an anderer Stelle der Psalmist fast herausfordernd fragen: Wo ist ein Gott, so groß wie unser Gott? (Ps 77,14) Und er denkt nach über Gottes Taten, seine früheren Wunder; er erwägt all dies und betrachtet die Geschichte Gottes mit seinem Volk.

Ich kann mich den Psalmen anvertrauen, weil sie auch vom Verlassensein sprechen, weil sie nichts ausklammern, weil in ihnen alles vor diesem nahen und zugleich fernen Gott gesagt wird. Hier drückt sich aus, wie der Mensch seinen Weg durch die Höhen und Tiefen des Lebens geht in lebendiger Beziehung zum Herrn seines Lebens.

Ihn kann er am Ende des Psalms 139 dann auch bitten:

Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Sieh doch, ob ich auf dem Weg der Götzen bin, leite mich auf dem Weg der Ewigkeit!

Welch eine Bitte! Möge ich nicht die Götzen der eigenen Allmacht anbeten, der Überheblichkeit, alles im Griff haben zu müssen. Möge ich auch nicht andere Menschen zu Götzen machen und ihnen alle Verantwortung übertragen. Das führt unweigerlich zu dem, was wir gerade auf den Straßen erleben.

Nein, auf dem Weg der Ewigkeit möge ich gehen und immer klarer das erkennen und leben, was wesentlich ist.

Verstehen Sie ein wenig, warum ich die Psalmen liebe?

 

Rosemarie Monnerjahn, 12. Mai 2020 

 

»Dafür haben wir eine Geschichte« III

 

Warme Herzen und Augen, die erkennen

 

Vor etlichen Wochen – mitten in der Vorbereitung auf das Osterfest – sind wir in eine Krise geraten, wir alle, Jünger und Jüngerinnen Jesu und das ganze Volk.

Ausgelöst wurde sie durch einen Virus, der jeden von uns treffen kann. Seither konnten wir in nur kurzer Zeit eine Menge neuer Erfahrungen machen.

Ich habe den Eindruck, dass besonders die positiven Erlebnisse für manche Menschen überraschend daherkommen. In diesen Tagen höre ich Worte wie: „Ich habe gar nicht gewusst, welch wunderbare Nachbarn ich habe“, so ein älterer, alleinstehender Herr. „Sie bringen mir Essen vorbei und sorgen sich um mich.“ „Ich bin nicht vergessen, das tut mir so gut“ erzählte mir jemand. „Was ihr für mich tut, ist ja nicht zu fassen, wie kann ich das nur wieder gut machen?“, sagte eine ältere Dame. „Es ist tröstlich wahrgenommen zu werden, das tut so gut in diesen Zeiten“. Und auch diese Nachricht erreichte mich: „Wegen des Corona-Virus habe ich ganz besondere Karfreitagserfahrungen gemacht und eine einmalige und sehr bewegende Osternacht erlebt.“ „Ich hatte ein sehr erfülltes Osterfest und bin dafür sehr, sehr dankbar“ Diese und ähnlich frohe und ermutigende Worte höre ich in dieser Osterzeit immer wieder. Sie gehen einher mit den schmerzlichen Erfahrungen vom Alleinsein, der Angst vor der Zukunft, der Überforderung, der Isolation…

 

Wir haben eine biblische Erzählung (Lk 24, 13-35), die auch von einer Krisensituation und diesen neuen Erfahrungen spricht:

Zwei Freunde sind auf dem Weg in das Dorf Emmaus. Sie sehen in Jerusalem keine Zukunft mehr, nachdem ihr Lehrer und Freund Jesus tot ist. Obwohl er ihnen gesagt hat, dass er sterben und auferstehen wird, obwohl Frauen aufgebracht vom leeren Grab berichtet haben, begreifen sie nicht; ihre Herzen sind voll Leid und Schmerz. Und sie geben auf, entfernen sich vom Ort des neuen Lebens. Auch das erleben wir in unseren Tagen.

 

Unterwegs begegnen sie dem, den sie so schmerzlich vermissen, der aus ihrer Mitte gerissen wurde. Ihre Herzen fließen über von dem, was in ihnen ist: Enttäuschung, Frust und Trauer und sie bleiben blind, sie können ihn nicht erkennen.

 

Offensichtlich jedoch tut ihnen die Nähe des Fremden gut, hören sie ihm gerne zu und spüren sie etwas, was sie nicht benennen können. Es ist so stark in ihnen, dass sie ihn einladen, über Nacht zu bleiben.

 

Und dann gehen ihnen die Augen des Herzens auf, als er mit ihnen am Tisch sitzt und das Brot teilt. Jetzt erkennen sie, wer da mit ihnen unterwegs ist. Und im nächsten Augenblick können ihre leiblichen Augen ihn nicht mehr sehen.

 

Kennen Sie das? Diesen einen Moment, in dem Ihnen die „Herzaugen“ aufgehen und das Erkennen tief in sie hineinfällt?

Und dann nehmen Sie dieses warme Empfinden wahr, dass Sie schon über längere Zeit begleitet hat und das Sie immer dann spüren, wenn ein Anderer ein Stück Leben – ein Stück Brot - mit ihnen teilt?

 

Für uns Christen wurde es in diesem Jahr Ostern, ohne dass wir gemeinsam einen Gottesdienst besuchen konnten und viele von uns haben ihn sehr schmerzlich vermisst. Auch das gehört zu unseren neuen Erfahrungen.

 

Zugleich spüre und erlebe ich, wieviel Eucharistie-Erfahrungen Menschen gerade in dieser Zeit gemacht haben: Segen durch geteiltes Leben, durch wöchentliche Sonntagsbriefe, durch Gespräche am Telefon, Ostergrüße in Form von gesegneten Palmzweigen, Osterkerzen und wärmende Worten zum Fest…

Was in den Herzen ankommt, ist die Botschaft: „Ich gehöre dazu. Ich bin nicht vergessen, ich werde gesehen und wertgeschätzt. Ich bin für andere von Bedeutung“.

 

Im Nachhinein nehmen die beiden Jünger wahr, dass sich ihre Herzen allmählich erwärmten, als Jesus ihnen den Sinn der Schriften eröffnete. Jesus legt offen und lässt die beiden Anteil nehmen, lässt sie tief hineinschauen in den Sinn von Gottes Wort. Sie machen eine Erfahrung, die sie nicht mehr vergessen werden, von der sie immer sagen können, wann, wo und wie sie Jesus begegnet sind. Auch das kennen wir. Dieses Osterfest wird Menschen in Erinnerung bleiben.

 

Jesu Worte erwärmen die Herzen der beiden Jünger, in seinem Tun teilt er das Leben mit ihnen und sie erkennen den, den Gott zum Leben hat aufstehen lassen.

Es ist nicht das feierlich gesungene Halleluja, in dem wir Jesus erkennen. In keiner biblischen Ostergeschichte kommt ein Halleluja vor; von Angst und von verschlossenen Türen wird erzählt. Es ist das Brechen des Brotes, das Teilen des Lebens – wo auch immer es geschieht –, in dem wir erkennen, wer und was von Gott kommt.

 

Die beiden Jünger erkennen Jesus nicht in einer Synagoge und auch nicht im Tempel von Jerusalem. Unterwegs, sozusagen auf der Flucht, beginnen ihre Herzen sich zu erwärmen, als Jesus mit ihnen redet. Und als sie zu Hause sind, zusammen am Tisch sitzen und gemeinsam essen, da gehen ihnen die Augen auf.

 

Und noch etwas ist in dieser Geschichte von Bedeutung: Es sind nur zwei von vielen Freunden Jesu, die hier unterwegs sind. Nicht alle sind dabei, als sie diese Erfahrung mit dem Auferstandenen machen. Gerne hätten wir zusammen mit allen aus unserer Kirchengemeinde den Ostergottesdienst gefeiert – es durfte in diesem Jahr nicht sein – dennoch können wir Jesus begegnen, zu zweit, zu dritt, in der Familie, zusammen mit den Kindern, als Paare, in Lebensgemeinschaft und als Single.

 

Warme Herzen und Augen, die erkennen, geben Zeugnis vom LEBEN – geben Zeugnis von Gott! Bewahren wir uns in diesen Tagen der Krise unsere warmen Herzen und unsere Augen des Erkennens, damit sie uns für die Zeit, die uns danach erwartet, nicht verloren gehen.

Sr. M. Josefa, Datteln, 25. April 2020                                                      veröffentlicht am 11. Mai 2020  

 

 

5. Ostersonntag 2020

 

Nach all dieser Rede vom Haus des Vaters, einem Platz zum Leben und Räumen, die vorbereitet werden, ist es leicht zu übersehen, was das eigentliche Anliegen Jesu ist. »Euer Herz lasse sich nicht verwirren«. Genau um diese Verwirrung zu vermeiden, spricht Jesus über das Haus seines Vaters.

 

Ironischerweise ist aber dieses Haus der vielen Wohnungen oft der Anlass für die Verwirrung des Herzens. Denn obwohl Jesus über das Haus spricht, tut er es, um unseren Blick frei zu halten für den Weg.

 

Johannes arbeitet hier mit zwei großen Bildern, nämlich dem Haus und dem Weg. Das Haus ist das Bild für unsere Zukunft, für das Ziel unseres Lebens, der Ort wo wir am Ende aller Tage Geborgenheit und Beheimatung finden werden. Der Weg dagegen ist ein Bild für unser Leben und zwar hier und heute.

 

Jesus will  sich über dieses Leben, unser Leben, unterhalten, denn er befürchtet, dass wir durch eine Überbetonung des Bildes vom Haus des Vaters (Zukunft und Ziel) vom Leben hier und heute abgelenkt werden. Das führt dazu, dass wir nachher verwirrte Herzen haben.

 

Seine Sprache über das Haus seines Vaters sollte eine doppelte Befreiung bewirken.

 

  1. Freiheit von der Fixierung auf das Ziel. Das führt entweder zu
    1. Angst oder
    2. lähmender Faszination.
  2. Freiheit für die Konzentration auf den Weg (das Leben). Das heißt, frei für
    1. die Aufgaben des Lebens sowie für
    2. die Freude am Leben.

 

Was passiert, wenn wir auf das Ziel (das Haus) fixiert sind? Wir sind so fixiert auf den Himmel, den wir noch nicht betreten haben und ignorieren die Erde, auf der wir gehen. Es ist wie bei einer plötzlichen Reise. Wir brechen auf, haben ein Ziel vor Augen, haben aber keine reservierte Übernachtung vorbereitet. Weil wir unsicher sind, was passieren wird, wenn wir ankommen, sind wir von der Reise und dem Weg abgelenkt. Denn die ganze Zeit sind wir beschäftigt mit Sorgen um die Zukunft. »Was passiert, wenn wir ankommen? Müssen wir draußen bleiben? Müssen wir in der Kälte bleiben? Müssen wir im Dunkeln bleiben? Bleiben wir unversorgt, ausgeliefert, oder obdachlos?«

 

Die Botschaft Jesus ist einfach. Darüber sollten wir uns den Kopf nicht zerbrechen. Wir werden beheimatet sein, es gibt Raum und Platz für uns im Haus unseres Gottes. Dieser Zuspruch sollte uns bewahren vor einer übertriebenen Sorge um unsere Zukunft, die uns ablenkt vom Weg (das Leben). Für unser zukünftiges Leben ist gesorgt.

 

Die Aufgabe des Lebens ist der Weg. Die sorgenvollen Fragen über das, was wir vorfinden am Ende aller Tage sollten wir nicht in die Zukunft projizieren. Die Fragen gelten für den Weg des Lebens. Wir sollten uns diesen Fragen hier und jetzt stellen und sie beantworten.

 

»Was passiert auf dem Weg, wenn Menschen ankommen wollen? Wer muss draußen bleiben? Wie viele müssen in der Kälte bleiben? Wie viele müssen im Dunkeln bleiben? Wie viele müssen unversorgt, ausgeliefert oder obdachlos bleiben?«

 

Darum sagt Jesus über das Haus: den Weg dorthin kennt ihr. Er hätte lieber, dass wir uns auf die Aufgabe des Lebens, des Weges, konzentrieren.  Dann kommen wir schon zum Haus des Vaters, denn dieser Weg führt dorthin.

 

Die Fixierung auf das Haus führt auch zu einer Faszination, die lähmt. Dann reden un d denken wir nur noch über eine Zukunft, die wohl besser sein wird als unsere Gegenwart. Wie schön, wohltuend, geräumig, befreiend, entlastend und ruhig es sein wird, wenn wir endlich ankommen.

 

Auch das lenkt uns vom Weg ab, in diesem Fall, von der Freude und dem Genuss des Lebens. Das verwirrt das Herz. Und genau davor will uns Jesus bewahren.

 

Alle Zeitungen, Nachrichten und Gesprächsrunden sind beschäftigt mit der neuen Zukunft nach Corona. Es ist eine Beschäftigung mit der Wiederherstellung unseres Hauses, Wohlstandes und unserer Wirtschaft. Wir sind so fixiert darauf, wo wir hin möchten, dass wir aus dem Blick verlieren, wo viele gerade heute sind: in Lagern, auf der Flucht, in Hungersnot, Seuchen schutzlos ausgeliefert.

 

Und auf dem Weg sollten wir dazu lernen. Wir sollten die Gerechtigkeit zu lieben lernen. Im  Leben sollten wir alles genießen und wertschätzen, was mit Liebe zu tun hat, die Beziehungen höher schätzen als die Wirtschaft und die wohltuende Freude der Barmherzigkeit entdecken. Auf dem Weg sollten wir gute und restaurative Erfahrungen mit dem Dienen machen und die tiefe Genugtuung des Tröstens spüren. Auf dem Weg sollten wir die Freude des Teilens in vollen Zügen auskosten.

 

Sollte allerdings das alles auf dem Weg des Lebens nicht unser Ding sein, dann werden bei der Ankunft im Haus des Vaters unsere Herzen verwirrt sein. Denn das Haus des Vaters wird uns wie eine Hölle erscheinen. Es wird zwar eine Hölle mit viel Platz, aber nichts desto weniger eine Hölle. Denn diese Wohnungen sind eben so geräumig und weit, weil sie Platz bereiten für Gerechtigkeit, Liebe, Beziehung, Barmherzigkeit, Dienen, Trösten und Teilen. Wenn wir sie nicht auf dem Weg alle lieben gelernt haben, dann wird das Haus zu unserer Hölle.

 

Gott sorgt dafür, dass diese Dinge viel Raum bekommen, wenn wir unser Ziel erreichen. Wir brauchen uns allerdings nur Sorgen zu machen, dass sie viel Raum bekommen auf unserem Weg, in unserem Leben. Das Haus war immer die Verantwortung Gottes. Der Weg ist unsere Hausaufgabe.

 

Erik Riechers SAC, 10. Mai 2020

 

 

Biblische Impfung gegen die Resignation

 

Die Apostel und die Brüder in Judäa hörten, dass auch die Heiden das Wort Gottes angenommen hatten. Als nun Petrus nach Jerusalem hinaufkam, hielten ihm die gläubig gewordenen Juden vor:  Du bist bei Unbeschnittenen eingekehrt und hast mit ihnen gegessen.  Da begann Petrus, ihnen der Reihe nach zu berichten: Ich war in der Stadt Joppe und betete; da hatte ich in einer Verzückung eine Vision: Eine Art Gefäß, das aussah wie ein großes Leinentuch, das, an den vier Ecken gehalten, auf die Erde heruntergelassen wurde, senkte sich aus dem Himmel und es kam bis zu mir herab. Als ich genauer hinschaute, sah und betrachtete ich darin die Vierfüßler der Erde, die wilden Tiere, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels. Ich hörte auch eine Stimme, die zu mir sagte: Steh auf, Petrus, schlachte und iss! Ich antwortete: Niemals, Herr! Noch nie ist etwas Unheiliges oder Unreines in meinen Mund gekommen. Doch zum zweiten Mal kam eine Stimme vom Himmel; sie sagte: Was Gott für rein erklärt hat, nenne du nicht unrein! Das geschah dreimal, dann wurde alles wieder in den Himmel hinaufgezogen. Und siehe, gleich darauf standen drei Männer vor dem Haus, in dem wir wohnten; sie waren aus Cäsarea zu mir geschickt worden.  Der Geist aber sagte mir, ich solle ohne Bedenken mit ihnen gehen. Auch diese sechs Brüder zogen mit mir und wir kamen in das Haus jenes Mannes. Er erzählte uns, wie er in seinem Haus den Engel stehen sah, der zu ihm sagte: Schick jemanden nach Joppe und lass Simon, der Petrus genannt wird, holen! Er wird dir Worte sagen, durch die du mit deinem ganzen Haus gerettet werden wirst. Als ich zu reden begann, kam der Heilige Geist auf sie herab, wie am Anfang auf uns. Da erinnerte ich mich an das Wort des Herrn: Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet mit dem Heiligen Geist getauft werden. Wenn nun Gott ihnen die gleiche Gabe verliehen hat wie uns, als wir zum Glauben an Jesus Christus, den Herrn, gekommen sind: Wer bin ich, dass ich Gott hindern könnte? Als sie das hörten, beruhigten sie sich, priesen Gott und sagten: Gott hat also auch den Heiden die Umkehr zum Leben geschenkt. (Apg 11, 1-18)

 

Petrus kommt zurück und hat keine Chance, das Neue, das gerade Erlebte zu genießen, es zu feiern, es auszukosten. Sofort kommt die nächste Auseinandersetzung, die nächste Aufgabe. Dann kommen die Vorwürfe.

 

Das erlebe ich gerade. Wir haben gerade die ersten Lockerungen der Einschränkungen, aber der Ton wird nicht lockerer, sondern härter, vorwurfsvoller. Kaum spüren wir die ersten Erleichterungen, die wir uns ersehnt haben und schon klagen Menschen, dass es nicht reicht, nicht genügt, nicht weit genug gegangen ist. Wir kosten das Erreichte nicht aus, sondern stürzen uns in die nächste Stufe der Auseinandersetzung.

 

Damals bis heute sollten wir uns die Frage stellen: Warum mit Vorwürfen anfangen? Warum nicht erst Fragen stellen, sich erkundigen über das, was geschah und was ablief? Warum nicht zuerst die Frage stellen, was das zu bedeuten hat, anstatt ihm gleich mit Vorurteil zu begegnen als etwas Schlechtes?

 

Da kann die Haltung des Petrus uns sehr helfen. Er bekommt keinen Vorschuss an Vertrauen. Er steht Rede und Antwort. Er spricht alles an, Schritt für Schritt, der Reihe nach, ohne etwas zu überspringen.

 

Er verheimlicht nicht wo er war (Joppe), mit wem er zusammen war (Kornelius), oder was er getan hat (taufen). Er spricht offen von einer persönlichen Vision, die ihn sehr herausgefordert hat, die seine eigenen Überzeugungen in Frage stellte und mit der er ringen musste.

 

Er tut das in einer Atmosphäre der aggressiven Konfrontation und des Vorwurfs. Trotzdem lässt er diese Atmosphäre nicht bestimmen darüber, worüber er redet, lässt nicht zu, dass sie ihn ablenkt von seinem Herzensanliegen. Er spricht von dem, was seins ist.

 

Das wird eine große Aufgabe für uns sein. Ich setze mich gerade mit vielen Vorwürfen und Beschwerden auseinander über die Art, wie ich die Krise begleite durch Wort, Erzählung und Impuls. Einige beschweren sich, dass es nicht reicht, andere meinen, es sei zu viel, wieder andere meinen, es müsste anders verbreitet werden als über die Website. Das wird nicht nur mir passieren. Die Frage ist: Werden solche Menschen bestimmen, worüber wir reden?  Werden die Vorwürfe und Unzufriedenheit solcher Menschen uns von unseren Herzensanliegen ablenken? Oder werden wir sprechen von dem, was unsers ist, von der Erneuerung, der Freude, der Lebensunterweisung, die wir erlebt haben, auch in dieser Krisenzeit? Wie Petrus könnten wir erzählen, wo wir in diesen Tagen waren, mit wem wir sie durchlebt haben, was wir getan haben, das Tiefste, was wir erlebt haben, das, was uns herausgefordert hat und auch unsere früheren Überzeugungen in Frage stellen. Wir könnten auch von dem erzählen, was uns noch ringen lässt, weit über die Tage der Krise hinaus.

 

Ich kann die Atmosphäre des Vorwurfs weder kontrollieren noch bestimmen, aber ich weigere mich ihr zu dienen. Die Vorwurfsvollen werden nicht bestimmen, was ich erzähle, wie ich lebe, wem und wie ich dienen werde. Denn am Ende meiner Betrachtung gebe ich eines zu bedenken. Wir haben in der Apostelgeschichte die Vorwürfe derer gehört, die an nichts teilgenommen haben. Sie sind zu Hause geblieben. Es gab keine Reise, Bürden, Knochenarbeit, Abenteuer oder Risiko für sie. Wie hätten Kornelius und sein ganzes Haus uns ihre Geschichte erzählt? Ehrlich gesagt, interessieren mich diese Geschichten weit mehr als die ewigen Vorwürfe der Zaungäste des Lebens.

 

Erik Riechers SAC, 9. Mai 2020

 

 

Erfahrungen und Gedanken einer Lehrerin - ein Gastbeitrag

 

 4.Mai – Erster Schultag in der Coronakrise – Back to school

 

Ich wache auf. Der Mond ist schuld. Er trifft direkt auf mein Gesicht. Ich liege wach. Wie soll es werden? Ich weiß es immer noch nicht. Vielleicht ist der Mond ja nur halb schuld. Da sind sie wieder, diese nicht zu Ende gedachten Gedanken, die tagsüber heranspülen, unbeachtet bleiben und dann nachts aufdringlich werden. Wie soll es also werden?

 

In zwei Tagen ist nach sieben Wochen zum ersten Mal wieder Unterricht. Maskenpflicht, Hygieneplan. Mein zahlenmäßig zu großer Englischkurs wird wegen der Corona Zeiten in zwei Gruppen eingeteilt, in nebeneinander liegende Klassenräume. Wie soll das werden? In zwei Räumen gleichzeitig das Gleiche unterrichten. „Achten Sie darauf, dass gut gelüftet wird. Ob die Schüler und Schülerinnen auch im Unterricht die Masken aufbehalten, das entscheiden Sie. Erlauben Sie ihnen im Unterricht zu essen und wenn jemand auf Toilette muss, denken Sie daran, dass wir nun eine Toilettenaufsicht eingeführt haben..“ Gut. Aber womit beginne ich? Wie soll er werden, der Unterricht, die Wiederaufnahme?

 

Im März behandelten wir den Amerikanischen Traum. Anfang Mai nun trauen wir unseren Augen immer weniger, wenn wir Nachrichten hören oder sehen von der anderen Seite des Atlantik: Von Massengräbern in der Nähe von New York ist die Rede, von Schwarzen, die sich nicht trauen, einen Mund-und Nasenschutz zu tragen, weil Weiße dann noch mehr Angst vor ihnen hätten. Bilder huschen über den Bildschirm von einer aufgebrachten Masse ganz ohne Masken, die eine Aufhebung der Kontaktbeschränkungen fordert, die Öffnung von Gaststätten und die Rückkehr zu den Arbeitsplätzen. Arbeitslose verlieren mit ihrem Job auch ihre Krankenversicherung. Lange Autokolonnen bilden sich vor food banks, der kostenlosen Essenausgabe. Bewaffnet sind  Demonstranten, weil ihr Präsident dazu ermutigt hat von ihrem Grundrecht auf Waffenbesitz Gebrauch zu machen. Die USA. Was war  noch gleich der amerikanische Traum?

 

Der März liegt Lichtjahre zurück. Völlig unbeteiligt und teilnahmslos habe ich im Klassenbuch festgehalten, dass wir anscheinend damals darüber sprachen, dass alle Menschen ‚gleich erschaffen‘ wurden. - Eine Binsenweisheit. - Alle notierten sie beflissen, genau wie die Errungenschaften der Presse-, Rede- und Religionsfreiheit. In der Verfassung verankert. - Kaum der Rede wert. Selbstverständlichkeiten, die uns umgaben. -

 

Also wie, lieber Mond, geht es jetzt weiter? Unruhig wälze ich mich her und hin mit meinen kreisenden Plagegeistern. Lasst mich doch schlafen, woher soll ich denn wissen, wie es weitergeht?

 

Und heute ist es nun soweit. Ich hole die SchülerInnen wie angeordnet, erstmalig auf dem Pausenhof ab. Alle sitzen und stehen dort verteilt in kleinen Gruppen zusammen. Ich winke ihnen zu, erkenne ihre Augen. Dann folgen sie mir im Gänsemarsch, mit 1,5 Metern Abstand in die Klassenräume. Das neu beklebte Einbahnsystem der Gänge ist noch ungewohnt. Zwei Jugendliche gehen nebeneinander. Ich erinnere sie an das Gebot der Stunde: Abstand und hintereinander gehen. Sie folgen aufs Wort.

 

 „Maske runter, oder nicht?“, fragt mich einer, im Klassenraum angekommen. Ich schaue mich um. Jeder sitzt alleine an einem Tisch. Der Abstand zum Pult ist groß. Ich selber bekomme kaum Luft unter der Stoffmaske: „Take it off“. Alle atmen erleichtert auf. „Open the windows“ – schon strömt kühle Luft herein. Durchzug entsteht, das soll die Infektionsgefahr herunterfahren.

 

Auch im Nebenraum nehmen sie die Masken ab. Und jetzt? Wie soll es werden????

 

Ich beginne ruhig und begrüße sie. Es ist halb vier. Neunte Stunde. Wer ist schon seit acht Uhr an der Schule? - Ich weiß es nicht.

Ich bitte alle, den Fragebogen auszufüllen, den ich austeile. „Wie hast du die Krise erlebt? Welche Gefühle hast du zum ersten Mal gespürt? Was hat dir in den letzten Wochen geholfen? Wo bekamst du Unterstützung? Gab es auch positive Momente? Manche behaupten, dass Krisen auch lehrreich sein können – did you learn something new?“

 

Sie holen ihre Stifte raus. „Nehmt Euch Zeit und beantwortet die Fragen in Ruhe. Schreibt auf einem Extrablatt Papier weiter, wenn ihr mehr Platz braucht. Ich bin mal kurz nebenan, bei den anderen. Sie bekommen die gleichen Fragen.“

 

Und dann ist es ganz leise. Konzentration schwebt. Wir haben alle Zeit der Welt. Ich gehe in Gedanken die Anwesenheitsliste durch. Erinnere mich an ihre Namen und Gewohnheiten. Freue mich, sie endlich wiederzusehen. Denke an Hertha, die zuhause bleibt, weil sie zu einer Risikogruppe gehört – mit Vorerkrankung. Meine Aufregung legt sich. Es wird. Es wird schon -  auch heute.

 

„Seid ihr fertig?“ Die ersten melden sich zu Wort. Erzählen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen: - ‚Meine Familie hat mir geholfen, da durch zu kommen‘, erzählt eine. ‚ Und weil ich meine ältere Schwester so selten sehe und sie plötzlich wieder zu Hause eingezogen ist, da habe ich mich so gefreut. Ich verstehe mich gut mit meiner Familie und ich weiß, dass das nicht allen so geht.‘

- ‚ Wenn ich nicht eine Stunde mindestens am Tag draußen hätte sein können, ich weiß nicht, was dann passiert wäre‘, meint ein anderer.

-‚Ich war auch jeden Tag mit unseren Hunden draußen. Wir haben drei. Aber zu Hausaufgaben, ganz ehrlich, zu Hausaufgaben für die Schule konnte ich mich nicht motivieren. Aber zuhause habe ich schon mitgeholfen. Überall.‘

- „Ich habe gelernt, dass alle im Grunde nur an sich denken. Als das Toilettenpapier knapp wurde, da hat doch jeder nur an sich gedacht. Das hätte ich vorher nie für möglich gehalten‘.

- ‚ Wir haben Verwandte in Frankreich. In Deutschland hatten wir doch gar keine Krise. Da müssen wir doch nur an die Menschen in den anderen Ländern denken.“

 

„Für mich war es schwierig. Ich war so unproduktiv. So kenne ich mich gar nicht“, merkt Sabine leise an. ‚Ich dachte, jetzt kannst du doch eine Sprache lernen oder viel Sport machen, Vokabeln lernen, lesen – aber ich hatte zu nichts Lust. Ich hatte keine Energie. Ich war mir selber fremd und ich habe angefangen mich dafür zu hassen… später wurde es dann langsam besser. Ich habe mich gezwungen. Meine Eltern haben mich beobachtet. Soviel Zeit zuhause. Normalerweise ist zuhause immer verbunden mit Freizeit. Aber plötzlich hatte ich Schule zuhause.  Es war schrecklich. Und dann habe ich angefangen alles aufzuschreiben. Als ich es anschließend gelesen habe, habe ich mich gewundert, dass ich den Text selber geschrieben habe…  Aber ich dachte mir, schreib weiter, schreib alles auf, bevor du es vergisst.‘

 

Alle hören zu. Sie wissen,  jedes Wort ist freiwillig. Wir kennen uns – vertrauen.

 

Als es still ist, frage ich nach, für wen es eine Lernerfahrung war. Alle melden sich. Sie schauen sich um und einander an. Die Stille tut gut. Wir sind wieder zusammen.

 

„Und warum meint ihr, beginnen wir unseren Unterricht heute mit diesen Fragen?“

-„Wegen der Vokabeln?“

- „Damit wir nachdenken?“

 

Ich schaue in die Runde.

Feli meldet sich. „Ich weiß nicht, warum wir damit beginnen. Sie sind die erste, die mir solche Fragen stellt und es war das erste Mal, dass ich heute Zeit hatte, darüber nachzudenken. In den anderen Stunden haben wir direkt mit dem Stoff weitergemacht. Wegen der Klausuren, die jetzt kommen. Aber die Fragen… irgendwie war das gut jetzt...“

 

„Wir haben mit den Fragen begonnen, weil ich möchte, dass wir alle etwas aus dieser Zeit mitnehmen. Die Coronakrise wird nicht die letzte Krise sein, die ihr mitmacht. Das ist so im Leben. Und ich weiß, dass es für einige von Euch auch nicht die erste Krise ist. Wir sind in einem Strudel, der unseren ganzen Alltag durcheinander wirbelt. Und wir lassen uns durchwirbeln. Werden mitgerissen, ob wir wollen oder nicht.  Aber wir können auch mal an die Seite treten, draufschauen, von oben sozusagen und inne halten. Wir können versuchen zu verstehen, was da mit uns und in uns geschieht.“

 

„Glauben Sie also, dass wir für die nächsten Krisen dann besser gewappnet sind?“, meint Leon nachdenklich.

 

„Ja, das hoffe ich. - … - Und jetzt raus mit Euch. Ab nach Hause. Zieht die Masken wieder an und schließt bitte die Fenster. See you tomorrow.“

 

So war es also.

Heute nacht schlafe ich sicher gut.

Und der Mond kann ruhig zuschauen.

 

Herzlichen Dank an Christiane Bals, 8. Mai 2020

 

»Dafür haben wir eine Geschichte« II

 

»BeziehungsWeise«

 

Sie zogen zusammen weiter, und er kam in ein Dorf.

Eine Frau namens Marta nahm ihn freundlich auf.

Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß.

Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen

und hörte seinen Worten zu.

Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen, für ihn zu sorgen.

Sie kam zu ihm und sagte: „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir überlässt? Sag ihr doch sie soll mir helfen!“

Der Herr antwortete: „Marta, Marta,

du machst dir viele Sorgen und Mühen.

Aber nur eines ist notwendig.

Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“

 

Wage ich, den Herrn in meiner Gebrechlichkeit anzusprechen?

 

"Herr, kümmert es dich nicht,

dass meine Schwester die ganze Arbeit mir überlässt?

Sag ihr doch, sie soll mir helfen.“

 

Dieser Satz von Marta, die ganz davon in Anspruch genommen ist, für Jesus zu sorgen,

während ihre Schwester Maria Jesus zu Füßen sitzt und seinen Worten zuhört,

berührt mich tief, in meinem Herzen.

Denn sie wagt es, ihre Krise zu benennen.

Sie schluckt es nicht runter, schweigt es nicht tot und sie will Hilfe.

Sie wendet sich an Jesus, den sie in ihr Haus aufgenommen hat und will, dass er ihr hilft.

Was ihre Schwester mit Jesus verbindet, zeigt ihr gerade sehr deutlich,

was sie schmerzlich vermisst und ihr Herz wird genährt vom Neid und Vergleich.

Ich frage mich oft, was wäre, wenn Marta geschwiegen hätte.

Ich glaube sie hätte eine, für sich, notwendige Möglichkeit vertan, wieder in Verbindung zu kommen.

Die Möglichkeit vertan, aus ihrer Krise heraustreten zu können.

Kennen wir das nicht, wenn wir ganz eingenommen sind von unseren eigenen Sorgen, Erwartungen und hochgesteckten Zielen? Dann besteht die Gefahr, dass wir die Verbindung zur Realität verlieren und unsere eigenen Schwächen, Sorgen und unsere Hilflosigkeit auf unsere Mitmenschen projizieren.

Hand aufs Herz, wer findet in solchen Momenten liebevolle, passende Worte?

Die große Chance liegt in diesem Moment, dass sich Marta einen weisen Gesprächspartner ausgesucht hat, einen Freund, den sie in ihr Haus aufgenommen hat.

Einen, der immer, zu jeder Zeit präsent ist und für das Leben einsteht, komme was kommt.

Jesus ist das verbindende Element in dieser Geschichte und dies hat Marta erkannt.

Wenngleich sie sich bestimmt eine andere Antwort gewünscht hätte, vertraut sie Jesus.

So kann Marta Heilung erfahren, denn sie hat es gewagt, ihre Gebrechlichkeit, ihre Krise, Jesus, dem Sohn Gottes hinzuhalten, der wie sein Vater nichts mehr als Heil und Leben für seine Menschen will.

Wie schwer ist es für uns Menschen, Gott unsere Gebrechlichkeit hinzuhalten, damit Heilung möglich wäre. Denn Gott, wie Jesus, will die Mitte des Lebens mit uns teilen, doch wir vergessen es oft. Ähnlich wie Marta, die Jesus zwar freundlich aufnimmt, dann aber in ihrem Gedankenkonstrukt über Jesus bleibt und ihn bildlich gesprochen im Flur stehen lässt.

Doch unterschätzen wir nicht, er ist im Haus, Jesus ist da.

Auch in unserer Coronakrise, ist er da!

Die Frage an uns: Wie wagen wir unsere Gebrechlichkeit vor Gott zu bringen, damit er uns das Verbindende nahelegen kann und wir aus seiner Zusage leben können, gerade in unserer Krise?

Es reicht nicht zu wissen, so glaube ich, dass es eine Zusage gibt, wenngleich dies in unserer Welt schon viel ist. Meine Frage ist vielmehr, trauen wir uns auch auf Tuchfühlung zu gehen, mit und durch die Erzählungen Gottes, es wirklich zu fühlen, wie ernst es Gott mit uns meint. Dafür sollten wir Jesus nicht im Flur unseres Hauses stehen lassen.

 

So höre ich Jesus, in dem Text von Paul Weismantel,

zu Marta, Maria und zu uns allen in der Krise sprechen:

 

Ich bin da

 

In das Dunkel deiner Vergangenheit und

in das Ungewisse deiner Zukunft,

in den Segen deines Helfens und

in das Elend deiner Ohnmacht

lege ich meine Zusage:

Ich bin da.

 

In das Spiel deiner Gefühle und

in den Ernst deiner Gedanken,

in den Reichtum deines Schweigens und

in die Armut deiner Sprache

lege ich meine Zusage:

Ich bin da.

 

In die Fülle deiner Aufgaben und

in die Leere deiner Geschäftigkeit,

in die Vielzahl deiner Fähigkeiten und

in die Grenzen deiner Begabung

lege ich meine Zusage:

Ich bin da.

 

In das Gelingen deiner Gespräche und

in die Langeweile deines Beten,

in die Freude deines Erfolges und

in den Schmerz deines Versagens

lege ich meine Zusage:

Ich bin da.

 

 

In die Enge deines Alltags und

in die Weite deiner Träume,

in die Schwäche deines Verstandes und

in die Kräfte deines Herzen

lege ich meine Zusage:

Ich bin da.

 

Syvlia Ditt, Koblenz, 7. Mai 2020

 

 

Der lange Weg und die Weisheit

 

Mitte März, als der virusbedingte Ausnahmezustand in den Anfängen war, versuchten wir, uns ein Bild zu machen und neue Regeln zu lernen und zu befolgen. Viele von uns konnten sich für einen überschaubaren Zeitraum auf viele Veränderungen unseres alltäglichen Lebens einstellen. Das erinnert mich an Bilbo Beutlin, den »Hobbit«, der sich auf das Abenteuer mit Gandalf und den Zwergen einließ, aber nie daran dachte, wie lange dies dauern würde.

Jetzt müssen wir bereits in der zweiten Woche zu allem anderen Schutzmasken tragen, wenn wir einkaufen gehen und ich beobachte täglich, wie schwer es uns fällt, weise und auch entspannt damit umzugehen. Wir müssen mit der Maske nicht Autofahren und spazieren gehen; wir können unsere Einkäufe weiterhin auf ein Minimum reduzieren; auch wenn es Verhaltensregeln gibt, die unangenehm sind, können wir vieles selbst gestalten und uns bleiben viele freie Räume und Zeiten.

Auf dem Abenteuerweg durchs Leben werden Wege immer wieder schmal und gefährlich, manchmal sind diese Strecken lang. Bilbo Beutlin zeigt uns Schritt für Schritt, wie das geht: manchmal, wenn es sehr schwierig wurde, ging er widerstrebend mit, fühlte sich wie ein mitgeschlepptes Opfer; doch zunehmend gestaltete er den Weg mit im Rahmen seiner Möglichkeiten und konnte viele Augenblicke sogar genießen. Und erst Jahrzehnte später sieht er die großen Zusammenhänge und den Sinn in vielem.

Niemand auf Erden weiß, was aus dieser unserer langen und schweren Zeit erwachsen mag. Ob Virologen oder Wirtschaftsfachleute, Ärzte oder Politiker - jeder gestaltet, plant und rät auf seinem Gebiet mit dem, was ihm zur Verfügung steht. So tun auch wir, in innerer Freiheit, was geboten, nötig und möglich ist.

Und lasst uns Salomos Gebet um Weisheit zur Hand nehmen. Dort lesen wir:   

»Denn welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen oder wer begreift, was der Herr will?

Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen und einfältig unsere Gedanken; denn ein vergänglicher Leib beschwert die Seele und das irdische Zelt belastet den um vieles besorgten Verstand.

Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht, und finden nur mit Mühe, was auf der Hand liegt; wer ergründet, was im Himmel ist?

Wer hat je deinen Plan erkannt, wenn du ihm nicht Weisheit gegeben und deinen heiligen Geist aus der Höhe gesandt hast?

So wurden die Pfade der Erdenbewohner gerade gemacht und die Menschen lernten, was dir gefällt; durch die Weisheit wurden sie gerettet.« (Weisheit 9, 13-18)

 

Rosemarie Monnerjahn, 6. Mai 2020

 

»Dafür haben wir eine Geschichte« I

 

Suche nach Gottes Wort in mir

Gott ist es, der uns sieht und für uns da sein will, selbst wenn wir uns in größter Abgeschiedenheit und Isolation befinden mögen. Damit trotz Gottesdienstverbot und Kontaktentzug diese Frohbotschaft des ewigen und menschennahen Gottes gerade jetzt nicht ungehört bleibt, werden in den Medien Gottesdienste und Impulse bereitgestellt. Hier und da wird zu Hausgottesdiensten in der Familie ermutigt. Doch alles Ungewohnte fällt schwer. Wie viele trauen sich, sei es auch nur in den eigenen vier Wänden, Gottes Wort vorzulesen, in den Mund zu nehmen, zu deuten und zu Herzen zu nehmen für das eigene Leben?

Dazu hat mich in diesen Tagen ein Wort aus dem Alten Testament, dem Buch Deuteronomium, ermutigt. Die Grunderzählung ist die, dass Mose seine große Abschiedsrede an das Volk Israel hält, bevor er stirbt und diese nach 40 Jahren Wüstenwanderung ohne ihn das verheißene Land einnehmen werden. Er war ihr Führer und Vermittler von Gottes Wort. Nun legt er ihnen ans Herz, dass – auch wenn er geht – Gott selbst, sein Wort und seine Nähe, bleibt (Dtn 30,11-14):

Dieses Gebot, das ich dir heute gebiete,
ist nicht zu wunderbar für dich und ist dir nicht zu fern.
Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest:
‚Wer wird für uns in den Himmel hinaufsteigen
und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun?‘
Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest:
‚Wer wird für uns auf die andere Seite des Meeres hinüberfahren
und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun?‘
Sondern ganz nahe ist dir das Wort,
in deinem Mund und in deinem Herzen,
um es zu tun.

Bei dem Weg zu einem persönlichen Gespräch mit Gott ist das ein gleichermaßen tröstendes wie herausforderndes Wort. Es braucht also nicht zwangsläufig einen Vermittler, einen Experten, der viel mehr von Gott und der Bibel weiß, und man muss sich auch nicht auf weite Wege machen. Aber was verdeckt da nicht alles diese Wirklichkeit, dass Gottes Wort ganz nahe ist, wenn ich mich ihm annähern möchte:

Zum einen bin ich es gewohnt, dass andere, zumal mit viel besserem Vorwissen, Gottes Wort „holen“. Wie viel Anleitung und Übung habe ich darin, selbst z.B. die Sonntagsevangelien zu lesen und ihnen nachzuspüren, was sie mir für mein Leben heute sagen? Es wurde mir vor Corona nie zugemutet, zu Hause Gottesdienst zu feiern.

– Aber: Wann, wenn nicht jetzt habe ich die Chance, mich darin einzuüben?

Doch selbst wenn ich das Glück habe auf Priester zu treffen, die zum eigenen Lesen der Schrift und Hauskirche ermutigen und anregen: Warum fällt es mir immer noch schwer, mich aufzuraffen? Solche und Gott selbst trauen es mir doch offensichtlich zu! Aber ich nicht. Ich vergleiche mich mit anderen, die so gute und tiefe Predigten oder Impulse halten. Schnell ist der Gedanke da: „Andere sprudeln nur so. In mir kommt beim Lesen der Bibel – nichts“ und ebenso schnell die Schlussfolgerung: „Dann ist da wohl nichts in mir“. Bequemlichkeit oder mangelnde Zeit oder Priorität kommen noch hinzu und - schwupps - wird diese Haltung unhinterfragt stehen gelassen und lieber bei den Impulsen anderer geblieben.

– Aber: Wer sagt eigentlich, dass das bei „den anderen“ so schnell und einfach ginge. Sitze ich bei ihnen zu Hause und sehe, wie sie eine Predigt nach der anderen „produzieren“? Und selbst wenn: Gott ist viel größer als Gewohnheiten und Selbstzweifel. Wenn er sagt: „ganz nahe ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen“, dann will ich darauf vertrauen und es versuchen, auch unvermittelt in mir zu finden.

Dann also lese ich Gottes Wort. Doch wenn ich es auf mein Leben hin ernst nehme, bin ich damit konfrontiert, wo ich bisher nicht danach gelebt habe. Und damit, wo ich mich verändern, etwas loslassen oder mich einem Konflikt stellen muss, weil es zum Glauben an ihn oder zum Tun seiner Gebote im Wege steht. In Bezug darauf, mit Gott persönlich im Gespräch zu sein, sind das z.B. auch die oben genannten Selbstzweifel oder Minderwertigkeitsgefühle. Sie können so vertraut und oft „gehegt“ sein, dass sie abzulegen sich wie sterben anfühlen kann. Hinzu kommt die Angst, dass Gott mich vielleicht strafen will, und ich Misstrauen gegen ihn entwickle: ‚Ist Gott vielleicht doch nicht gut? Will er doch nicht retten, sondern gar töten?!‘    
So ging es dem Volk Israel und Mose erinnert sie daran (Dtn 1): Als Gott ihnen nach zwei Jahren Wüstenwanderung an der Grenze zum verheißenen Land sagte: „Zieh hinauf und nimm es in Besitz“, sandten sie Kundschafter voraus. Diese sahen und erzählten dem Volk von den einheimischen Völkern, die viel größer und stärker waren als sie selbst. Da bekamen das Volk verzweifelte Angst. Zwar hatte Gott sie aus Ägypten befreit, die Zehn Gebote zu ihnen persönlich gesprochen, ihnen in der Wüste Essen und Trinken gegeben und wollte ihnen nun ein Land schenken, damit sie leben. Sie aber verleumdeten ihn: „Weil er uns hasst, hat er uns aus Ägypten geführt. Er will uns in die Hand der Amoriter geben, um uns zu vernichten.“

– Aber: Gott ist durch und durch gut. Das hat er nicht nur durch die Befreiung aus Ägypten offenbart, sondern auch indem er das Volk solange in der Wüste begleitete, bis sie nach 40 Jahren bereit waren, den Kampf für ein Land, in dem es sich leben lässt, zu wagen. Er möchte, dass auch ich hier und heute von allem frei werde, was Leben unterdrückt oder tötet. Wie viele Erfahrungen mir auch Selbstzweifel oder Angst vor einem strafenden Gott eingeflößt oder scheinbar bestätigt haben mögen: Ich bin von ihm gesehen, gewollt und geliebt. Ich bin von ihm sowohl gesehen, gewollt und geliebt, als auch dazu befreit, selbst die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Ich bin niemandes, auch nicht seine Marionette. Das ist Zuspruch und Zumutung zugleich. Wage ich es zu glauben, von Gott geliebt zu sein? Will ich daraus Kraft und Mut schöpfen, um mich lähmenden Verhaltensweisen wie Selbstzweifeln, Ängsten zu stellen? Vertraue ich darauf, dass sein Wort mir ganz nah ist, in meinem Mund und in meinem Herzen, um es zu tun?             
Sobald ich dieser bedingungslosen Liebe Gottes mehr glauben möchte als dem, was andere sagen oder ich selber denke, öffne ich mich dieser Nähe Gottes in mir. Dann erst erfahre ich seine Wirklichkeit – nicht sofort, aber so allmählich und sicher wie das Tagwerden: „Wenn man es zum ersten Mal gewahr wird, ist es bereits seit einiger Zeit im Gang“ (C.S. Lewis).

Wenn wir also auch zeitweilig von Gemeindegottesdiensten, Priestern oder selbst von der für Onlineimpulse nötigen WLAN-Verbindung getrennt sein sollten: Nichts trennt uns von Gottes Liebe. Er tut seinen Dienst an uns ganz unabhängig von solchen äußeren Bedingungen. Er ist größer als unser Wissen, unsere Gewohnheiten, Gedanken und Ängste. Vor allem und zuerst meint er es gut mit uns. Bloß meine Haltung, wenn ich ihm aus Selbstzweifel oder Angst nicht vertraue, kann meinen Blick auf sein gut sein verstellen und verzerren. 
Wenn Sie die Bedeutung von Gottes Wort in Ihrem Leben suchen: Nur Mut – wagen Sie mehr Vertrauen – sowohl in sich selbst, als auch in Gott. Denn „ganz nahe ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, um es zu tun.“

 

Anne Szczodrowski, Neuwirtheim, 5. Mai 2020

 

»Dafür haben wir eine Geschichte«

 

Vor einigen Wochen habe ich meinen Studentinnen eine Aufgabe gegeben. Da wir uns unter den gegebenen Bedingungen auch nicht treffen können, habe ich sie gebeten, jeweils einen Impuls zu schreiben im Hinblick auf die Not dieser Tage. Denn was wir in diesen Tagen erleben und gemeinsam erfahren, ist der Ernstfall für einen Erzähler. Eine Krise ist die Zeit, in der gute Erzählungen gebraucht werden, mehr als je zuvor.

Das Gegenteil erleben wir fast täglich. Wenn den schlechten Erzählern das Wort überlassen wird, erzeugt es eine Panik, die täglich geschürt und genährt wird. Die Oberflächlichkeit wird stetig schlimmer gemacht und die Orientierung wird völlig vernachlässigt.

Da ich aber keine schlechten Erzähler lehre, habe ich meinen Studentinnen folgende Aufgabe gegeben:

  1. Wähle eine Reaktion, Frage oder Not, die Du in Menschen gerade erlebst.
  2. Wähle eine biblische Erzählung, die Du als Antwort darauf geben möchtest unter dem Motto: »Dafür haben wir eine Geschichte«.
  3. Dann arbeite an dem Text nach der narrativen Methode.
  4. Nimm einen Teil dieser Auslegung und wandle sie in einen Impuls für die Menschen in der Krise. Zeige ihnen, wie die biblischen Erzählungen ihnen unentdeckte Horizonte, unbegangene Wege und unversuchte Möglichkeiten eröffnen.

In den folgenden zwei Wochen werden Sie in den Genuss kommen, ihre Impulse zu lesen, zwei in dieser Woche und zwei in der kommenden Woche. Sie werden veröffentlicht unter dem Titel: »Dafür haben wir eine Geschichte«.

Obwohl die Aufgabe eine Übung der Narrativen Theologie ist, können wir sie alle grundsätzlich anwenden. Jeder von uns erlebt eine große Spannbreite an Reaktionen, Fragen und Nöten in den Menschen um uns herum. Wenn wir diese Reaktionen, Fragen und Nöte ernst nehmen und uns ihnen stellen, dann können wir doch eine Antwort geben aus den biblischen Geschichten, die zu uns sprechen, die uns zu unentdeckten Horizonten führten, unbegangene Wege zeigten und unversuchte Möglichkeiten eröffneten. Das ist zwar keine technische narrative Auslegung des Textes, aber die wertvolle existentielle Auslegung der Geschichten meiner persönlichen Glaubenserfahrung. Jeder von uns kann sagen: »Ich kenne deine Geschichte, weil ich eine ähnliche, wenn nicht identische habe. Und ich habe eine biblische Geschichte erlebt, die mir geholfen und mich gestärkt hat. Wenn sie mich berührt und bewegt hat, warum nicht dich?« Es ist nur eine andere Art zu sagen:  »Dafür haben wir eine Geschichte«.

Dafür muss man allerdings die biblischen Erzählungen so lieben lernen wie meine Studentinnen es getan haben.  Wie so eine Liebe aussieht, zeigt uns Gabriela Mistral. Ich wünsche uns allen diese Liebe, denn die Liebe zur biblischen Erzählung ist gleichzeitig die Liebe zum Erzähler der Ersten Geschichte, der die ganze Schöpfung ins Dasein sprach und die Welten mit seinen Worten webte.

 

Bibel, meine edle Bibel, prachtvolles Panorama,

wo meine Augen lange Zeit verweilten,

du hast in den Psalmen die glühendste der Lavas

und in ihrem Strom des Feuers entzündete ich mein Herz!

 

Du hast mein Volk erhalten mit deinem starken Wein

und du hast sie unter Menschen stark stehen lassen

und nur deinen Namen zu erwähnen gibt mir Kraft;

weil ich aus dir stamme, habe ich das Schicksal gebrochen.

 

Nach dir ist nur der Schrei des großen Florentiners*

durch meine Knochen gegangen.  

 

Erik Riechers SAC, 04. Mai 2020

 *"el sumo florentino," bezieht sich auf Dante.

 

4. Ostersonntag 2020

 

Heute vor 31 Jahren wurde ich zum Priester geweiht. Es war nicht der entscheidendste Tag meines Lebens. Das war der Tag meiner Profess als Pallottiner. Aber er war sicherlich ein wichtiger Tag in meinem Leben. Am letzten Tage der Exerzitien zur Vorbereitung auf meine Weihe gab die Exerzitienleiterin mir eine Karte. Sie war handgemacht und in feinster Kalligraphie geschrieben. Darauf stand ein Satz vom Dichter Hafis: »Bleib nah an allen Lauten, die dich froh machen, dass du am Leben bist.«

Dass ist nicht weit entfernt von einem berühmten Wort Vinzenz Pallottis:

»Sucht Gott, und ihr werdet ihn finden.

Sucht ihn in allen Dingen, und ihr werdet ihn überall finden.

Sucht immer, und ihr werdet ihn immer finden.«

Ich habe mit Eifer diese Lebensunterweisung in meinem Leben befolgt. Sie beschäftigt mich bis heute. Welche Laute machen mich froh, dass ich am Leben bin? Und wie bleibe ich ihnen nahe? Wenn wir Pallotti ernst nehmen, dass wir Gott immer und überall finden können, dann kann jede Geschichte, jedes Lied und jede Stimme uns froh machen, dass wir am Leben sind.

Der Laut, der mich froh macht, am Leben zu sein, ist die Stimme des Geschichtenerzählers. Täglich bete ich: »Herr Jesus Christus, Erzähler Gottes, lehre mich auf die Geschichten Gottes in allem zu lauschen: in mir selbst, in den anderen, in der gesamten Schöpfung und in der gesamten Schrift; damit ich jede Geschichte achte und ehre, die Gott mir erzählen möchte.« Es ist meine Art, den Lauten nah zu bleiben, die mich froh machen, am Leben zu sein.

Die Stimme Jesu im Johannes-Evangelium ist so ein Laut. Fast jeder kennt den Satz seines Evangeliums »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.« Meistens ignorieren wir die Tatsache, dass dieser Satz aus einer früheren Behauptung fließt. »Ich bin die Tür.« Hier ist einer, der Zugang hat zur Fülle des Lebens.

Türen sind Kontrollinstanzen. Und was sie kontrollieren, ist ein eifersüchtig behüteter Schatz: Zugang. Eifrig bewachen wir den Zugang zu unserem Leben, denn wir wissen genau, was das bedeutet. Zugang zu unserem Leben bedeutet Zugriff auf unsere Zeit. Wir achten sehr genau auf unsere Zeit, schützen sie und behüten sie. Es ist weit einfacher, jemandem von meinem Geld zu geben als von meiner Zeit.

Die Tür ist das große Bild des Zugangs. Wir können die Tür schließen und damit Zugang verweigern. Wir können entscheiden, wer rein oder raus darf und dabei den Zugang beschränken. Wir können die Tür weit offen halten und dabei uneingeschränkten Zugang schenken. Wir können die Tür schließen vor lauter Angst vor denen, die vielleicht Zugang bekämen. Wir können eine Tür aufgeschlossen lassen, weil wir bereit sind, jedem Zugang zu gewähren.

Es gibt viele Schichten der Bedeutung in diesem Bild Jesu im Johannes-Evangelium. Er sagt nicht nur, dass er Zugang zur Fülle des Lebens schenken kann, sondern auch dass er es will. Was ist Fähigkeit ohne Bereitschaft? Jemandem zu sagen, dass ich ihm helfen kann, ist nicht das gleiche als zu sagen, dass ich ihm helfen will. Es gibt Leben genug, das von Menschen zurückgehalten wird, die mehr als genug Möglichkeiten, haben es zu teilen.

Der Satz »Ich bin die Tür« ist eine Geschichte, die überall erklingt, ein Laut, der mich froh macht, dass ich am Leben bin jedes Mal, wenn ich ihn höre. Wenn wir wie Christus sind, dann können auch wir sagen »Ich bin die Tür«. Wenn wir Schwestern und Brüdern Jesu sind, dann können auch wir sagen »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben«. Jede Person, die Zugang zu ihrem Leben gewähren kann und will, macht mich froh, am Leben zu sein. Jeder Mensch, der sagen kann, dass er bereit und fähig ist, die Türen seines Herzens aufzumachen, macht mich froh dass, dass ich am Leben in.

»Bleib nah an allen Lauten, die dich froh machen, dass du am Leben bist.» Darum habe ich die Nähe zu den Geschichtenerzählern bewahrt, seien sie die Autoren von Evangelien, literarische Titanen, Bauersfrauen an Märkten von Belize, ein Aussätziger in Indien oder die Überlebenden von Krieg, Gewalt und jeglichen Formen, die menschliche Grausamkeit annehmen kann. Oscar Wilde erzählt es so in »Der Glückliche Prinz«: »Liebe kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »du erzählst mir wundersame Dinge, aber wundersamer als irgendetwas anderes ist das Leiden der Menschen. Es gibt kein größeres Geheimnis als das Elend. Fliege über meine Stadt, kleine Schwalbe, und erzähle mir, was du dort siehst«

Diese Frauen und Männer waren die Schwalben, die über die Stadt Gottes flogen und mir erzählt haben, was sie dort gesehen haben. Von ihnen habe ich gelernt, wie wir alle zu einer Tür zur Fülle des Lebens werden können. In den Tausenden von Wegen, wie sie das Wort Jesu »Ich bin die Tür« in Leben und Gnade umgesetzt haben, gab es immer ein bestimmendes Element. Wir können nicht nur lebenslänglich Zugang zum Leben verlangen. Wir müssen Zugang zum Leben für andere sein.

Jesus sagte: »Ich bin die Tür« und gewährte uns Zugang:

zu seiner Zeit: Denn auch wenn er keine Zeit zum Essen hatte, hatte er Mitleid mit der Menge, die ihn brauchte (Mk 6,31-32);

zu seinem Brot und seinem Tisch: Als er in den letzten Stunden seines Lebens es vorzog, mit seinen Freunden ein Mahl zu teilen;

zu seiner Person: Er ließ die drängenden Jünger die Kinder nicht verdrängen (Mt 19,14), der sich berühren ließ von einer blutenden Frau (Mk 5,31), der die Frau in Schutz nahm, die ihn salbte (Mt 14, 6-7);

zu seiner Weisheit: »Da erschraken alle und einer fragte den andern: Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht: Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl« (Mk 1,27);

zu seiner Beziehung zu Gott: »Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch sage, habe ich nicht aus mir selbst. Der Vater, der in mir bleibt, vollbringt seine Werke« (Joh 14,10);

zu seiner Beziehung zu uns: »Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, sondern dass ich sie auferwecke am Jüngsten Tag.« (Joh 6, 39);

zu seinen Ressourcen: Wenn er Petrus hilft, die Tempelsteuer zu zahlen (Mt 17,27);

zu seiner Sehnsucht: Wenn er offen zugibt, wie sehr er sich danach sehnte, mit seinen Freuden das Pessachmahl zu essen. (Lk 22,15);

zu seiner Enttäuschung: Wenn er seine Traurigkeit nicht leugnet, dass Jerusalem unwillig ist, seine Umarmung anzunehmen (Mt 23,37);

zu seinen Geschichten: in der Unzahl der Gleichnisse, die er mit uns teilte;

zu seinen Balsamen für den Körper: »Da hatte Jesus Mitleid mit ihnen und berührte ihre Augen. Im gleichen Augenblick konnten sie sehen und sie folgten ihm nach.« (Mt 20, 34);

zu seinen Salben für die Seele: Wenn er sich weigert, die Frau, die beim Ehebruch ertappte worden war, zu verurteilen, sondern sie in die Freiheit schickte, das Leben neu zu wagen (Joh 8, 11);

zu seinem Land: Für einen aussätzigen Samariter, der nichts zu suchen hatte auf der falschen Seite der Grenze (Lk 17, 11-19);

zu seiner restaurativen Macht: Für eine beharrliche Mutter, die zwar keine Tochter Israels war, aber mit Sicherheit ein Kind Gottes. (Mt 15:21-28);

zu seinem Leib (Das ist mein Leib der für euch hingegeben wird);

und zu seinem Blut (Das ist mein Blut das für euch ausgegossen wird.

Das alles besitzen auch wir: unsere Zeit, unser Brot und unsere Tische, unsere Person und Weisheit, unsere Beziehungen zu Gott und einander, unsere Ressourcen, unsere Sehnsüchte und Enttäuschungen, unsere Balsame für den Körper und Salben für die Seele, unseren Land und unsere Macht der Restaurierung. Und wir haben unser Leib und Blut, unser Fleisch und unsere Knochen. Dahinter liegt eine Fülle des Lebens für andere. Mit Jesus sind auch wir die Tür. Das macht mich froh, am Leben zu sein.

Zusammen lasst uns nah bleiben an allen Lauten, die uns froh machen, dass wir am Leben sind. Am Ende ist es nichts anderes als die Art, Gott nahe zu bleiben.

 

Erik Riechers SAC, 3. Mai 2020

 

 

Dazu haben wir (noch) ein Gedicht oder: Von der wahren Fülle

 

Mag sein, dass wir heute sehr gebeutelt sind.

Mag sein, dass Angst und Ungewissheit unseren Blick verengen zum Tunnelblick.

In der Tat, seit es aufwärts ging vor über 70 Jahren, erlebten wir als Gesellschaft nicht eine solche Erschütterung und so viel Unsicherheit.

Aber ist das Leben, damals wie heute und zu allen Zeiten, nicht mehr als dies?

Was blenden wir aus, wenn Irritation, Angst und übergroße Sorge unseren Blick trüben? Und sind wir ehrlich: Waren wir in leichten Zeiten nicht auch oft blind für die andere Seite, das Schwere in der Welt oder das, was wir nie im Griff hatten?

 

Vor 100 Jahren, in der Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs, der in nahezu jeder Familie Spuren hinterlassen hatte, justierte ein sehr kritischer Schriftsteller seinen Blick neu an der Wirklichkeit und staunte: »schon - da  - Noch « ruft er aus und hat doch nur blühenden Flieder wie zum ersten Mal wahrgenommen:

 

Flieder

Nun weiß ich doch, 's ist Frühling wieder.

Ich sah es nicht vor so viel Nacht

und lange hatt' ich's nicht gedacht.

Nun merk' ich erst, schon blüht der Flieder.

 

Wie fand ich das Geheimnis wieder?

Man hatte mich darum gebracht.

Was hat die Welt aus uns gemacht!

Ich dreh' mich um, da blüht der Flieder.

 

Und danke Gott, er schuf mich wieder,

indem er wiederschuf die Pracht.

Sie anzuschauen aufgewacht,

so bleib' ich stehn. Noch blüht der Flieder.

                                                                  Karl Kraus, 1874-1936

In unserem Frühling 2020 wird uns die ganze Fülle des Lebens angeboten.

Ich will aufmerken, mich umdrehen, stehen bleiben in Sonnentagen, bei Vogelgezwitscher und vor Blütenpracht und will Kinderlachen und Herzenswärme in mich aufsaugen.

Rosemarie Monnerjahn, 2. Mai 2020

 

»draußen zuhause« III

 

Lassen Sie sich heute ein auf den letzten Teil des Gedichts, auf seine Bilder, auf die ausgesprochenen Aufgaben: richte nicht - sei Gesang - tröste !

Und erspüren Sie, was dies heute - konkret - in Ihren Lebensumständen bedeuten könnte.

 

III

die liebenden                                                                

richte nicht                                                                    

deren gemeinsamkeit                                                  

zerbricht                                                                        

 

wo schmerzvögel                                                          

ihre nester bauen                                                         

in den mündern                                                            

der weinenden                                                                                                          

 

sei gesang                                                                     

tröste                                                                              

aus: Wilhelm Bruners, »ZUHAUSE IN ZWEI ZELTEN«, S. 42

 

Rosemarie Monnerjahn, 1. Mai 2020

 

Vive la résistance!

 

Wir erzählen gerade viele Angst-Geschichten: Angst angesteckt zu werden, Angst jemanden anzustecken; Angst vor der Isolation und Angst sie zu verlassen;  Angst vor der gegenwärtigen Situation und Angst vor der Zukunft. Wir leiden darunter, dass tiefe Ängste uns nicht mehr frei lassen, dass wir deshalb so viel Ungelebtes in uns herumtragen, weil wir eben uns selbst nicht verzeihen können, dass wir Angst haben. Die Krise dieser Tage hat das nicht erzeugt, sondern lediglich enthüllt. Diese Ängste waren vorher da. An allen Orten, wo wir kein Leben wagten, war das ungelebte Leben ein Thema, bevor Corona kam.

Dazu müssen wir eine uralte Übung des Glaubens beleben. Übe den inneren Widerstand. Wenn wir die Kraft nicht besitzen, die Verhältnisse zu ändern, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Verhältnisse uns nicht ändern. Das ist die Lebenshaltung Jesu gegenüber Gewalt, Hass, Intrige und jedem Versuch, ihn als freies Kind Gottes einzuschränken: er leistete inneren Widerstand. Äußerliche Mächte konnten sein Innenleben nicht bestimmen. Er greift nie zu ihrer Taktik, aber er setzt Worte dagegen, Zeichen dagegen.

Übe den inneren Widerstand. Wir müssen ein klares Zeichen setzen gegen die Ängste, die die Brutstätte des ungelebten Lebens sind. Sei ein Widerstandskämpfer. Erzählt die Geschichten, singt die Lieder und rezitiert die Gedichte, die zeigen, dass trotz jeder Freiheit, die eingeschränkt wird, diese Ängste nicht bestimmen werden, wer wir sind oder wie wir leben.

Dawna Markova bietet uns ein Bekenntnis zur Stärkung des inneren Widerstands an.

»Ich werde kein ungelebtes Leben sterben.
Ich werde nicht in Angst leben

vorm Fallen oder Feuer fangen.
Ich wähle, meine Tage zu bewohnen,
und erlaube meiner Lebensweise, mich zu öffnen,
um mich weniger ängstlich sein zu lassen,
zugänglicher,
um mein Herz zu lösen,
bis es ein Flügel wird,
eine Fackel, ein Versprechen.

Ich wähle, meine Wichtigkeit zu riskieren;
so zu leben, dass das, was zu mir als Same kommt,
als Blüte zum Nächsten geht,
und das, was zu mir als Blüte kommt,
weiter geht, als eine Frucht.«

Dawna Markova

Vive la résistance!

 

Erik Riechers SAC, den 30. April 2020

 

»draußen zuhause« II

 

Wilhelm Bruners greift in seinem Gedicht den Sendeauftrag Jesu vor 2000 Jahren auf und setzt ihn ins Heute. Damals wie heute sagt Jesus den Ausgesandten, womit sie ausgerüstet werden und weiter, wozu sie gesendet werden. Jede Generation tritt neu ins Gespräch damit. Bruners fand eine Sprache für sich und uns. Und wenn wir in diesen Wochen seinen Worten erneut begegnen, lösen sie eine andere Erzählung in uns aus als beim ersten Aufeinandertreffen.

So lassen wir den zweiten Teil des Gedichts heute neu auf uns wirken: 

Wo sind die Stimmlosen? Was höre ich und was brauchen sie? . . .

Wer sind die Kinder des Schmerzes? Welche Worte sind nötig, finde ich welche?

. . . . . . 

 

draußen zuhause

 

II

bau eine arche                                                                

aus klageliedern                                                             

der stimmlosen                                                               

 

bis der schmerz                                                              

seine kinder                                                                    

ins wort spült                                                                  

 

ins messerscharfe                                                         

ins kritische         

 

aus: Wilhelm Bruners, »ZUHAUSE IN ZWEI ZELTEN«, S. 42

 

Rosemarie Monnerjahn, 29. April 2020

 

Das Leben ist nicht kaputtgegangen.

 

Gestern schrieb Rosemarie darüber, wie wir alte Geschichten mit neuen Ohren hören können. Das ist die Herausforderung sowie die Möglichkeit einer jeden Krise. T.S. Eliot beschreibt diese Erfahrung so:

»Wir werden nicht vom Forschen ablassen,

bis am Ende aller Entdeckungen

wir wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren

und diesen zum ersten Mal richtig kennen.« 

Können wir die Geschichten, die wir kennen, nehmen und sie so lesen, dass wir sie neu entdecken, anders wahrnehmen, mehr Reichten entdecken oder sie sogar zum ersten Mal richtig kennen?

Meg Wheatley bietet uns ein hilfreiches Beispiel an. Sie nimmt eine Prosastelle aus Rachel Naomi Remens  »Aus Liebe zum Leben« (S. 251) und legt es uns in poetischer Form dar. Ich teile es mit Ihnen aus zwei Gründen. Erstens, der Inhalt selbst spricht Trost zu uns, während wir versuchen, uns daran zu erinnern, dass das Leben nicht kaputtgegangen ist. Zweitens, die Änderung der Form hilft mir zu erkennen, dass die Umsetzung dieser Lebensunterweisung ins Leben immer eine Sache der lyrischen Schönheit ist.

 

Alles trägt seinen tiefen Traum

von Rachel Naomi Remen

 

Ich habe viele Jahre damit verbracht, zu lernen,

wie man das Leben repariert, nur um schließlich entdecken zu müssen,

dass das Leben gar nicht kaputtgegangen ist.

 

In jedermann und allen Dingen

ist der verborgene Same einer größeren Ganzheit vorhanden.

Wir dienen dem Leben am besten,

wenn wir diesen Samen gießen

und uns mit ihm anfreunden,

wenn wir hinhören, bevor wir handeln.

 

Wollen wir uns mit dem Leben anfreunden,

dann dürfen wir nicht versuchen, die Dinge so hinzubiegen,

wie es uns gefällt.

Wir decken vielmehr etwas auf, dass bereits

in uns und um uns herum geschieht,

und schaffen günstige Bedingungen, damit es zu Tage treten kann.

 

Alle Dinge bewegen sich auf ihren Ort der Ganzheit zu.

Sich mit dem Leben anzufreunden heißt, dass wir auf dieses Potential lauschen, das sich im Laufe der Zeit

verwirklichen will.

 

Doch alles trägt seinen tiefen Traum von sich selbst und seine Erfüllung in sich.

 

 

Erik Riechers SAC, den 28. April 2020

»draußen zuhause«

 

Vor mehr als zwei Jahren, im Februar 2018, veröffentlichten wir ein Gedicht von Wilhelm Bruners unter »L’Chaim«. Es erinnert uns daran, dass und wie wir ausgesendet sind. Jetzt lese ich es wieder und höre diese ernsten, klaren Worte in mir. Es sind dieselben Worte, doch anderes kommt in mir zum Klingen. Viele Erfahrungen liegen zwischen damals und heute, innerlich und äußerlich ist die Welt nicht dieselbe. So ist es immer, wenn wir nach einiger Zeit wieder einmal neu an eine Geschichte oder an ein Gedicht herantreten.

Wir erleben dieses Jahr alle miteinander sehr anders als alles, was vorher war.

Ich lade Sie in dieser Woche ein, nacheinander mit den drei Strophen des Gedichts in Beziehung zu treten und die Chance zu ergreifen, es mit allem, was uns jetzt erfüllt und auch bedrängt, neu zu lesen.

 

draußen zuhause

der gemeinschaft der frohbotinnen

 

I

pass dich nicht an                                                                                                    

wage zu gehen                                                              

wenn du                                                                         

gehst                                                                              

 

nimm nichts mit                                                            

außer einem                                                                  

bissen brot                                                                    

einem schluck                                                               

wein      

 

und                                                                                 

einer handvoll                                                               

versöhnung

aus: Wilhelm Bruners, »ZUHAUSE IN ZWEI ZELTEN«, S. 42

 

Rosemarie Monnerjahn, 27. April 2020

 

Nächster Abschnitt

»Uraltes Licht, in dem wir stehn« - Unterwegs auf der Via Lucis

 

 

In den 14 Tagen nach Ostern gingen wir miteinander auf dem Weg des Lichtes, der »Via Lucis«. Sie geht zurück auf Giovanni Don Bosco und wurde vor Jahrzehnten wieder belebt von der Gemeinschaft San Egidio. Dieser Weg führt uns zu den österlichen Geschichten und offenbart uns Schritt für Schritt das »uralte Licht, in dem wir stehn«.

 

14. Station: Die Sendung des Heiligen Geistes (Apg 2,1-6)

 

Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden.

 

Während dieser Krisenzeit suchen sehr viele Menschen etwas Begleitung am Telefon. Oft höre ich von seelentiefen Ängsten, die Dinge zu verlieren, die Menschen teuer, kostbar und lebensnotwendig sind. Eine Frau fragte mich, ob ich auch dafür eine Geschichte hätte. Aber selbstverständlich. Das ist die Erzählung der Menschen im Pfingstsaal.

Die überromantisierte und oft bereinigte Version dieser Geschichte schaut über etwas Wesentliches hinweg. Diese Menschen fühlten sich bedroht. Und sie haben in Jesus einen geliebten Menschen verloren. Das heißt, sie haben auch die Geborgenheit verloren, die sie in seiner Gegenwart kannten. Weg ist die Vitalität und Lebensfreude, die sie mit ihm genossen hatten. Die Kreativität und die Möglichkeit sie einzusetzen, sind gelähmt, denn auch wenn sie zusammen beten, tun sie es abgeschlossen von einer Welt, die ihnen das genommen hat. Diese lähmende Erfahrung hat ihnen die Chance genommen, das Leben der Welt zu gestalten.

Diese Gefahr existiert auch heute. Unsere Fragen zeugen davon. Was machen wir jetzt? Wie geht es weiter? Wir könnten vor Angst erstarren. Wir könnten resigniert abwarten, bis der Virus endlich bei uns einschlägt. Oder wir könnten die Pfingsthaltung einnehmen auf dem Weg des Lichtes. Wir könnten uns vom Geist Gottes, der alles, was unsere Beheimatung ausmacht, liebt und schätzt, in Bewegung setzen lassen. Denn das erste Geschenk des Geistes ist die Bewegung: Zungen werden entfesselt, Mut von der Leine gelassen, Jünger verlassen das Haus und Menschen aus Fleisch und Blut wagen Begegnung und Gespräch genau mit denen, die sie vorher gemieden haben. Der Geist Gottes bewegt uns ins Herz einer Welt, die von Angst überfüllt ist.

Die Welt außerhalb des Pfingstsaals ist nach dem Kommen des Geistes nicht weniger bedrohlich als vorher. Wir singen mit Worten aus Psalm 104,30 »Sende aus deinem Geist, und das Antlitz der Erde wird neu.« Die Pfingstgeschichte lehrt uns, dass der Geist zwar das Antlitz der Erde erneuern mag, aber nicht ohne uns. Das Angebot Gottes ist nicht, dass der Geist zuerst die Erde erneuert und dann kommen wir aus unseren Verstecken herausgekrochen. Der Geist erneuert die Erde, indem er die Menschen verwandelt, die auf dieser Erde wandeln. Die Welt außerhalb des Pfingstsaales bleibt vor und nach der Sendung des Geistes die gleiche. Die Menschen werden verwandelt.

Die Tage der Corona werden vorbeigehen. Wir werden noch zusammen sein. Und wir werden Angst haben. Wir werden die Welt fürchten, vor der wir solange isoliert waren. Wir werden Angst haben vor Kontakt, Berührung und Begegnung. Ängste, die wir bewusst gepflegt haben, werden wir nicht so schnell wieder abstreifen können. Nur weil wir Erlaubnis bekommen, aus dem Kokon der Isolation hervorzukommen, heißt nicht, dass wir es tun wollen.

Der Geist befreit jede Generation der Glaubenden von der lähmenden Angst. Für die Tage nach der Krise könnten wir ein wunderbares Gelöbnis ablegen nach dem ehrwürdigen Pfingstrezept für das Leben. Wir könnten uns freimütig melden, das Antlitz dieser seiner Erde zu erneuern. Dies wird mein Gelöbnis sein. Ich biete es Ihnen an in der Hoffnung, dass es viele Gefährten geben wird auf dieser abenteuerlichen Reise.

 

Du uraltes Licht, in dem wir stehen.

Wir gehen hinaus, dort wo die Bedrohung herkommt,

dort wo die Gefahr immer größer ist als hinter unseren Mauern,

und wir bieten der Angst die Stirn,

beseelt von einem Geist der Liebe.

 

Damit geliebte Menschen nicht verloren gehen, weil sie nicht an uns herankommen hinter unsere Mauern der Angst.

 

Damit die Geborgenheit nicht verwechselt wird mit erstickender Enge.

 

Damit unsere Vitalität und Lebensfreude freigesetzt werden, indem sie andere Menschen in Erstaunen und Begeisterung versetzen.

 

Damit unsere Kreativität und die Möglichkeit sie einzusetzen nicht qualvoll in unserer Ängstlichkeit untergehen, weil wir unser Leben gestalten, als ob wir in einem Bunker wären, und nichts wagen oder versuchen.

 

Damit die Chance, Leben zu gestalten, nicht nur ein Traum bleibt für einen Tag, wenn keine Gefahr und kein Risiko droht.

 

Erik Riechers SAC, 26. April 2020

 

 

13. Station: Einmütig beisammen im Gebet (Apg 1, 12-14)

 

Dann kehrten sie von dem Berg, der Ölberg genannt wird und nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück. Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.

 

Drei Verse zwischen Himmelfahrt und Pfingsten – nicht spektakulär, eine Aufzählung von Menschen, 12 davon mit Namen, wenig Handlung . . . schnell gehen wir oft über diese verse hinweg und bewegen uns auf größere Ereignisse in der Geschichte zu.

Es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Es sind die elf Apostel, die nach den letzten Worten Jesu und seinem Emporgehobenwerden – wir lasen es gestern – den kurzen Weg vom Ölberg in die Stadt hinein gehen und sich im Obergemach versammeln. Gut 40 Tage liegt es zurück, dass sie mit Jesus den genau umgekehrten Weg nahmen – vom letzten Mahl im Obergemach zum Ölberg, wo die Passion Jesu begann und sie schließlich alle zerstreute.

Jetzt aber gehen sie nicht auseinander, sie bleiben hier und jeder wird mit Namen genannt, genau wie einst, als Jesus sie erwählte (vgl. Lk 6). Somit wird hier bezeugt: Alle sind hier beieinander, die Jesus erwählt hatte (außer Judas Iskaroit).

Sie bleiben »ständig« hier. Wie schwer fällt uns Beständigkeit – das erleben wir doch derzeit in großem Ausmaß. Die Einschränkungen, Richtlinien, Verhaltensregeln hin und wieder einzuhalten oder für eine kurze Zeit, wäre ja nicht die Herausforderung; doch auf lange Sicht, ständig so zu leben können wir Heutigen kaum ertragen. Doch nicht nur das! In welcher Weise sie die Zeit gestalten, ist uns Heutigen noch fremder: Sie verharren einmütig im Gebet. Dabei ist der Kreis viel größer, als es bisher schien. Die Frauen sind im Raum, namentlich Maria, die Mutter Jesu, zuletzt in der Todesstunde genannt, und die Brüder. Hier vereinen sich Jüngerinnen und Jünger mit der Familie Jesu. Es wird nicht erzählt, wer zuerst da war oder wer wen rief - nein, alle, die zu Jesus gehören, angefangen mit seiner Mutter, sind vereint.  

Sie alle verharren einmütig im Gebet. Sie haben langen Atem, Ausdauer und Geduld. Sie stellen Raum und Zeit zur Verfügung für das, was ihnen bedeutsam ist. Sie sind eines Sinnes, sie tun es einvernehmlich, der Konsens ist gefunden – im Gebet! Geschwisterlich miteinander verbunden beten sie zu unser aller Vater, vertiefen die Beziehung und das Vertrauen, öffnen sich ihm immer mehr, leben in ihm - das bedeutet es ja, das Beten. Die Gefährtinnen und Gefährten Jesu haben es von ihm selbst gelernt.

Uns Heutige warnte Wilhelm Bruners vor über 20 Jahren:

Warnung

Erwarte nicht zuerst

daß deine Gebete

erhört werden

 

Höre vielmehr

was sie von dir

erwarten

 

»Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet« - wir vermissen und beklagen derzeit mehr, als wir es je vermutet hätten, dass dies für uns nicht möglich ist. Doch lasst uns ehrlich und gestaltend schauen, was uns auch jetzt möglich ist und was wir vielleicht nie geübt haben:

  • Beharrlichkeit: ausdauernd und geduldig dem Beten Raum und Zeit widmen
  • Im Einklang mit unseren Schwestern und Brüdern: wir können uns auf vielen Wegen einander versichern und unser Beten zusammenbringen. Dann wissen wir, während wir beten, dass wir mit ihnen verbunden sind.
  • Beten üben: Alles vor Gott tragen, was uns bewegt, und in Stille lauschen.

Dann werden auch wir hören, was unsere Gebete von uns erwarten.

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. April 2020

 

12. Station: Himmelfahrtschancen (Apg 1, 6-11)

 

Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde. Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken. Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, siehe, da standen zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.

 

In der geistlichen Begleitung kommt es gelegentlich vor, dass ein Mensch am Anfang des Gespräches um Hilfe bittet, aber im Laufe des Gespräches sich etwas ganz anderes zeigt. Egal was ich sage, vorschlage oder anbiete, es wird abgelehnt. Die Ablehnung wird immer angekündigt mit dem deutschen Wort, das ich am meisten hasse: »Ja, aber.« Spätestens dann wird mir klar, dass, wenn ich nicht sage, was sie hören wollen, es kein Ja geben wird. Sie bitten um Hilfe aus ihrer Krise, aber eigentlich wollen sie nur die Bestätigung ihrer Wahrnehmungen und Erwartungen.

Das passiert uns oft, wenn wir in Krise sind. Menschen halten stur an ihrer Wahrnehmung, ihrer Erwartung, fest. Es sollte doch alles so sein wie es war oder wie sie es sich wünschen. Auch wenn alle Tatsachen und Realitäten sich radikal verändert haben, sie wehren sich, denn so darf es einfach nicht sein. Dann weigern sie sich zu öffnen für das, was kommt, auch wenn reale Chancen an der Tür klopfen.

Das ist die Erfahrung der Krise bei den Jüngern in dieser Erzählung. Sie kleben an ihrer alten Wahrnehmung: Jesus ist weg und wir sind hilflos, ausgeliefert und ohne Führung. Sie kleben an ihrer Erwartung: nur Jesus kann die Werke tun, die Heil und Leben in die Welt bringen. Dafür reichen unsere Kräfte nicht.

Wir sind es gewohnt, dass es so läuft wie wir es kennen. Oft können wir uns keine andere Möglichkeit vorstellen. Dann weigern wir uns, die Heilsmöglichkeiten zu öffnen. Wir verschließen uns den realen Alternativen und den Möglichkeiten. Aber was ist, wenn das, was in diesen Krisentagen kommt, uns auch Heil bringen möchte? Denn es gibt auch Angebote der Gnade in dieser Stunde: Zeit zu haben, Gemeinschaft zu gestalten, Solidarität zu spüren, die Herzen zu erweitern für Menschen, die jeden Tag erleben, was wir nur kurzfristig ertragen müssen; eine Öffnung für das wahrhaft Wesentliche, die Entdeckung, dass wir sehr gut leben können ohne sehr vieles von dem, was wir als unabdingbar bezeichnen; die Entdeckung, dass das, was wir schmerzhaft vermissen, die Gelegenheit sein kann, sie in Zukunft nicht als selbstverständlich zu nehmen: die Wiederentdeckung der Geschenk-Konturen der Welt und des Lebens.

Der Talmud spricht Wahrheit: Wir sehen die Welt nicht wie sie ist, sondern wie wir sind. Wenn wir aber verschlossen, festgefahren und eng sind, dann sehen wir die Welt und ihre Möglichkeiten so. Die Art wie wir sehen sagt immer etwas aus über das, was aus uns geworden ist.

»Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, standen plötzlich zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?«

Manchmal kleben wir an unserer Wahrnehmung, unserer Erwartung, so fest, dass wir uns weigern zu öffnen, auch wenn Leben und Güte sogar an unsere Tür klopfen. Dafür schenke ich euch eine Geschichte:

 

In alten Zeiten lebte ein Mann, der in einem Dorf wohnte und der einen Sohn hatte.

Eines Tages verließ er sein Dorf, um seinen Geschäften nachzugehen.

Nachdem er abgereist war, kamen Piraten in sein Dorf, denn es lag nah am Wasser. Die Piraten zerstörten das Dorf, brannten es nieder und töten jeden Einwohner; jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Aber den Sohn des Mannes nahmen sie mit.

Der Mann kehrte nach Hause zurück und betrat sein Dorf. Alles war verbrannt und verkohlt. Er suchte das ganze Dorf ab und fand, was er für die Leiche seines Sohnes hielt.

Sofort fing er an zu trauern und zu weinen. Er arrangierte eine Beerdigung, sprach alle Gebete für seinen Sohn und ließ, was von ihm übrig war, einäschern.

Dann nahm der Mann die Asche und legte sie in einen Beutel aus feinstem Stoff. Diesen Beutel trug er um seinen Hals. Er trug die Asche seines geliebten Sohnes immer bei sich.

Er zog sich dann zurück, verließ nur noch selten sein Haus, und trauerte und trauerte.

Mehrere Monate später konnte sein Sohn den Piraten entkommen und er kehrte in aller Eile zu seinem Dorf zurück. Er klopfte an der Tür des Hauses seines Vaters und rief: »Vater, öffne mir die Tür. Ich bin es, dein Sohn!«

Der Vater antwortete: »Geh fort! Geh fort! Was bist du für ein Mensch, der so etwas einem alten Mann antut? Bist du irgendein Hooligan aus dem Dorf, gesandt um mich zu quälen? Ich trage meinen Sohn als Asche im Beutel um meinen Hals. Wer bist du, dass du mir so etwas antust?«

»Nein, Vater«, sagte die Stimme. »Ich bin es, dein Sohn. Öffne mir. Öffne die Tür für mich!«

Aber der Mann in seinem Haus rief: »Ich trage meinen Sohn als Asche im Beutel um meinen Hals. Ich kann dir die Tür nicht öffnen. Geh fort. Geh fort!«

Und so ging der Sohn fort.

 

Erik Riechers SAC, 24. April 2020

 

11. Station: Jesus sendet die Seinen in die Welt (Mt 28, 16-20)

 

Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte. Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder, einige aber hatten Zweifel. Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.

 

Eine Jüngerin von heute im Gespräch mit einem Jünger von damals:

Ist es richtig, dass du damals auf dem Berg in Galiläa zu den Zweifelnden gehörtest?

Ja, das stimmt. Es gab Grund genug für die vielen Fragen, die in mir waren. Du kannst es dir vielleicht kaum vorstellen, aber bedenke: neben all den versuchten Absicherungen seitens der Mächtigen und den Gerüchten, die die Runde machten, hatten die Frauen uns von ihrer Begegnung mit Jesus erzählt und uns in seinem Auftrag nach Galiläa zurück geschickt. Wir gingen dorthin, gingen auf den Berg - besagten Berg, den ihr bis heute so oft zitiert – und da stand ER plötzlich vor uns! Alles war verwirrend, nichts klar!

Wenn ich recht informiert bin, hast du keine Fragen ausgesprochen. Was half dir denn in dieser außergewöhnlichen Situation?

Dass er, Jesus, meine unsicheren Augen, meinen fragenden Blick, mein zweifelndes Herz einfach so annahm. Keine Rückfragen, keine Kritik, keine Erklärungen. Er sprach uns alle an, so wie wir waren. Und so, wie wir waren, hatte er einen Auftrag an uns.

Du meinst, es wäre vorstellbar gewesen, dass er nur den Sicheren und Starken unter euch den Auftrag anvertraut hätte? 

Du und ich – wir würden es so machen, oder? Aber er nicht. Als ich das spürte, begann mein Herz sich zu erwärmen. Ich fühlte die Wahrheit, als er von seiner Vollmacht sprach - »im Himmel und auf Erden«. Ich erinnerte mich der Anfänge, als er auf diesem Berg zu so vielen Menschen gesprochen hatte, Stunden, Tage! Die meisten damals waren arm, krank, gebrechlich. Uns allen verkündete er damals, dass Seligkeit in uns steckt, wie auch immer wir leben. Uns allen legte er damals den Schatz und die Tiefe unserer uralten 10 Worte aus.

Dennoch: War nicht seine Sendung zu allen Völkern eine viel zu große Nummer für dich?

Ja und nein. Richtig nachdenken konnte ich in diesem Augenblick nicht. Doch er sprach vom Taufen und ich erinnerte mich an das, was wir von seiner Taufe wussten. Er sprach vom Vater – hatte er uns nicht hier oben gelehrt, wie wir beten sollen zu unser aller Vater? Er sprach vom Sohn und ich erinnerte mich, wie oft er von sich als dem Menschensohn gesprochen hatte. Und der Geist, der ihn erfüllte, hatte uns immer mehr angezogen, herausgefordert, oft auch überfordert. So hatte er uns wahres Leben gelehrt und wir waren ihm gefolgt. Das sollten wir jetzt in seinem Namen weitergeben.

Du hast wie die anderen den Auftrag angenommen – dafür bin ich heute eine Zeugin.

Ja, ich wuchs mit den Freunden hinein und wir schöpften aus allem, was in uns war, was durch Ihn gewachsen war. Weißt du, als er von uns gegangen war und ich wieder und wieder diese Stunde auf dem Berg in meinem Herzen erwog, wie er da war, wie er mit uns gesprochen hatte, da erkannte ich tief in mir: Nichts wird je verloren gehen.

Am Ende habe ich noch eine Bitte: Welche Botschaft kannst du uns heute mitgeben?

Behaltet den Blick für das Wesentliche, das ist immer das, was dem Leben dient. Und wenn vieles euch beängstigt und verunsichert, dann geht auf den »Berg«, an den Ort, wo ihr IHM begegnen könnt. Erinnert euch eurer Taufe, dass ihr geliebte Menschenkinder seid. Und lasst euch zusagen, was uns damals aufbrechen ließ: » ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt«.

 

Rosemarie Monnerjahn, 23. April 2020

 

 

10. Station: Der Auferstandene Herr heilt das Herz des Petrus (Joh 21,15-17)

 

Als sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Lämmer! Zum zweiten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe! Zum dritten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Da wurde Petrus traurig, weil Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: Liebst du mich? Er gab ihm zur Antwort: Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe!  (Joh 21,15-17)

 

In der vorausgehenden Geschichte von Johannes 21 gibt es eine Szene, in der Jesus zeigt, wie Menschen mit der Leere umgehen sollten. Die Jünger kehren von einer erfolglosen Nacht des Fischens mit leeren Netzen zurück. Jesu Rat ist schlicht, aber nicht einfach. »Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden.« Der Rat ist in der Tat schlicht genug. Aber die Umsetzung ist nicht einfach, weil sie uns aufruft, über die Gewohnheit hinaus zu handeln. Die rechte Seite des Boots stellt das Ungewohnte, Unbekannte dar. Jesus weiß, wie wir Menschen die Leere überwinden können, nämlich, indem wir die andere Seite des Lebens auskosten. Wir werden viel Kraft brauchen, um auf die andere Seite des Bootes zu gehen. Und wir werden viel Kraft brauchen, auf der anderen Seite zu bleiben. Gewohnheit ist schwer zu durchbrechen. Was lebenslänglich geübt wird, können und werden wir nicht leicht abschütteln. Wenn diese Krisenzeit uns überhaupt etwas schmerzhaft vor Augen führt, dann diese Wahrheit.

Jetzt sitzt Petrus mit Jesus an einem Kohlenfeuer. Dieser Augenblick erinnert ihn an ein Kohlenfeuer der Verleugnung, ein Kohlenfeuer, an dem er seine Hände wärmte. Und Jesus zieht ihn heraus zu einem Kohlenfeuer, wo nicht Vorwurf, Tadel und Misstrauen, sondern Brot und Fisch (Nahrung) auf ihn warten. Nur Johannes erzählt die Geschichte mit zwei Kohlenfeuern, eben damit wir merken, es gibt eine zweite Seite des Lebens, des Bootes.

Petrus fühlt sich nicht wohl hier, weil das Kohlenfeuer der Ort seiner Schwäche, seines Unvermögens war. Er kennt diese Seite des Lebens. Er kennt die Seite, wo er zu schwach war, um treu zu bleiben. Er kennt die Seite, wo er so Angst erfüllt war, dass er die tiefste Liebe verleugnet hat. Jesus zieht ihn heraus zu einem Kohlenfeuer, wo er ungeahnten Tiefen der Liebe in sich entdeckt.

Dreimal wirft Jesus das Netz seiner Frage aus: Liebst du mich? Und drei Mal holt er aus der Tiefe dieses Mannes mehr Leben als die Oberfläche seines dreimaligen Verrates gezeigt hat.

Ja, liebe Schwestern und Brüder. Jesus befolgt seinen eigenen Rat nicht nur bei Petrus, sondern auch bei uns. Wenn auf der einen Seite des Bootes unseres Lebens das Netz kein Leben fängt, dann wirft Jesus eben das Netz auf der anderen Seite unseres Bootes aus. Und siehe da: eine unbeschreibliche Fülle, die noch in uns steckt und zu entdecken ist. Diese Zeit der Isolation und Distanzierung lässt eine Leere zurück. Gleichzeitig ist hier die Chance, mal die Seite unseres Lebens zu stärken, die an Muskelschwund leidet. Und es gibt diese Fülle in uns, oft in Tiefen versteckt, aber dennoch vorhanden.

Manche entdecken in diesen Tagen eine Innerlichkeit in sich, die sie nicht ahnten oder eine Geduld, die sie selbst überrascht. Andere finden eine Liebenswürdigkeit in sich, die sie nicht für möglich gehalten hatten. Viele Menschen erfahren eine Weite des Herzens, die über den Tellerrand unserer Not schauen kann und den Hunger, Not und Elend von andern ernstnimmt. Immer wieder berichten Menschen davon, dass der Wegfall von so vielem, was sie für lebensnotwendig hielten, zu einer Änderung ihrer Wertvorstellungen geführt hat.

In dieser Geschichte ist Petrus nicht der Menschenfischer, sondern einer der Fische, die die Liebe Gottes auffängt. Vielleicht ist es auch für uns wahr, dass wir erst wirklich Menschen leiten, begleiten und auffangen können, nachdem wir selbst aus dem See von Tiberias herausgezogen worden sind. Denn dort wartet das uralte Licht, in dem wir stehen, in den Flammen eines Kohlenfeuers und den Fragen, die uns zur anderen Seite des Bootes führen. Wenn wir diese Station in den Tagen von Corona nicht meiden, dann werden auch wir die Stimme hören, die zu uns spricht: Weide meine Schafe!

 

Erik Riechers SAC, 22. April 2020

 

 

9. Station: Die Jünger begegnen dem Herrn am See von Tiberias (Joh 21, 1-13)

 

Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal, am See von Tiberias, und er offenbarte sich in folgender Weise. Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus, Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen. Simon Petrus sagte zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sagten zu ihm: Wir kommen auch mit. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot. Aber in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr keinen Fisch zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr sei, gürtete er sich das Obergewand um, weil er nackt war, und sprang in den See. Dann kamen die anderen Jünger mit dem Boot - sie waren nämlich nicht weit vom Land entfernt, nur etwa zweihundert Ellen - und zogen das Netz mit den Fischen hinter sich her. Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot liegen. Jesus sagte zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr gerade gefangen habt! Da stieg Simon Petrus ans Ufer und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht. Jesus sagte zu ihnen: Kommt her und esst! Keiner von den Jüngern wagte ihn zu befragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch.

 

 

»noch einmal« -  so unauffällig kommt es im ersten Satz des 21. Kapitels des Johannesevangeliums daher, doch im Leben der Jünger wie auch in unserem Leben ist es ungeheuer bedeutungsvoll und tröstlich zu erfahren, dass Wiederholung nicht unser Feind, sondern unser Segen ist.

Zweimal war Jesus in die Mitte seiner Jünger hinter verschlossene Türen getreten – nun sind sie zurück an ihrem See, zu Hause, am alten Ort. Die Boote liegen hier am Ufer und was liegt näher als das zu tun, was sie früher immer getan haben: fischen gehen.

Kernen wir das? Außergewöhnliches erlebten wir, manchmal stiegen wir aus für eine gewisse Zeit, Erschütterungen entzogen uns vielleicht zeitweise den Boden unter den Füßen. Als alles vorbei war, kehrten wir zurück in unsere »alte« Welt und versuchten, weiter zu machen wie einst.

So schließen sich sechs Jünger Petrus an, doch das Mühen einer ganzen Nacht bleibt ohne Erfolg. Sie »fingen nichts«.

Kennen wir das? Wir tun so, als wäre nichts gewesen, und arbeiten uns oberflächlich mithilfe alter Muster und Techniken ab. Ist es wirklich verwunderlich, dass wir dort nichts Nährendes, keinen »Fisch«, finden? Schon heute erhebt sich mächtig die Frage, wie wir weiterleben werden nach Corona. Werden wir einfach zu unseren gewohnten Weisen des Lebens zurückkehren, als wäre nichts geschehen?

Die Jünger jedenfalls gestehen nach dieser vergeblichen Nacht dem Fremden am Ufer, dass sie nichts erreicht haben, keinen Fisch, keine Nahrung, nichts zum Essen und Teilen.

Aber sie haben (immer noch) das Herz eines Abenteurers: sie lassen sich darauf ein, zu ungewohnter Zeit, am hellen Morgen, noch einmal auszufahren und ihre Netze auf eine neue Weise, »auf der rechten Seite« auszuwerfen. Am Tag tauchen die Fische in die Tiefe ab – was nährt, ist also nur in der Tiefe zu finden. Und dort finden sie in der Tat Überfülle.

Kennen wir das? Wir lösen uns von dem, was immer schon so gehandhabt wurde und wir lange praktizierten, wir entdecken eine Quelle in uns, spüren einen Reichtum, den wir nie vermuteten. Wir mussten dazu in die Tiefe gehen. Wird uns diese virusbedrohte Zeit dorthin führen? Werden wir uns ihren Rat zu Herzen nehmen und unsere Netze » auf der rechten Seite des Bootes« auswerfen, in einer neuen Weise, die uns in unsere Tiefen und die Tiefen des Lebens führt, zum Wesentlichen, zu dem, was uns wirklich nährt?

Dann könnte uns die Erfahrung blühen, die die Jünger machen, als erster der, den Jesus liebte: Hier ist der Auferstandene! » Es ist der Herr!«

Er hat schon ein Mahl vorbereitet und alles, was wir aus unseren Tiefen mitbringen, kommt dazu.

Die Offenbarung des Auferstandenen, »noch einmal« geschenkt, gilt uns heute wie den Freunden damals.

 

Rosemarie Monnerjahn, 21. April 2020

 

 

 

8. Station: Der Herr bestätigt den Glauben des Thomas (Joh 20,24-29)

 

»Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.  Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch!  Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!  Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott!  Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.«

 

Meine  Großmutter lag im Sterben auf ihrem Bett. Es war friedlich. Es war gnadenvoll. Es war schrecklich.

Ich saß bei ihr während dieser Tage und meine Sorgsamkeit wurde belohnt mit dem größten Geschenk meiner Großmutter:  Sie erzählte mir ihre Geschichten.

Wir sind Anhänger des Weges  und so riefen wir die Ältesten und sie kamen. Großmutter ließ sie über sie beten, aber als die Zeit kam, wo sie ihr die Hände auflegen wollten, winkte sie sie ab. »Nicht nötig. Nicht nötig!« Sie war gütig, aber entschieden.

Nachdem sie etwas verdrossen gingen, fragte ich, sie warum sie die Ältesten kurzerhand abgewimmelt hatte. »Kind, du Leuchtkraft meines Lebens, sie wissen nicht, wie man jemandem die Hände auflegt.«

»Mach dich doch nicht lächerlich. Sie sind die Ältesten. Sie wissen es besser als jeder von uns«, antwortete ich mit Worten schärfer im Ton als in der Absicht.

»Kind, du Freude meiner alten Jahre, das ist nicht wahr. Lass mich dir die Geschichte hinter dieser Geschichte erzählen. Es war in den Tagen nach dem Großen Aufstand. Die geistdurchtränkten Zwölf nahmen die Reisen des  Meisters wieder auf. Als sie bei uns im Dorf anhielten, kamen unsere Leute und begrüßten sie. Im Laufe ihres Aufenthalts durften wir zu einem von ihnen gehen, um unsere Nöte, unsere Sorgen und auch unsere Frage ihnen ans Herz zu legen. Vor jedem von ihnen bildete sich eine große Schlange, außer vor einem. Er war derjenige, den wir bis heute den Ungläubigen nennen, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand.

Ich bin zu ihm gegangen, bewegt durch Ungeduld vor dem Warten und berührt von einem Hauch von Mitleid für ihn, der ganz allein da saß.

Er war ein Mann, mit dem es überraschend leicht war, ins Gespräch zu kommen; zu Hause in seiner eigenen Haut, ungezwungen in der Gesellschaft von Frauen. Und diese Augen, Kind, diese Augen! Sie haben mein Gesicht nie verlassen, nicht in der besitzergreifenden Art des Anstarrens, sondern in der zärtlicher Weise des bewundernden Blickes. Egal, was ich erzählte, egal welche Zweifel ich hegte oder welche Ängste ich nährte: diese Augen, Kind, diese Augen! Seine Weigerung, seinen Blick abzuwenden, war die erste Weise, wie er mir die Hände auflegte.

Dann nahm er meine Hände in seine, zärtlich, so zärtlich. Seine Worte hauchten Frieden über mich. 'Meine Hände berührten, was sie nicht für möglich gehalten haben. Das werden auch deine tun. Der Zweifel ist wie Frucht. Beiß zu früh rein, und er ist bitter. Du musst ihn reifen lassen zu einer vollen Umarmung des Mysteriums.' Es war die zweite Weise, wie er mir die Hände auflegte.

Dann legte er meine Hände auf seiner Seite. Er sprach Worte zu mir, die nach frisch gebackenem Brot, wie Fisch auf einem Kohlenfeuer gebraten, wie Honig aus den Waben, schmeckten. 'Meine Kleine, einst habe ich seine Seite berührt und die Wunde gefunden, die meine heilte. Deine Hände werden das gleich tun. Zweifel war nie mein Feind, mein Kind. Er muss auch deiner nicht sein. Zweifel sind Fragen, und wenn dein Fragen dich auf die Suche führt, werden deine Hände berühren, was ich berührt habe und deine Augen sehen, was meine gesehen haben. Wer zweifelt, fragt. Wer fragt, sucht. Wer sucht, findet. Wer findet, wird das Mysterium geöffnet bekommen'. Es war die dritte Weise, wie er mir die Hände auflegte.

Siehst du, mein Kind, du kostbares Juwel meines Herzens, ich konnte nicht zulassen, dass die Ältesten sich durch ein bloßes Ritual fummeln. Die Auflegung der Hände ist der Weg, wie der Meister uns alle berührt. Sie ist nicht der Besitz einiger Auserwählter, aber sie ist eine Kunst. Sie muss immer aus dem tiefen Herzen kommen! Und nur jene, die vom tiefen Herzens des Meisters berührt worden sind, werden ihr eigenes finden, aus dem sie andere berühren.«

Ich streichelte die verschrumpelte Hand meiner Großmutter. »Das war das Werk des Zweiflers?  Der Zweifler hat das alles für dich getan?«

Meine Großmutter wandte ihre Augen mir zu and hielt meinen Blick fest. Diese Augen, meinen Freunde, diese Augen! Dann sprach sie zu mir mit Worten schärfer im Ton als in der Absicht. «Hör auf damit. Nenn ihn nicht so!«

Dann schloss sie ihre Augen und lies ein langes, köstliches Seufzer von sich, gefüllt von Zufriedenheit und Heilung.

»Sein Name war Thomas.«

Erik Riechers SAC, 20. April 2020

 

7. Station: Jesus erteilt die Vollmacht des Vergebens (Joh 20, 19-23)

 

Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.

 

 

Die Gabe der Versöhnung, das Sammeln um eine Mitte –

wie sehnt sich unsere Welt danach!

Isoliert und vereinzelt leben wir, nicht erst seit Corona.

Wenn wir zueinander kamen,

sprachen wir von unseren Leistungen,

von dem, was wir uns leisten konnten.

Schwäche zeigen, Narben gar? Niemals!

Lieber Floskeln auf den Lippen, die uns

die anderen vom Leib hielten

und unser Inneres verbargen.

Furcht!

Welche Leere in so vielen Runden,

in denen wir uns jahrein, jahraus trafen!

Friede? Innerer Friede? Schalom?

 

Doch einst blieben Menschen beisammen

in all ihrer Furcht, dem Erschrecken über ihr Versagen, in ihrer Trauer,

eingeschlossen,

doch die Mitte war offen

für IHN, um den all ihr Denken und Fühlen kreiste.

Er überwand alle Barrieren und zeigte sich

wie er war, ganz, vernarbt und versöhnt,

und brachte Frieden.

Furcht konnte sich in Freude wandeln

und Friede bekam fruchtbaren Boden.

Nähe war möglich, Sendung wurde zugemutet,

Einhauchen des Geistes wie in Urzeiten der Schöpfung,

um mit ihm der Vergebung und dem Neubeginn zu dienen –

bis heute, für uns.

 

Rosemarie Monnerjahn, 19. April 2020

 

 

6. Station: Der Auferstandene erscheint seinen Jüngern (Lk 24,36-43)

 

Als sie aber davon redeten, trat er selbst mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? Seht meine Hände und meine Füße, ich bin's selber. Fasst mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe. Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und Füße. Da sie es aber noch nicht glauben konnten vor Freude und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen? Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. Und er nahm's und aß vor ihnen.

 

Wenn Jesus seine Hände und Füße zeigt, dann ist das ein Weg zu beweisen, dass er echt ist. Was die Jünger berühren und sehen ist real, Fleisch aus unserem Fleisch und Knochen von unserem Knochen. Jedoch, sobald sie das Reale sehen und berühren, haben sie keine andere Wahl als die Narben, die die Wunden zurückgelassen haben, zu sehen und zu berühren. Das ist die Realität des Wegs des Lichts. Wir können die Narben nicht ausradieren in authentischen Geschichten des Lebens nach dem Evangelium.

Hier haben wir eine Lektion für uns in der Stunde der Krise. Wir sollten die Narben, die die Wunden zurückgelassen haben, einander zeigen.

Wir hören immer wieder die ermutigenden Worte »Das werden wir überstehen!«. Ich glaube, dass es wahr sein wird für die große Mehrheit, wenn sicherlich nicht für alle. Aber eines ist sicher. Niemand, absolut niemand, kommt durch diese Zeit unberührt, unbehelligt und unbeschadet. Narben sind keine Wunden, aber Erinnerungen an sie. Sie erinnern uns, wo wir gekämpft haben und verletzt wurden. Sie erinnern uns, dass wir nicht unverletzbar sind, dass wir geschnitten und durchbohrt werden können, dass wir bluten können. Aber sie erinnern uns auch daran, dass wir heilen und weitermachen können. Sie erinnern uns, dass Leben möglich ist, wo Wunden gehegt und gepflegt werden. Mit Zeit und Heilung bluten sie nicht ewig. Narben sind keine Wunden, aber Erinnerungen an sie. Eine Narbe ist der Ort, wo das Ausbluten des Lebens gestoppt und versiegelt wurde.

In Henry V. legt Shakespeare dem König eine Rede in den Mund vor der Schlacht von Agincourt:

 

Ruf' lieber aus im Heere, Westmoreland,

Dass jeder, der nicht Lust zu fechten hat,

Nur hinziehen mag; man stell' ihm seinen Pass

Und stecke Reisegeld in seinen Beutel:

Wir wollen nicht in dessen Gesellschaft sterben,

Der die Gemeinschaft scheut mit unserm Tod.

 

Der heutige Tag heißt Crispianus' Fest:

Der, so ihn überlebt und heimgelangt,

Wird auf dem Sprung stehn, nennt man diesen Tag,

Und sich beim Namen Crispianus rühren.

Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren,

Der gibt ein Fest am heiligen Abend jährlich

Und sagt: »Auf Morgen ist Sankt Crispian!«,

Streift dann die Ärmel auf, zeigt seine Narben

Und sagt: »An Crispins Tag empfing ich die.« …

 

Der wackere Mann lehrt seinem Sohn die Märe,

Und nie von heute bis zum Schluss der Welt

Wird Crispin Crispian vorübergehen,

Dass man nicht uns dabei erwähnen sollte,

Uns wenige, uns beglücktes Häuflein Brüder:

Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,

Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig,

Der heutige Tag wird adeln seinen Stand.

Und Edelleute in England, jetzt im Bett',

Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen,

Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht,

Der mit uns focht am Sankt Crispinus-Tag.

 

Das ist Shakespeares Version dieser Lektion des Evangeliums. Er ruft uns auf, freiwillig zusammenzustehen, miteinander zu kämpfen und zusammen Wunden zu erleiden. »Dass jeder, der nicht Lust zu fechten hat, nur hinziehen mag.« Wer in der Stunde der Krise seinen Mitmenschen nicht beistehen will, wird nicht gezwungen: »Man stell' ihm seinen Pass und stecke Reisegeld in seinen Beutel«. Krisen lehren uns, welche Gefährten wir wirklich haben und welche Gesellschaft wirklich wertvoll ist: »Wir wollen nicht in dessen Gesellschaft sterben, der die Gemeinschaft scheut mit unserm Tod.«

Und er ruft uns auf, einander die Narben zu zeigen, die die Wunden zurückgelassen haben, wie Soldaten, die zusammen standen und mit König Heinrich kämpften: »Streift dann die Ärmel auf, zeigt seine Narben und sagt: ´An Crispins Tag empfing ich die‘«. Und jene, die einander die Narben aus alten Kämpfen zeigen und die Geschichten erzählen, die dahinter stecken, werden die Wenigen, ein beglücktes Häuflein Brüder (und Schwestern). Jene, die sich weigern zusammen zu stehen, zu kämpfen, zu fallen und Wunden zu erleiden, werden unversehrt bleiben, sie tragen keine Narben. Sie jedoch werden die Bürde der tiefsten Reue tragen: »Und Edelleute in England, jetzt im Bett, verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen, und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht, der mit uns focht am Sankt Crispinus-Tag.«

Auf dem Weg des Lichtes sollten wir die Ärmel aufkrempeln und einander die Narben zeigen, die die Wunden zurückgelassen haben. Das ist es, was Jesus in diesem Raum tat mit seinen Freunden. Wenn wir es tun, werden Menschen wissen warum. Es hat zu tun mit den Gefährten, mit denen wir gehen, wir Wenigen, wir beglücktes Häuflein Brüder (und Schwestern).

 

Erik Riechers SAC, 18. April 2020

 

 

5. Station: Als er das Brot brach (Lk 24, 28-35)

 

So erreichten sie das Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen, aber sie drängten ihn und sagten: Bleibe bei uns; denn es wird Abend, der Tag hat sich schon geneigt! Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach es und gab es ihnen. Da wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten ihn; und er entschwand ihren Blicken. Und sie sagten zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück und sie fanden die Elf und die mit ihnen versammelt waren. Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.

 

Wenn wir miteinander echte Emmaus-Gespräche führen, dann entstehen Nähe und Vertrauen, dann kommt, wenn es Abend wird, der Wunsch auf beieinander zu bleiben.

Jesus verlässt die beiden Jünger, als sie ihn erkennen, und das ist beim Mahl, beim Brechen des Brotes.

Er verlässt sie, als sie wissen: Er ist da, schon den ganzen Weg über hatte er langsam unsere Herzen erwärmt.

Mit dieser Klarheit können sie erneut aufbrechen – im Dunkeln, durchs Dunkle – das wird überhaupt nicht wahrgenommen, denn in ihnen ist es hell, der Weg scheint ihnen entgegen zu kommen.

Erzählend waren sie in seiner Spur gegangen.

Im Brechen des Brotes öffneten sich ihre Augen.

Aufbrechend nach Jerusalem verwandelt sich der Ort des Grabes in einen Ort des Lebens, der Gefährten, des Leben Teilens, der Freude.

 

Willi Bruners sagt es so:

 

österlich

 

gesicherte gräber

aber er hinterlässt

spuren im staub

die zeigen den weg

ins offene

 

das geteilte brot

schmeckt nach

aufbruch

auch wenn sich

sein erscheinen

 

in grenzen hält        (W.Bruners 2011)

 

 

Und wir?

Sind wir bereit, das Schwere einander anzuvertrauen und es neu deuten zu lassen?

Sind wir bereit, wahrhaft Leben Nährendes füreinander zu brechen und miteinander zu teilen?

Wir könnten die zunehmende Wärme unserer Herzen spüren!

Wir könnten dem Auferstandenen begegnen!

 

Rosemarie Monnerjahn, 17. April 2020

 

 

4. Station: Der Auferstandene Herr erscheint zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24:13-27)

 

Und siehe, am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Und es geschah, während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus selbst hinzu und ging mit ihnen. Doch ihre Augen waren gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten. Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen und der eine von ihnen - er hieß Kleopas - antwortete ihm: Bist du so fremd in Jerusalem, dass du als Einziger nicht weißt, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus Nazaret. Er war ein Prophet, mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk. Doch unsere Hohepriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist. Doch auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe beim Grab, fanden aber seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, er lebe. Einige von uns gingen dann zum Grab und fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie nicht. Da sagte er zu ihnen: Ihr Unverständigen, deren Herz zu träge ist, um alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.

 

Wenn wir zusammen durch eine Krisenzeit gehen, und manchmal in der falschen Richtung (wie die Jünger sich vom Ort der Auferstehung weg bewegen), erachten wir vieles für bedeutungsvoll und wichtig: Krisenmanagement, Planung, Kompetenz, Entscheidungsfähigkeit und Lösungen. Ich bezweifele nicht, dass sie nötig sind für eine Pandemie, aber ich bezweifle sehr, dass sie alleine reichen werden. Hier haben wir zwei Jünger, gebeutelt von Krise, und sie besitzen nichts von alledem. Das beschreibt die überwiegende Mehrheit von uns zurzeit. Wir sind nicht alle Ärzte, Virologen, Krankenpfleger oder Politiker. Wer einen Weg des Lichtes gehen will, der muss etwas lernen, was besonders wichtig ist gerade in diesen Tagen, aber meistens nicht auf der Liste der Krisenbewältigung steht: die Kunst des gegenseitigen Erzählens.

Diese Kunst ist lebenswichtig und lebensnotwendig. »Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte«. Hier geht es um das Gespräch, das wir brauchen, wenn das Leben uns nicht gelingt, wo alles dunkel ist, wo alle Hoffnung verloren scheint, wo nichts mehr geht und wir nicht mehr weiter wissen, auch wenn wir gezwungen sind, weiter zu gehen.

Jesus kommt gerne dazu. Denn egal wie schlimm, dunkel, hart und niederschmetternd die Erfahrungen waren, das gegenseitige Erzählen ist wichtig. Sonst kann eine Auferstehung zum neuen Leben nicht stattfinden. Jesus kommt gerne dazu, aber er kommt als ein neuer Hörer dazu, damit es keine bloße Wiederholung der Vergangenheit, ein ständiges Aufzählen des Alten wird. Als Mann mit frischen Ohren möchte er verhindern, dass das, was vom Leben noch in uns übrig geblieben ist, nicht erstickt wird.

Erzählt einander vom Zustand eurer Herzen. Dieses Gespräch ist der Ort, wo wir weinen, schreien, und erzählen müssen von allem, was unser Leben ausmachte, damit wir das finden, was uns heute im Tod gefangen hält.

Jesus hört sich alles an, was seine Menschen ihm erzählen wollen. Jesus unterbricht nie. Er widerspricht kein einziges Mal. Er korrigiert kein Wort. Erst als die Jünger fertig sind, fängt er an.

Erst dann öffnet er neue Perspektiven. Es ist keine Korrektur, sondern ein Erweiterung. Jesus nimmt die Erfahrungen der Jünger, ihre ganz persönlichen Erfahrungen ernst. Durch Mose und die Propheten ergänzt er in ihnen, was sie in ihrer eigenen Erfahrung nicht wahrgenommen haben. Hier weckt Jesus neues Leben in den Jüngern. Aus den Erlebnissen und Erfahrungen, die nur Tod bedeuteten, holt er neues Leben heraus.

 

Aber hier lauern die zwei Gefahren dieser Stunde auf uns.

  1. Dieses Emmaus-Gespräch findet nie statt. Wir unterdrücken unsere Erfahrungen, Schmerz, Zweifel und Geschichten, entweder aus Scham oder Schmerz. Bedenke, nicht was wir erzählen, macht uns krank, sondern was wir nicht erzählen. Jede Therapie dieser Welt beginnt mit dem Satz: Erzählen Sie mal. Wir versuchen den Erzählfluss wieder herzustellen. Noch besser wäre, es so zu machen wie die Jünger und das gegenseitige Erzählen immer am Leben zu erhalten. Jesus muss vieles für sie tun, aber nicht das Gespräch neu entfachen. Er findet ein Gespräch vor, in das er einsteigen kann. Das gegenseitige Erzählen ist nicht nur ein Geschenk füreinander, sondern auch für Gott.
  2. Nur dieses Emmaus-Gespräch findet statt. Wir brauchen neue Hörer und frische Ohren. Im Augenblick ist die Gefahr sehr groß, dass wir nur noch wie die Geier um die Grabstellen unserer Krise kreisen. Jemand sagte mir in diesen Tagen, dass ein Impuls pro Tag ihm zu viel ist. Jedoch zieht er sich täglich, fast stündlich,dieselben Warnungen, Prognosen und schlechten Nachrichten ein. Er kann Corona-Statistiken zitieren wie ich die Heilige Schrift. Jedes Gerücht gibt er lauwarm weiter. Wo bleiben die neuen Perspektiven, Horizonte und Wege?

 

Ein Weg des Lichts braucht die Kunst des gegenseitigen Erzählens, denn so werden wir immer wieder das »Uralte Licht, in dem wir stehn« von neuem erkennen.

 

Erik Riechers SAC, 16.04.2020

 

 

3. Station: Maria von Magdala begegnet dem Herrn im Garten

 

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen«, und was er zu ihr gesagt habe. (Joh 20, 11-18)

 

Der Weg des Lichts ist kein künstlich erhellter Boulevard, sondern ein Weg, auf dem wir Menschen uns von Anbeginn tastend von Licht zu Licht bewegen. Es gibt kaum ein schöneres Zeugnis dieses Tastens und Findens als diese Erzählung der Begegnung Marias mit Jesus im Garten. Immer wieder berührt sie uns neu, weil wir uns immer wieder neu in ihr entdecken.

Meditieren wir sie heute mit Gedichten von Wilhelm Bruners und kosten wir sie aus:

 

Am Grab

Mein Schmerz

 

nirgendwo sicherer

als am Grab

 

Und darüber nachdenken

was hätte sein können

 

Im Rückblick

der Gärtner und

die Erinnerung an

die Zeit des Gesangs

unsterblich verliebter

 

Blumen

 

Mirjam

Stattdessen

 

mit dunklen Augen

den Stein beiseite

gerollt

 

ratlose Männer

noch mehr

verwirrt

 

mit Unerkannt

ein Trauergespräch

geführt

 

den Gärtner

durchschaut

 

nachher gewundert

über soviel

 

Leben

 

aus: Wilhelm Bruners, Verabschiede die Nacht, 1999

 

Rosemarie Monnerjahn, 15. April 2020

 

 

2. Station: Die Frauen finden ein leeres Grab (Mk 16, 1-8 )

 

Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß.  Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat. Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich.

 

Ein Brief von einem nicht so geheimen Bewunderer

 

Liebe Maria von Magdala!

Liebe Maria, Mutter des Jakobus!

Liebe Salome!

 

Verehrte Zeuginnen!

Geliebte Schwestern!

 

In dieser Zeit von Pandemie und Panik lese ich eure Geschichte am liebsten.

Hier endete ursprünglich das Markus Evangelium. Er hat euch die letzte Geschichte gewidmet.

Und, wie ich finde, hätten wir es so belassen sollen, denn es ist ein wunderbares Ende des Evangeliums.

Ihr hattet Angst vor der Wahrheit dieses Augenblicks.

Und ihr habt niemand etwas davon erzählt; denn ihr habt euch gefürchtet.

Nach Markus war die Furcht die letzte Erfahrung des Evangeliums.

Und wenn wir überhaupt etwas kennen, dann die Furcht, die uns zum Schweigen bringt.

 

Dank eurer Geschichte wissen wir allerdings, dass eure Furcht doch nicht so mächtig war als ihr gedacht habt und ihr sie überwunden habt.

Denn, wenn ihr nie etwas davon gesagt hättet, würden wir diese Geschichte gar nicht kennen.

Aber ich erzähle sie,

und sie wurde mir erzählt,

und wir alle werden sie weiter erzählen.

 

Das heißt, irgendwo in Laufe eurer persönlichen Geschichte der Reifung und des Wachstums,

habt ihr die Furcht, die euch davon zurückhielt eure Geschichte zu erzählen,

den Schrecken und das Entsetzen, das euch erschüttert und gebeutelt hat,

überwunden.

Eure Furcht hat kein Bestand gehabt.

Etwas ist auch durch eure Furcht durchgebrochen.

 

Darum liebe ich eure Geschichte, denn sie lehrt uns, dass die Furcht nicht definitiv ist. Wir Männer haben auch Angst, aber wir sind nicht mutig genug um es zu zugeben. darum bin ich euch so dankbar. Es ist  schwierig, sich mit Angst auseinanderzusetzen, wenn wir unsere ganze Zeit damit verbringen sie zu verleugnen.

 

Ihr habt uns den normalen Lauf der Dinge gezeigt für alle, die das Evangelium leben. Manchmal sind wir Menschen stark, dann schwächeln wir wieder.

 

Furcht und Liebe werden immer zusammen gemischt sein.

Aber Furcht hat nicht das letzte Wort. Ihr seid die Zeuginnen dafür.

Angst war nicht definitiv für euch am Grab.

Und sie muss nicht definitiv sein für uns in der Stunde unserer Krise.

 

Und so danke ich euch, geliebte Schwestern, für euer mutiges Zeugnis. Die Männer mit ihrem Macho- Gehabe waren in den ausschlaggebenden Stunden nirgendswo zu sehen. Ihr wart immer dabei. Ihr wart die Augenzeuginnen der ganzen Geschichte, nicht die Zuschauer von selektiven Stunden. Ihr habt erlebt,

wie Jesus  verhaftet, eingeschüchtert, bedroht, manipuliert, festgenagelt, getötet

und dann unter Stein begraben und versiegelt worden ist. Wenn wir unsere ganze Geschichte zugeben, dann spielt all das auch bei uns eine Rolle im Augenblick. Unsere Geschichte ist weder so sauber noch so glatt wie wir es gerne darstellen.

Für eure Tapferkeit und eure Bereitschaft, nichts von dem zu unterdrücken oder zu leugnen, was auf der Via Lucis, dem  Weg des Lichtes, uns erwartet, nehmt bitte meinen aufrichtigen Dank an. Und wenn ich bitten darf: Legt ein warmes Wort für uns ein bei Jesus, damit wir unsere Stunden der Angst so ehrlich und mutig gestalten wie ihr.

 

Euer ergebener,

Erik bar Elisheva (Sohn der Elisabeth)

 

1. Station: Jesus ist auferstanden

Nach dem Sabbat, beim Anbruch des ersten Tages der Woche, kamen Maria aus Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat an das Grab, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Sein Aussehen war wie ein Blitz und sein Gewand weiß wie Schnee. Aus Furcht vor ihm erbebten die Wächter und waren wie tot. Der Engel aber sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch den Ort an, wo er lag! Dann geht schnell zu seinen Jüngern und sagt ihnen: Er ist von den Toten auferstanden und siehe, er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab voller Furcht und mit großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu berichten.      (Mt 28, 1-8)

 

Die Frauen gingen hin, »um nach dem Grab zu sehen«. Viele von uns kennen das: Nach dem Begräbnis eines geliebten Menschen zieht es uns oft zurück ans Grab, an den Ort, wohin wir ihn zuletzt begleitet haben. Es mag eine fast kindliche Sehnsucht sein, ein Heimweh, als wollten wir ihn noch einmal sehen. Oder wir brauchen die Klarheit, dass es wirklich so ist, wie es ist: tot.

Was also erwarten die Frauen an diesem Morgen? Die Bestätigung des Todes Jesu, einen Ort für ihre Tränen, ihre Trauer über den schmerzhaften Verlust – wir kennen das.

Was sie aber dann erleben, ist eine Erfahrung, die konträr zu all ihren Vorstellungen ist. Sie erwarteten Stille und es kommt ein Erdbeben. Sie erwarteten ein verschlossenes Grab und sehen, dass der Stein weggewälzt wird. Sie erwarteten morgendliche Dämmerung und es erscheint ein Engel hell wie ein Blitz, weiß wie Schnee. Solche irritierenden Erfahrungen, die allem widersprechen, auf das wir eingestimmt sind, selbst wenn es das Traurigste ist, kennen wir auch. Sie machen uns Angst, weil sie Fragen aufwerfen, auf die wir keine Antworten wissen. Das Bekannte, und sei es das Grab, war uns vertraut. Jetzt versagt uns die Sprache und verlässt uns die Orientierung.

Diese Frauen aber werden sogleich in all dem ernst genommen. Denn der Engel spricht ihre Furcht an und er benennt genau das, was sie suchen. Aber ganz Neues ist angesagt und dazu musste der Stein weg, damit sie wirklich sehen können: hier liegt niemand, Jesus ist nicht hier, hier findet kein Leben statt.

Darum wird der Engel drängend: Schnell soll die Botschaft der Auferstehung Jesu seine Jünger erreichen!

Ob die beiden Frauen die Botschaft verstehen? Sie handeln jedenfalls zügig, wenden dem Grab den Rücken zu und laufen, um zu erzählen. Und im Laufen und Erzählenwollen gesellt sich zur Furcht bereits große Freude. 

Sie kamen, um nach dem Grab zu sehen – und sie eilen nun, um vom Lebenden zu erzählen. Welche Wende!

Vielleicht erleben wir in diesem Jahr Ostern ähnlich. Wir betrauerten ständig, was alles nicht möglich war, als stünden wir an den Gräbern unserer geliebten Liturgie dieses Festes. Doch nun erzählen wir – manchmal ganz zaghaft – von großer Tiefe und Lebendigkeit in den Weisen, wie wir die heiligen Stunden begangen haben – ob allein oder zu zweit, in kleinen Gemeinschaften oder via Skype. In unserem Leben, so wie es ist, erfahren wir:

ER geht uns voraus dorthin, wo wir sind. ER lebt. Alles Wesentliche ist da.

 

Für später:

»Zentnerschwere Last bleibt Last,

unermessliches Leid bleibt Leid

und der Tod bleibt in der Welt.

Doch Last und Leid und Tod haben nicht das letzte Wort.

Das letzte Wort ist einem anderen vorbehalten.

und der antwortet

auf die Schwerkraft des Todes

mit der Sprengkraft des Lebens.«      (Ursula Schauber)

 

 

Rosemarie Monnerjahn, 13. April 2020

Nächster Abschnitt

Ostersonntag

 

Noch vor wenigen Wochen hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass wir Ostern so verbringen würden. Das Leben hat sich vorerst radikal verändert. Die Pandemie hat unsere täglichen Abläufe umgeformt, unsere geschätzten Lebensvorstellungen verändert und die bewährten Karten zur Navigation des Lebens umgezeichnet.

 

Es ist eine Konsequenz der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und des Kontakts, die uns auf Dinge aufmerksam macht, die sonst unbeachtet bleiben. Dazu gehören unsere Wahrnehmungen der Räume unseres Lebens, der physischen, geistlichen und emotionalen Räume, in denen wir uns bewegen, sowie die ehemaligen Selbstverständlichkeiten dieser Räume, wie die menschliche Berührung und unsere Interaktion.

 

Die Krise hat bisher nur unsere liturgische Praxis von Ostern geändert. Sie hat aber auch das Potential, unsere tiefste innerliche Wahrnehmung des Auferstehungsfestes zu verändern. »Wir haben uns diesen Tag ganz anders vorgestellt.« Jede Frau, jeder Mann der Auferstehungsgeschichten hätte diesen Satz sprechen können. Alle diese Geschichten erzählen von einem Konflikt, nämlich zwischen unseren Vorstellungen, wie Gott mit unseren gefährdeten Räumen umgehen sollte, und der eigentlichen Praxis unseres Gottes. Normalerweise können wir diesen Konflikt überspielen, teilweise sogar durch die Liturgie. Jedoch in diesem Jahr erleben wir Ostern wie die ersten Jünger, nämlich aus der Perspektives des Grabes.

 

Das Grab steht für alle einengenden Räume, die das Leben im Tod festhalten, die uns abkapseln von Wärme und Licht, Begegnung und Berührung. Das Grab ist eine Urmetapher für den verschlossenen Raum, der das Leben einkerkert. Unsere Vorstellung wäre es, dass Gott kommen sollte, um uns von diesen Räumen des Todes zu befreien, uns heraus zu führen. Aber der erste Impuls Gottes ist anders.

 

Markus, Lukas und Johannes erzählen uns, dass der Stein vom Grab schon weggerollt war, bevor die Frauen ankamen. Matthäus gibt uns eine leicht veränderte Version.

 

Nach dem Sabbat,

beim Anbruch des ersten Tages der Woche,

kamen Maria aus Mágdala und die andere Maria,

um nach dem Grab zu sehen.

Und siehe, es geschah ein gewaltiges Erdbeben;

denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab,

trat an das Grab,

wälzte den Stein weg und setzte sich darauf.

Sein Aussehen war wie ein Blitz

und sein Gewand weiß wie Schnee.

 

Indem Matthäus das tut, macht er uns aufmerksam auf eine wichtige Tatsache bezüglich der Störung des Raumes, der den Körper Jesu hielt.

 

Wenn die Frauen in seiner Version erscheinen, ist der Stein noch fest an seinem Platz. Es könnte den Eindruck erwecken, dass Jesus noch nicht auferstanden sei. Aber was nach ihrer Ankunft passiert, bestraft diese Lüge. Es gibt ein Erdbeben und ein Engel wälzt den Stein vor ihren Augen weg. Ein Ereignis, das dazu führt, dass die Wächter in Ohnmacht fallen: »Aus Furcht vor ihm erbebten die Wächter und waren wie tot.«

 

Wir könnten jetzt erwarten, dass schnell nach diesem dramatischen Moment die Erscheinung des auferstandenen Jesus folgt. Aber nein. Die Worte des Engels machen es deutlich, dass Jesus schon fort ist: »Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat.«

 

Das Grab mit seinem weggewälzten Stein ist eines der anschaulichsten Bilder der österlichen Erzählung und das Herzstück jedes Ostergartens. Unsere automatische Annahme ist es, dass der Stein entfernt wird, damit Jesus herauskommen kann. Nach unserem menschlichen Verständnis wäre das auch logisch. Wir stellen uns das gerne so vor, dass der einengende Raum des Grabes von der Auferstehung zerschmettert und gestört wird. Aber Matthäus‘ Erzählart weist darauf hin, dass wir es uns umgekehrt vorstellen sollten. Die Störung kommt nicht von innerhalb des Raumes, sondern von außerhalb. Der Stein wird nicht weggewälzt, um Jesus heraus zu lassen, sondern um die Zeugen hinein zu lassen. Die Frauen, und später die Männer, sehen das leere Grab und fangen allmählich an zu verstehen. Dieses Muster wiederholt sich auf verschiedene Weise in den anderen Erzählungen der Evangelisten. Für die ersten Christen war es besonders wichtig und wirkungsvoll, in den Raum der Abgeschlossenheit (das Grab) hineinzugehen und zu entdecken, dass er ganz anders ist als sie es sich vorstellten.

 

In Konfliktsituationen, wie diese Krise, sind wir genervt und irritiert, dass die Räume unseres Lebens eingeengt und beschränkt sind wie ein Grab. Wir fühlen uns vom Leben abgeschnitten und abgehalten. Was schnell vergessen wird ist, wie oft solche Räume bewusst und gewollt geschaffen werden, wenn es zu unserem Vorteil ist.

 

Die Schließung von Grenzen, den Aufbau von Mauern, den Ausschluss durch Diskriminierung, systematischen Rassismus und den kaltblütigen Egoismus einer Konsumgesellschaft sehen wir als Maßnahmen, um Schutzräume zu bauen. Aber die Auferstehung Jesu enttarnt sie als Grabesräume. Sie engen uns in eine gnadenlose Selbstbeschäftigung ein, während wir Herzenserweiterung üben sollten. Sie beschränken uns auf Abwehr und Ablehnung, wo wir Annahme und Aufnahme üben sollten. Sie lehren uns, die Rosinen heraus zu pflücken, anstatt das ganze Brot zu teilen. Sie verwandeln das Herz zum Ort des Hortens und der Hamsterkäufe, statt das Herz zu dehnen für Hilfsbereitschaft und Heilung. Solche Räume halten uns vom Leben ab, weil Leben aus Liebe besteht, die sich teilt und ausgießt für das Leben der Welt.

 

Der Stein wird weggerollt, damit wir als Zeugen hineingehen und sehen, wie diese Grabesräume wirklich sind. Gewalt, Ungerechtigkeit, die Bereitschaft, Menschen zu opfern für unsere Zwecke, Neid, Gier, Machtspiele und mangelnde Zivilcourage haben den Weg zum Grab Jesu geebnet. Sie tun es bis heute. Wenn wir die Grabesräume nicht betreten, die sie vorbereiten, werden wir nie wissen, wie grauenvoll sie wirklich sind.

 

Besonders hier ist die Störung unserer Gräber wichtig. Bis heute ist es außergewöhnlich wirkungsvoll, in den Raum der Abgeschlossenheit (das Grab) hineinzugehen und zu entdecken, dass er ganz anders ist als wir es uns vorstellten. Wir können über die Natur einiger unserer Praktiken und Gewohnheiten nachdenken und überlegen, ob sie zur Resolution von Konflikt und Ungerechtigkeit wirklich beitragen. Wenn unsere Räume eng und verschlossen werden wie Gräber, sollten wir uns fragen, wie wir diese verschlossenen Räume energisch stören. Die selbsterschaffenen verschlossenen Räume unseres Lebens nennen wir Schutzkästchen. Wenn der Stein weggerollt wird, lernen wir sie beim Namen zu nennen: Sie sind Gräber. Solche Räume sollten wir öffnen für das Leben der Welt. Sie sollten vom Auferstandenen durchgewühlt und gestört werden, damit eine Änderung der Denk-und Handlungsweisen gelingen möge.

 

Besonders eine Erfahrung könnten wir machen, wenn wir diese Grabesräume betreten und betrachten: »ER ist nicht hier.« Grabesräume sind nicht der Ort, wo Gott wohnt. Grabesräume können Gott genauso wenig halten, wie Werkzeuge des Todes ihn festnageln können.

 

Darum wird der Auferstandene immer dort erscheinen, wo die Räume verschlossen sind: hinter verschlossenen Türen, denn sie schützen uns nicht vor der Welt, sondern halten uns von ihr fern; auf der Flucht nach Emmaus, denn sie führt uns weg vom Ort der Auferstehung in alte gewohnte Engen zurück; zu einem Ufer, wo er auf Menschen mit Brot und Fisch wartet, die sich in Nacht umhüllen und in der Leistung verkriechen, um schmerzhaftes Leben zu meiden.

 

Liebe Freunde, es ist schmerzhaft für uns, Ostern so feiern zu müssen in unseren unfreiwilligen verschlossenen Räumen. Sobald diese Tage vorüber sind, können wir uns die Lektion dieser Krise zu Herzen nehmen und alle ehemaligen, freiwilligen, bewussten und gewollten verschlossenen Räume mit dem Elan des Auferstandenen stören. Wenn wir uns nächstes Jahr um das Licht der Osterkerze versammeln, möge es sein als Menschen, die verwandelt und erweitert wurden durch diese Urerfahrung von Ostern.

 

ERIK RIECHERS SAC

Vallendar, den 12.April 2020

 

Dominus flevit. Der Herr weint über Jerusalem

Impuls zu Lk 19, 41-46

 

Es hatte so erfolgversprechend angefangen – in Galiläa -

in jener Landschaft, in der selbst die Natur den Ehrgeiz zu haben scheint, auf engem Raum die Gegensätze miteinander zu vereinen.

»Das Gottesreich ist schon da«, hatte er gesagt.

Allen Unkenrufen und Widersprüchen zum Trotz. - »Glaubt mir, es ist schon da.«

Und sie waren ihm gefolgt.

Zunächst.

Aber dann ?! - Er selbst und erst recht die, die ihm folgten, hatten auch Zweifel. - Unterwegs!

Er selbst musste sich erinnern, wes Geistes Kind er war,

aus welchen Wurzeln er lebte.

Er brauchte Unterstützung von Mose und Elija.

Und er musste schließlich hart auf die Zähne beißen (vgl Lk 9,51), wenn er an Jerusalem dachte. -

Schon als Junge, als er mit seinen Eltern hinaufgezogen war, hatte diese Stadt es ihm angetan. Damals, als er mit Schriftgelehrten über Sacharja reden durfte. Ja, da war es ihm bereits durch die Seele gezuckt:

Wie ein Lichtstrahl hatte es ihn getroffen und wie eine schier unstillbare Sehnsucht war diese Sacharja-Stelle in sein Herz gedrungen. Er kannte sie auswendig. Jedes Wort kannte er auswendig. Er würde sie nie vergessen.

»Und alle«, - so hieß es dort - »alle, die übrigbleiben aus all den Völkern, die wider Jerusalem gezogen, die werden Jahr um Jahr heraufkommen, um den König, den Herrn der Heerscharen anzubeten, und das Laubhüttenfest zu feiern. … An jenem Tag wird an den Schellen der Rosse geschrieben stehen: „Heilig dem Herrn“, und alle Töpfe im Haus des Herrn werden sein wie Opferschalen vor dem Altar. Und alle Töpfe in Jerusalem und in Juda werden dem Herrn der Heerscharen heilig sein; und alle, die Opfer darbringen, werden kommen, und welche nehmen und darin kochen. Und es wird im Haus des Herrn der Heerscharen kein Krämer mehr sein an jenem Tag...« (Sach 14,16ff)

 

Ja, einst würde alles für rein erklärt, der Kochtopf im Haus wird so rein sein wie die heiligen Geräte des Tempels. Und es wird der Tag kommen, da wird es keine Feinde mehr geben. Alle Völker werden Zugang haben zum Herrn.

Ja, einst wird es so sein...

 

Wie weit war er doch von dieser Vision entfernt in den letzten Tagen in Jerusalem, - als Zwölfjähriger war er in den Tempel zurückgerannt vor glühender Leidenschaft.

In diesen Tagen jedoch war er immer froh, wenn er draußen war und die Stadt und den Tempel von außen betrachten konnte; am besten hier vom Ölberg aus.

Vor einigen Tagen hatte es ihm schier das Herz gebrochen, als er sah, wie eine arme Witwe sozusagen ihr letztes Scherflein opferte.

So viel tiefes Vertrauen auf Gott und den Tempel!

Das hatte ihn tief berührt.

Und doch:

Wofür hatte sie dieses Opfer gebracht?

Für den Tempel jedenfalls nicht. (vgl Lk 21,1-4)

Er war sicher: Dieser Tempel war krank, krank wie ein verdorrter Feigenbaum, der seine besten Jahre hinter sich hatte. Er war unfruchtbar geworden, die Zeit seiner Ernte - Vergangenheit. (Vgl Mk 11, 12ff)

Weder die Religionsdiener dort, noch der Tempelkult hatten eine Zukunft! Nein, in diesem Augenblick fand er nichts Gutes mehr am Tempel.-

War vielleicht ganz Israel wie ein unfruchtbarer Feigenbaum geworden, nur noch Blätterwerk?

Gestern hatten ihm einige auf dem Weg zum Tempel zugerufen:

»Gepriesen sei, der da kommt, der König, im Namen des Herrn im Himmel Friede und Ehre in den Höhen!« (Lk 19,38)

Aber bei näherem Hinsehen war im klar: Die wenigsten hatten seine Vision verstanden.

Eher würden die Steine schreien, als die große Menge. (Lk 19,40)

Nein, hier war kein Friede

und kein Platz für die Ehre Gottes. …

Da lag nun die Stadt in voller äußerer Schönheit vor ihm, aber innerlich war sie hohl, sie hatte so keine Zukunft...

Und er konnte nicht mehr an sich halten. Er ließ seinen Tränen freien Lauf. (Lk,19,41)

»Wenn du doch an diesem Tag erkannt hättest, was zu deinem Frieden dient!

Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen.

Denn es werden Tage kommen, da werden deine Feinde einen Wall gegen dich aufwerfen und dich ringsum einschließen und dich von allen Seiten bedrängen und dich dem Erdboden gleichmachen und deine Kinder in dir zu Boden schmettern und keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit deiner gnadenvollen Heimsuchung nicht erkannt hast.« (Lk 19, 42-44).

Und er machte sich tief aufgewühlt auf den Weg hinunter zum Tempel.

 

(Arthur Pfeifer, Jerusalem 2020) )

Nächster Abschnitt

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona?

 

1. Station: Jesus wird zum Tode verurteilt.

Dies ist eine Urteilsgeschichte und wenn Menschen urteilen wollen, suchen sie meistens, jemandem oder etwas die Schuld zu geben. Alle Urteile Gottes suchen unsere Möglichkeiten, nicht unsere Beschämung. Hier hätte es auch so sein können. Pilatus hatte eine Wahl. Er hätte sich einfach weigern können, ein Urteil zu fällen. Nicht jeder Augenblick des Lebens verlangt Vorwurf, Schuldsuche und Verurteilung.

 

Wir kennen diese Station. Erschüttert durch die Corona Krise sind viele schwer beschäftigt mit dem Zyklus von Vorwurf, Schuldsuche und Verurteilung. Sie suchen Sündenböcke: Politiker, die Chinesen, die Italiener, die Touristen, die die Infektion mit nach Hause brachten, die Menschen, die zu Hause bleiben sollten und es nicht taten.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir Möglichkeiten dieser Stunde suchen, statt die Beschämung anderer?

 

Gott der Beschuldigten

und der Beschuldiger,

der den Mund, die Ohren und Herzen aller geschaffen hat,

die in Konflikt stehen.

Mögen wir uns zu dem hin wenden, was gehört werden muss,

weil wir dort Deine Stimme hören werden. Amen   (Pádraig Ó Tuama)

 

2. Station: Jesus trägt sein Kreuz.

Das ist der Augenblick, wo wir eine Last tragen, die wir nicht gewählt haben. Es gibt schwere Lasten, die wir tragen, weil wir sie bewusst auf uns nehmen. Aber es gibt auch unerwartete und unerwünschte Lasten, die andere uns auferlegen. Die Angst, die Besorgnis, das Vorurteil und die Unfähigkeit anderer Menschen führen immer wieder dazu, dass sie ihre Lasten auf die Schultern anderer verlegen.

Wir kennen diese Station. Im Augenblick tragen wir alle die Last der Isolation, der Einschränkung und der intensiven Vorsicht. Nicht jeder geht gut damit um. Es gibt zunehmende Ausbrüche von Irritation, Wut und sogar Gewalt in Familien, unter Freunden oder während des Einkaufs im Lebensmittelladen.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Da Gebet eine genauso tragfähige Option ist wie Protest, könnten wir nicht die Kunst des Segens wieder erlernen, in der wir sanfte Worte des Gebets für und über einander sprechen, um den Schneid und die Güte zu erbitten, die uns zusammenhalten könnte?

 

Belasteter Gott,

Der das Gewicht des Holzes

auf zerrissenen Schultern trug,

wir beten für die Zerrissenen und die Belasteten,

dass sie zusammengehalten werden

durch Schneid und Güte.

Denn du wurdest zusammengehalten

durch Schneid und Güte.  Amen.  (Pádraig Ó Tuama)

 

3. Station: Jesus fällt zum ersten Mal.

Die Last, die uns auferlegt wird, kann so drückend schwer werden, dass wir im Gehen zusammenbrechen, in die Knie gehen, zu Boden fallen. Wir können nicht mehr: die große Sorge um geliebte Menschen aushalten, den gebrechlichen Partner durch den Tag tragen, mit der eigenen Behinderung leben.

Wie schwer ist es in diesen Wochen, den langen Weg unter der Last der Isolation zu gehen, der großen Unsicherheit, wie es in vielerlei Hinsicht weitergeht. Immer wieder brechen Menschen unter der Last der Einsamkeit und Angst innerlich zusammen und fallen hin. 

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir uns selbst auch noch im Fallen lieben? Können wir uns noch am Boden liegend annehmen?

 

Gott der Erde,

dessen Körper – wie der unsrige – von der Erde ist

und der fiel – wie wir fallen – auf die Erde.

Mögen wir dich auf der Erde finden,

wenn wir fallen.

Oh, unser fallender, gefallener Bruder, mögen wir dich finden,

damit wir unsere Geschichten

bewohnen können,

unser Selbst. Amen.      (Pádraig Ó Tuama)

 

4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter

Ein tiefes Band verbindet Mutter und Sohn. Wir kennen andere tiefe Beziehungen von Liebe und Verantwortung füreinander. Wie groß ist das Leid, die Verzweiflung, wenn wir für das geliebte Kind, den geliebten Menschen nichts mehr tun können, wenn er gescheitert ist, am Ende und wir uns ebenso fühlen.

Vielleicht machen wir gerade jetzt eine solch erschütternde Erfahrung. Und die uns aufgezwungenen Verhaltensweisen von Abstandhalten und Isolation, dass wir nicht zueinander können, wie wir wollen, verstärken noch unsere Hilflosigkeit.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir einfach da sein und wahrnehmen, dass auch über unser Scheitern und Versagen hinaus Liebe leben kann?

 

Maria, Mutter des Versagens,

Du begegnetest deinem Sohn am Ende,

an einem Ort jenseits der Worte,

Du musst dich ungläubig gefühlt haben

und leer und allein.

Wir beten, dass wir die Gnade haben mögen,

mit unseren eigenen Geschichten des Versagens zu leben,

wissend, dass Liebe fortdauern kann,

auch wenn Dinge enden.  Amen.                       (Pádraig Ó Tuama)

 

5. Station: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz zu tragen  

Es gibt Augenblicke, in denen wir gerufen werden, einem anderen, der uns fremd ist, zur Seite zu stehen, weil es existentiell wichtig für ihn ist. Wir werden aufgefordert, seine Last auch zu unserer zu machen und sie mitzutragen. Da kann Zögern schon ein Nein bedeuten.

Überall lassen sich Menschen seit Wochen zum Helfen rufen in dieser Krise: Reservisten lassen ihre Arbeit ruhen und melden sich zum Helfen im medizinischen Bereich oder Berufsfremde helfen im Supermarkt, Regale aufzufüllen. Ein Netzwerk junger Leute versorgt Alte mit Lebensnotwendigem.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir auch das Unscheinbare sehen und tun, was gut und hilfreich ist für andere?

 

Simon von Cyrene, 

Fremder aus der Ferne.

Du warst eine Hilfe

für einen unbekannten Mann.

Wir beten für alle, die helfen:

dass ihre Hilfe hilfreich sein möge;

dass ihre Güte gütig sein möge.

Denn deine war es,

obwohl du wusstest,

du konntest nicht

genug tun. Amen.  (Pádraig Ó Tuama)

 

6. Station: Veronika wischt das Gesicht Jesu ab

Die Evangelien erzählen uns diese Geschichte nicht. Aber das Volk Gottes bewahrte sie in seinen Herzen und gab ihr einen Ehrenplatz in seiner Geschichtenerzählung. Sie ist eine Geschichte der Berührung. Sie ist eine Geschichte, in der Schweiß abgewischt wird ohne die Macht zu haben, die Person vor der schweißtreibenden Belastung zu schützen. Sie ist eine Geschichte, in der Tränen weggewischt werden ohne die Fähigkeit zu haben, das Leid zu lindern, das sie erzeugt. Sie ist eine Geschichte einer Frau, die sich bewusst dem Leid stellt, denn Veronika hätte nie diesem Gesicht begegnen oder es sehen müssen, das sie hegt und pflegt.

Wir kennen diese Station. Sie ist die Geschichte von Myriaden von Veronikas in der Weltgeschichte, von Müttern und Vätern, die das für ihre Kinder tun, von Krankenschwestern und Ärzten, die das für ihre Patienten tun, von liebenden Frauen und Männern, die das für ihre Geliebten tun. Während die Pandemie so viele Teile unseres Lebens stilllegen konnte, konnte sie das nicht stilllegen.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir uns bewusst dem Leid anderer stellen, was wir vermeiden könnten, und das Wenige tun, was uns möglich ist, auch wenn es nicht alles ist?

 

Veronika,

deine Geschichte wird angezweifelt,

ist aber wertvoll.

Du tatest, was du konntest,

obwohl  es sehr wenig war.

Mögen wir das Gleiche tun,

auch wenn wir zweifeln. Amen. (Pádraig Ó Tuama)

 

7. Station: Jesus fällt zum zweiten Mal.

Vor zwei Tagen bin ich gestürzt und sehr hart auf den Boden aufgeschlagen. Ich bin aufgestanden, aber ich kam hoch sehr geprellt, mit einer gestauchten Hand und mit Muskeln, die sich vom harten Aufprall versteiften. Der größere Schock war, dass mein Körper versagte. Mein Knie, das mich seit 56 Jahren trägt, weigerte sich, diesen Dienst zu tun. Der Fall hat mir die Luft aus der Lunge gepresst. So musste ich nach Atem ringen, etwas was ich normalerweise mit beiläufiger Leichtigkeit tue. Obwohl ich kein Kreuz trug, schlug ich auf den Boden auf wie Jesus. Oder besser gesagt, Jesus schlug auf den Boden auf wie ich.

Wir kennen diese Station. Harte Zeiten wie diese legen schwere Lasten auf die Schultern und drücken uns nieder. Manchmal fallen wir. Es tut jedes Mal weh, wenn eine frühere Kraft versagt. Dinge, die wir vor der Krise  so leicht gehandhabt haben, sind plötzlich irgendwie schwierig hinzubekommen. Wie Jesus, stehen wir wieder auf, aber es verlangt uns etwas ab und lässt seine Spuren zurück. Unser Selbstvertrauen ist angeschlagen und wir stöhnen unter der Last des Weitergehens. Wir schlagen auf dem Boden auf wie Jesus.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir die Geschichte unseres Hinfallens erzählen ohne den Schmerz zu leugnen und gleichzeitig nicht vergessen, dass das Hinfallen nicht unseren Mut, wieder aufzustehen, bestimmt hat?

 

Gott des Hinfallens,

du spürtest das Hinfallen,

als dein Köper zum zweiten Mal

zu Boden fiel.

Sammle alle, die hinfallen.

Sammle all unsere Hinfälligkeit.

Sammle die Stimmen.

Sammle den Atem,

Der aus unseren Körpern gezwungen wurde.

Denn auch unser Hinfallen

hat eine Geschichte. Amen.   (Pádraig Ó Tuama)

 

8. Station: Jesus begegnet den Frauen von Jerusalem

Nur Lukas mit seiner großen Wertschätzung von Frauen und ihren Gaben erzählt uns die Geschichte der Frauen von Jerusalem (Lk 23, 27-31). Sie erscheinen, zeigen ihre Trauer, sie zeigen ihren Mut und weigern sich, sich vor dieser Stunde zu verstecken. Und Jesus sieht sie. Die Verwundeten begegnen den Verwundeten, die Bekümmerten begegnen den Trauernden.

Wir kennen diese Station. Wir sind auf Erfolg sehr fixiert. Wir wollen mutig, stark und selbstbewusst sein.

Deshalb wollen wir nicht unsere Schwäche, unsere Trauer und unsere Tränen zeigen. Es verlangt den Mut der Frauen von Jerusalem zu erscheinen, Trauer und Tränen zu zeigen. In dieser Zeit der Pandemie und der Krise hoffen wir oft, dass jemand stärker als wir erscheint und die Situation in Ordnung bringt. Aber oft sind wir einander Segen, wenn wir uns gegenseitig zeigen als gleichermaßen belastet, trauernd und schwach. Diese Geschichte lehrt uns, dass Gott uns in solchen Augenblicken sieht.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir einander helfen, die Masken zu senken und einander zeigen, dass wir gesehen werden, auch wenn wir uns ungesehen fühlen?

 

Frauen von Jerusalem,

Während ihr trauertet,

Sah Jesus euch

und sprach mit euch –

Er in seinem Leiden sah euch in eurem.

Mögen wir einander sehen,

auch wenn wir uns ungesehen fühlen.

Denn wenn wir einander sehen,

werden wir selbst gesehen. Amen.   (Pádraig Ó Tuama) 

 

9. Station: Jesus fällt zum dritten Mal.

Wenn wir auf unserem Weg wiederholt hinfallen, wieder auf der Erde liegen, uns mit jedem Fallen schwächer fühlen, dann drohen wir zu aufzugeben. Wohl wissend, dass dies unser ureigener Weg ist, machen sich Mutlosigkeit und Verzweiflung breit. Wie oft haben wir, physisch oder psychisch auf dem Boden liegend, schon gedacht oder geschrien: »Ich kann nicht mehr!«  - und uns dann mit letzter Kraft erhoben für den nächsten Schritt.

Wie vielen kranken Menschen geht es in genau diesem Augenblick so. Alle, die auf den Intensivstationen der Welt immer mehr Menschen zur Seite stehen müssen, die nach Luft ringen, haben immer wieder Momente, in denen sie körperlich und seelisch kraftlos am Boden liegen.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir auf unserem Weg bleiben, auch wenn wir immer wieder hinfallen? Können wir einander helfen, die Treue in den Dingen zu halten, die jetzt gefordert sind?

 

Jesus der Erde,

du wurdest zum Tod geführt

wegen der Art, wie du lebtest.

Hilf uns, so zu leben;

gehend und fallend, und gehend

und fallend,

wie du,

in den Weisen der Lebenden

und der Toten. Amen.    (Pádraig Ó Tuama)

 

10. Station: Jesus wird ausgezogen.

Vor den Augen anderer ausgezogen zu werden, ist eine sehr unangenehme Erfahrung: hilflos wie ein Säugling können wir uns nicht wehren, nackt und bloß den Blicken anderer ausgesetzt zu sein. Wie oft fühlen sich Gefangene total entwürdigt, wenn sie mit dieser Methode regelrecht gefoltert werden. Bloßgestellt fühlen wir uns aber genauso, wenn Menschen uns mit Worten in der Öffentlichkeit »ausziehen«. Ohne Schutz stehen wir dann da und würden uns am liebsten verkriechen.

Viele Menschen sind seit Wochen nervös und neigen zur Panik. Manche neigen dazu, nicht nur unachtsam, sondern schnell auch erniedrigend mit anderen, den Nächsten, umzugehen.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona?  Können wir so aus unserer von Gott gegebenen Würde leben, dass auch Entblößung uns dies nicht nehmen kann und wir so ein Zeichen setzen? 

Jesus des Fleisches,

Nackt kamst du aus dem Mutterschoß

und nackt wirst du gemacht für das Kreuz.

Was bestimmt war

zur Erniedrigung und Bloßstellung,

trugst du

mit Würde und Trotz.

Mögen wir das Gleiche tun,

weil du es brauchtest,

weil wir es brauchen.  Amen.     (Pádraig Ó Tuama)

 

11. Station: Jesus wird ans Kreuz genagelt.

Jesu Weg, auf den er sich im tiefen Bewusstsein seines vom Vater Geliebtseins festgelegt hat, führte ihn hierhin: unentrinnbar festgenagelt wird er auf ein Instrument des Todes. Er hatte es kommen sehen, doch er ist nicht ausgewichen, nichts und niemanden hat er preisgegeben. Alles, wofür er steht, ist mit ihm an dieses Holz geschlagen.

Unsere Krise zeigt uns – wie alle Krisen es tun – wie es um uns wirklich steht: Wir geraten in Panik, wir schwanken wie ein Schilfrohr zwischen allen möglichen Meinungen hin und her, alles, was (scheinbar) Halt bot, bricht weg. Wo sind die Menschen, die fest gehen auf ihrem Weg des Glaubens und Vertrauens, die nicht an ihrem Geliebtsein zweifeln, auch wenn Krankheit oder sogar Tod drohen?

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir mit Jesus und wie er an die Kreuze unseres Lebens herantreten?

Jesus von Nazareth,

Dieses Kreuz war eine Folter.

Es gibt nur Leben,

weil du es hohl machtest.

Bring uns Leben, Jesus,

besonders wenn wir

an Orten

der Toten sind.

Weil du sogar Leben brachtest

zu den Werkzeugen des Todes. Amen.   (Pádraig ÓTuama)

 

12. Station: Jesus stirbt am Kreuz.

Der Tod Jesu ist kein Stereotyp. Er ist kein alter Mann, der auf ein langes erfülltes Leben zurückschauen kann. Er hat nicht alle seine Ziele erreicht und nicht alle seine Pläne erfüllt. Er stirbt nicht in der Geborgenheit seines Bettes, umgeben von den Menschen, die er liebt. Er stirbt nicht im Luxus eines Krankenzimmers, versorgt von sorgsamem medizinischem Personal. Sein Schmerz wird nicht durch Schmerzmittel gelindert, seine Isolation nicht gelöst durch Gesellschaft.

Wir kennen diese Station. Die Statistik über die Zahl der Toten, die wir täglich sklavisch in den Nachrichten verfolgen, erzählt uns keine wahre Geschichte. Jeder dieser Todesfälle war wie der Tod Jesu. Diese Menschen waren erfüllt von Bedauern, unerfüllten Träume und von Sehnsucht, die abgeschnitten worden ist. Diese Todesfälle waren ein plötzlicher Bruch des Lebens durch Schmerz und Isolation, abgeschnitten von den Menschen, die sie liebten und die nicht dabei sein dürfen in der Stunde ihres Todes Die Zahlen sind unerträglich anonym. Tod ist tief persönlich, für die Sterbenden sowie für jene, die bei ihrem Kreuz stehen.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Vielleicht können wir uns erinnern, dass die Tage der Corona kein Zeitungsbericht, kein Witz, keine Verschwörungstheorie, keine Statistik und keine Unannehmlichkeit sind für die Menschen, die gestorben sind und für ihre Trauernden. Wenn wir für sie beten wollen an dieser traurigsten Station einer jeden Liebesgeschichte, sollten wir uns fragen: Wie nah an dieses Kreuz wollen wir kommen?

 

Jesus der Vorstellungskraft,

Du bist nie alt geworden, immer ein junger Mann,

und die meisten von uns werden älter

als du es wurdest.

Wenn Leben abgeschnitten werden,

hinterfragen die Lebenden den Sinn des Lebens.

Mögen wir mit Sinn leben,

auch wenn der Sinn verblasst,

Sinn schaffend,

Damit wir etwas haben wofür es sich lohnt zu leben. Amen (Pádraig Ó Tuama) 

 

 

13. Station: Jesus wird in die Arme seiner Mutter gelegt.

Diese ist die Geschichte, wo wir unseren schlimmsten Befürchtungen gegenübertreten. Maria will dieser Stunde genauso wenig ins Auge schauen wie alle anderen Väter und Mütter, die ich gekannt habe. So sollte die Geschichte nicht enden. Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben. Die Frau, die ihr Kind in den Armen schaukelte, wiegt nun seinen leblosen Leichnam in ihren Armen. Aber, wie Liebende es tun, sie umarmt ihn in guten wie in schlechten Tagen, im Leben und im Tod. Das ist keine Liebesgeschichte, weil sie ein Happy End hat. Es ist eine Liebesgeschichte, weil sie für den Geliebten am Ende erscheint.

Wir kennen diese Station. Wir treten einigen unserer schlimmsten Befürchtungen gegenüber in diesen Tagen. Eltern sorgen sich um ihre Kinder. Kinder fürchten um die Sicherheit ihrer Eltern und Großeltern. Manche haben Angst davor, am Virus zu sterben, in Schmerz und alleine. Andere fürchten den Gedanken, dass sie andere infizieren könnten, dass sie Krankheit in ihr Haus und zu ihren Geliebten bringen könnten. Das ist nicht, wie das Leben sein sollte. Hier werden wir konfrontiert mit einer der wirklich schwierigsten Fragen der Liebe: Wie werden wir unseren Ängsten füreinander ins Auge schauen, nun da die schlechten Tage gekommen sind?

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Wir können am Ende erscheinen und die Leben, die uns in die Armen gelegt worden sind in diesen traurigen Tagen, so lieben wie in den Tagen der Freude.

 

Maria, Mutter des Todes,

Du hast den Leichnam deines jungen Sohnes

- die schlimmste deiner Befürchtungen –

in deinen Armen gehalten,

als er dorthin ging, wohin du noch nicht gegangen bist.

Wir halten dies fest

mit Schweigen und mit Kunst.

Mögen wir auch von der Angst lernen,

denn Angst

wird uns vor nichts erretten. Amen. (Pádraig Ó Tuama)

 

 

14. Station: Jesus wird ins Grab gelegt.

Dies ist die Station, wo wir Abschied nehmen von denen, die wir geliebt und verloren haben. Dies ist der Ort, wo die Menschen, die Jesus geliebt haben, Pause machen, um ihren Verlust zu würdigen. Für sie ist der Tod Jesu ein Verlust der Liebe, der Träume, der Beziehung, der Zuversicht und von so vielen Hoffnungen. Ein Leben, das ihnen so vieles bedeutete, muss jetzt gewürdigt werden. Sie müssen Pause einlegen und sagen, was er ihnen bedeutet hat, dass sie wissen, was sie an ihm hatten. Sie müssen anderen erzählen können, was es sie kostet, ihn verloren zu haben. Es ist die Art und Weise, wie sie sagen: Er war uns kostbar.

Wir kennen diese Station. Wir haben vieles verloren in diesen Tagen, sei es die Sicherheit über unsere Zukunft oder die naive Vorstellung, dass wir unbesiegbar sind.  Wir haben einige Verbindungen verloren, die uns früher zusammengehalten haben. Viele haben ihre finanzielle Sicherheit verloren. Viele, viel zu viele, haben ihre geliebten Menschen verloren. Wir müssen würdigen, was diese Verluste uns bedeuten. Das Ende einer Liebesgeschichte ist nicht das Ende unserer Erzählung, sondern der Anfang. Wenn wir geliebt und verloren haben, haben wir eine Geschichte zu erzählen. Und dies ist der Ort, wo wir sie erzählen sollten.

Wie können wir lieben in den Zeiten der Corona? Können wir halt machen und die Geschichten unserer Verluste offen, authentisch und ohne Beschämung erzählen, als der letzte große Akt der Liebe, die alle Verluste würdigt? Konflikte und Krisen sind der Geburtsort des Erzählens. Welche Geschichten werden wir erzählen über die Tage der Corona hinaus?

 

Jesus des Unerwarteten,

Zumindest für einen Teil deines Lebens

Hast du dir nicht vorgestellt, dass es so endet.

Jedoch, sogar am Ende,

bist du standhaft in deiner Überzeugung geblieben.

Jesus, halte uns standhaft.

Jesus, halte uns standhaft.

Einfach so, Jesus, halte uns standhaft. Amen (Pádraig Ó Tuama)

 

Nächster Abschnitt

Palmsonntag

 

Gebet

Bescheidener Jesus,

Du bist in einer Stadt angekommen wie ein Bauer und ein König

und hast eine Zündschnur angezündet, die auf ein Feuer gewartet hat.

Und es hat doch vor nichts bewahrt.

Wenn wir in den Konflikt gehen,

hilf uns den Zugang zu finden, der wahrhaft ist.

Nicht weil er uns Sicherheit gibt,

sondern weil er Integrität hat.

Genau wie du.

Amen .

                                          Pádraig Ó Tuama

 

 

Text: Die Passion nach Matthäus (Mt 26, 14-27,66)

 

Die Passionsgeschichten der Evangelien leiden sehr an ihren geerbten Auslegungen. Kaum beginnen wir sie zu hören und schon haben wir sie kategorisiert und abgeschottet als Geschichten des Leidens. Wir sind es gewohnt, die Betonung auf das Leid Jesu zu legen: Wie schmerzhaft es war, wie lang es gedauert hat, was es ausgelöst hat und was es alles mit Jesus getan hat. Meistens wird diese Betonung auf das Leid zugleich verbunden mit Beschämung und Schuld. Er hat uns so sehr geliebt und so haben wir ihn behandelt.

 

Doch eine Passionsgesichte ist tiefer, reicher und komplexer als das. Im Kern ist sie eine Liebesgeschichte. Das enthält das Wort »Passion« in sich. Passion bedeutet eine starke, leidenschaftliche Hingabe wie auch das Leid, das so eine Hingabe mit sich bringen kann. Wenn wir einen Menschen in Bezug auf etwas als passioniert beschreiben, dann deuten wir auf etwas in seinem Leben, das er so liebt, dass er sogar bereit wäre, dafür zu leiden.

 

Die Passionsgeschichte Jesu ist eine Liebesgeschichte, aber sie ist keine romantische Geschichte. John Shea fragte einmal eine Gruppe von Menschen, ob sie bereit wären, alles zu tun, um die Liebe vor jedem Angriff zu schützen. Jeder Mensch im Raum sagte sofort ja. Dann bestand er darauf, dass wir die Liebe gegen jede Form der Romantisierung verteidigen müssten, denn sie ist ein Angriff auf die Liebe. Sie nimmt weder die Liebe noch die Liebenden ernst.

 

Die Passionsgeschichte nach Matthäus ist eine Liebesgeschichte, aber keine romantische Geschichte, eben weil sie die Liebe und die Liebenden ernstnimmt. Im Gegenteil zu romantischen Geschichten scheut sie nicht die kritische und durchdringende Frage aller Liebe. Wie geht die Liebe in Zeiten der Krise?

 

»Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt« (Jer 31,3) ist eine Aussage, die nicht authentisch ausgesprochen werden kann, wenn wir nicht die Frage stellen und beantworten: Wie werde ich dich lieben in Zeiten der Krise? Es gibt kein Eheversprechen ohne die Worte »in guten wie in schlechten Tagen«. Ich habe noch nie einer Hochzeit vorgestanden, wo ich und alle Anwesenden dem Paar nicht von ganzem Herzen viele gute Tage gewünscht haben. Aber die Liebe ist für alle Tage da. Die Passion ist Teil des Spieles.

 

Die Passionsgeschichte dieses Palmsonntags weckt diese Frage in uns während dieser Zeit der Pandemie. Wie geht Liebe in Zeiten der Krise? Wie geht Liebe in Zeiten der Corona? Wir wissen, wie Liebe geht in guten Tagen. Wir umarmen uns, berühren einander, teilen Brot, Zeit und Raum miteinander. Und im Handumdrehen ist uns das alles zu Ende gegangen. Alle einfachen und erprobten Mittel sind uns in den Tagen der Isolation und der Distanzierung genommen worden. Wir sind bei den schlechten Tagen angekommen. Wir sind bei unserer Passionsgeschichte angekommen.

 

Jede Station dieser Geschichte ist ein Ort, an dem unsere Liebe mit dem Leid konfrontiert wird. Werde ich ringen um das, was ich liebe? Wenn Liebe authentisch ist, dann sucht sie einen Weg durch und über die Krise hinaus. Ich nenne nur zwei solche Stationen der Liebe in den Zeiten des Leides.

 

Das Pessachmahl wird vorbereitet, aber dieses Fest der Freude wird von Traurigkeit und Sorge überschattet. Fragen der Furcht beherrschen das Gespräch.

 

Was verlangt die Liebe und tut Jesus? Er spricht die Themen im Raum offen an und dann ändert er das Mahl, um es an die Realitäten, die sie durchleben, anzupassen. Er spricht von der Zukunft, von dem, was er bereit ist, von sich zu geben, um eine Zukunft zu sichern für die Menschen, die er liebt. Aber er sagt das Mahl nicht ab und streicht nicht das Pessachfest. Wenn nicht nach traditioneller Weise, dann auf sinnvolle Weise.

 

Ostern wird in diesem Jahr nicht gestrichen. Wir können das Fest nicht auf traditionelle Weise feiern, aber sicherlich auf eine sinnvolle Weise. Wir können uns nicht an unseren gewohnten Orten und in gewohnten Zahlen treffen, aber wir können verbunden bleiben und unsere Sorgen offen miteinander teilen. Brot, das den Eingeschlossenen geliefert wird, ist Brot, auch gebrochenes und geteiltes Brot. Die Liebe funktioniert auch in den Zeiten der Corona.

 

Im Garten von Gethsemane sind guter Wille und Schwachheit in den Freunden Jesu verwoben. Die Jünger möchten mehr tun als das, wozu sie in der Lage sind. Sie würden gerne wachen und beten, schlafen aber immer wieder ein. Dreimal kommt Jesus zu ihnen zurück. Das erste Mal bittet er um ein bisschen mehr, das zweite Mal lässt er sie schlafen und das dritte Mal weckt er sie. Es kann schmerzhaft sein, die Unfähigkeit in anderen zu erfahren, die uns nicht geben kann, was wir in einer Stunde der Not und der Krise möchten. Doch so unbefriedigend das auch ist, was verlangt jetzt die Liebe? Die Jünger sind zwar nicht in der Lage, so achtsam zu sein wie Jesus es brauchte und gerne hätte, aber keiner von ihnen geht fort. Keiner lässt ihn einfach zurück. Ihre Liebe vermag nicht alles zu tun, aber sie ist in der Lage, das zu tun. Jesus schickt seinerseits auch keinen davon. Er wollte und brauchte ein bisschen mehr von seinen Freunden, aber ihre Gegenwart zählt bei ihm. Besser fehlerhafte Gegenwart als vollkommene Abwesenheit.

 

Wir erfahren in unseren Quarantänen, Selbstisolation und sozialer Distanzierung schmerzhafte Augenblicke. Wir sind nicht alles, was wir sein könnten und vielleicht sein sollten füreinander. Vielleicht möchten wir mehr tun für andere und sind zu erschöpft, um es zu tun. Aber wir können zueinander halten. Wir können uns weigern, die Ausrede unserer Schwachheit und Unzulänglichkeit anzuwenden, um davonzulaufen. Unsere Liebe vermag nicht alles zu tun, aber das kann sie sicherlich tun. So geht die Liebe in den Zeiten der Corona.

 

Ich habe nur zwei Station erwähnt, aber es gibt viele andere. Es gibt Augenblicke der Verlassenheit: »Da verließen ihn alle Jünger und flohen.« Es gibt Augenblicke, wenn gute Freunde uns enttäuschen: »Ich kenne den Menschen nicht.« Es gibt Zeiten, wenn unser Wert und unsere Würde in Frage gestellt werden von jenen, denen wir geholfen, die wir geheilt und so sehr geliebt haben: »Der Statthalter fragte sie: Wen von beiden soll ich freilassen? Sie riefen: Barabbas!« Es gibt den Schmerz, zuschauen zu müssen, wie andere in unsere Leidensgeschichte hingezogen werden und nicht in der Lage zu sein, das zu verhindern: »Auf dem Weg trafen sie einen Mann aus Zyrene namens Simon; ihn zwangen sie, Jesus das Kreuz zu tragen.« In diesen verwirrenden Tagen kennen wir sie alle. Jeder davon bittet uns, eine Passionsgeschichte zu erzählen: Wie geht die Liebe in den Zeiten der Corona?

 

In der Karwoche möchten Rosemarie und ich mit euch die Kreuzwegstationen gehen, denn sie sind immer die Augenblicke, in denen die Liebe das Leid konfrontiert und den Weg durch und über es hinaus sucht. Vierzehnmal wollen wir mit Jesus eine Pause einhalten. Jedes Mal werden wir die Orte unseres Lebens suchen, wo wir diese Station kennen, wo unsere Liebe nun konfrontiert wird mit ähnlichem Leid in dieser Zeit der Pandemie. Jedes Mal werden wir eine Frage stellen, die uns helfen könnte, unsere Liebe zu Gott, zueinander, zu seiner Schöpfung und zu uns selbst so zu leben, dass sie durch und über die Krise hinausgeht, die wir momentan so stark spüren. In unserer Passionsgeschichte werden wir tun, was Jesus in seiner tut, denn so eröffnen wir mit ihm die Horizonte der Hoffnung. Und dann schließen wir mit einem Gebet von Pádraig Ó Tuama, einem Poeten des Gebets.

 

So können wir durch die Liebesgeschichte der Passion ziehen mit der Ernsthaftigkeit und Intensität, die sie verdient hat. So können wir durch die Karwoche gehen. Mögen die Tage eine Prozession der besinnlichen Hoffnung für uns sein. Vielleicht helfen sie uns, Menschen aus seinem Geist zu sein, unser Gebet lebend, unser Leben betend, bis Liebe und Leid sich umarmen und eine wundersame Liebe uns lehrt, wie wir unsere Wunden auch küssen können.

 

 

Für Zeiten des Leidens

Mögest du gesegnet sein im heiligen Namen derer,

Die ohne dein Wissen dir helfen,

Deinen Schmerz zu tragen, und ihn lindern.

 

Möge dich Heiterkeit begleiten,

Wenn du aufgerufen wirst,

Das Haus des Leidens zu betreten.

 

Möge dich stets ein lichtes Fenster überraschen.

 

Möge dir die Weisheit zuteilwerden,

Auf falschen Widerstand zu verzichten;

Klopft das Leiden an die Tür deines Lebens,

Mögest du schon seine Abschiedsgaben erahnen.

 

Mögest du imstande sein, die Früchte des Leidens zu

empfangen.

 

Möge das Gedächtnis dich segnen und behüten

Mit dem hart verdienten Licht vergangener Plagen;

Und dich erinnern: Du hast schon überlebt, und

Wenn die Nacht am tiefsten ist,

Ist der Tag am nächsten.

 

Möge die Gnade der Zeit deine Wunden heilen.

 

Mögest du erkennen, dass selbst der schwerste Sturm

Dir kein einziges Haar wird krümmen können.

                                             John O‘Donohue

 

ERIK RIECHERS SAC

Vallendar, den 05. April 2020

Nächster Abschnitt

Eine Lektion der Berge

 

Immer wieder begegnen uns Berge in der Bibel als besondere Orte der Gottesbegegnung und Klärung – etwa im Sinai, wo Mose Gott begegnet und die 10 Worte empfängt oder auf dem Berg, wo Jesus verklärt wird oder wenn Jesus sich auf den Berg zurückzieht zum Gebet.

Der langjährige Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher liebte es, die Beziehung zwischen Berg und Mensch zu entfalten, weil er der Überzeugung war, dass sie eine Hilfe für das Menschwerden bieten kann. In »Botschaft der Berge« schrieb er 2009:

»Die Berge erteilen ihre heilsame Lektion über die Kleinheit des Menschen. Und das Wissen über diese Kleinheit ist und bleibt der Anfang aller Weisheit.

Die Botschaft  der Felsfluchten, der Schuttströme und Wasserfälle ist eine vernichtende Lektion gegen die Hybris einer Epoche, in der man die Schöpfung streckenweise mit einem Großlabor oder einer Maschinenhalle, mit einem Bereich unbeschränkter Machbarkeit verwechselt hat.

Sie ist eine eindrucksvolle Korrektur aller jener Ideologien, die den Menschen zum absoluten Mittelpunkt allen Denkens und zum Maß aller Dinge gemacht haben – jener Grundhaltung, die von der uralten Stimme fasziniert ist, die von Anfang an durch alle Zeiten immer wieder die Parole flüstert: `Ihr werdet sein wie Gott…‘

Diese Botschaft der übermächtigen Berge ist wie ein leises Lachen über alle jene Programme und Heilsbotschaften, die davon ausgehen, der Mensch könne sich selbst aus seinen quälenden Fragen und Problemen erlösen und befreien,  . . .

Das stumme Stehen und Staunen vor den Urgewalten und Riesenformen der Berge ist eine heilsame Belehrung, ein Zurechtrücken der Wirklichkeit, eine Offenbarung der Wahrheit: der Wahrheit über meinem Kleinsein, meine Winzigkeit, meine Zeitlichkeit, meine Grenzen, mein Angewiesensein gegenüber dem Gewaltigen, der hinter dieser Schöpfung steht und lebt.«

Zeiten wie diese legen lange geübte Grundhaltungen bloß. Sie irritieren und erschüttern uns, weil sie nicht mehr funktionieren. Sie können aber zu Bergerfahrungen werden - und Menschen wie Reinhold Stecher zu vertrauenswürdigen und guten Bergführern.

 

Rosemarie Monnerjahn, 4. April 2020

Nächster Abschnitt

Gebet als Kern des Lebens

 

Vor einigen Tagen ging es in einem Radiobeitrag darum, wie stark unsere derzeitige Krise unsere Kinder betrifft; denn ihr Alltag ist ja nicht nur sehr eingeschränkt, sie spüren oft existentiell, doch unausgesprochen die Unsicherheiten der Erwachsenen und brauchen unsere Hilfe in ihren Ängsten und Nöten. Sich Zeit nehmen, hinhören, mit ihnen reden wurde im Beitrag genannt, auch Rituale finden und leben – und dann das Beten, sich einem Höheren anvertrauen, gemeinsam Gebete formulieren!  Wer hätte noch vor Wochen in unserer säkularen Welt einen solchen Rat im Rundfunk erwartet?

Mich erfüllte dies mit stiller Freude und ein Gedanke von Mahatma Gandhi kam mir in den Sinn: »Das Gebet ist die Seele und das wahre Wesen der Religion. Darum muss das Gebet der Kern des Lebens eines jeden Menschen sein, denn kein Mensch kann ohne Religion leben.«

Seit Jahrzehnten leben immer mehr Menschen in der egozentrischen, überheblichen und sehr innerweltlichen Vorstellung, ohne Religion leben zu können. Doch vielleicht wird es zum Segen dieses Jahres, dass wir Menschen wieder eine Ahnung davon bekommen und uns ergreifen lassen dürfen »von dem, was uns unbedingt angeht« (Paul Tillich). Wir erkennen mehr denn je die Verwobenheit miteinander und kommen der Verwobenheit mit Gott, dem Urgrund und Ziel allen Lebens, wieder auf die Spur. Wir erinnern uns des Betens zu diesem Gott und beginnen, die Beziehung (wieder) zu pflegen zu IHM, der alles trägt und hält. 

Wir wissen nicht, was morgen ist oder nach den Sommerferien – doch wir wussten es nie!

Wird aber das Gebet zum Kern unseres Lebens, dann können wir unsere Nöte Gott ans Herz legen, aber auch den Dank für alles, was uns geschenkt wurde und täglich neu wird. Und auch heute können wir mit den alten Worten des Psalms 36 sprechen:

HERR, deine Liebe reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue bis zu den Wolken.

Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes, deine Urteile sind tief wie die Urflut. Du rettest Menschen und Tiere, HERR.

Wie köstlich ist deine Liebe, Gott! Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel.

Sie laben sich am Reichtum deines Hauses; du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen.

Denn bei DIR ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht.

 

Rosemarie Monnerjahn, 3. April 2020

Nächster Abschnitt

Das Herz des Abenteurers IV

 

Diese Krisenzeit der Pandemie tut, was alle Krisenzeiten tun: sie zeigen uns, was für ein Herz in uns pocht. Haben wir das Herz des Abenteurers, das Verantwortung für das Leben übernehmen will? Oder schlägt in uns das Herz des Touristen, das andere braucht, um die Verantwortung für das Leben zu übernehmen? Dafür haben wir eine Geschichte.

In Lk 18, 9-14 geht es um einen Pharisäer und einen Zöllner. Interessanterweise hat aber der Zöllner das Herz des Abenteurers, denn in seiner Bitte um Erbarmen will er Verantwortung für sein Leben übernehmen. Der Pharisäer dagegen hat das klassische Herz eines Touristen. Er braucht andere, um sich groß und stark zu fühlen, und damit übernehmen sie die Verantwortung dafür, wie er sich fühlt und wie er lebt.

Wie geht das? Im Pharisäer haben wir einen Menschen, der zutiefst überzeugt  ist von seiner Gerechtigkeit. Er setzt auf das, was er aus sich bewirkt hat. Aber richtig gefährlich wird er erst durch die Kopplung dieser Überzeugung mit der Verachtung anderer.

Oberflächlich betrachtet sprechen beide (Pharisäer wie Zöllner) mit Gott. Oberflächlich betrachtet geht es um Gebet. Aber wirklich nur auf der Oberfläche. Denn der Pharisäer setzt sich nicht mit Gott auseinander, sondern mit dem Zöllner. Gott ist nur der Zuhörer, die Audienz. Er soll lediglich hören, wie viel besser der Pharisäer abschneidet als der Zöllner.

Der Pharisäer bedient sich einer uralten Taktik des Touristenherzens. Wenn ich nicht wirklich besser, stärker, größer werden will, dann werde ich eben nur mich als besser, stärker und größer darstellen. Um das zu bewerkstelligen, wähle ich mir einen schwächeren Gegner. Hier legen wir die Messlatte zu niedrig an.

Und mit wem setzt sich der Pharisäer auseinander? Er vergleicht sich mit Räubern, Betrügern, Ehebrechern und dem Zöllner. Leichte Beute. Das Herz eines Touristen braucht den anderen, um die Verantwortung für ein authentisches Leben zu meiden. Das läuft unter dem Motto:  Ich mag zwar nicht vollkommen sein, aber besser als diese Typen bin ich auf jeden Fall.

Dagegen setzt sich der Zöllner mit Gott auseinander. Er hebt seine Augen nicht auf, aber er hebt das Gespräch auf die höhere Ebene. »Gott sei mir gnädig!« Du sei mir gnädig. Ein »Ich« und »Du«, in dem der Zöllner anschaut, was zwischen ihm und Gott läuft. Der Zöllner wählt sich ein stärkeres Gegenüber, um stärker zu werden. Hier  ist das Herz des Abenteurers. Es ist wie beim Sport. Wenn der Sportler stärker werden will, muss er einen stärkeren Trainingspartner aussuchen, der ihn herausfordert, der ihn zwingt, mehr herauszuholen und besser zu werden. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht!

Aber wenn ich immer einen schwächeren Partner aussuche, kann ich immer gewinnen, aber mich nicht bessern. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt.

Darum geht es: Gott zum Gegenüber, zum Partner zu nehmen. Sich mit Gott auseinanderzusetzen. Gotthard Fuchs war vor Jahren bei  uns zu Gast und sprach über die Wüstenväter. Diese Wüstenväter waren immer bedacht, sich nicht mit den Sünden anderer zu beschäftigen, (mit den ebenso schwachen wie sie), sondern mit ihrer eigenen Beziehung zu Gott.

Auch diese Krisenzeit tut das mit uns. Sie öffnet uns für eine wichtigere, wenn unangenehmere Frage: Was ist mit mir los? Anstatt zu prahlen mit »Zwei Mal in der Woche faste ich!« kann die Frage gestellt werden: »Und habe ich danach immer noch Zuviel?«

Was ist mit den anderen 5 Tagen in der Woche? Stopfe ich mir dann alles rein, dessen ich mich an den zwei Tagen enthalten habe? Wenn ich zwei Tage lang nichts esse, gebe ich es den Armen, oder horte ich es für mich für nachher? Denken wir nur an Masken, Toilettenpapier, und Medikamente.

Macht mich das Fasten leer für das Wesentliche, oder füllt es mich mit prahlerischer Selbstgefälligkeit, die mehr Platz in mir aufnimmt als es je 6 Mahlzeiten könnten? Wenn ich schon auf vieles verzichten muss in diesen Tagen der Isolation, macht es mich weitherziger, oder schrumpft der Horizont meiner Sorge zu der Breite meiner Schulterblätter?

Das sind die Fragen, die hochkommen, wenn wir uns mit Gott auseinandersetzen und Verantwortung für unser Leben übernehmen wollen.

Den zehnten Teil gebe ich dem Tempel. Aber was mache ich mit den 90%, die ich behalte? 90% von Überfluss ist immer noch Zuviel!   Kann ich mich von etwas über den vorgeschriebenen 10% trennen? Werde ich mich streng an die Vorschriften dieser Tage halten, oder bin ich bereit auch mehr zu tun, mehr zu geben als das, was vorgegeben wird? Nicht einmal in einer Zeit, in der so viele unsere Mitbürger erkranken und sogar sterben, haben wir es geschafft, Menschenleben über Wirtschaftsfragen zu stellen.

Das sind die Fragen, die hochkommen, wenn wir uns mit Gott auseinandersetzen und Verantwortung für unser Leben übernehmen wollen.

Jeder Mensch kann einen Ringkampf mit einem Kleinkind gewinnen. Aber wir sollten es wie Jakob machen und mit Gott ringen, und zwar durch lange, dunkle Stunden bis das Licht zurückgekehrt.  Das ist ein Kampf, der sich lohnt, der uns stärkt, der uns aufbaut und Lebensunterweisung mit sich bringt.

Wir können es mit dem Zöllner halten und den abenteuerlichen Weg der Lebensmehrung gehen: Dann können wir beten: Herr, hilf mir großzügiger zu werden. Herr, hilf mir gerechter zu werden. Herr, hilf mir liebender zu werden. Das ist die Sprache des Herzens des Abenteurers, das Verantwortung für das Leben übernehmen willJeder Vergleich ist diabolisch. Deutschland mit Italien, unser Gesundheitssystem mit denen in anderen Ländern zu vergleichen kann genau zu der Haltung führen, die wir im Pharisäer erkennen. Wir sind privilegiert, die Stunde in diesem Land mit seinen Mitteln zu durchstehen. Jedoch muss Privileg uns nicht überheblich machen. Wir können auch fragen, welche Verantwortung für das Leben der Welt diese Privilegien mit sich bringen. Flüchtlinge, Kriegsopfer, Frauen, die in Zeiten der Corona  an steigender häuslicher Gewalt leiden, Obdachlose, die keinen Ort haben, an dem sie Quarantäne leben könnten, afrikanische Brüder und Schwestern, die auf den Virus warten ohne die grundlegendste medizinische Versorgung: Sie sitzen alle hinten im Tempel. Diese Krisenzeit kann uns nicht zwingen, sie zu beachten und ihnen zu helfen. Jedoch kann diese Krisenzeit uns auch nicht zwingen, die Haltung einzunehmen, die sagt: »Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin«. Diese Krisenzeit wird lediglich zeigen, welches Herz in uns pocht.

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 02. April 2020

Nächster Abschnitt

Du bist, was ich bin, und ich bin, was Du bist

 

Sind wir in diesen herausfordernden und für uns alle ungewöhnlichen Zeiten damit beschäftigt, uns nur um uns selbst zu sorgen, das Möglichste herauszuholen, soweit es geht und ohne Rücksicht? Sind wir Menschen, die emsig und oft eisig nur ihre eigenen Kammern zu füllen trachten?

 

Oder können wir uns beschränken, gerade weil der andere es braucht, der andere, der genau so ist wie ich – ein Mensch, voller Wert und Würde? Der andere, der vielleicht schwach ist, alt, angeschlagen? Kann ich verzichten, damit er leben kann? Kann ich Distanz wahren, um ihn und andere zu schützen?

 

Ich lade Sie ein, Leben neu zu sehen mit den Augen eines Mannes, der in der kurzen Spanne seines Lebens viel rang und litt: Vincent van Gogh. Hier seine Worte:

 

Lass uns ruhig weitergehen,

jeder auf seinem Weg,  

auf das Licht zu, »sursum corda«,      

als Menschen, die wissen,

dass wir sind, was andere sind,

und dass andere sind, was wir sind,

und dass es gut ist, einander zu lieben.

 

»Empor die Herzen!« fordert er auf, »sursum corda«, denn das Licht ist da, es zieht uns empor und gibt uns die Orientierung. Dorthin kann jeder auf seinem ureigenen Weg gehen, in Ruhe, nicht in Panik, authentisch, nicht kopierend und vom Vergleichen getrieben und vor allem mit strahlender  Perspektive für alle, nicht ins Verderben.  

Gemeinsam gehen wir als Menschen, die wissen, dass sie von derselben Art sind, eine Menschenfamilie, die gut unterwegs ist, wenn sie liebend unterwegs ist. »Wo ist dein Bruder?«, wird Kain gefragt. Üben wir, auf den anderen, der neben uns auf seinem Weg zieht, liebevoll zu achten und ihn anzunehmen als das, was wir sind.  

 

Rosemarie Monnerjahn, 1. April 2020

Nächster Abschnitt

Das Herz des Abenteurers III

 

Für eine Krise, die gerade ein paar Wochen anhält, irritiert es mich zunehmend, dass jeder zu wissen scheint, was diese Stunde für uns bedeutet. Es gibt Zeitungsartikel dazu ohne Ende. In Sitzungen wird schon die Strategie der Zukunft beschrieben: für die Kirche, die Liturgie, die Gesellschaft, die Wirtschaft. Und nach jeder Diagnose gibt es sofort ein Rezept für alles, was wir nachher ändern müssen. Hellseherei hat gerade Hochkonjunktur.

Ich hege gegenüber allen Prognosen dieser Art eine gesunde und tiefe Skepsis. Hierin sehe ich den Konflikt zwischen dem Herz des Abenteurers und dem Herz des Touristen.

Das Herz des Abenteurers ist das Herz, das Lust hat, das Neue auszukundschaften.

Das Herz des Touristen ist das Herz, das befreit werden möchte von den Bürden des Alltags.

Ich gebe offen zu, ich weiß nicht, was die Zukunft von uns verlangen wird und habe keine Patentrezepte als Lösung für alles, was uns konfrontieren wird während oder nach der Krise. Aber ich bin gerne bereit, es auszukundschaften.

In Mk 10, 32-45  steht ein interessanter Satz von zwei Jüngern.  »Meister, wir wollen, dass du für uns tust, worum wir dich bitten.« Die Lehrlinge in dieser Geschichte sind Jakobus und Johannes. Wenn wir die Frage stellen, warum sie diese Bitte an Jesus richten, dann werden wir schnell auf die Antwort stoßen, dass sie nur ihre Eigeninteressen im Sinn haben.

Die Antwort ist nicht falsch. In der Tat, sie meinen, dass sie ihren Eigeninteressen dienen durch diese Bitte und dass sie sich selbst einen Gefallen tun, wenn sie Jesus dazu bringen können zu tun, was sie wollen. Hier schlägt das Herz eines Touristen, ein Herz, das befreit werden möchte von den Bürden des Alltags. Dann definieren wir schon die Lösungen, die uns einfallen, bevor wir die Tiefe der Stunde überhaupt angeschaut und durchlebt haben. Wie kennt man die Lösungen für ein Abenteuer, das wir gar nicht zu Ende durchlebt haben?

Sich Jesus als Lehrling anzuschließen fängt immer mit einer Grundübung an: Du musst dich fragen: Hast du das Herz des Abenteurers? Das Herz, das Lust hat, das Neue auszukundschaften?

Wie fangen alle Berufungsgeschichten an?  Menschen sind fasziniert von der Lebensart Jesu, denn sie ist  ganz anders ist als das, was sie kennen. Sie fühlen sich angezogen von seiner Macht, die ganz anders ist als das, was sie gewohnt sind. In Jesus spüren und erleben sie Kraft- und Lebensquellen, die ein Leben ermöglichen. Quellen, an die sie gerne herankämen und woraus sie schöpfen möchten. 

Die Bedingung dafür ist das Herz des Abenteurers: Das Herz, das Lust hat, das Neue auszukundschaften. Sich mit dem Herzen eines Abenteurers an Jesus anzuschließen bedeutet:

  1. Wir erinnern uns an die faszinierenden Begegnungen mit ihm, an die Orte und die Zeiten, die die ursprüngliche Faszination in uns geweckt haben.
  2. Wir denken darüber nach. Wir überlegen uns, was da passiert ist, was es in uns weckt, mit uns tut und von uns heute abverlangen könnte.
  3. Wir reden darüber. Wer nicht darüber spricht, ist nicht fasziniert im Sinne der Sehnsucht. Wir müssen nicht schon Lösungen haben, Reformpakete schmieden und die Erneuerung aller Dinge beschließen.
  4. Wir probieren die Weisheit und die Tauglichkeit der faszinierenden Haltung, Ansicht oder Handlung Jesu aus. Wir üben, sammeln Erfahrungen, wagen neues Leben und neue Lebenswege. Wir üben nicht, was wir schon können, sondern das, was wir gern könnten.
  5. Wir versuchen im Allgemeinen, dass die Lebensweise Jesu ein Teil von uns wird. Wir nehmen uns Zeit, diese neuen Erfahrungen, die wir mit ihm machen, in unser Leben zu integrieren.
  6. Wir nehmen auch die Kritik wahr, die in der Lebensart Jesu enthalten ist: über die Art, wie wir uns gerade benehmen, wie wir die Dinge sehen und wie wir handeln. Denn eine Kritik wird in uns wach, weil das, was uns an Jesus fasziniert, nicht das ist, was wir schon in unserer Haltung, Ansicht oder Handlung kennen. Darum wollen wir nicht direkt zur Zukunftsreform, denn hier merken wir, so schmerzlich es auch sei, dass wir ein Teil des Problems sind. Wenn wir das nicht beachten und ernstnehmen, dann meinen wir, dass nur andere Mächte und andere Menschen das Problem sind. 
  7. Wir nehmen das Angebot Jesu an, etwas Neues zu versuchen, auszuprobieren und zu wagen über das Alte, Bekannte und Familiäre hinaus.                                                               

 

»Meister, wir wollen, dass du für uns tust, worum wir dich bitten.« In einer Krise setzt diese Bitte voraus, dass wir schon Meister sind und die Erkenntnis haben darüber, was die Lage bedeutet und wie sie zu bewältigen ist. Sollten wir tatsächlich das von uns glauben und es auch können, dann brauchen wir doch keinen Meister, der uns führt, begleitet und lehrt. Aber ist das wahr? Papst Franziskus, ausgehend von Mk 4,35-41 schreibt mahnende, tiefgehende Worte zu dieser Einstellung während dieser Pandemie:

Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen. Der Sturm entlarvt all unsere Vorhaben, was die Seele unserer Völker ernährt hat, »wegzupacken« und zu vergessen; all die Betäubungsversuche mit scheinbar »heilbringenden» Angewohnheiten, die jedoch nicht in der Lage sind, sich auf unsere Wurzeln zu berufen und die Erinnerung unserer älteren Generation wachzurufen, und uns so der Immunität berauben, die notwendig ist, um den Schwierigkeiten zu trotzen.

Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser »Ego« in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene (gesegnete) gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind.

»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Herr, dein Wort heute Abend trifft und betrifft uns alle. In unserer Welt, die du noch mehr liebst als wir, sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden. Jetzt, auf dem stürmischen Meer, bitten wir dich: »Wach auf, Herr!«

 

Ich, für mein Teil, werde die Propheten der Zukunft nicht beachten. Ich folge mit dem Herz des Abenteurers dem Herrn, der  zuerst die Krise, den Sturm, mit uns durchlebt und davon spricht, was diese Stunde  von uns verlangt, bevor er sagt, was die zukünftigen Stunden von uns verlangen könnten.

 

Erik Riechers SAC, Vallendar, 31. März 2020

Nächster Abschnitt

Ein Rat - aktueller denn je

 

Vor vielen Jahren gab mir eine Bekannte den Tipp zu einem Vortragsabend über Israel. Sie wusste, dass mich dieses Land faszinierte, vor allem, da ich kurz zuvor zum ersten Mal dort gewesen war.

Im Saal herrschte eine andächtige Atmosphäre, als der Referent eintraf. Nach liebevollen und würdigenden Begrüßungsworten der Gastgeber begann sein Vortrag. Doch dies war kein Vortrag über die Schönheiten und Eigenheiten des Landes. Hier sprach ein Mann, der seit über 1o Jahren im Herzen Jerusalems lebte, von den Erfahrungen und Bewegtheiten seiner Seele – in einer Lyrik, die mich zunehmend fesselte: Willi Bruners. Seinen »Rat« vergaß ich nie mehr; oft habe ich ihn zitiert; schwere Zeiten meines Lebens hätte ich ohne ihn nicht gut überstanden; gute Zeiten bekommen durch ihn dankbare Tiefe. Gerade heute lege ich Ihnen seine Weisheit ans Herz:

 

Rat

Verabschiede die Nacht

mit dem Sonnenhymnus

auch bei Nebel

 

hol dir die ersten

Informationen aus den

Liedern Davids

 

dann höre die

Nachrichten und lies

die Zeitung

beachte die Reihenfolge

wenn du die Kraft

behalten willst

die Verhältnisse zu ändern

 

bete gegen das

fünfsternige Nichts

das dir aus jedem

Kanal entgegentönt

                                                     Wilhelm Bruners

 

Mögen wir uns täglich zuerst in den Grund hinein beten, auf dem wir stehen – dann vermögen wir uns dem zu stellen, was von außen auf uns zukommt - »beachte die Reihenfolge«!

 

Rosemarie Monnerjahn, 30. März 2020

Nächster Abschnitt

5. Fastensonntag: »Hierher, raus!«

 

Gebet

Gott aller Zeiten,

Wir bitten, wir weinen, wir warten, wir sterben, wir hoffen, wir leben,

wir machen weiter, wir richten uns wieder auf, wir versuchen zu verstehen,

wir missverstehen, wir lernen, wir fragen wieder, wir warten auf Erkenntnis.

In alle dem, möge Gebet uns ein Gefährte sein, nicht eine Qual.

Mögen wir im Gebet den Trost finden, der uns durch alles hindurch trägt.

Wissend, dass manches sich ändert

und manches gleich bleibt.

Amen.

Pádraig Ó Tuama

 

Evangelium: Johannes 11, 1-45

 

Die Ungeduld und die Sehnsucht treiben uns immer wieder zu fragen, wann diese Krise zu Ende gehen wird. Der große Erzähler Johannes versteckt eine Lebensunterweisung in seinem Evangelium, die sich mit einer weiterführenden Frage beschäftigt.  Wie werden wir leben, wenn die Krise vorbei ist?

In Johannes 11 lässt Jesus den Stein vom Grab seines Freundes Lazarus wegrollen.  Aber dann müssen wir sehr genau hinhören, wie er mit seinem Vater spricht.

»Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herumsteht, habe ich es gesagt, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.«

Merken wir genau seine Worte! Ich danke dir, dass du mich erhört hast. Das ist die Vergangenheitsform! Das heißt, wenn Gott ihn schon erhört hat, dass Lazarus schon wach ist. Er lebt! Aber, obwohl der Stein weggerollt ist, kommt er nicht aus dem Grab heraus.

Also muss Jesus fast Wort für Wort das sagen, was Gott Noah in der Arche mal sagen musste. Bei Noah geschieht das, nachdem er zwei Monate lang in der Arche hockt, obwohl die Erde schon trocken ist und er seinem Auftrag nachgehen sollte, die Erde neu zu bevölkern und zu gestalten. Worauf wartet Noah noch? Er hat Angst, seinen Schutzraum (die Arche) zu verlassen und wieder aufzugeben. Gott muss zu ihm sagen: Auf, raus! (vgl. Gen 8)

Jesus muss dieser Angst in Lazarus entgegentreten. »Lazarus, deuro (hierher) exo (raus)!«

Er muss Lazarus herausbefehlen. Immerhin, wie würde ein Toter den Befehl Jesu hören und beachten? Jesus weiß, dass Lazarus sein Leben zurückbekommen hat (»ich danke dir, dass du mich erhört hast!«), aber er weiß auch, dass Lazarus sich nicht ins Leben zurück traut. Dazu braucht er zwei Hilfen.

Erst braucht er eine Stimme, die ihn ins Leben zurück ruft. Er braucht die Gottesstimme der Ermutigung. Sonst bleibt er im Grab wie Noah in seiner Arche.

Und zweitens braucht er eine Befreiung von alten Erfahrungen, die ihn noch von der Rückkehr ins Leben zurückhalten. »Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!«

Die Ängste des Lazarus kennen auch wir. Wenn etwas uns Sicherheit und Schutz gibt, wenn es uns geborgen und gesichert fühlen lässt, dann wollen wir es nicht wieder loslassen. Sei es eine Beziehung, sei es eine gute Erfahrung oder sei es eine bewiesene Lebensweise; wenn sie uns gute Dienste erwiesen haben, wenn wir uns daran gewöhnt haben, dann werden wir sie nicht ohne weiteres wieder loslassen. Dann verkriechen wir uns und nisten uns ein.

Das Problem für Lazarus und für uns ist, dass eine Übergangslösung keine Dauerlösung werden darf. Wir dürfen nicht ein Grab zu unserer Wohnstätte machen. Wir dürfen nicht unsere Zurückgezogenheit, Isolierung und gesellschaftliche Distanzierung in der Zeit von Corona zu einem Lebensstil umwandeln. Was wir gerade tun, um Leben und Leute zu schützen, ist eine Übergangslösung. Sie soll das Leben vor der Bedrohung und vor dem Untergang unserer Mitmenschen bewahren. Aber sie ist kein Ersatz für das, was wir nachher leben müssen und mit Leben erfüllen müssen, über dieses Grab hinaus. Keine Schutzräume des Lebens sind dafür gedacht, dass wir uns darin verstecken. Lazarus versteckte sich im Grab vor Angst, was im Leben auf ihn wartet und von ihm verlangt wird. Wir haben unsere Angst vor Leben nach Corona, vor den Veränderungen und der Verantwortung, die damit verbunden sind. Wir werden manchmal versucht, seine Formen des Rückzugs und der Isolierung weiter zu führen, um uns sicher zu fühlen.

Aber die Aufgabe eines Lebens liegt nicht in einem Grab. Sie liegt draußen in der Welt. Alles Leben, das Jesus rettet und herausruft, wird dem Leben der Welt geschenkt, denn auch die Welt wartet auf neues Leben, eine Wiedergeburt und einen Neubeginn.

Darum brauchen auch wir diese zweifache Hilfe unseres Gottes. Wir brauchen eine Stimme Gottes, die größer ist als unsere Stimme. Wir brauchen eine Stimme Gottes, die größer ist als unsere Ängste, die bereit ist, uns zu sagen, was wir nicht unbedingt hören wollen. Denn die Stimme Gottes ist nie ein Echo unserer kleinen Herzen. Diese Gottesstimme spiegelt nicht unsere Panik und unsere Ängste wieder. Sie spricht mit Autorität, mit der Stimme des Autors des Lebens und der Welt. »Hierher, raus« (deuro exo) ist ein Befehl und keine Empfehlung. Gott nimmt unsere Ängste ernst, aber er ist kein Diener dieser Ängste.

Und wir brauchen eine Befreiung. Alte Gewohnheiten haben es an sich, dass sie nichts unversucht lassen, uns wieder einzuholen, festzuhalten und zurückzuholen. Fragen wir nur das Volk Israel. Kaum hat Pharao sie ziehen lassen, dann ändert er seine Meinung und schickt seine Streitkräfte, um seine Sklaven einzuholen, festzuhalten und zurückzuholen.

Das Alte lässt uns nie einfach los.

Das erzählt auch Johannes. Lazarus kommt nicht nur zaghaft aus dem Grabe, sondern von Altem gefesselt.

»Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen!«

Die Hände sind die Metapher für unsere Handlungskraft. Sie sind noch gebunden und unsere Handlungskraft kann noch nicht eingesetzt werden. Da brauchen wir einen Gott, der auch Fesseln löst, denn ohne Handlungskraft können wir das Leben der Welt nicht gestalten.

Die Füße sind die Metapher für die Richtungen, die wir einschlagen. Füße setzen Orientierung in Bewegung um. Auch hier brauchen wir die Hilfe unseres Gottes, denn wir träumen in der Quarantäne über alles, was wir danach tun wollen, aber sobald wir heraustreten, werden wir dafür verantwortlich sein, diese Vorsätze konkret ins Leben umzusetzen.

Ein Schweißtuch verhüllt sein Gesicht und lässt seine Augen nicht sehen. Die Augen aber sind die Metapher für unsere Sichtweise, die Art und Weise, wie wir auf die Welt schauen und sie wahrnehmen. Auch hier werden wir eine Befreiung Gottes brauchen, denn Krisen verschleiern unseren Blick. Nur weil sie vorbei sind, heißt es nicht, dass wir wieder klar sehen. In Gegenteil führen Krisen sehr oft dazu, dass wir die neuen Chancen durch den Filter unserer alten Ängste sehen. So können wir keine neue Zeit mit Leben und Heil erfüllen. 

Wir brauchen die Stimme Gottes, durch sein Wort und durch seine Boten. Aber diese Stimme, die Lazarus herausruft, stellt eine Frage an uns: Werden wir auf sie hören und achten? Denn Jesus ruft aus dem Grab heraus, aber er zerrt uns nicht heraus. Gott wird schon dafür sorgen, dass wir ins Leben gerufen werden. Ob und wie wir nach der Krise leben werden, liegt in unserer Hand.

 

Meditation: Deuro exo (Hierher, raus)

Lazarus, hierher, raus!

Dein Leben wartet auf dich.

Es kann nicht in Todeskammern gestaltet werden.

 

Lazarus, hierher, raus!

Martha und Maria, deine Schwestern warten auf dich.

Ihre Tränen brauchen deine sanften Finger.

Darum binde ich auch deine Hände frei.

 

Lazarus, hierher, raus!

Die Menschen, die trauerten, als sie dachten, du seist tot, warten auf dich.

Sie sehnen sich danach, dass du wieder auf sie zugehst.

Darum habe ich auch deine Füße entfesselt.

 

Lazarus, hierher, raus!

Die Welt wartet auf dich.

Mit deinem Tod ist etwas von der Herrlichkeit Gottes aus ihr gegangen.

Sei ein Mensch des gelebten Lebens, denn so kehrt die Herrlichkeit Gottes in die Welt zurück.

Ich habe das Schweißtuch entfernen lassen. Du zeige dein Gesicht.

 

Lazarus, hierher, raus!

Ich wohne weder vor noch in Gräbern.

Ich besuche sie nur, um Leben herauszurufen.

Ich warte auf dich.

Ich habe nämlich vor deinem Grab um dich geweint.

Deine Lebendigkeit wird jetzt mein Trost sein.

  

ERIK RIECHERS SAC

Vallendar, den 29. März 2020

Nächster Abschnitt

»Wegführerinnen der Seele«

 

Die frühchristlichen Wüstenväter, die sich einzeln als Eremiten oder in kleinen Gruppen zu Gebet und Askese in die Wüsten Ägyptens und Syriens zurückgezogen hatten, waren aufgrund ihres unabgelenkten klaren Blicks in die Tiefe schon zu Lebzeiten gefragte, ja anziehende Ratgeber und viele ihrer Worte sind bis heute nicht nur bewahrt, sondern bedeutsam.

So ist von Abbas Poimen dieser Gedanke überliefert:

»Sich bewahren, auf sich achten und die Unterscheidungsgabe: Diese drei Tugenden sind die Wegführerinnen der Seele.«

Wie sehnen wir uns alle doch gerade derzeit danach, geführt zu werden durch all das, was auf unserem Weg auf uns einströmt.

Abbas Poimen nennt drei Wegführerinnen unserer Seele. »Sich bewahren« setzt voraus, dass ich mich, mein Inneres, überhaupt wahrnehme. Ganz bei mir zu sein und nicht dauernd im Äußerlichen – dahin lasse ich mich führen, um mich nicht zu verlieren, sondern zu bewahren.

»auf sich achten«, die zweite Wegführerin der Seele, will uns achtsam machen auf das, was sich in uns regt, nicht, um uns hin und her reißen zu lassen von Emotionen, sondern um sie wahrzunehmen, zu bedenken und zu deuten.

Die »Unterscheidungsgabe« schließlich hilft uns, Impulse, die uns zwar einiges versprechen mögen, aber nicht zu Heil und Leben führen, von jenen zu unterscheiden, die mehr Tiefe und lebendige Fülle bereithalten. Nur diese kommen von Gott.

Tugenden sind keine Billigware; sie wollen geübt werden – jeden Tag und gerade jetzt!

 

Rosemarie Monnerjahn, 28. März 2020

 

Nächster Abschnitt

Das Herz des Abenteurers II

 

Ich werde immer wieder gefragt, ob ich nicht eine Geschichte hätte für eine schwierige Situation. Und danach werde ich dann gefragt, warum die Geschichte nicht funktioniert hat. Selbstverständlich gehen die Menschen davon aus, dass das Problem bei der Geschichte liegt: sie ist zu schwierig, komplex oder unübersichtlich.

 

Dann muss ich eine Grundlehre der Auslegung aller Geschichten zitieren: der Text schweigt, bis der Leser erscheint.

 

Diese Regel gilt allerdings für alle Geschichten, denen wir Menschen begegnen, seien es die Geschichten, die wir lesen und hören oder die Geschichten, die wir leben und mitgestalten. Denn die Geschichten Gottes und die Geschichten des Lebens setzen etwas voraus: das Herz des Abenteurers muss erscheinen, um sie auszulegen und zu leben.

 

Und so kommen wir zum zweiten Merkmal, das einen Abenteurer von einem Tourist unterscheidet:

 

Das Herz des Abenteurers ist das Herz, das Wege durch das unbekannte Land sucht. Das Herz des Touristen ist das Herz, das vorgeschriebene, gewohnte  Wege geht.

 

Die gegenwärtige neue, ungewohnte und unerwartete Geschichte der Erkrankung, der Einschränkung und des chaotischen Wandels unseres Lebensstils prüft unsere Herzen. Wir können uns beschweren, dass sie schwierig, komplex, unübersichtlich ist, wie Studenten vor einer biblischen Erzählung: dann haben wir das Herz des Touristen. Wir wollen den vorgeschriebenen Weg gehen. Das bedeutet, wir wollen jemanden, der uns diesen Augenblick erklärt, ihn verständlich macht und alles kurz und bündig zusammenfasst. Wir können uns zurücklehnen und uns lediglich merken, was sie uns gesagt haben.

 

Alle Geschichten, auch unsere Corona-Geschichte, gehen nie davon aus, dass sie uns eine Erklärung schulden. Sie gehen immer davon aus, dass der Hörer, Leser oder Empfänger um Führung und Begleitung bittet. Darum setzen sie das Herz des Abenteuers voraus. Touristen kommen zu einer Geschichte lediglich für die Unterhaltung. Abenteurer kommen zu einer Geschichte, weil sie den Pfad zum Leben suchen.

 

Diese Geschichte von Corona, Quarantäne, Distanzierung und Angst, die wir gerade durchleben, hat eine tiefere Bedeutung, aber ihre Inhalte und Bedeutungen sind noch verborgen. Wie bei jeder biblischen Erzählung wird diese Geschichte erst anfangen, uns Orientierung zu schenken, wenn sie von uns Aufmerksamkeit gewidmet bekommt. Überall wird berichtet, welche Wirkung die Ausgangsbeschränkungen und gesellschaftlichen Einschränkungen auf die Menschen haben. Aber diese gegenwärtige Geschichte wird erst anfangen, eine Heilswirkung zu haben, wenn wir auslegen, was diese Wirkungen bedeuten. Deutung ist die ganze Kunst. Und Deutung ist die Kunst eines Abenteurers. Das Herz des Abenteurers ist das Herz, das Wege durch das unbekannte Land sucht. Der Tourist deutet nicht, sondern erwartet Lösungen und Erklärungen. Das Herz des Touristen ist das Herz, das vorgeschriebene, gewohnte  Wege geht.

 

Das Verhältnis zwischen der Corona-Geschichte und wie wir sie gestalten und erleben, ist keine einfache Beziehung. In der Realität spricht eine Geschichte nur, wenn ein Hörer dazu kommt. Eine Geschichte wird lebendig und fängt an zu reden nur von dem Augenblick an, wo wir bereit sind zuzuhören. Wieviel diese Corona-Geschichte erzählt, steht in direkter Proportion dazu, wie gut wir zuhören. Ich habe Studenten seit 30 Jahren gesagt, dass ihre Handlungen beim Lesen und Deuten wesentlich sind, wenn eine Geschichte ihre Wirkung entfallen soll. Wir müssen eine Geschichte wahrnehmen, aufnehmen, mitnehmen. Auch in dieser Stunde gilt die Regel. Wir müssen die Realitäten und Veränderungen wahrnehmen, sie deuten, um zu verstehen, was diese Stunde von uns verlangt, und Verbindungen knüpfen zu unserem Leben, unserem Verhalten und unseren Handlungen.

 

Aber die Deutung ist die ganze Kunst, und sie ist und bleibt die Kunst eines Abenteurers. Was wir gerade erleben und erleiden, ist keine unterhaltsame Geschichte, aber sie könnte uns neue ungesehene Horizonte, unbegangene Wege und unversuchte Möglichkeiten eröffnen. Dafür brauchen wir das Herz des Abenteurers, denn es sucht die Wege ins unentdeckte Land.

 

Erik Riechers SAC, 27. März 2020

Nächster Abschnitt

Im Vertrauen

 

Inzwischen läuten am Abend überall die Glocken und laden uns ein, eine brennende Kerze ins Fenster zu stellen und über konfessionelle Grenzen hinweg uns betend miteinander zu verbinden. Wer sich darauf einlässt, kann die Gemeinschaft der Betenden spüren in der gemeinsamen Verankerung in Gott, der alles trägt und hält und dessen Nähe wir uns anvertrauen können:

 

»Gott, du bist uns nah, jetzt, hier, in diesem Moment und zu aller Zeit.

Gott, mit dir wollen wir gehen, gib du uns den Impuls.

Bei dir wollen wir ruhen, gib du uns den Atem.

Bei dir ist Proviant, begleite uns.

Bleib uns vertraut, und werde uns neu.« *

 

Rosemarie Monnerjahn, 26. März 2020

           *Manfred Büsing aus: Lectio divina, Bd. 22, 2020

 

Nächster Abschnitt

Stille – nicht Fluch, sondern Segen

In diesen Tagen und Wochen des sehr zurückgenommenen Lebens, das wir alle führen, um einander zu schützen vor der weiteren Ausbreitung des Virus, halte ich immer wieder inne und nehme die Stille wahr. Der Luftraum ist ruhig, auf der Straße gibt es keinen Durchgangsverkehr zu Schule und Sportveranstaltungen. Nichts stört, wenn ich spazieren gehe. Diese Ruhe macht mich nicht unruhig oder nervös, nein, ich schätze sie als ein Geschenk und genieße sie sogar.

Und ich halte inne mit dem, was Roger Willemsen zur Ruhe schrieb:

»Wenn alle lärmenden Bewegungen, alle Überlagerungen von Empfindungen, Wahrnehmungen, Impulsen durch Geräusche zurückweichen, tritt die Ruhe der Betrachtung ein.

Die Natur wird häufig so erfahren, selten die Stadt. Die Waldesruhe, der Frieden über dem See, das Schweigen der Nacht, sie alle assoziieren Friede, den Fortfall des Hochtourigen, Geschäftigen, Flüchtigen, auch Belanglosen. Es tritt Kontemplation ein, reines Bei-sich-Sein. Auch im sozialen Leben aber ereignet sich Stille nicht nur, sie besetzt eigene Funktionen: In der »Schweigeminute«, der stillen Trauer, der Denkpause, in der Betrachtung des Firmaments, in den Schweigeräumen der Kirchen, Krypten, Tempel, im Schweigegelübde der Kartäuser, der Eremiten, der tibetanischen Schweigemönche, in der »stillen Zeit« zwischen Weihnachten und Silvester. Es gibt, wo Bescheidenheit oder selbst Demut einsetzen, ein Klein-Werden, das dem Leise-Werden entspricht und oft der Pietät, dem Glauben, der Selbstversenkung vorbehalten ist. Auch wohnt den stillen Augenblicken des alltäglichen Lebens oft eine eigene Magie inne, so der Stille vor dem Kuss, der Stille des Einvernehmens in einem Blick, der Stille des Gebets, . . .

Von den bleibenden Momenten eines Lebens wird oft gesagt, dass sie »atemlos« waren, dass alle Bewegung in ihnen zum Stillstand kam, dass sie sich in völligem Schweigen ereigneten.« *

 

Können wir schätzen und würdigen, was diese Zeit uns schenkt? Eine ungewohnte Ruhe, deren Lebendigkeit wir nun »auspacken« und entdecken können.                

 

Rosemarie Monnerjahn, 25. März 2020

*aus: Roger Willemsen, Musik! Über ein Lebensgefühl, 2018

Nächster Abschnitt

Das Herz des Abenteurers I

In Hamlet stellt William Shakespeare eine interessante Frage. Wer würde die Lasten des Lebens tragen, stöhnend und schwitzend, wenn sie nicht Angst hätten vor dem Tod und der Zukunft danach? Denn diese Zukunft, die noch in Gottes Hand liegt, ist das unentdeckte Land. Und das unentdeckte Land der Zukunft führt oft dazu, dass wir »die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehn.«

 

Krisenzeiten wie diese prüfen unseren Charakter und unser Herz. Und was sich sehr schnell herausstellt ist, ob wir das Herz des Abenteurers oder das Herz des Touristen zum Projekt des Lebens mitbringen.

 

Diese zwei Lebenseinstellungen werden maßgeblich bestimmen, wie wir uns den Geschichten Gottes annähern. Sie sind zwei Weisen, wie wir das Evangelium hören können: als Abenteurer oder als Tourist.

Noch viel wichtiger, sie werden maßgeblich bestimmen, wie wir das Leben gestalten. Sie sind zwei Weisen, unser Leben zu gestalten: in der Spiritualität des Abenteurers oder des Touristen.

 

Heute schauen wir auf das erste von neun Kennzeichen, die Abenteurer von Touristen unterscheiden.

Das Herz des Abenteurers ist das Herz, das dort hingeht, wo Leben zu finden ist. Das Herz des Touristen ist das Herz, das dort bleibt, wo andere Leben gestaltet haben.

 

Wagen wir zwei biblische Erzählungen. Die erste Geschichte ist im Buch Numeri 13-14. Das Volk Israel steht vor der Grenze des Gelobten Landes und hört den Bericht der Kundschafter. Jetzt merken sie, dass es ihnen doch zu viel Mühe und Anstrengung ist, das Land zu betreten und es zu eigen zu machen. So kehren sie dem unentdeckten Land ihrer Zukunft ihren Rücken und gehen zurück zur Wüste, wo sie weitere 38 Jahre umherirren. Das Herz des Touristen ist das Herz, das dort bleibt, wo andere Leben gestaltet haben.

 

Die zweite Geschichte ist im Buch Josua 1. 38 Jahre später steht die Nachfolger-Generation vor der Grenze zum Gelobten Land. Sie wissen, dass es nicht leicht wird, werden immer wieder aufgerufen, mutig und standhaft zu sein. Aber diesmal betreten sie das Gelobte Land, das unentdeckte Land ihrer Zukunft. Dafür müssen sie kämpfen. Das Herz des Abenteurers ist das Herz, das dort hingeht, wo Leben zu finden ist.

 

Beide Gruppen müssen sich die Frage stellen, die wir uns jetzt stellen vor dem unentdeckten Land unserer Zukunft. Was ist uns eine Zukunft wert?

 

In beiden Geschichten muss das ganze Volk die Entscheidung mittragen und mitgestalten. Wie sie werden auch wir in den Tagen der Unsicherheit mit schweren Fragen konfrontiert.

 

Werden wir für eine verheißungsvolle Zukunft für uns alle arbeiten, auch wenn es uns einen deutlichen Preis abverlangt? Auch wenn sie Schwierigkeiten mit sich bringt? Auch wenn diese Zukunft Mühe, Ringen und Konflikt mit sich bringt? Das Herz des Abenteurers sagt ja dazu, denn das Herz des Abenteurers ist das Herz, das dort hingeht, wo Leben zu finden ist.

 

Oder sind wir nur bereit, von einer verheißungsvollen Zukunft zu sprechen, wenn der Weg für uns vorbereitet und geebnet wurde? Wenn die Probleme im Voraus gelöst sind? Wenn die Hindernisse und Barrieren weggeräumt worden sind? Das ist das Herz des Touristen. Das Herz des Touristen ist das Herz, das dort bleibt, wo andere Leben gestaltet haben.

 

Diese Pandemie hat uns an eine Grenze gebracht. Hier liegt die grundlegende Entscheidung derer, die an der Grenze des unentdeckten Landes der Zukunft stehen.

 

Wie viel ist uns ein authentisches Leben für alle wert? Wie viel Kraft ist es mir wert? Wie viel Mühe ist es mir wert? Wie viel Investition und Hingabe ist es mir wert?

 

Diese Krise ist eine Entscheidungsstunde und Entscheidungen sollten wir gestalten. Aber wenn aus dieser Zeit eine Zukunft für alle entstehen sollte, dann brauchen wir Abenteurer. Touristen sind hier nicht gefragt.

 

Erik Riechers SAC, 24. März 2020

Nächster Abschnitt

Üben, was wir noch nicht können

Ein Brief machte mir letzte Woche bewusst, was gerade für uns Christen die große Übung dieser Krise ist. Sie erfordert nämlich von uns ein Einlassen auf das »Exerzitium des Gottvertrauens«.

Üben ist angesagt, Vertrauen üben in unseren Gott!

Doch wir üben ja immer das, was wir schon können: wir müssen alles (richtig) machen, leisten, organisieren, Vorgaben erfüllen, planen und tragen, im Griff behalten, . . . alles hängt von uns ab!

Nun aber machen wir die Erfahrung, wie wenig wir tun können und im Griff haben. Das, was nun von uns gefordert wird, ist Zurückhaltung,  warten, zu Hause bleiben, Beziehungen eher zurückgenommen pflegen, Stille aushalten, zu lassen. Das müssen wir in der Tat richtig üben. Wir üben jedoch nicht im luftleeren Raum. Unser Blick wird frei und sieht den, der immer schon unser Leben trägt. Nie waren wir die Herren unseres Lebens – aber wir lebten so als ob!

Wenn wir uns nun in das »Exerzitium des Gottvertrauens« hineinbegeben, so üben wir bei allem, was wir in dieser Zeit gestalten können, das Leben Gott zu überlassen. Er vertraut uns und traut uns in jeder Lage zu, das Rechte zu tun – trauen wir ihm zu, dass er als der Gott, der seine Menschen liebt, unser Leben immer trägt! Natürlich haben wir das Unsere zu bedenken und zu tun, um Leben zu erhalten und zu schützen, aber wir haben das große Ganze nicht in der Hand.

Wir leben derzeit mehr oder weniger im Quarantäne-Modus. Der Begriff Quarantäne ist abgeleitet vom lateinischen quadraginta, die Zahl 40, im Italienischen heißt quaranta giorni  40 Tage. 

Liturgisch leben wir gerade in der Fastenzeit, ein altes Wort dafür ist Quadragesima. Sie steht seit alters her für 40 Tage Vorbereitungszeit, Umkehr, Verzicht und Üben.

In ein »Exerzitium des Gottvertrauens« einzusteigen heißt für mich, in meiner Verwobenheit mit allen in dieser Fastenzeit auch meine Beziehung zu Gott neu zu betrachten und zu pflegen. Ich kann mich in ihm neu verankern, aus dessen Hand nie jemand fällt. Ich übe das Hören, das betende Hören. Ich übe das Klagen und Aussprechen all dessen, was mich bedrückt. Ich übe das Sehen all dessen, was gut und lebendig ist. Ich übe das Danken.

»Sättige uns am Morgen mit deiner Huld! Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage.« betet der Psalmist (Ps 90). »Blinde führe ich auf Wegen, die sie nicht kennen, auf unbekannten Pfaden lasse ich sie wandern.« verkündet der Prophet (Jes 42, 16).

Wir sind nicht allein in dieser Exerzitienzeit. Üben wir mit denen, die vor uns waren und neben uns sind! Füllen wir die Quarantänezeit mit dem tiefen Sinn der Fastenzeit: uns tief zu verankern in der Liebe unseres Gottes!  

Rosemarie Monnerjahn, 23. März 2020

Nächster Abschnitt

Sehend sein ist nicht sehend leben

Ein sehr gefrusteter Mann sagte zu mir in diesen Tagen: »Durch diese Krise wird Gott uns noch allen die Augen öffnen!« Meine Frage an ihn war: »Und was dann?« Reicht es wirklich, wenn uns die Augen aufgehen? Denn nur weil wir die Probleme, die Möglichkeiten oder die Realitäten sehen, heißt es längst nicht, dass wir handeln werden, damit wir zum Leben kommen. Fragen wir nur den Mann am Straßenrand zwischen Jericho und Jerusalem. Zweimal wurde er in seiner Not gesehen, einmal von einem Priester und ein zweites Mal von einem Levit. Und zweimal lässt Lukas den erschütternden Satz erklingen: »er sah ihn und ging vorüber.«

 

Heute haben wir die Geschichte eines Menschen, der lernt, was er zu tun hat, nachdem Jesus ihm die Augen geöffnet hat. Und das Erste, was er lernen muss, ist  »Ich« zu sagen. Nicht in der selbstbezogenen Art des Egoisten, sondern als Ausdruck seiner menschlichen Würde. Ohne »Ich« sagen zu können, werden wir den Wert, die Würde und den Sinn unseres Lebens verleugnen, auch nachdem sie von Gott gewürdigt und wiederhergestellt werden.

 

Am Anfang der Geschichte unterhalten sich die Jünger mit Jesus darüber, wer die Schuld an der Blindheit dieses Mannes trägt. Während sie diese höchst persönliche Frage besprechen, reden die Jünger nur über den Blinden, und zwar während er vor ihnen sitzt. Aber sie reden nicht mit ihm, sie sprechen ihn nicht direkt an.

 

Nur Jesus tut das. Und erst dann wird der Blindgeborene heil, erst dann kann er sehen. Denn Jesus erkennt hier eine ewige Gefahr für seine Menschen, nämlich die Tendenz, über andere Menschen zu reden, aber nicht mit ihnen. Alle Heilung, alle Lösungen unserer Probleme und die Chance, wieder Durchblick und Weitblick zurückzugewinnen, fangen damit an, dass wir mit Menschen reden, sie ansprechen und einen Dialog anfangen. In der Anonymität wird keiner heil.

 

Redet miteinander! Das ist aber gar nicht so einfach, besonders  wenn wir es gewohnt sind, über die anderen zu reden. Johannes macht es klar in der nächsten Szene. Nachdem der Mann von seiner Blindheit geheilt ist, fangen die Nachbarn an, über ihn zu reden. Keiner kommt auf die Idee, mit ihm zu sprechen.

 

Das darauffolgende Gespräch bezieht sich dann auf den Urheber seiner Heilung und wo er zu finden sei, aber keiner geht auf den Mann und seine Erfahrung ein. Keiner fragt ihn, wie es ihm dabei geht, was er empfindet, was sich in ihm regt. Und keiner gratuliert ihm zur Heilung. Und das noch bei religiösen Menschen, wo Dankbarkeit für Leben und Heil vorprogrammiert ist. Auch gibt es keinen in Geschichte, der Gott lobt oder dankt für diese Heilung.

 

Während die Nachbarn intensiv über ihn diskutieren, muss er zum ersten Mal sich melden: Ich bin es! Zum ersten Mal muss er seine Stimme finden und erheben. Er muss sich zu Wort melden. Er muss seine Erfahrung selbst deuten und dazu stehen. Auch wir müssen  zu dem stehen, was wir erlebt haben, zu unserer Erfahrung und zu dem, was wir von Gott her sind, und das sehr oft vor der Oberflächlichkeit unserer Mitmenschen. Wenn die Augen uns aufgehen in dieser Zeit der Corona Krise, wird es uns nichts nutzen, wenn wir einfach Mitläufer der panischen Menge werden. Während andere panisch schwätzen, sind wir aufgerufen zu sagen, was wir erleben, erfahren, spüren und fühlen.

 

Dann bringen sie den Blinden zu den Pharisäern. Wieder merken wir dieselbe Tendenz: Sie reden entweder über ihn (»dieser Mensch«) oder über die Sache (die Heilung). Aber sie reden nicht zu und mit dem Mann, der vor ihnen steht. Die Gefahr ist klar: Über die Sache zu reden und es dabei lassen. Die Gefahr ist, dass wir nicht mit den Menschen, die von der Sache betroffen sind, sprechen. Wir reden im Augenblick über einen Virus, die Infektionsraten, die Kurve, Quarantäne, und Toilettenpapier. Aber wir hören wenige persönliche Geschichten von den Menschen, die betroffen sind hinter diesen anonymen Zahlen und Fakten. Von Krankenschwestern, die nach 48 Stunden Dienst kein Gemüse und Obst kaufen können, weil die Gesunden Hamsterkäufe machen. Von Menschen, die ihre verstorbenen Geliebten nicht beerdigen können und keine Orte haben, um zu trauern. Von all jenen Menschen, die von der erzwungenen Ruhe, über die wir uns beschweren, nur träumen können, weil sie ununterbrochen arbeiten müssen, um uns sicher, geschützt und versorgt zu halten.

 

Dann werden die Eltern gerufen. Sie weigern sich, über den blinden Sohn  zu reden. »Er ist alt genug, fragt doch ihn selbst.«  Sie sind zwar motiviert von Angst, aber sie haben ganz recht. Der Sohn muss erwachsen werden und dazu gehört, für sich selbst zu sprechen. Und das tut er auch, immer stärker, immer bewusster, bis er am Ende der Geschichte sagen kann. »Herr, ich glaube.« Es ist die Geschichte eines Mannes, der zu seiner eigene Stimme findet. Er hört auf, das Thema des Gespräches zu sein und wird zum Sprecher, der andere Menschen anspricht. Es ist seine Geschichte.

 

In einer weltweiten Krise der Pandemie fällt es immer häufiger auf, wie schnell verallgemeinernd und vereinnahmend gesprochen wird: was »die Menschen« denken oder fühlen. Unsere Aufgabe ist es, unsere eigene Stimme zu finden in dieser augeneröffnenden Zeit. Wir sind als befreite mündige Menschen in der Lage, selbst zu sprechen über das, was Gott, das Leben und die Krise in uns bewirkt haben. Meine ganz persönliche Geschichte besteht aus deutlich mehr als aus der Angst dieses Augenblickes: In mir sind Erzählungen Gottes und Erfahrungen des Glaubens. In mir sind Geschichten der Heilung und der Freiheit. Gemeinschaft und Sendung sind immer noch meine Geschichte in Zeiten der »social distancing«. Gabriel Garcia Márquez schrieb einen großartigen Roman mit dem Titel »Die Liebe in den Zeiten der Cholera«. Welche Geschichten werden wir erzählen nach unserer Zeit des Corona Virus?

 

Wie der geheilte Mann entdecken wir unsere wahre, tiefste Überzeugung in der Konfrontation. Erst wenn wir mit anderen Menschen, anderen Meinungen und anderen Überzeugungen konfrontiert sind, kommen die Fragen unserer Überzeugung hoch. Sage ich etwas? Was ist mir wichtig genug, ja heilig genug, dass ich meine Meinung sage, anstatt mich im Schweigen zu verstecken? Solche Begegnungen und Gespräche machen Augenblicke der Verwirrung und des Widerstandes durch, wenn ich entdecke, dass andere nicht mein Selbstbild oder meine Meinung teilen oder akzeptieren. Das, jedoch, ist die Aufgabe, wenn ich jemand werden will.

 

Jesus öffnet uns die Augen. Die Stimme müssen wir selbst finden und erheben. Aber es muss nicht so kommen. Hoffentlich wird nicht von uns nachher geschrieben werden: »sie sahen, und gingen vorüber«.

 

 ERIK RIECHERS SAC

Vallendar, den 22. März 2020, 4. Fastensonntag 2020

Nächster Abschnitt

Die Kunst des Gespräches - Jesus und die Frau am Brunnen

Die Geschichte der Samariterin am Brunnen ist unter anderem eine Erzählung über die hohe Kunst der Unterhaltung.

John O’Donohue schreibt:

»Du musst dich fragen, ‘Wann war das letzte Mal, dass du eine großartige Unterhaltung hattest? ‘ Eine Unterhaltung, die nicht nur zwei überkreuzende Monologe war, was in dieser Kultur oft schon als Unterhaltung gilt. Aber wann hattest du eine großartige Unterhaltung, in der du dich selbst dabei ertappt hast Dinge zu sagen, die du überhaupt nicht gewusst hast, dass du sie weißt? Wo du hörtest, wie du von einem Anderen Worte empfangen hast, die zwingend Orte in dir gefunden haben, die du als verloren schon abgeschrieben hattest? Eine Unterhaltung, die euch beiden auf eine andere Ebene gehoben hat und die danach wochenlang in deinen Gedanken sich singend fortgesetzt hat?«

 

I. Worüber will sich die Frau am Brunnen unterhalten? Worum bittet sie?

 

Grundsätzlich will sie über zu wenig sprechen und auch zu wenig erbitten. Sie erwartet zu wenig vom Gespräch, weil sie auch zu wenig vom Leben erwartet. Ihr geht es am Anfang mehr oder minder darum, dass Jesus sie einfach in Ruhe lässt. Das Letzte, was sie gerade gebrauchen kann, ist die lästige Störung dieses Mannes. Sie möchte ein ungestörtes Leben führen. Sie sucht Wasser, nicht eine Begegnung und sicherlich nicht eine Beziehung.

 

Und damit begegnen wir einem klassischen Problem aller Unterhaltung: Wie kommen wir miteinander ins Gespräch, wenn einer nicht mit uns reden möchte?

 

Worüber will die Frau am Brunnen sich unterhalten? Worum bittet sie?

 

Für sie dreht sich die Unterhaltung um sofortige und praktische Ergebnisse. »Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen.« Sie ist pragmatisch, will hier und jetzt die Lösung. Ihr geht es erstmals um sofortige Erleichterung, sofortige Befriedigung. Das große Bild hält erstmal keinen Reiz für sie. Die langfristige Perspektive interessiert sie nicht. Die Tatsache, dass der Messias mal kommen wird, ist für sie kein Problem. Das ist eher etwas für die ferne Zukunft und keine unmittelbare Sorge.

 

Auch hier begegnen wir einem klassischen Problem für eine gute Unterhaltung. Wenn es immer nur um sofortige, pragmatische Lösungsthemen geht, dann wird das Gespräch immer oberflächlich bleiben.

 

Im Grunde genommen dreht sich ihr ganzes Leben um die Füllung ihres Kruges. Sie will den Krug füllen und das ist ihre Besessenheit, ihre einzige Sorge, ihr einziges Ziel. Wenn sie diesen Krug füllen kann, mühelos und schnell, dann könnte sie nach Hause gehen und alles wäre gut. Es ist ihre tiefste Überzeugung, dass sie glücklich wäre, wenn der Krug voll wäre, aber die ganze Unterhaltung beweist ja, dass es  nicht stimmt. Sie wird mit einem vollen Krug zurückkehren zu einem Dorf, in dem sie ausgegrenzt und verschmäht wird, zu einer Reihe gescheiterter Beziehungen, die sie nicht erfüllen konnte.

 

Hier erleben wir das schmerzhafte Problem aller guten Unterhaltung, nämlich wenn ein Mensch sein Leben auf ein Thema reduziert, darauf sich fixiert und alles andere als unbedeutend wegfällt.

 

II. Worüber will Jesus sich unterhalten? Was bietet er an?

 

Mehr als die Frau am Jakobsbrunnen will. Für Jesus ist die Unterhaltung ein Angebot der Tiefenlotung.

 

Die Frau aus Samaria will in Ruhe gelassen werden, er bietet ihr eine Begegnung an. Und die Begegnung miteinander ist immer der Geburtsort der Unterhaltung.

 

Seine Gesprächspartnerin will Wasser, um ihren Krug zu füllen, damit sie mit ihrem Alltag weitermachen kann. Jesus aber bietet ihr eine Unterhaltung an, in der er ihr Wasser anbietet, das ihr ein authentisches Leben schenken könnte. Denn die Kunst der großartigen Unterhaltung ist es, auf das wahrhaft Authentische zu schauen und sich nicht mit der Oberfläche zufrieden zu geben.

 

Die Krug-Trägerin will pragmatische Ergebnisse für einen kurzfristigen Gewinn. Jesus bietet ihr eine Unterhaltung an, die ihr langfristigen Sinn anbieten kann. Denn die Kunst der großartigen Unterhaltung setzt auf die Langstrecke und nicht die Abkürzungen des Pragmatismus.

 

Die penetrante Fragestellerin bittet um Linderung eines Durstes, der die Zunge austrocknet und im Hals brennt. Jesus bietet ihr die Linderung eines Durstes, der an anderen Orten als im Mund wütet und der ein ausgedorrtes Herz zurück lässt und nicht nur rissige Lippen. Denn die Kunst der großartigen Unterhaltung möchte die tiefen Regionen berühren, wo Leben schlummert.

 

Die Brunnen-Besucherin  bittet um sofortige Befriedigung. Jesus bietet ihr eine Unterhaltung an, in der es um die Fülle des Lebens geht. Sie lebt auf der falschen Seite des Kommas: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben.« In ihren fünf Ehen suchte sie fünf Mal eine sofortige Befriedigung, und doch bleibt sie zutiefst rastlos, unerfüllt, unbefriedigt und, am Ende, immer wieder alleine zurück. Die Unterhaltung, die Jesus wagt, bietet ihr die Fülle des Lebens an und nicht nur Endergebnisse und fertige Produkte. Denn die Kunst der großartigen Unterhaltung besteht darin, die Sehnsucht eines Menschenherzens nicht mit Unzufriedenheit zu verwechseln.

 

Das Angebot Jesu ist das Angebot der großartigen Unterhaltung mit Gott, der uns eine ganze Welt anbietet über die engen Räume unserer Krüge. In ihrer zwanghaften Besessenheit, diesen Krug zu füllen, hat sie eine Fülle des Sinnvollen verpasst, die ein so kleiner Behälter gar nicht umfassen kann. Was sie und uns glücklich machen und erfüllen kann, passt nicht in die kleinen Krüge, die wir mitgebracht haben, und darum lässt Gott es nicht zu, dass die kleinen Krüge zum alleinigen Thema unserer Unterhaltung werden.

 

 

III. Das Land und seine Menschen sind in Krise. Wie die Frau am Brunnen versuchen wir, irgendwie im Alltag weiterzumachen, so gut es geht. Aber, wenn die Stunde des Brunnens kommt, und sie ist gerade da, worüber werden wir uns unterhalten?

 

Die Kunst der großartigen Unterhaltung mit Gott ist eine Hebammenkunst. Sie hilft uns Menschen, das zurückzuholen, was uns verloren gegangen ist. Sie weckt uns und begleitet uns nach Hause zu der grundlegenden Fülle und Tiefe, für die wir geschaffen worden sind. Die Idee ist es, nicht nur schnelle, oberflächliche Antworten anzubieten. Die Stunde der Krise verlangt mehr von uns als nur die Schifflein der Sehnsucht in einen sicheren, tristen, geschützten Hafen zu führen. Die Kunst der großartigen Unterhaltung mit Gott möchte uns die Tiefen der Möglichkeiten in unseren Herzen und Leben bewusst machen. Sie will die Barrieren abbauen, die uns davon abhalten, das zu sein, was wir von Gott her sind.

 

Worüber werden wir uns unterhalten?

 

Über lebendiges Wasser oder begnügen wir uns mit dem endlosen gesellschaftlichen Geschnatter über verwässertes Leben? 

 

Werden wir uns über die Fragen der Fülle und des Sinnvollen unterhalten oder uns abgeben mit dem panischen Geschwätz des Augenblickes?

 

Können wir uns unterhalten über die Herausforderungen der Stunde und was sie uns abverlangen:

Teilen statt horten.

Schutz für die Schwachen und Gefährdeten statt auf eigenen Rechten zu bestehen.

Eine Konzentration auf das Wesentliche statt das Festhalten von nebensächlichen Ablenkungen.

Solidarität statt Selbstbezogenheit.

Einschränkung anzunehmen, damit auch andere leben können.

Trost und Ermutigung zu vermitteln statt Panik zu schüren.

Hilfsbereitschaft statt Ausbeutung der Situation.

 

Nicht nur Jesus, auch die Frau aus Samaria lebte die Kunst der großartigen Unterhaltung. Sie geht auf jede angebotene Vertiefung ein. Sie verbindet das Neue des Gespräches immer mit ihrer Situation und existentiellen Not. Sie stellt sich, zeigt sich. Sie wagt die Unterhaltung und weicht nicht aus.

 

Möge Jesus so großartige Gesprächspartner in uns finden wie er sie gefunden hat in dieser außergewöhnlichen Frau aus Samaria.

 

Erik Riechers SAC

Vallendar, den 15. März 2020, 3. Fastensonntag 2020